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9. Memoiren

 

 

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Dasselbe Bedürfnis, die Wahrheit wieder in ihr Recht zu setzen, aus dem Ozean der Lüge wenigstens einen Tropfen Wahrheit herauszuschöpfen, ließ im Samisdat eine Memoirenliteratur gewaltigen Umfangs entstehen. 

Diese Bücher sind es, aus denen unsere Nachkommen erfahren werden, wie unser Leben wirklich gewesen ist; anhand dieser Bücher werden die Historiker unsere Zeit erforschen. 

Von den unterschiedlichsten Menschen — angefangen vom völlig unbekannten Lagerhäftling und Verbannten bis hin zum sowjetischen Regierungs­oberhaupt (die Memoiren des in Ungnade gefallenen Nikita Chruschtschow werden in der Sowjetunion ebenfalls heimlich gelesen) — besitzen wir hinterlassene Zeugen­aussagen.

Unter den eigentlichen Memoiren nehmen den bedeutendsten Platz natürlich die Erinnerungen jener Menschen ein, die in sowjetischen Konzentrations­lagern, Gefängnissen und Heilanstalten eingesperrt waren. Zu diesen Büchern kann man nur wiederholen, was oben bereits über die Lagerliteratur gesagt wurde.

Nachdem Chruschtschow Stalin öffentlich entlarvt hatte, glaubten viele, die unter dem Stalinterror gelitten hatten, nun sei die Zeit gekommen, da man die Wahrheit sagen könne. Wie Chruschtschow später selbst sagte, erhielten die Zeitschriftenredaktionen und Verlage der Sowjetunion damals etwa zehntausend Erinnerungsbände, Romane und Erzählungen über Lagerthemen. Einige Manuskripte wurden veröffentlicht, von denen die des Armeegenerals A. W. Gorbatow wohl am aufschlußreichsten sind. 

In allen diesen offiziell publizierten Memoiren wird jedoch kaum auf die furchtbaren Zustände und Lebensbedingungen in den sowjetischen KZs eingegangen; statt dessen wird beharrlich die alte, wenig plausible Legende von den »Irrtümern« Stalins propagiert, von der Weisheit der Partei, die das sowjetische Volk auf dem Weg des Kommunismus unbeirrbar von Sieg zu Sieg führt, wird die Mannhaftigkeit der Kommunisten gepriesen, die sich in den Lagern den Glauben an die Richtigkeit des Marxismus-Leninismus bewahrt haben, usw.

Veröffentlicht wurden - selbstverständlich - nur die Memoiren von Kommunisten, und berichtet wurde darin hauptsächlich von ins Lager geratenen Kommunisten.

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Das Schicksal all der anderen Menschen jedoch, die dort gelitten haben, überging man mit Schweigen. Und noch dazu versicherten alle diese Memoiren­schreiber übereinstimmend, sie trügen keinerlei Groll gegen die Sowjetmacht im Herzen, und möge ihr eigenes Leben auch verpfuscht und zerstört sein, so habe das keine Bedeutung, denn das wichtigste sei doch, daß die große Sache von Marx, Engels, Lenin den Triumph davongetragen habe. Es dauerte indessen nicht lange, da durften selbst solche Memoiren nicht mehr erscheinen, und das Lagerthema verschwand vollständig von den Druckseiten in der Sowjetunion.

 

  Ginsburg  

 

Unter den Büchern, die für die Veröffentlichung in der Sowjetunion geschrieben wurden, aber nicht erscheinen durften, verdienen sicherlich das größte Interesse die Memoiren der Kommunistin Jewgenija Ginsburg, <Krutoj marschrut> (dt. Marschroute eines Lebens), die heimlich im Samisdat zirkulieren.

Obgleich auch J. Ginsburg in ihren Memoiren ihren unerschütterlichen Glauben an die Partei und an die »große Wahrheit Lenins« bekennt, ist es doch gerade der Widerspruch zwischen diesem Bekenntnis und den realistischen Schilderungen der Säuberungen der dreißiger Jahre und des Lebens im Lager, der dieses Buch in den Augen der Zensur gefährlich erscheinen ließ.

J. Ginsburg hat sich eine erstaunlich klare Erinnerung bewahren können. Die Deutlichkeit und Schärfe ihrer Wahrnehmungen und die Einfachheit und Unmittel­barkeit, mit der sie sie wiedergibt, machen ihr Buch zu einem der eindrucksvollsten Berichte, die es über die Stalinsche Epoche gibt.

Jewgenija Ginsburg erzählt von der Verhaftungswelle der Jahre 1934 bis 1937, diesem Bacchanal, dieser Orgie des Terrors, von den Massenversammlungen, auf denen jeder, der es wagte, auch nur den leisesten Zweifel an der Weisheit der Parteiführung zu äußern, sofort zum »Volksfeind« erklärt und jeder, der Mitleid mit den Verfolgten zeigte, des »verfaulten Liberalismus« beschuldigt wurde; sie berichtet vom Aufkommen der kleinen Stalins in den Provinzen: »1933 trug man die Bilder Rasumows [des Gebietsparteisekretärs — J. M.] singend durch die Stadt, und bei der landwirtschaftlichen Ausstellung waren sie als Mosaik aus allen möglichen Getreidesorten — vom Hafer bis zu Linsen — zu bewundern.«1)

So etwas verträgt sich natürlich schlecht mit den Behauptungen, daß die Kommunistische Partei allezeit die Interessen des Volkes vertreten und für eine sozialistische (also eine echte, wahre, nicht bürgerlich beschränkte) Demokratie gekämpft habe.  

* (d-2014:)  J. Ginsburg bei Detopia 

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Bemerkenswert sind die Porträts der anderen Kommunisten. J. Ginsburg spricht von ihnen mit Sympathie, doch wider ihre Absicht geraten ihr diese realistischen Darstellungen zu Anklagen gegen die Dargestellten. Ihr Mann, Aksjonow, ein hoher Parteifunktionär, Mitglied des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR, murmelt angesichts der Massenverhaftungen nur hilflos: »Ein besonderer Abschnitt in der Entwicklung der Partei... Der Partei darf man nichts übelnehmen.« (S. 37) 

Von den Kindern der hohen Parteiwürdenträger, von der Stickluft der Heuchelei und des Hochmuts in den Kreisen der Parteielite spricht auch J. Ginsburg selbst mit Abscheu. Die Kommunisten, gewohnt, auf ihren geschlossenen Versammlungen alles für das Volk und im Namen des Volkes zu entscheiden, verborgen vor den Untertanen deren Geschicke zu lenken, gewohnt, sich für die auserwählte Kaste zu halten, können von dieser Gewohnheit selbst im Gefängnis nicht lassen. »Tsch-sch, Shenja ... Die Parteilosen dürfen es auf keinen Fall hören.« (S. 99) 

Dieselbe Einstellung, die in den Parteilosen Menschen zweiter Klasse, unmündige Kinder erblickt, die gar nicht würdig sind, die ganze Wahrheit zu erfahren, zeigt sich auch im Gefangenenwagen während des Transports. Den Häftlingen aber, die früher zu den anderen politischen Parteien gehört haben (wobei ja nur die Mitglieder der sozialistischen Parteien überhaupt am Leben geblieben waren), begegnen die Kommunisten mit unversöhnlichem Haß. Die Sozial­revolutionärin Derkowskaja zum Beispiel, die in einer Zelle mit Kommunisten sitzt, wird als »Klassenfeindin« behandelt, und der einzige Gedanke, den der Anblick der Qualen dieser unglücklichen Frau hervorruft, ist: »Man darf sich nicht durch Mitleid weich machen lassen.« (S. 102) 

Dieser Kastengeist kommt, so seltsam es ist, sogar bei J. Ginsburg selbst zum Vorschein, wenn sie im Vorwort zu ihrem Buch schreibt: »Ich habe mich bemüht, alles im Gedächtnis zu bewahren, in der Hoffnung, es eines Tages jenen guten Menschen erzählen zu können, jenen echten Kommunisten, die mich irgendwann gewiß, ganz gewiß, anhören werden.« (S. 7) Offensichtlich sind also nur Kommunisten gute Menschen, und nur den Kommunisten will sie die Wahrheit über das Erlebte berichten!

Mit großem Können (denn auch eine autobiografische Erzählung verlangt schriftstellerische Begabung) schildert J. Ginsburg uns ihre Verhaftung, berichtet vom »Fließband«, das heißt dem ununterbrochenen, mehrere Tage und Nächte dauernden Verhör (»Sie wechseln sich ab — ich muß bleiben. Sieben mal vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf und Essen«, die ganze Zeit auf den Beinen, nach langem Stehen höllische Schmerzen in den Beinen);

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sie erzählt von den grausigen »Butyrki-Nächten«, von den nächtlichen Folterungen im Butyrki-Gefängnis: »Nicht nur ein Schrei, sondern unzählige Schreie und das Stöhnen gefolterter Menschen drangen durch die offenen Fenster in unsere Zelle (...) Die Schreie der Gefolterten wurden vom Brüllen und Fluchen der Folterknechte übertönt (...) Und dazwischen in dieser Kakophonie des Schreckens das Poltern umgeworfener Stühle, das Dröhnen von Tischplatten und noch ein anderes, unbestimmbares Geräusch, das einem das Blut in den Adern erstarren ließ.« (S. 144) 

Die Deutsche Klara, »die die Gestapo gründlich kannte, behauptete jedenfalls, daß die Folterwerkzeuge zweifellos aus Hitler-Deutschland importiert würden« (S. 144) und »daß man auf deren Erfolgen aufbaut. Es sei der gleiche Stil.« (S. 141) Und später im Lager sagt Katja Rotmistrowa, als sie in der »Prawda« auf den ungekürzten Text einer Hitler-Rede »mit einem wohlwollenden Kommentar« und auf ein Bild von Molotow und Ribbentrop stößt: »Ein wunderbares Familienfoto.« (S. 322) Sie wird wegen »antisowjetischer Agitation in der Baracke« erschossen.

Über die Memoiren Jewgenija Ginsburgs wurde unter der russischen Intelligenz heftig debattiert. Die einen waren der Meinung, daß J. Ginsburg sich den Glauben an den »wahren Kommunismus« deshalb habe bewahren können, weil sie alles, was sie erlebte, nur als eine Entstellung des Marxismus-Leninismus, als Abweichung vom rechten Weg auffasse und daß sie aufgrund dieser Borniertheit nicht in der Lage sei, ihre Erfahrungen richtig zu analysieren und die logische Gesetzmäßigkeit des Geschehenen zu erkennen. 

Die anderen vertraten die Ansicht, daß J. Ginsburgs Ergebenheit gegenüber den kommunistischen Idealen einfach eine blinde, bewußtlose und völlig natürliche Schutzreaktion sei, ein Abwehrmechanismus ihrer Psyche, die sich in einem bestimmten Normensystem geformt habe und nun der Katastrophe des Bruchs und der qualvollen Umwertung der Werte entgehen wolle. 

Ein aufmerksames Studium von J. Ginsburgs Buch zeigt jedoch, daß sich die Sache ein wenig komplizierter verhält. J. Ginsburg ist absolut nicht so unbeugsam und orthodox geblieben, wie es scheint; das Denken und Fühlen dieser Frau, das sich im Milieu der Partei-Apparatschiki geformt hat, machte aufgrund ihrer tragischen Erfahrungen tiefe Veränderungen durch, obwohl J. Ginsburg selbst sich dessen nicht vollends bewußt wird und weiterhin die sowjetischen Standardfloskeln verwendet.

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»Wenn die demagogischen Prinzipien, die den Grundzug meiner gesamten Erziehung ausmachten, in meinem Bewußtsein schon so tiefe Wurzeln geschlagen haben, daß ich mir heute kein selbständiges Urteil mehr über die Lage im Land und in der Partei bilden kann, dann werde ich mich von der Stimme meines Gewissens leiten lassen. Und das heißt ganz einfach: (...) Keinem Sophisma Glauben schenken, das die Lüge und den Brudermord rechtfertigen will«, beschließt sie im Gefängnis (S. 70). 

Und das ist bereits eine Abweichung von der sowjetkommunistischen Doktrin, in der ein Begriff wie Gewissen keinen Platz hat und deren ganze Moral sich auf diese These reduziert: »Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet«, und »Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns«

(Lenin formulierte es seinerzeit noch kürzer: »Moralisch ist, was der Diktatur des Proletariats nützt Das Gewissen aber nannte er ein »bourgeoises Vorurteil«.)

»Auf meinem achtzehn lange Jahre währenden <Leidensweg> habe ich dem Tod oft in die Augen gesehen (...) Jedesmal — eisiges Entsetzen und krampfhaftes Suchen nach einem Ausweg. Und jedesmal (trafen) verschiedene rettende Umstände zusammen (...) was auf den ersten Blick reiner Zufall schien, in Wirklichkeit aber wohl gesetzmäßige Offenbarung des großen Guten war, das trotz allem die Welt regiert.« (S. 372) »Leidensweg«, das »große Gute« — das sind wahrlich keine marxistischen Termini. Obgleich sie fortfährt, sich Kommunistin zu nennen, hat sich Jewgenija Ginsburg selbst unbemerkt in eine »elementare« Christin verwandelt. 

Während des fürchterlichen Transports nach Magadan, im Laderaum eines Dampfers, unter menschenunwürdigen Bedingungen, unter dem Röcheln und Stöhnen der Sterbenden, beginnt Jewgenija Ginsburg, selbst schwerkrank, fiebernd und dem Tode nahe, auf einmal zu beten. Die Worte des Gebets brechen von selbst, ohne ihren Willen aus ihr heraus: »Herr, laß mich bis Magadan kommen! Herr, ich bitte dich ... Ich will in der Erde liegen, nicht im Wasser. Ich bin ein Mensch. Du hast doch selbst gesagt: <Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden ...>« (S. 324) 

Was dann folgt, sind schon keine Worte mehr, sondern Taten. In das Lager in Magadan, in dem J. Ginsburg eingesperrt ist, kommt ein Transport aus der Taiga, »Menschen, die in den Goldminen zugrunde gerichtet worden waren, eine noch atmende menschliche Schlacke«, Häftlinge, die nicht mehr arbeitsfähig sind und zum Sterben nach Magadan kommen. 

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Unter diesen halb tot gemarterten Menschen entdeckt Jewgenija Ginsburg plötzlich Major Elschin, den Untersuchungsrichter, der sie seinerzeit verhört und mit Hunger gefoltert hat (er stellte leckere Speisen vor die hungrige Frau hin und forderte sie auf, die von ihm formulierten Aussagen zu unterschreiben). Und jetzt, da sie ihn vor Hunger dem Tode nahe antrifft, läßt Jewgenija Ginsburg ihm ihre Brotration bringen. Diese christliche Geste ist die Vollendung einer Evolution und besiegelt zugleich die endgültige Abkehr von einer Welt, in der die einzige Reaktion auf die Leiden eines Andersdenkenden die Direktive ist: »Man darf sich nicht durch Mitleid weich machen lassen.« 

Obgleich sie fortfährt, ihre Treue zum Marxismus-Leninismus immer wieder hervorzuheben, hat J. Ginsburg in Wahrheit längst aufgehört, Marxistin zu sein. (Eine Erörterung der Frage, ob sich der Marxismus mit dem Christentum vereinbaren läßt oder nicht, würde uns weit ab vom Thema führen; daß das Christentum jedoch unvereinbar ist mit einem Bekenntnis zu Lenin, der vorgeschlagen hat — Brief ans Politbüro vom 19. Februar 1922 —, die Priester alle der Reihe nach und in möglichst großer Zahl zu erschießen, das zumindest unterliegt wohl keinem Zweifel).

 

Es ist sehr interessant, den Erinnerungen der Kommunistin Ginsburg die Memoiren der Antikommunistin Jekaterina Olizkaja gegenüberzustellen, um so mehr, als sich aufgrund eines seltsamen Zusammentreffens die Wege der beiden Frauen einmal kreuzten, J. Olizkaja mit J. Ginsburg in demselben Häftlings­waggon saß und dieselben gefangenen Kommunistinnen beschreibt wie diese. Die Charakterisierung, die J. Olizkaja von den Kommunistinnen gibt, ist erbarmungslos und böse. Sie schildert eine Episode, die J. Ginsburg verschweigt: Bei einem Halt läßt sich ein Begleitsoldat herbei, den Häftlingen eine grüne Zwiebel zu kaufen; die Frauen geben ihm dafür Geld, jede, soviel sie eben hat. J. Olizkaja hat die Aufgabe, die glücklich gekaufte Zwiebel aufzuteilen, und schneidet sie in gleiche Teile. Da wird unzufriedenes Murren laut: Die Häftlinge verlangen, daß die Zwiebel proportional dem eingesammelten Geld geteilt werden müsse (und daß die Frauen, die gar kein Geld hatten, überhaupt nichts bekommen sollen). 

»Zuerst begriff ich nicht«, schrieb J. Olizkaja, 

»Dann verlor ich die Fassung. Diese Frauen, die da mit mir zusammen eingesperrt waren, mochten sein, wie sie wollten, aber es waren doch Kommunistinnen. Alles hätte ich von ihnen erwarten können — aber das! Ich glaube, mir traten sogar die Tränen in die Augen (...) Ich war wütend, daß ich wegen dieser elenden Zwiebel weinen mußte. Nur um gegen die Tränen anzukämpfen, erging ich mich in heftigen Reden darüber, wie früher die Sozialisten im Kerker zusammenhielten, wie sie jeden Krümel miteinander teilten, ohne darauf zu sehen, wer wieviel Geld hatte, wie sie auf die Kranken und Schwachen Rücksicht nahmen.«2)

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Jekaterina Olizkaja ist die Tochter eines Narodowolzen, und sie selbst und ihr Mann waren Mitglieder der Partei der Sozialrevolutionäre. Zum erstenmal verhaftet wurde sie 1924, weil sie plante, eine illegale Studentenzeitschrift herauszubringen; sie verbrachte in der Folge fast die ganze Zeit bis zu Stalins Tod (beinahe dreißig Jahre) im Gefängnis, im Lager und in der Verbannung. Ihr Buch »Moi wospominanija« (Meine Erinnerungen) stellt ein unschätzbares historisches Dokument dar, gehört doch die Autorin zu den ganz wenigen Überlebenden, die noch das Lager der zwanziger Jahre kennengelernt haben. 

In ihrem Buch finden wir eine eingehende Schilderung des Lagers auf den Solowezki-Inseln, wohin Lenin die Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Anarchisten und die der Erschießung entronnenen Mitglieder der nichtsozialistischen Parteien deportieren ließ. J. Olizkaja berichtet von der Erschießung der auf den Solowezki-Inseln inhaftierten Sozialisten am 19. Dezember 1923; von dem Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre 1922, den sie beobachten konnte und der sich kaum von den späteren Stalinschen Schauprozessen unterschied; und von den Säuberungen unter Studenten und Professoren »nach dem Klassenprinzip« in den zwanziger Jahren.

Ihre Erinnerungen sind ein bewegender Bericht über das dramatische, jedoch kaum bekannte Schicksal der Partei der Sozialrevolutionäre, jener Partei, die bei den freien Wahlen zur Konstituierenden Versammlung 1917 die meisten Stimmen erhielt und die dann nach und nach in den Lagern aufgerieben wurde. Von dieser Vernichtung, dem hoffnungslosen, ohne Echo bleibenden unbekannten Kampf, den die Sozialrevolutionäre hinter den Gefängnismauern für ihre Rechte als politische Häftlinge führten — Rechte, die sie sich in den Kerkern des Zarenregimes erkämpft hatten und die ihnen jetzt von den Bolschewiki verwehrt wurden —; von den heldenhaften Massenhungerstreiks der Sozialrevolutionäre, von ihrer Geschlossenheit und Solidarität und von ihrem langsamen Untergang in diesem ungleichen Kampf erzählt J. Olizkaja mit liebender Gewissenhaftigkeit und Eindringlichkeit, in dem Bewußtsein ihrer Pflicht: der Pflicht der letzten Zeugin. »Warum mußten sie alle zugrunde gehen, warum durfte nur ich überleben, die ich nicht einmal richtig von ihnen zu erzählen vermag?« ruft sie voll Schmerz und Trauer aus.

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Einige aufschlußreiche Details des Lagerlebens erfahren wir auch aus den Erinnerungen von K. Wadot — »W shenskom rabotschem lagere« (Im Frauen­arbeits­lager) — und vor allem aus den beachtlich geschriebenen »Wospominanija« (Erinnerungen) von Olga Adamowa, die viele Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern verbracht hat; sie berichtet voll Bitterkeit über ihre Erfahrungen, zeigt sich vollständig desillusioniert über den Kommunismus als Ideologie und als Gesellschaftssystem und erachtet die KZ und den Massenterror für die naturnotwendige Frucht des Bolschewismus (einige von Solschenizyns Schlußfolgerungen finden wir in ihrem Buch vorweggenommen).

Über die Zustände und Lebensbedingungen in den Kolonien für minderjährige Verbrecher berichtet Pjotr Jakirin seinem Buch »Detstwo w tjurme« (dt. Kindheit in Gefangenschaft). Der zweite Teil seiner Erinnerungen wurde leider bei einer Haussuchung beschlagnahmt und ging damit dem Samisdat verloren.

Pjotr Jakir ist der Sohn des 1937 erschossenen Armeekommandeurs Ion Jakir und wurde mit vierzehn Jahren als Sohn eines »Volksfeindes« verhaftet. Seine Leidensgefährten im Gefängnis waren nicht nur viele Kinder, deren Eltern gleichfalls den Repressionen zum Opfer gefallen waren, sondern auch einige Jungen, die für eigene »politische Verbrechen« verurteilt waren, wie zum Beispiel ein dreizehnjähriger Kalmück: »Er hatte bei den Wahlen zum Obersten Sowjet im Dezember 1937 mit einer Schleuder auf ein Stalinbild geschossen. Die Anklage berief sich auf Artikel 58-8« (terroristische Absichten).3)  

Die Masse der minderjährigen Häftlinge jedoch bestand natürlich aus »Besprisornyje«, Dieben, »Hooligans« — und sie waren es, die bei Jakir und den anderen völlig unschuldigen Heranwachsenden im Verlauf dieser langen Jahre die Anschauungen und moralischen Normen prägten.

Wie jene Menschen, die man aus den vor dem Zweiten Weltkrieg okkupierten Territorien (Lettland, Bessarabien, Westliches Weißrußland) nach Sibirien deportiert hatte, in der Verbannung lebten, schildert Jelena Ischutina in ihrem Buch »Narym«4. Es ist ein Tagebuch, das J. Ischutina viele Jahre hindurch geführt hat — nur für sich selbst, um einstmals alles wiederlesen und sich erinnern zu können, und ohne Rücksicht darauf, daß auch andere diese Notizen lesen würden. 

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Daher sind diese lakonischen Aufzeichnungen so bestechend schlicht, bescheiden und aufrichtig. Tag für Tag hielt J. Ischutina auch noch die kleinsten Details des Lebens in der Verbannung fest: die schwere Arbeit, die Enge, Schmutz, Hunger und Rechtlosigkeit.

Sehr großen Erfolg hatten die im Samisdat weit verbreiteten extravaganten Memoiren von Wladimir Gussarow »Moj papa ubil Michoelsa« (dt. Mein Vater, der Bonze). Hier vermischen sich Sarkasmus, auch ein Gutteil Komik, und tiefe Bitterkeit und Schmerz; die groteske Darstellungsweise betont nur die Absurdität der geschilderten Wirklichkeit.

Wladimir Gussarow ist der Sohn eines hohen Stalinschen Parteifunktionärs, der einen entscheidenden Posten in Minsk innehatte, wo auf Befehl Stalins der berühmte jüdische Schauspieler und Regisseur Solomon Michoels ermordet wurde. Sehr anschaulich gibt Gussarow die Atmosphäre wieder, die in den Kreisen der Spitzenfunktionäre herrscht: Heuchelei, Lüge, sklavische Verherrlichung des vergötzten Führers. Seine freie Suche nach Wahrheit führt Gussarow ins Lubjanka-Gefängnis. Der Vater versucht zu erwirken, daß Wladimir nicht ins Lager, sondern in die psychiatrische Spezialklinik in Kasan kommt; er bemüht sich, das als Fürsorge für den Sohn erscheinen zu lassen, wo er in Wahrheit nur einen Skandal vermeiden und seine Karriere retten will.

Dennoch besitzt er nicht genug Schamlosigkeit, sich völlig von seinem Sohn loszusagen — er besucht ihn ab und zu, in ihm widerstreiten die Empfindungen; schließlich hat seine Karriere doch zu leiden, er wird degradiert. Diese Beziehung zwischen dem frei und anders denkenden Sohn und dem orthodoxen Vater ist psychologisch äußerst aufschlußreich nachgezeichnet; ebenso interessant sind die Begegnungen mit vielen verschiedenen Menschen im Gefängnis und in der Heilanstalt geschildert.

Gussarow hat zahlreiche Essays halb autobiografischen, halb publizistischen Charakters für den Samisdat verfaßt. Besonderer Popularität erfreute sich seine Skizze »I primknuwschij k nim Schepilow« (>Und Schepilow, der sich ihnen angeschlossen hat<; das ist eine Standardformel, die während des Kampfes gegen die von Chruschtschow schließlich zerschlagene »parteifeindliche Gruppe« ständig in den Zeitungen auftauchte). Gussarow hatte mit Schepilow Bekanntschaft schließen können, als dieser in der Verbannung lebte, und hielt dann den Kontakt in Moskau aufrecht. Die Schilderung dieses in Ungnade gefallenen Parteiwürdenträgers und des Lebens der Machtelite enthält eine Menge interessanter Beobachtungen.

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Hierher gehört auch das Buch »Sapiski Sologdina« (Sologdins Aufzeichnungen) von Dimitrij Panins. Obgleich sie bereits im Westen geschrieben wurden, nach Panins Ausreise aus der Sowjetunion 1972, riefen diese Erinnerungen großes Interesse in Rußland hervor und zirkulierten dort im Samisdat (ebenso wie die sehr reichhaltigen Lagererinnerungen von A. Schifrin »Tschetwjortoje ismerenije« [Die vierte Dimension]6) und der Roman »Podkonwojnyj mir« [Bewachte Welt],7) die ebenfalls nach der Ausreise ihrer Autoren in den Westen geschrieben wurden). 

Das Interesse erklärt sich hauptsächlich daraus, daß Panin der Prototyp einer der Hauptfiguren in Alexander Solschenizyns »Erstem Kreis der Hölle« ist (des Häftlings Sologdin) — in seinem Buch erzählt er von denselben Menschen, die Solschenizyn beschrieben hat, von Solschenizyn selbst und von dem Lager, das dieser in seiner Novelle »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« dargestellt hat.

Doch auch noch etwas anderes macht Panins Buch so lesenswert: Sehr freimütig und bündig werden hier Ansichten formuliert, die heute in Rußland überall verbreitet sind — die scharf negative Einstellung zur bolschewistischen Revolution, die vehemente Ablehnung des sowjetischen Systems, der Haß auf die herrschende Elite. 

Jene, die leichthin über die Möglichkeiten und Wege der Demokratisierung in der Sowjetunion räsonieren und das Haupthindernis dafür lediglich in der konservativen Starrheit der sowjetischen Führer sehen, werden, wenn sie dieses Buch gelesen haben, vielleicht begreifen, daß das entscheidende Hindernis, so seltsam es klingen mag, nicht oben an der Spitze, sondern unten an der Basis zu suchen ist. Die Demokratie ist ein Kompromiß, ist die friedliche Koexistenz antagonistischer Gruppierungen, doch wenn dieser Antagonismus, wenn der gegenseitige Haß einen solchen Grad erreicht, daß das Land praktisch im Zustand des »kalten« Bürgerkriegs lebt, ist es sehr schwer, von Demokratie zu reden.

»Wir wären sogar mit einem Frühkapitalismus wie im neunzehnten Jahrhundert einverstanden. Immerhin gab es damals keine Sklaverei, die Arbeit war freiwillig, man konnte gegen den Kapitalismus kämpfen, bekam Unterstützung vom Parlament, von den Philanthropen. Die >Geschwüre des Kapitalismus< hielten keinerlei Vergleich mit dem System des >siegreichen Sozialismus< aus, wie es sich vor uns eröffnet, mit seinem Hungerdasein, der Zwangsarbeit, dem Kannibalismus auf dem Dorf, der Zerschlagung des Geisteslebens, der grausamen Moral, dem totalen Terror, den Verfolgungen und Denunziationen ...« (S. 24)

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»Dieses riesige, in seinem Grunde christliche Land hat sich in eine Pflanzstätte zur Züchtung einer neuen Menschenrasse verwandelt, die unter Massenterror und totalem Atheismus heranwächst. Diese ganz neuen Unmenschen begannen, alles Menschliche und Geistige zu zertreten und zu zerstören, das Leben bestialisch zugrunde zu richten. Es entstand eine neue Gesellschaft, von Affenmenschen regiert.« (S. 25)

Was die Menschen, die durch die Stalinschen Lager gegangen sind, erfahren und erlitten haben, wird heute in einer Vielzahl von Samisdat-Essays unter historischen, soziologischen und philosophischen Aspekten analysiert und aufgearbeitet. Das Endergebnis und der Gipfel dieser vielgestaltigen und langwierigen Arbeit ist ohne jeden Zweifel Alexander Solschenizyns grandioses Werk »Der Archipel GULag«. (Sein Buch »Bodalsja teljonok s dubom« [dt. Die Eiche und das Kalb] ist übrigens ein brillantes Beispiel literarischer Memoiren.)

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Es existiert auch schon eine umfangreiche Memoirenliteratur über die heutigen, nachstalinschen Konzentrationslager und Gefängnisse. Am bekanntesten wurde das aufsehenerregende Buch »Moi pokasanija« (dt. Meine Aussagen) von Anatolij Martschenko. 1958 wird Martschenko nach einer Schlägerei und Messerstecherei in seinem Arbeiterwohnheim, an der er gar nicht teilgenommen hatte, irrtümlich mit verhaftet, verurteilt und ins KZ gebracht.

Damals ist er noch keine zwanzig Jahre alt. Diese Ungerechtigkeit weckt Martschenkos Bewußtsein und beschleunigt seine politische Reifung. Er flieht aus dem Lager und versucht, die Grenze nach Iran zu überschreiten, wird jedoch wieder gefaßt, des »Verrats an der Heimat« angeklagt und in die mordwinischen Lager geschickt, diesmal bereits als politischer Häftling. 

Nach einem erneuten mißlungenen Fluchtversuch wird Martschenko in das furchtbare Gefängnis von Wladimir gebracht. Er erkrankt an Gehirnhaut­entzündung, wird aber nicht behandelt; durch ein Wunder bleibt er am Leben, verliert aber für immer sein Gehör. Im November 1966 verläßt Martschenko das Lager als gesundheitlich ruinierter Mann: Taubheit, schreckliche Kopfschmerzen, Darmblutungen. Er muß als Lastträger arbeiten, obwohl der Arzt ihm schwere körperliche Arbeit verboten hat, aber er hat keine andere Wahl — eine andere Arbeit bekommt er nicht. 

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Gleich nach der Entlassung schreibt Martschenko das Buch »Meine Aussagen«, das im Samisdat zu zirkulieren beginnt und ins Ausland gelangt. Martschenkos Enthüllungen waren so furchtbar und so gefährlich für die Machthaber, daß man ihn wieder verhaftete und für ein Jahr ins Lager steckte; nach Ablauf dieses Jahres wurde er zusätzlich noch zu zwei Jahren Lager mit strengem Regime verurteilt. 1971 wird Martschenko entlassen, aber man läßt ihn nicht in Ruhe; er darf in keiner Großstadt wohnen, steht unter der Aufsicht der Miliz, darf seine Wohnung nach acht Uhr abends nicht mehr verlassen, darf keine öffentlichen Örtlichkeiten aufsuchen. Im Februar 1975 wird Martschenko erneut verhaftet und zu Verbannung verurteilt — angeblich wegen Verletzung der »Überwachungsvorschriften«, in Wahrheit aber, weil er die Entlassung aus der sowjetischen Staats­bürgerschaft beantragt hatte.

Martschenkos Buch ist die detaillierteste und an Belegen reichste Beschreibung, wie die Gefangenen in den heutigen sowjetischen Gefängnissen und Lagern leben. »Die heutigen sowjetischen Lager für politische Gefangene sind ebenso grauenhaft wie Stalins Lager oder in mancher Beziehung sogar noch schlimmer«, schreibt Martschenko (S. 7). 

»Als ich im Gefängnis von Wladimir saß, überkam mich oftmals die Verzweiflung. Hunger, Krankheit und vor allem die Schwäche, das Unvermögen, gegen das Böse zu kämpfen, führten dazu, daß ich bereit war, mich auf meine Gefängniswärter zu stürzen, mit dem einzigen Ziel, zu sterben; oder ich dachte daran, mein Leben auf andere Weise zu beenden (...) Nur eines hielt mich zurück und gab mir die Kraft, in diesem Alptraum zu leben: die Hoffnung, herauszukommen und allen zu erzählen, was ich gesehen und erlebt habe. Ich schwor mir, dafür alles auszuhalten und zu ertragen. Ich versprach es meinen Genossen, die noch jahrelang hinter Gittern und Stacheldraht bleiben müssen.« (S. 5) 

Als er sich daran machte, sein Enthüllungsbuch zu schreiben, war Martschenko klar, was ihn erwartete, doch das Verlangen, die Wahrheit zu sagen, war so stark, daß er bereit war, wieder vor seinen Gefängniswärtern zu erscheinen. Die Antwort für sie hatte er parat: »Ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand. Und jetzt bin ich wieder hier bei Ihnen.« (S. 9)

Martschenko verfügt über eine ausgezeichnete Beobachtungsschärfe und über die Fähigkeit, seine Beobachtungen plastisch und anschaulich wiederzugeben.

Wenn man sein Buch liest, sieht man alles deutlich vor sich — den Häftlingswaggon, wo fünfzehn Menschen in ein Abteil gestopft werden und nichts als ein Stück

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Salzhering ohne Wasser zu essen bekommen; die Zelle im Wladimirgefängnis, wo fünf Häftlinge auf zwölf Quadratmetern sitzen, im Halbdunkel (Tag und Nacht brennt eine schwache Glühbirne), in der Kälte (der Teebehälter mit heißem Wasser auf dem Fußboden ist nach einer Viertelstunde kalt) und hungernd (die Nahrung war schwarzer fauliger Kohl, ebenso fauliger Strömling, hartgefrorene Kartoffeln — und von all dem auch noch erbärmlich wenig).

Im Lager, wo die Bedingungen etwas besser sind als im Gefängnis, bekommt der Hund, der die Gefangenen bewacht, neunmal mehr, als die Tagesration der Häftlinge beträgt. Manch einer, der die Zustände im Lager nicht mehr aushält, wirft sich in den Stacheldraht, damit die Bewacher ihn erschießen.

Martschenko besitzt eine beachtliche literarische Begabung; sehr treffend und einprägsam vermag er Dialoge wiederzugeben. Die Personen charakterisiert er durch die direkte Rede; vor unseren Augen erstehen lebhaft und anschaulich die Aufseher, die Häftlinge und die Vorgesetzten des Lagers.

Jene, die die Stalinschen Lager erlebt haben, erfahren aus Martschenkos Buch manches Neuartige, das es in den früheren Lagern nicht gab — wie etwa die in den heutigen Lagern weit verbreitete bizarre und grausige Form des Protests, sich auf Stirn oder Wangen zu tätowieren: »Sklave der KPdSU«, »Sklave der UdSSR«, »Lenin ist ein Henker«, »Kommunisten sind Henker«. Solche Tätowierten schleppt man ins Krankenrevier und schneidet ihnen das Stück Haut ohne Betäubung heraus (damit es möglichst weh tut).

Im Gefolge des Buchs von Martschenko kamen die Zeugnisse anderer Häftlinge in Umlauf, die aus dem Lager entlassen waren und sich noch dort befanden, aber ihre Notizen heimlich nach draußen schmuggeln konnten. Von den Büchern, die Gitter und Stacheldraht zu überwinden vermochten, rief das »Lagertagebuch« (Originaltitel: »Dnewniki«) von Eduard Kusnezovfi die größte Sensation hervor. Allein die Tatsache, daß dieses Tagebuch überhaupt geschrieben werden und in die Freiheit gelangen konnte, erscheint unbegreiflich: Mit Kusnezow in einer Zelle saß ein eigens auf ihn angesetzter Spitzel, schreiben konnte er nur, wenn dieser Hofgang hatte (Kusnezow verzichtete auf den Rundgang an der frischen Luft, um allein bleiben und schreiben zu können), und alle Augenblicke spähte der Aufseher durch das Guckloch herein. Seine Aufzeichnungen bewahrte Kusnezow in einem raffinierten Versteck. Wegen der Weitergabe dieses Tagebuchs in den Westen verhaftete man den Dichter W. Chaustow und den Literaturkritiker G. Superfin (März bzw. Mai 1974).

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Eduard Kusnezow wurde zusammen mit zehn Freunden am 15. Juli 1970 auf dem Leningrader Flughafen Smolnoje festgenommen: ein Provokateur hatte der Polizei verraten, daß Kusnezow und seine Freunde vorhatten, sich eines Flugzeugs zu bemächtigen und ins Ausland zu fliehen (einer von ihnen war Pilot). Kusnezow wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt, doch nach zahlreichen Protesten, unter dem Druck der Weltöffentlichkeit, wandelte der Oberste Gerichtshof der RSFSR das Urteil in fünfzehn Jahre Konzentrationslager um.

Kusnezows »Lagertagebuch« ist nicht nur ein ergreifendes Dokument, das von dem Leben des zur Erschießung Verurteilten in der Todeszelle Zeugnis gibt, sondern auch ein Werk von großer künstlerischer Überzeugungskraft, das Bekenntnis eines klugen, tiefen Menschen, der mit rückhaltloser Offenheit an der Schwelle des Todes seine innersten Empfindungen bloßlegt. »Das Tagebuch ist für mich der Ausdruck des bewußten Widerstandes gegen eine unmögliche Lebensweise.« (S. 144) Die Geradheit und der Mut dieses Mannes gewinnen jeden, der seine Aufzeichnungen liest, und verleihen jedem einzelnen seiner Worte besondere Bedeutsamkeit und Überzeugungskraft.

Kusnezow und seine Freunde wußten, daß ihr Versuch, ins Ausland zu flüchten, mit einem Mißerfolg enden würde, weil sie gemerkt hatten, daß man sie beschattete. Sie sahen die Hoffnungslosigkeit ihres Unternehmens, und dennoch taten sie diesen selbstmörderischen Schritt, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Problem der fehlenden Ausreisefreiheit zu lenken. 

Ihr Opfer war nicht vergebens: Nach dem skandalösen Prozeß (nach Kusnezows Worten »ein Fußtritt in das mit Warzen behaftete Gewissen der Kremldemagogen, die ja öffentlich die bloße Existenz eines Emigrationsproblems bestreiten«, S. 163) ließen die Machthaber endlich die massenhafte Auswanderung von Juden aus der UdSSR zu.

Das Recht auf Emigration ist für Kusnezow das bedeutsamste Recht für alle jene, die wie er das sowjetische System nicht akzeptieren und nicht an die Möglichkeit seiner Verbesserung glauben. Dieses Bewußtsein der Unmöglichkeit, aus dem Land auszureisen, war es, das Kusnezow zum erstenmal dazu drängte, über das Wesen des in der Sowjetunion herrschenden Gesellschaftssystems nachzudenken:

»Nachdem ich — ich war noch Schüler — in aller Klarheit und Konsequenz begriffen hatte, daß die Welt für mich verschlossen war, begann ich mir die Losungen genauer anzuschauen und zu versuchen, hinter ihren Sinn zu kommen.«

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Großes psychologisches und sachliches Interesse verdienen Kusnezows Aufzeichnungen über die Untersuchungs­methoden und die Art und Weise, wie der Prozeß hinter den Kulissen arrangiert wird, seine Porträts der Staatsanwälte und Untersuchungsrichter, wie etwa des Hauptmanns Saweljew, der Kusnezow »auf die Taufe zum Toten« vorbereitet und erklärt: »Für unsere Feinde kann keine Strafe grausam genug sein.« (S. 53) Interessant sind die Schlußfolgerungen, die Kusnezow aus diesen Beobachtungen zieht: 

»Die Tscheka ist heute bei weitem nicht mehr das, was sie früher war. Dabei spreche ich hier nicht von den dreißiger und vierziger Jahren, als die verhörenden Beamten die Leute mit Begeisterung zu Tode prügelten — alles für den Aufbau des Kommunismus. Aber selbst vor zehn Jahren [1961 war Kusnezow im Zusammenhang mit der Untergrundzeitschrift »Feniks-66« verhaftet und zu sieben Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt worden — J. M.] gab es noch nicht diesen Zynismus unserer Tage, den Zynismus von Menschen, die noch vor kurzer Zeit automatisch einem blutrünstigen Kult dienten, während sie heute nur mehr Bedienstete in einem Tempel sind, den die Gottheit verlassen hat. In dem Raum, in dem die Verhöre durchgeführt werden, ist jetzt nicht mehr die Rede davon, welch ein Glück es ist, sich als Sowjetbürger bezeichnen zu können. Man hört nichts mehr von der lichten Zukunft, für die man vieles erdulden kann und muß ... (wie weit das ernst gemeint war, ist eine andere Frage). Heute bearbeitet man dich im Zimmer des Untersuchungsrichters, als sei es die Küche einer Gemeinschaftswohnung: <Du kannst doch nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen!> — <Wozu willst du so hoch hinaus?> — <Bleib schön ruhig!...>« (S. 173) 

»Ein Regime, das nicht nur seine Stärke, sondern auch seine Rechtlichkeit kennt, bestraft nicht mit hysterischer Grausamkeit.« (S. 61)

Wie für Schalamow ist auch für Kusnezow die Erfahrung des Lagers rein negativ: 

»Lager — das bedeutet grenzenlos erniedrigendes Milieu, es bedeutet das bewußte Konstruieren von Bedingungen, unter denen der immer wieder in die Enge getriebene Mensch an der Notwendigkeit zu zweifeln beginnt, daß er dem dient, was er als wahr erkannt hat: Er glaubt nur mehr an die Wahrheit der Biologie und der Anpassung.« (S. 61) 

Er glaubt auch nicht daran, »daß die tiefe Wahrheit und Reinheit vor allem durch Leiden erreicht werden können« (S. 66).

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Auch dem Dichter Aleksandr Petrow-Agatow gelang es, seine Aufzeichnungen aus dem Lager nach draußen zu schmuggeln. Sein Buch »Arestantskije wstretschi« (Begegnungen unter Häftlingen)10 versammelt bemerkens­werte Erzählungen von Menschen, die heute in den sowjetischen KZ leben. Petrow-Agatow ist der Autor des sehr populären Soldatenliedes »Dunkle Nacht«. Nach dem Krieg wurde er verhaftet und verbrachte zwanzig Jahre (von 1947 bis 1967) im Lager, doch schon 1968 wurde er erneut verhaftet und wegen »antisowjetischer« Gedichte zu sieben Jahren Lager verurteilt. Diese neue Frist war zuviel für ihn; er wurde physisch und moralisch gebrochen. Am 2. Februar 1977 veröffentlichte die »Literaturnaja gaseta« seinen Widerruf, in dem er sich nicht nur von seiner ganzen Vergangenheit lossagte, sondern auch seine Mithäftlinge verleumdete.

 

Sehr lebendig und klug geschrieben sind die Skizzen des religiösen Schriftstellers Anatolij Lewitin-Krasnow, die er gleich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im August 1970 unter dem Titel »Moje woswraschtschenije« (Meine Rückkehr)11 schrieb. Kurz darauf wurde er erneut verhaftet (bereits zum viertenmal; die erste Verhaftung war 1934) und kam ins KZ. Besonders interessant sind Lewitin-Krasnows Beobachtungen über die einfachen russischen Menschen in den Gefängnissen, die nichtpolitischen Kriminellen.

»Nach wie vor ist im Volk jene verwegene Kühnheit lebendig, mit der die frische Unbekümmertheit einhergeht. Es ist in diesem Zusammenhang erstaunlich, welche Lebenskraft bis in unsere Tage eine Erscheinung wie das Vagabundentum besitzt. Ich hatte nicht erwartet, daß ich eine so große Zahl von Vagabunden im Gefängnis antreffen würde.« (S. 56)

Unter den übrigen Samisdat-Memoiren und Skizzen über heutige Lager und Gefängnisse sind noch zu nennen: 

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Die Verbannung nach Sibirien behandelt Andrej Amalrik in einem sehr aufschlußreichen Buch. Seine »Neshelannoje puteschestwije w Sibir« (dt. Unfreiwillige Reise nach Sibirien)12 berichtet vom System der Zwangsarbeit in der Sowjetunion. Im Mai 1965 wurde Amalrik verhaftet und nach dem Gesetz gegen »arbeitsscheue Elemente« zu zweieinhalb Jahren Verbannung bei Verpflichtung zu körperlicher Arbeit verurteilt: Weil er als Student der historischen Fakultät der Moskauer Universität eine Diplomarbeit über »Die Normannen und die Kiewer Rus« vorgelegt hatte, in der er unorthodoxe Ansichten über die Geschichte der Entstehung des russischen Staatswesens vertrat, war er von der Universität relegiert worden und hatte nirgends Arbeit finden können. 

Das Gericht ignorierte sowohl die Tatsache, daß Amalrik zu Hause Auftragsarbeiten übernahm (Übersetzungen und Korrekturlesen), als auch, daß er die ganze Zeit über seinen schwerkranken Vater pflegen mußte. Im Übergangsgefängnis trifft Amalrik andere »Arbeitsscheue«: den Ofensetzer und den Schuster, die privat gearbeitet hatten und natürlich auch keine Bescheinigung über einen festen Arbeitsplatz besaßen; er trifft »Wiederholungsparasiten«, das heißt Menschen, die in den Teufelskreis der sowjetischen Justiz geraten sind: Aus der Verbannung zurückgekehrt, konnten sie keine Arbeit finden, weil sie keine Aufenthaltserlaubnis hatten, und bekamen keine Aufenthaltsgenehmigung, weil sie keinen Arbeitsplatz nachweisen konnten.

Amalrik wird nach Sibirien in das abgelegene Dorf Gurjewka geschickt, wo er in einem Kolchos arbeitet: Er hebt Löcher für Pfosten aus, weidet das Vieh, fährt das Futter für die Kühe heran. Für einen Arbeitstag bekommt er einen Liter Milch und ein Ei oder auf Wunsch dreißig Kopeken (»Ich arbeitete fast eine ganze Woche lang zehn Stunden täglich, um mir ein Kilo Butter kaufen zu können« [S. 139]). Alle anderen Kolchosbauern bekommen genauso viel, nur mit dem Unterschied, daß von ihnen jeder seine kleine Privatwirtschaft hat, die ihn im wesentlichen ernährt. »Sie hungern zwar nicht, sind aber dazu verdammt, ununterbrochen ihrem eigenen Vieh dienen zu müssen. Kaum haben sie ihre Arbeit im Kolchos beendet, müssen sie schon wieder Kühe melken, Ferkel füttern oder für ebendiese Ferkel Kartoffeln häufeln.« (S. 144)

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Dieses Buch ist die wohl ausführlichste, eindringlichste und krasseste Schilderung der Zustände im heutigen sowjetischen Dorf. Amalrik erzählt von dem öden, freudlosen, schweren Leben der sowjetischen Bauern, die rechtlos Fronarbeit leisten (bis 1976 bekamen sie keine Pässe und konnten nicht aus ihren Dörfern wegziehen). Eingehend analysiert er die erzwungene und deshalb unproduktive Arbeit der Kolchosbauern für den Staat.

Seine Beobachtungen über das Leben des einfachen Volkes ließen in mancher Hinsicht bei ihm jene Gedanken zur Reifung kommen, die er später in seinem Buch »Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?« niederlegte (wir erwähnten diese Schrift weiter oben).

Auch wenn er aus dem Lager oder der Verbannung in die Heimat zurückgekehrt ist, bleibt ein Mensch, der einmal verurteilt wurde, für sein ganzes Leben gezeichnet, und die Behörden legen ihm alle möglichen Hindernisse in den Weg: er darf hier keine Arbeit annehmen, bekommt dort keine Zuzugsgenehmigung usw. Von diesen und ähnlichen Erfahrungen berichtet Wladimir Ossipow in seinen Erinnerungen »W poiskach kryschi« (Auf der Suche nach einem Dach). 

Lesenswert ist auch seine Skizze »Ploschtschad Majakowskogo, statja 70-aja« (Majakowskijplatz Artikel 70)13, in der Ossipow von der Entstehung junger Dichterzirkel im Moskau der ausgehenden fünfziger Jahre erzählt, von ihren öffentlichen Gedichtrezitationen auf dem Majakowskijplatz, von der Gründung einer illegalen Literaturzeitschrift und von der Verhaftung und Verurteilung der aktivsten der jungen Oppositionellen (darunter Ossipows selbst). Nachdem er seine Frist im Lager abgesessen hatte, gründete Ossipow die Untergrundzeitschrift »Wetsche« und wurde erneut verhaftet.

Eine ganze Reihe von Augenzeugenberichten gibt es auch schon über die psychiatrischen Kliniken, in die man die Andersdenkenden einsperrt. Die Schilderungen von Menschen, die diese Anstalten von innen kennengelernt haben, erfüllen uns mit Schrecken: der Hohn der Ärzte und Pfleger, Schläge, gewaltsame Anwendung von stark wirkenden Medikamenten, die die Psyche ruinieren und gesunde Menschen in halb Wahnsinnige verwandeln, die unerträgliche Atmosphäre des Irrenhauses, wo gesunde Menschen gezwungen werden, unter Tobenden, Unzurechnungsfähigen, Schwachsinnigen zu leben, die vollständige Rechtlosigkeit (die viel größer ist als die der Häftlinge im KZ), die Willkür der Administration.

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Die bekanntesten dieser Berichte und Zeugenaussagen sind:  

 

Von Repressionen ganz anderer Art, die vielleicht weniger grausam, doch nicht minder absurd sind, berichtet der Literaturkritiker Ju. Eichenwald in seinem »Diarium« »Kak nas uwolnjali« (Wie wir entlassen wurden). Eichenwald und seine Frau W. Gerlin unterrichteten an einer Schule Literatur. Nachdem sie einen Offenen Brief zugunsten der beiden verhafteten Literaten Galanskow und Ginsburg unterschrieben hatten, wurden sie entlassen, weil sie »aufgrund ihrer ideologischen und politischen Positionen kein Vertrauen verdienten«: »Ein Mensch, der schwankt oder zweifelt, kann unsere Ideologie nicht richtungweisend repräsentieren, kann kein Erzieher sein, kann nicht an unserer Schule arbeiten«, erklärt der Direktor auf der Gewerkschafts­versammlung.15) 

Eichenwalds Bericht über diese Versammlung und über die Sitzung des vereinigten Gewerkschaftskomitees des Moskauer Samoskworetschje-Bezirks ist ein einzigartiges Dokument, das die Atmosphäre der Intoleranz, Verdächtigung und Lüge, die an sowjetischen pädagogischen Einrichtungen herrscht, außerordentlich schlagend wiedergibt. Als Kopien dieses Dokuments in Moskau zu zirkulieren begannen, wurden sie einem buchstäblich aus der Hand gerissen. 

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Einzelne Stellen wurden im Freundeskreis laut vorgelesen und ernteten einträchtiges Gelächter — derart unsinnig sind die Äußerungen, die die Vorgesetzten und einige »der Partei treu ergebene« Lehrkräfte von sich geben und die manchmal wie ein blanker Witz wirken. 

»Früher wußte an unserer Schule überhaupt kein Mensch etwas von Andrej Belyj, Sascha Tschornyj, Anna Achmatowa oder Gumiljow, keiner sprach von ihnen. Aber heute! Von wem haben sie diese Namen gehört? Mich hat ein Vorfall aufs äußerste alarmiert, als einer aus der neunten Klasse bei der Diskussion fragte, warum man das Ende Gumiljows nicht als Heldentod bezeichnen könne.« 

Das sagt einer der Lehrer, und ein anderer sekundiert ihm: 

»Schon in ihrem [Eichenwalds und Gerlins — J. M.] pädagogischem Konzept liegt das Delikt verborgen! Selbständigkeit! Eigenes Denken! Sie haben nicht die richtige Gesinnung, das ist es. Selbständiges Denken im Unterricht — das möchten sie gern! Zuerst einmal muß man richtig denken — hinterher dann meinetwegen auch selbständig.«

Was das Ergebnis dieser Art von Erziehung ist, zeigt die sehr eindrucksvolle Schlußszene aus dem Unterricht: 

»Ein Neuntkläßler schreibt auf einen Zettel: <Aus der Sache mit Eichenwald habe ich eine Menge gelernt.> Die Banknachbarin schreibt zurück: <Was denn?> — <Du offenbar nichts, wenn du glaubst, daß ich dir das verrate!> Und knüllt im nächsten Augenblick das Papier zusammen und steckt es in die Tasche.«

Von einigem literarischen Wert ist auch Eichenwalds Skizze »Angel, Stalin i tretij lischnij« (Der Engel, Stalin und noch ein Dritter), in der er von seiner Kindheit erzählt: die Verhaftung des Vaters wegen »bucharinistischer Abweichung«, als der Knabe fünf Jahre alt war; dann, mit neun Jahren, die Verhaftung der Mutter; das Leben mit der Großmutter; die Massenverhaftungen ringsum (fast täglich kam eines der Kinder mit verweinten Augen in die Schule); das traumatisierte Bewußtsein der Kinder, das frühe Leid und die frühzeitige Reifung.

Von Kindheitserlebnissen der gleichen Art (wie sie in Rußland Millionen von Kindern durchmachen mußten) berichtet Shores Medwedew in seinem Buch »Rasskas o roditeljach« (Erzählung über die Eltern)16.

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Wer wissen will, wie der Samisdat entstanden ist und wie er arbeitet, wird mit Interesse das Buch »Odin polititscheskij prozess« (Ein politischer Prozeß) von Rewolt Pimenowlesen, einem fähigen jungen Wissenschaftler und Doktor der Mathematik. Er berichtet von der Entstehung oppositioneller Zirkel nach Stalins Tod, von der geistigen Gärung unter der Jugend. Im August 1957 wurden Pimenow und seine Freunde wegen »antisowjetischer Propaganda« vor Gericht gestellt; von der Vorbereitung dieses Prozesses und von der Verhandlung selbst erzählt Pimenow ausführlich in seinen Erinnerungen. In der Folgezeit wurde er einer der aktivsten Verbreiter von Samisdatliteratur, weswegen man ihn 1970 erneut verhaftete.

 

Die Renaissance des Glaubens, die sich heute in Rußland beobachten läßt, die massenhafte Hinwendung der jungen Intelligenz zum Christentum (als Reaktion auf die kompromittierte offizielle Doktrin des Atheismus und Materialismus) hat eine umfangreiche religiöse Literatur hervorgebracht, den sogenannten religiösen Samisdat. (Im Oktober 1974 wurden sieben junge Leute verhaftet, weil sie in einer illegalen Druckerei in der litauischen Siedlung Ligukalis das Evangelium vervielfältigt hatten — dreißigtausend Exemplare waren bereits gedruckt, als die Sicherheitsorgane zuschlugen.) Unter diesen religiösen Samisdat-Werken gibt es auch einige lesenswerte Bücher autobiografischen Charakters, die davon berichten, wie Menschen, die in einem Land des verpflichtenden und alles beherrschenden Atheismus im Geiste der Gottlosigkeit erzogen wurden, dennoch den Weg zum Glauben fanden.

Am weitesten bekannt wurden die »Wessennije mysli i wospominanija« (Frühlingshafte Gedanken und Erinnerungen) von Wadim Schawrow. Als Sohn eines alten Bolschewiken (der aktiv an der Oktoberrevolution teilgenommen hatte) und hohen Militärs (Generalleutnant), »eines militanten Atheisten, der alles mit Abscheu betrachtete, was auch nur entfernt nach >Pfaffen< roch, der bestrebt war, seine Kinder im Geiste des Materialismus und Atheismus zu erziehen«, führt W. Schawrow in der Jugend ein wüstes Leben mit Krawallen, Saufgelagen und Ausschweifungen. Nach dem Krieg, an dem er als Halbwüchsiger teilnahm, studierte Schawrow am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen, jener privilegierten Hochschule, die auf den diplomatischen Dienst vorbereitet. Ihm eröffneten sich alle Möglichkeiten einer glänzenden Karriere. »Doch schon damals befriedigte mich die materialistische Philosophie nicht völlig«, schreibt Schawrow. 

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»Ich konnte nicht genau formulieren, warum sie mich nicht befriedigte (...) Jedes Mal, wenn ich mich in das Studium der Schriften vertiefte, fühlte ich irgendwo im Inneren meines Herzens: Das ist nicht das Richtige! Nein, nein! Es ist alles falsch! Ich spürte instinktiv die Kraftlosigkeit dieser toten scholastischen Philosophie, die keine Antwort auf die insgeheimen Fragen der menschlichen Seele weiß: Was ist der Sinn des Lebens? Warum besitzt der Mensch diesen Drang zum Wahren, Schönen, Guten?« 

Die endgültige Bekehrung vollzog sich nach der Verhaftung, im KZ. Nicht die Suche nach Tröstung jedoch war es, sagt Schawrow, die ihn zum Glauben geführt habe, sondern »das Leben selbst«: 

»Dort in der Haft, mitten unter diesem bizarr zusammengewürfelten Haufen der verschiedensten Menschen, im dichtesten Gestrüpp des Lebens, da begriff ich deutlich und sicher, daß es nur eine Macht gibt, die selbst diesen Haufen von Menschen verwandeln, neu gestalten und beseelen kann: die Liebe Gottes, die Jesus Christus uns Irdischen gebracht hat. Und ohne Zaudern und Zweifeln ließ ich Seine Frohe Botschaft in mein Herz ein — und auf der Stelle spürte ich ein solch unaussprechliches Glück, eine solche Freude, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte (...) Ich kam immer mehr zu der Überzeugung, daß der Glaube an Gott der entscheidende Quell der Freude, der Lebenskraft und der Hochherzigkeit des Geistes ist.«

An dieser Stelle muß man auch das Buch »Sakat obnowlentschestwa« (Der Untergang der Erneuererkirche) von Lewitin-Krasnow11) erwähnen, das für das Studium der Geschichte der russischen Kirche unter dem Sowjetregime von größtem Wert ist. Es behandelt die russische Erneuererkirche und ihre Zerschlagung und würdigt die Tätigkeit einzelner Kirchenmänner wie des Metropoliten N. F. Platonow und des Oberpriesters der Erneuererkirche Aleksandr Wwedenskij, Lewitin-Krasnows Lehrer, Mentor und Freund.

 

Von den Sitten und der Atmosphäre in sowjetischen Künstlerkreisen berichtet der bekannte Lyriker, Dramatiker und Autor populärer »Untergrund«-Lieder Alexander Galitsch in seinem Buch »Generalnaja repetizija« (Die Generalprobe).18) 

Es ist aufschlußreich, dieses Buch mit den »Sapiski musykanta« (Aufzeichnungen eines Musikers) des Geigers M. Goldstern zu vergleichen, der mit ebensolcher Offenheit und Unerschrockenheit von den unzumutbaren Existenzbedingungen der sowjetischen Kunstschaffenden spricht — die unter der ständigen Aufsicht der Parteibürokraten stehen — und der den in der offiziellen Sowjetkunst üppig wuchernden Bluff und Pfusch beim Namen nennt.

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Eine wahre Sensation und große Debatten löste in Rußland das Buch »Dwadzat pissem k drugu« (dt. Zwanzig Briefe an einen Freund) von Stalins Tochter Swetlana Allilujewa20) aus, das allerdings erst wirklich verbreitet wurde, nachdem es im Westen erschienen war und heimlich nach Rußland einzusickern begann; in Moskau hatten es zuerst nur die engsten Freunde der Autorin gelesen. Das Interesse an ihrem Buch entsprang nicht der Neugier auf das Intimleben des Tyrannen, sondern der für jeden Angehörigen der Intelligenz heute brennenden Frage: Welche Rolle spielt die Persönlichkeit in der Geschichte? 

Verläuft die Geschichte wirklich nach Gesetzen, wie die Marxisten behaupten, so daß also die Persönlichkeit, selbst wenn sie über die Macht im Staat verfügt, nichts Wesentliches zu verändern vermag? 

Die Geschichte Rußlands in den letzten fünfzig Jahren, die gewaltsamen Veränderungen, deren Vollstrecker das Antlitz des Landes und das Leben seiner Bewohner vollständig umgestaltet haben, lassen viele zu dem Schluß gelangen, daß im Gegenteil gerade der menschliche Wille der entscheidende Motor der Geschichte ist. Wenn das aber stimmt, dann gewinnen die individuellen Züge desjenigen Menschen, der an der Macht ist, eine enorme Bedeutung.

Überzeugend ausgeführt wird diese Ansicht in dem Essay »Nrawstwennyj oblik istoritscheskoj litschnosti« (Das moralische Antlitz der historischen Persönlichkeit) von Grigorij Pomeranz,21) dessen inoffizielle philosophische und soziologische Aufsätze im Samisdat weite Verbreitung besitzen. Eine vom Standpunkt der historischen Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit vermeintlich so bedeutungslose Sache wie die Moral erweist sich plötzlich, wie Pomeranz nachweist, als ein Faktor, der die Richtung des gesamten Prozesses bestimmt.

Swetlana Allilujewa ist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der mit Liebe von Stalin sprechen kann, diesem »alten, kranken, von allen abgelehnten, einsam auf seinem Olymp lebenden Menschen« (S. 24). Sie versucht, sich alles Gute, was ihr über ihren Vater einfällt, ins Gedächtnis zurückzurufen: Er ist schlicht und ungezwungen gegenüber den Dienstboten, lebt asketisch anspruchslos, liebt keine aufdringlichen Huldigungen. Sie ist bestrebt, einen Teil der Schuld auf Berija abzuwälzen, den »verschlagenen Höfling«, der »den Vater betörte« (S. 22). Doch selbst in diesem von Schmerz und Mitleid erfüllten Bericht scheinen plötzlich die abstoßenden und furchtbaren Züge des Tyrannen durch: 

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»Fünf von seinen acht Enkeln hatte er nicht ein einziges Mal gesehen; er hatte keine Gelegenheit dazu gefunden.« (S. 23) »Verzweifelt über das Verhalten seines Vaters, der ihm keinerlei Unterstützung gewährte«, wollte Jascha, Stalins Sohn aus erster Ehe, sich erschießen, doch der Selbstmordversuch mißglückte. »Der Vater nahm auch das noch zum Anlaß, den Sohn zu verspotten: <Haha, danebengeschossen!> (S. 154) 

Stalins Intoleranz erstreckte sich selbst auf ihm nahestehende Menschen: »Hatte Vater jemanden, der ihm gut bekannt war, (...) in seiner Seele bereits in die Kategorie der <Feinde> eingereiht, dann war es unmöglich, die Rede auf diesen Menschen zu bringen.« (S. 91) Und wie ein endgültiges Verdammungsurteil klingen die Worte der alten Mutter Stalins, die sich weigerte, zu ihm nach Moskau zu ziehen, um die alten Zarengemächer zu bewohnen — seiner Mutter, die ihn einst aufs Priesterseminar geschickt hatte: »Wie schade, daß du nicht doch Geistlicher geworden bist!« (S. 222)

Daß Swetlana Allüujewa selbst sich dem Glauben zuwandte, nachdem sie auf Anraten ihres Vaters die historische Fakultät absolviert hatte — wo aus ihr jedoch keine »gelernte Marxistin« wurde, wie er es sich gewünscht hatte, sondern »— gerade durch das Studium der Gesellschaftsgeschichte an der Universität — etwas ganz anderes (...), nämlich genau das Gegenteil« (S. 263) — das war schon ein harter Schlag für den Vater, nicht nur als Menschen, sondern auch als den Führer und Ideologen des ersten sozialistischen Staates der Welt.

Einige Szenen aus dem Leben der höchsten Elite prägen sich dem Gedächtnis ein. Die Regierenden, hinter der Festungsmauer des Kreml von der Stadt abgeschirmt, begaben sich an den Abenden in den Kinosaal, der in einem Teil des ehemaligen Wintergartens untergebracht war: »Und so schritt ich denn an der Spitze der langen Prozession bis zum anderen Ende des Kremls; hinter uns aber krochen im Gänsemarsch die schweren gepanzerten Wagen der Wache, wer weiß wie viele« (S. 212). Noch viel mehr solcher schlagenden Szenen sind freilich in S. Allilujewas zweitem Buch »Tolko odin god« (dt. Das erste Jahr)22 zu finden. Allein die Schilderung der Mahlzeiten der Regierenden in Stalins Wohnung spricht Bände: 

»Gewöhnlich griff dann nach dem Essen die Wachmannschaft ein. Jeder <Beschützer> schleppte seinen ihm anvertrauten <Schützling> ab. Die besoffenen Führer unterhielten sich mit groben Witzen (...) Auf einen Stuhl wurde eine Tomate gelegt, und alle wieherten vor Lachen, wenn sich jemand darauf setzte. Sie schütteten löffelweise Salz in Weingläser ...« (S. 388).

Das Grauen faßt einen bei dem Gedanken, daß diese Menschen über das Leben eines Zweihundert-Millionen-Volkes entschieden; und unwillkürlich fällt einem die Theorie der »natürlichen Auslese« ein, dank der in unserem System Menschen einer bestimmmten Kategorie sich durchsetzten.

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Ein bleibendes Denkmal der Literatur unserer Zeit sind zweifellos die Erinnerungen Nadeshda Mandelstams, der Frau eines der größten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, Ossip Mandelstams. Diese Erinnerungen breiten überreiches Material zum Studium von Mandelstams Leben und Werk vor uns aus, bringen Licht in viele Geheimnisse seiner überaus komplexen Poetik, teilen vieles bisher Unbekannte über Anna Achmatowa, Gumiljow, Pasternak, Chlebnikow, Babel und andere Repräsentanten der russischen Kultur mit. Aber darin erschöpft sich ihre Bedeutung nicht. 

Das monumentale Opus — zwei dicke Bände (deutsch unter den Titeln »Das Jahrhundert der Wölfe« und »Generation ohne Tränen« erschienen)23 — ist die Frucht eines langen Reflexionsprozesses, das Werk eines sehr klugen und tiefen Menschen, der vieles erlitten und über vieles nachgedacht hat. Indem sie uns anschaulich von ihren Beobachtungen erzählt, uns illustriert, wie das Leben der sowjetischen Intelligenz im Verlauf der verschiedenen Jahrzehnte aussah, leitet sie uns unmerklich zu tiefgehenden philosophischen und soziologischen Schlußfolgerungen. Ihre Analyse des sowjetischen Systems und ihre Auffassung von der nachrevolutionären Evolution der sowjetischen Gesellschaft entspringt nicht verstandesmäßigem Kalkül und logischen Konstruktionen, sondern ist eine ganz natürlich aus der Tiefe ihrer Lebenserfahrung geborene Überzeugung.

Entgegen dem von allen möglichen sowjetischen Publikationen hartnäckig kolportierten Mythos, der die zwanziger Jahre als »goldenes Zeitalter« idealisiert, als eine Zeit, da jede Art von Kunst in Blüte gestanden und die Freiheit triumphiert habe und die dann nur plötzlich in den dreißiger Jahren von einer finsteren Diktatur abgelöst worden sei, betont Nadeshda Mandelstam, daß gerade die zwanziger Jahre die Periode der »Kapitulation« waren, als ewig gültige Werte über Bord geworfen wurden und neue, unmenschliche Ideologie den Sieg davontrug. »In Wirklichkeit sind die zwanziger Jahre die Zeit, in der unsere Zukunft vorbereitet wurde: die kasuistische Dialektik, die Abschaffung der alten Werte, der Wille zur Einmütigkeit und Unterordnung« (<Das Jahrhundert der Wölfe>, S. 169); 

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»Schließlich zerstörten die Menschen der zwanziger Jahre die bis dahin gültigen Werte und erfanden die Parolen«, auf die man auch heute nicht glaubt verzichten zu können: <es ist noch ein junger Staat>, <es ist ein Experiment ohne Vorläufer>, <wo gehobelt wird, da fallen Späne>. 

»Alle Hinrichtungen wurden damit gerechtfertigt, daß eine neue Welt aufgebaut werde, in der es keinerlei Gewalt mehr gebe, und für dieses unerhört <Neue> kein Opfer zu groß sein könne.« (S. 168) »Das war die Zeit der Massenkapitulation (...) Für viele Neubekehrte gab es jetzt keine Werte, Wahrheiten oder Gesetze mehr, außer denen, die sie jetzt brauchten und die als klassenbewußt bezeichnet wurden. Die christliche Moral wurde bedenkenlos der bürgerlichen gleichgesetzt und mit ihr das alte Gebot <Du sollst nicht töten> (...) Die Kunst und besonders die Literatur hatten nur den Auftrag ihrer Klasse zu erfüllen, woraus folgte, daß ein Schriftsteller sich bewußt in den Dienst seines neuen Auftraggebers zu stellen hatte. Viele Wörter — wie <Ehre>, <Gewissen> und ähnliche — verschwanden aus der Umgangssprache« (S. 166). 

»Predigten über den historischen Determinismus nahmen uns die Freiheit des Willens und der Meinung.« (S. 45) Gegen die Götzen des »Fortschritts« und der »historischen Notwendigkeit« waren Menschen wie Ossip Mandelstam der Auffassung, daß »die Geschichte selbst Prüfstein für Gut und Böse« sei (S. 249). »Geschichte willentlich zu beginnen, ist völlig unvorstellbar«, schrieb Mandelstam. »Tradition kann nicht begonnen, nicht ausgedacht, nicht erlernt werden. Wo sie fehlt, gibt es im ungünstigsten Falle ein >procedere<, aber keine Geschichte, höchstens die mechanische Bewegung eines Uhrzeigers, aber keine tiefgreifende Verbindung, keine innere Folge der Ereignisse.« »Eine solche Bewegung war für O. M. gleichbedeutend mit Bewegungslosigkeit« (S. 247). Mandelstam blieb inmitten der massenhaften Kapitulation seinen Überzeugungen treu, und er wußte, daß er dabei zum Scheitern verurteilt und sein Untergang unabwendbar war. »Der Tod eines Künstlers sei nicht das Ende, sondern der letzte schöpferische Akt«, schrieb er (S. 175). Und er wählte sich den Tod »mit der Menge, mit der Herde«, teilte das Schicksal von Millionen einfacher Russen, die der neuen Gewaltherrschaft zum Opfer fielen.

Gerade in den zwanziger Jahren, schreibt Nadeshda Mandelstam, begann die Zerstörung der gewachsenen Bindungen zwischen den Menschen, die die Gesellschaft paralysierte und in allgemeine Apathie und Ergebenheit sinken ließ. Mitte der zwanziger Jahre »begannen die Menschen, jeglichen Verkehr miteinander zu vermeiden (...), es zeigte sich langsam eintretende Erstarrung, die ersten Symptome der Lethargie«. (S. 45) 

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Die Einförmigkeit des Friedhofs, eine tödliche »Geschlossenheit« wurde zum Hauptkennzeichen der Sowjetgesellschaft. »Wir leben, unter uns das Land nicht spürend«, sagt Mandelstam in jenem Gedicht, das ihn das Leben kostete und das heute jeder Mensch von Kultur in Rußland kennt. 

Die Überzeugung der marxistischen Führer, sie verfügten über die »wissenschaftlich begründete« absolute Wahrheit, sie könnten »die Zukunft beherrschen und den Lauf der Geschichte nach ihren Bedürfnissen ändern« (S. 164), die Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit, ihre Intoleranz gegen alle, die anderer Meinung waren oder zweifelten — all das führte logisch zur Herausbildung des totalitären Systems, wie es bis heute in der Sowjetunion besteht. Und obgleich die Repressionen heute nicht derart massenhaften Charakter besitzen wie früher, obgleich »der Vernichtungsapparat, überholt und geölt, zur Zeit stillsteht, kann er doch jederzeit wieder in Gang gesetzt werden«, schreibt Nadeshda Mandelstam, »denn nur die Taktik hat sich geändert, keineswegs die Prinzipien«.

Der tödlichen Erstarrung der sowjetischen Gesellschaft leistete in vielem das furchtbare Spitzelunwesen Vorschub: Bei den Menschen »entwickelten sich zwei Krankheiten: die einen sahen in jedem anderen einen Spitzel, die anderen fürchteten, man könne sie für einen Spitzel halten«. (S. 90) Breiten Raum nehmen in N. Mandelstams Buch ihre aufschlußreichen Beobachtungen ein, wie Spitzel angeworben werden, wie sie sich verhalten, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen.

Es zeugt von erstaunlichem Mut, so klar und direkt alle diese Gedanken auszusprechen, die zwar heute die erdrückende Mehrheit der Angehörigen der Intelligenz teilt, die jedoch in dieser Offenheit selbst in Samisdatwerken selten zu finden sind. Nachdem sie ihr ganzes Leben in Angst und im Schweigen verbracht hatte, war Nadeshda Mandelstam entschlossen, wenigstens im Alter an der Schwelle des Todes ihre Stimme laut zu erheben. 

»Ich habe nichts mehr zu fürchten«, schreibt sie, die die Machthaber mit ihrem Buch herausfordert und ihre Pflicht als Zeugin erfüllt, eine Pflicht, der sie sich sehr wohl bewußt ist: »Ein Land, in dem sich im Verlauf eines halben Jahrhunderts die Menschen gegenseitig ausrotteten, fürchtet sich vor der Erinnerung an das Vergangene. Was erwartet ein Land, wenn sein Gedächtnis krank ist? Was ist ein Mensch wert, wenn er kein Gedächtnis hat?« (»Generation ohne Tränen«, S. 139)

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Bewunderung und Begeisterung ruft jene Heldentat Nadeshda Mandelstams hervor, die in der ganzen Weltliteratur kaum ihresgleichen findet: Unter entsetz­lichen Bedingungen, die keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft zuließen, lernte sie zwanzig Jahre lang in ihren Nächten die Verse des ermordeten Dichters auswendig, um sie nicht zu vergessen, sie für die Menschen zu bewahren. 

»Ich weiß nicht, ob das überall so ist, aber hier, in meinem Land, ist die Poesie etwas Heilsames und Lebensspendendes, und die Menschen verschleudern diese Gabe nicht, da sie ihnen eine innere Kraft vermittelt. In diesem Land wird man für Gedichte getötet, und das ist ein Zeichen großer Achtung, weil man hier einfach noch in der Lage ist, mit Gedichten zu leben. Wenn ich darin also nicht irre, wenn dem so ist, und wenn diese Gedichte, die ich bewahrt habe, den Menschen irgendwie nützlich sein können, dann habe ich nicht umsonst gelebt.« (S. 14)

Viele interessante Beobachtungen zum Werk Ossip Mandelstams und Anna Achmatowas enthält auch Nadeshda Mandelstams tiefgründige Skizze »Mozart i Saljeri« (Mozart und Salieri).

 

Die Herausbildung der Sowjetideologie und die Evolution des gesellschaftlichen Bewußtseins in der Sowjetunion unterzieht auch der bekannte Lyriker Naum Korshawin in seinem Buch <Opyt poetitscheskoj biografii> (dt. Versuch einer poetischen Autobiografie) einer unbestechlichen Analyse.24) Korshawin war in seiner Jugend selbst von der »Weltrevolution« fasziniert, doch am Ende steht bei ihm als Ergebnis all der Erfahrungen, die er und mit ihm das ganze Land gemacht hat, die Ablehnung jedes Revolutionarismus. Als ehemaliger Anhänger des Marxismus, den er als junger Mann gründlich studiert hatte, kommt Korshawin im Laufe der Jahre zu dem Schluß, daß gerade die marxistische Philosophie »uns dazu anhielt, die Greuel des Stalinismus als objektive historische Notwendigkeit hinzunehmen«

»Diese Sorge um die Geschichte und ihre Notwendigkeit war nichts anderes als eine geistige Perversion. Die Geschichte kümmert sich schon selber darum, wenn irgend etwas für sie notwendig ist. Wir haben uns allein um das Gute und Schöne zu kümmern. Und das Wahre natürlich.« 

Der Zusammenprall der marxistischen Vorstellungen seiner Jugend mit der Realität des Lebens führt Korshawin zu dem Fazit: 

»Heute wird man mich wohl schwerlich als Marxisten bezeichnen können. Ich mißtraue dem Marxismus, weil er für sich beansprucht, das Leben und seine Werte vollkommen zu begreifen (...), und weil für ihn der Mensch nur als Produzent und Konsument existiert.«

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Dieses Kapitel wäre sicherlich noch weit vollständiger und würde viele Probleme noch gründlicher beleuchten, wenn darin auch noch auf die vielen anderen Dokumente eingegangen werden könnte, wie etwa die dokumentarische Publikation »Prestuplenije i nakasanije« (Verbrechen und Strafe), die die weiteren Lebenswege der ehemaligen Stalinschen Staatsanwälte, Untersuchungsrichter und KZ-Wächter bis auf den heutigen Tag verfolgt; das Weißbuch über den Prozeß gegen Sinjawskij und Daniel; die Weißbücher »Prozess tschetyrjoch« (Prozeß der Vier), »Polden« (Mittag), »Delo Leonida Pljuschtscha« (Der Fall Pljuschtsch), »Istorija odnoj golodowki« (Geschichte eines Hungerstreiks) usw. 

All das würde uns jedoch in die Uferlosigkeit des politischen Samisdat hinausführen und die weitere Verfolgung unseres anfänglich gesetzten Prinzips unmöglich machen.

190-191

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Juri Malzew 1981