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10  Lyrik 

Juri Malzew 1981

 

 

192-206

Die Zahl der Lyriker im Samisdat übersteigt die Zahl der Prosaiker um ein Mehrfaches. Unlängst erschien in Leningrad ein illegaler Sammelband »144 poeta« (144 Dichter) mit Versen von hundertvierzig Leningrader Lyrikern, und ebenso viele Untergrundpoeten ließen sich auch in Moskau zusammen­bringen. Wie viele es in Rußland gibt, läßt sich unmöglich sagen. In einem scherzhaften Vers von Wassilij Betaki heißt es:

»Der Herbsteslieder sind so viele schon gesungen —
Von ihrem Pfeifen bebt der Grund. 
Es kommen schon je zwei Poeten 
Auf jedes Blatt.«

Das ist vielleicht nicht zuletzt aus praktischen Gründen zu erklären: Gedichte lassen sich schneller tippen und vervielfältigen.

Der Samisdat hat mit Lyrik begonnen — der unmittelbarsten und (technisch) einfachsten Ausdrucksform (da, wo Worte unter Verbot stehen, wird das Verlangen, sich offen zu äußern, besonders unabweisbar, daher auch die Vielzahl der Schreibenden), und mit der fortschreitenden Ausbreitung des Samisdat wuchs die Zahl der Untergrundpoeten in geometrischer Progression zu der Zahl der Prosaiker.

Im Rahmen dieses einen Kapitels können wir diese gewaltige lyrische Produktion natürlich nur flüchtig und überblicksartig skizzieren. 

Für die jungen Dichter, deren Verse Anfang der sechziger Jahre in illegalen Literaturzeitschriften erschienen — wie Wladimir Woskressenskij, Jewgenij Kuschew, Igor Golubew, Tatjana Smoljaninowa, Nadeshda Solnzewa, Irina Wladimirskaja, Wladimir Batschew, Wladimir Buritsch, Jurij Kublanowski, Sergej Morosow, Makar Slawkow, Jurij Stefanow, Sergej Tschudakow und andere1) —, gilt das gleiche, was wir oben bereits über die Prosaiker der Gruppe SMOG sagten: Innere Unzufriedenheit, Begier nach neuer Rede, wehes Empfinden um die Wörter, Rebellion und Protest bei gleichzeitiger Unreife der persönlichen Entwicklung brachten eine literarische Produktion hervor, die durch ihre Unebenheit und Uneinheitlichkeit hervorsticht. Einzelne Erfolge, hier und da aufblitzendes Talent mischen sich mit unbeholfenen, schülerhaften Mißgriffen und groben Geschmacksverirrungen.


Die Verse sind gewöhnlich in düstere Farben getaucht: 

Der Abscheu vor der sowjetischen Alltagsrealität in ihrer ärmlichen grauen Trostlosigkeit, vor dem auf Gewalt gegründeten sowjetischen System (»wo als ein Rest zu Stein gewordnen Bluts / das Mausoleum sich ans Pflaster festsaugt« — Je. Golowin), mündet bei den einen in eine Weltanschauung des Pessimismus, in Trauer und Verzweiflung beim Anblick der Sinnlosigkeit des Lebens und all des Bösen in der Welt, in die Erwartung einer neuen »künftigen Steinzeit« (Ju. Stefanow) — bei anderen in die Suche nach Gott und in das Verlangen nach Glauben:

»Es stehen Kirchlein überall in Rußland 
Verlassen und vernagelt. 
Es stehen Kirchlein überall in Rußland 
Ganz klein und unbekannt.
...
Es stehen Kirchlein überall in Rußland  
Und warten voll Hoffnung auf Gott.«

(P. Wladimirow)

Die meisten dieser Lyriker neigen auf der Suche nach dem Neuen und Expressiven zu extravagant komplizierten und modernistischen Formen: eine Abfolge von Bildern, keinem Sujet verhaftet und keiner (es sei denn einer unterschwelligen) Logik gehorchend; bizarre Assoziationen, überraschende Vergleiche, bei denen oftmals nicht die Bedeutung, sondern die Lautgestalt die Wörter zur Metapher verbindet. Stilmittel der Imaginisten klingen an; wir spüren den starken Einfluß Chlebnikows.

Durch ihre klare Sprache und unpathetisch mutige Offenheit, ihr aufrichtiges lyrisches Empfinden, durch die unverbrauchten Bilder und durch ihren hellen, lebensfrohen Ton zeichnen sich die Gedichte von Arkadij Michajlow aus.

Von den Mitgliedern der Gruppe »Feniks« hat wohl die differenzierteste Entwicklung Natalja Gorbanewskaja genommen, die es vermochte, sich eine organische eigene poetische Sprache zu erarbeiten, ohne irgendeiner Richtung anzugehören. »Ich bin ein Dichter, der es traurig nicht vermag zu lügen«, sagt sie zutreffend von sich selbst.2) Und an anderer Stelle heißt es sehr bewegend:

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»Und in der armen schwachen Frauenkehle
Flaniert zwischen den Zeilen
Des Weltalls Windhauch«  (S. 133).

Schmerz und Trauer sind in ihrer Lyrik durch ein inbrünstiges religiöses Empfinden gemildert, das dem Leid etwas von seiner Härte nimmt — selbst in den schmerzerfüllten Gedichten, wo der Glaube nicht klar hervortritt:

»In meinem zwanzigsten Jahrhundert, 
Wo es Leichen mehr als Gräber gibt, 
Ist meine unglückliche, 
Auf ewig ungeteilte Liebe 
Inmitten dieser Goya-Schreckensbilder 
Nur lächerlich, verzagt und schwach, 
Wie gegen das Geheul von Düsenjägern 
Die Posaune von Jericho.«  

( S. 102 )

Natalja Gorbanewskaja, die aktiv in der oppositionellen und verfolgten Demokratischen Bewegung mitarbeitet, ist Mitglied der Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion und wurde wegen dieser Aktivität mehrfach in der psychiatrischen Klinik interniert. Sie beteiligte sich auch an der Demonstration auf dem Roten Platz gegen die sowjetische Intervention in der Tschechoslowakei (25. August 1968).

 

Ihr gesellschaftspolitisches Engagement klingt auch in vielen ihrer Gedichte an: »Im Irrenhaus üb deine Handflächen ...«, »Sieh, Schmerzensreiche, all die Demonstranten ...« usw. Das klare Bewußtsein, daß Leiden und vielleicht sogar der Tod in diesem ungleichen Kampf mit der Macht unausweichlich sind, verleiht manchen ihrer Gedichte ein tragisches Gefühl des Verurteiltseins:

»Da siehst du deinen Diamantenhimmel, 
Da tanzen dir die Funken vor den Augen, 
Und von blutigen Tränen verschmiert 
Stürzt du hin in Jakutiens Dreck.«

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Keine Entwicklung war einem Lyriker vergönnt, der zu großen Hoffnungen berechtigt hatte: dem Herausgeber der Untergrundzeitschrift »Feniks«, Jurij Galanskow. 3) Er kam 1972, mit dreiunddreißig Jahren, im KZ um. Kurz vor seinem Tod, nach fünf Jahren Haft, schrieb er aus dem Lager: 

»Ich leide an einem Zwölffingerdarmgeschwür. Von der Nahrung, die ich in der Haft bekomme, kann ich nur einen geringen Teil essen, deshalb bleibe ich Tag für Tag ohne ausreichende Ernährung. Zugleich bin ich unter den Bedingungen der verschärften Haft faktisch jeder realen Möglichkeit beraubt, die für mich notwendigen Lebensmittel von Verwandten und Freunden zu bekommen. Dabei arbeite ich acht Stunden am Tag (...) Infolge jahrelanger systematischer Unterernährung, Schlafmangels und Überanspannung der Nerven ist der Verlauf der Geschwürkrankheit noch durch Erkrankung der Leber, des Darms, des Herzens etc. komplizierter geworden. Fünf Jahre lang haben sie mich in der Haft gequält — ich habe gelitten und geschwiegen. In den verbleibenden zwei Jahren werden sie mich umbringen ...« 

Und sie brachten ihn wirklich um: Erst verweigerte man ihm die medizinische Versorgung, dann, als es zu spät war, versorgte man ihn derart, daß Galanskow nach zweiwöchiger Agonie im Krankenrevier des Lagers starb — infolge einer unsachgemäß durchgeführten Operation.

In Galanskows Lyrik ist ein starker Einfluß Majakowskijs zu spüren; von Majakowskij ist der Rhythmus, die Intonation, sind die Bilder und der radikale, rebellische Geist seiner Verse:

»Erhebt euch!
Erhebt euch!
Erhebt euch!
O rotes Blut der Rebellion!
Geht hin und reißt ihn nieder
Den vermoderten Kerker des Staats!«

Im Unterschied zu Majakowskij freilich setzt Galanskow trotz seines rebellischen Sinns seine Hoffnung nicht in die soziale Revolution, sondern in eine geistige Erneuerung der Menschheit, in die mitreißende Schönheit des christlichen Opfers:

»Das bin ich,
In Ketten gelegt vom Gesetz,
Ich schreie das Menschliche Manifest —
Mag der Rabe mir aushacken
Auf dem marmornen Leib
Das Kreuz.«

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Ein anderes zugrunde gegangenes Talent, das sich nicht hat weiterentwickeln dürfen, ist Ilja Gabaj. Nachdem er für seine Aktivität in der Bewegung der Bürgerrechte drei Jahre im KZ verbracht hatte und als physisch gebrochener Mann in die Freiheit zurückkehrte, begann man ihn immer wieder zu stundenlangen Verhören beim KGB vorzuladen, wo man ihn zwang, seine Freunde zu denunzieren, und ihm und seiner Frau mit neuer Verhaftung drohte. Gabaj hielt den Druck nicht mehr aus und nahm sich im Oktober 1973 das Leben. Seine Verse sind voll Innigkeit und voll leisen Schmerzes:

»Wie wenig Sinn, wie viel Gemeinheit 
Auf unser kleines Leben kommt!«

und von bescheidener Schlichtheit:

»Warum fehlt mir der Menschen und der Vögel 
Erregt bedeutungsvolle Sprache?«

 

Durch Selbstmord endete auch, nur dreißig Jahre alt, der hoffnungsvolle Leningrader Lyriker Leonid Aranson, der schöne, empfindsame Verse und eine recht interessante Prosa schrieb. 

Schon am Beginn der sowjetischen Ära machten Jessenin und Majakowskij und später Marina Zwetajewa, als sie sich selbst töteten, offenbar, daß die Atmosphäre in Rußland allzu schwer und drückend auf den zarten Nerven des Dichters lastet.

 

Einige Beachtung verdienen weiterhin:  

die impressionistischen Verse von Gennadij Ajgi; die analytische, reflexive Lyrik von German Plissezkij; der ätzend ironische Wladimir Ufljand; die üppig bizarren Verse von Aleksej Berdnikow; die melodisch empfindsame Lyrik von Julija Wischnewskaja; Musa Pawlowas extravagante, kluge Verse; der esoterische Surrealismus von Michail Jerjomin; die intellektuellen Gedichte von Jurij Eichenwald und Grigorij Podjapolskij; die politische Lyrik von Jurij Iofe; die gemessen klassischen Verse von Dawid Samojlow; die »gelehrte« Lyrik des Skeptikers und Scholasten Henri Wolochonskij; die esoterischen Gedichte von Ilja Bokstein; die Lyrik des jungen Wadim Delone, der in einer raschen Entwicklung von tagespolitischer Oberflächlichkeit zu tieferer Erkenntnis seiner selbst gelangt ist; die Verse Alexander Timofejewskijs, von altmodischer Eleganz; der bedeutende, ernsthafte Dichter Viktor Kriwulin mit seinen geschliffenen Versen von erlesener Raffinesse; die Gedichte des talentierten Oleg Ochapkin und der begabten Achmatowa-Verehrerin Jelena Schwarz; der Lyriker Boris Kuprijanow, dessen sehr aufrichtigen »Herzensergüssen« noch die Reife fehlt; Alexander Baskins existentialistische, zum Teil mystische Lyrik;

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die strengen Verse des an kanonischer Form festhaltenden Rostislaw Wogak; die frischen, geistvollen Verse Wassilij Betakis, von origineller Lautgestalt; und die Gedichte von P. Wegin, N. Selichow, L. Merzalow, A. Zest, Je. Dubnow, T. Gluschkowa, I. Karamow, N. Braun, L. Wladimirowa, A. Jaskolka, W. Kowschin, A. Oneshskaja, A. Aronow, N. Glaskow, W. Chromow, N. Ustinowa, A. Awrussin, W. Schestakow, N. Bjalossinskaja, S. Kalaschnikow, E. Kotljar, N. Kotrelew, S. Kulle, A. Kuschner, N. Slepakowa, W. Gussew, B. Dubin, L. Mak, L. Schkolnik, A. Jakobson, O. Tschuchonzew, Ju. Moriz, L. Gubanow, W. Alejnikow, L. Tschertkow, A. Sergejew, W. Kowenazkij, W. Kornilow, Je. Ignatowa, M. Weksler, S. Stratanowskij, L. Schwarz, A. Oshiganow und Je. Kropiwnizkij (geboren 1893), dem Haupt der »Lianosow-Schule« (benannt nach einem Dorf bei Moskau). 4)

Interessant sind die experimentellen Beiträge der Gruppe der Leningrader Lyriker: Konstantin Kusminskij, Wladimir Erl, Aleksej Kosyrjow, Pjotr Tschejgin und Schirali; ebenso die Versuche in absurder Poesie, die unter dem eindeutigen Einfluß der »Oberiu«-Gruppe (und in manchem auch Sewerjanins *nd der Futuristen) von dem geistreich-ausgelassenen Genrich Sapgir, dem extravagant humoristischen Eduard Limonow und modernistischen Lyrikern wie Wsewolod Nekrassow, W. Ljon, I. Cholin, W. Bachtschanjan, Je. Schtschapowa, Ja. Satunowskij vorgelegt worden sind, die sich zu der Gruppe »Konkret« zusammengeschlossen haben.5) 

Von den Leningradern dürften die Schüler Anna Achmatowas die interessantesten sein, die »Achmatowa-Waisen«: Dmitrij Bobyschew, Anatolij Najman, Jewgenij Rejn und Iossif Brodskij.

Die naturphilosophische Lyrik Dmitrij Bobyschews ist sicherlich stark von Nikolaj Sabolozkij beeinflußt. Im Samisdat zirkulieren zwei Gedichtsammlungen von Bobyschew: »Partita« und »De profundis«, sowie die Poeme »Potschti moltschanije« (Beinahe Schweigen) und »Nowyje opyty doktora Fausta« (Die neuen Versuche des Doktor Faustus). Bobyschew ist ungeachtet seiner philosophischen Bestrebungen ein aufrichtiger, unkonventioneller und kraftvoller Lyriker. Die Probleme unserer Zeit, der Entwicklung Rußlands will er in der Tiefe, auf der Ebene der Weltanschauung gelöst wissen, jenseits publizistischer Oberflächlichkeit:

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»und greifst zu der ganz russischen Methode, 
die Freiheit tief im Innern aufzusuchen«.

Leider führt in seinen letzten Gedichten diese philosophische Tiefe, in immer kompliziertere Form gekleidet, zu einer gewissen scholastischen Trockenheit.

Anatolij Najman war lange Jahre hindurch der persönliche Sekretär Anna Achmatowas, über die er Erinnerungen — unter dem Titel »Kakaja jest« (So ist sie; entsprechend Anna Achmatowas bevorzugter Erwiderung auf kritische Bemerkungen) — und (zusammen mit D. Bobyschew) den wunderbaren Gedichtzyklus »Pamjati Anny Achmatowoj« (Dem Andenken Anna Achmatowas) verfaßt hat. Im Samisdat zirkulieren von Najman die Gedichtsammlung »Sentimentalnyj marsch« (Sentimentaler Marsch) und die Poeme »Stichi po tschastnomu powodu« (Verse aus besonderem Anlaß) und »Sentjabrskaja poema« (Septemberpoem). Seine geschliffenen Verse sind ein bemerkenswertes Beispiel neoklassischer Lyrik, durchdrungen von tiefer und wahrhafter poetischer Empfindung. Zuweilen sind deutlich Anklänge an Pasternak herauszuhören:

»Und bevor du fortgehst,
Begreif, daß wir nicht wir sind, sondern Posen
Umarmter zum Lebwohl auf immer,
Damit sich unsre Tränen mischen.«

Jewgenij Rejn dagegen neigt eher zu modernistischen Experimenten. In früher Jugend begann er unter dem starken Einfluß Rimbauds Verse zu schreiben und machte dann unter der Einwirkung des Akmeismus eine einschneidende Evolution durch. Im Samisdat weitbekannt ist sein Poem »Glas i treugolnik« (Das Auge und das Dreieck). Kennzeichnend für Rejn wie für die Mehrzahl der modernen Lyriker ist eine tragische Weltsicht, ein Gefühl der Unruhe und des inneren Ungeordnetseins:

»Warum nur wird aus einzelnem Entzücken
Geschmiedet die verhängnisvolle Kette,
Wo jedes Glied aufs bloße Fühlen
Den Sinn des Lebens dir erschließt,
Doch die im Ganzen, ach! im Ganzen
Nur eine hoffnungslose Bürde ist...«

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Iossif (Joseph, Josef) Brodskij (Brodsky) 6) gilt in den Augen vieler (unter ihnen war auch Anna Achmatowa) wohl zu Recht als der größte Dichter der jüngeren Generation. 

Obgleich seine Verse von Politik weit entfernt sind und das Dasein unter ganz anderen Aspekten bloßlegen, erwiesen sich der außerordentliche Ernst, die bittere Ironie und der tragische Stoizismus seiner außergewöhnlich eigenwilligen und tiefen Poesie offenbar für die Zensur als nicht akzeptabel, und da Brodskij nicht Mitglied des Schriftstellerverbands war, wurde er 1964 als »arbeitsscheues Element« vor Gericht gestellt und in den hohen Norden, ins Gebiet von Archangelsk verbannt, wo er in einem Sowchos Mist fahren mußte. 

Die berühmten Dichter Kornej Tschukowskij und Samuil Marschak und auch der Komponist Dmitrij Schostakowitsch bemühten sich vergebens, die Vollziehung der Strafe zu verhindern. Der skandalöse Prozeß gegen Brodskij gewann traurige Berühmtheit und trug nur zur Popularität des Autors bei. Bereits nach seiner Emigration in den Westen erschien in Leningrad illegal eine fünfbändige, aufs sorgfältigste kommentierte vollständige Ausgabe von Brodskijs Werken. Wegen der Herausgabe dieser Bände wurde der Leningrader Literaturkritiker M. Chejfez im September 1974 verhaftet und vor Gericht gestellt.

Brodskij verwendet in der Hauptsache traditionelle Metren und Formen. »Ich bin angesteckt vom normalen Klassizismus«, sagt er einmal. Ihn faszinieren die Schönheiten der alten Dichter:

»Das Strahlen des russischen Jambus, 
Gewaltiger und heißer als das Feuer, 
Beleuchtet mich in der Nacht 
Wie die schönste Lampe.«

Doch wie altmodisch die Form bei ihm aussehen mag — Brodskij ist ein höchst moderner Lyriker; in traditionellen Formen verbirgt sich das hochdifferenzierte Bewußtsein eines Menschen des neuen Zeitalters. Er verfertigt keine ziselierten Strophen, seine Syntax ist sehr frei und biegsam:

»Das griechische Prinzip der Maske
Ist wieder im Gebrauch. Denn heutzutage
Gehn die Starken zugrunde. Während der Stamm
Der Schwachen sich vermehrt, en gros und en detail.

Vernimm denn heute, als mein Postskriptum
Zur Theorie von Darwin, der arg vermoderten,
Dieses neue Gesetz des Dschungels.«

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Der Eindruck des freien Fließens wird noch verstärkt durch umgangssprachliche Intonationen und Wendungen und durch absichtliche Prosaismen (manchmal sogar grobe Vulgarismen), mit einem Wort, durch die ungezwungene Freiheit des Atems. In dieser gewollten Senkung des Niveaus, der Hinwendung zur Umgangssprache zeigt sich weniger das Bestreben, modern zu sein, als die Furcht vor Sentimentalität und Pathos, ein schamhaftes Verbergen der Gefühle.

»Du verzeihst mir sicherlich 
Diesen Possenreißerton. Er ist das beste Mittel, 
Starke Gefühle zu retten vor der Masse 
Der Schwachen.«

Aber manchmal brechen diese starken Gefühle doch offen durch, und dann sehen wir einen großen lyrischen Dichter vor uns, voll ergreifender Intensität und Reinheit des Erlebens.

»Wie bist du leer und stumm! Im Dämmerlicht des Herbstes
Wie trügerisch herrscht die Deutlichkeit des Gartens,
Wo die Blätter sich der Erde nähern
Von der großen Schwerkraft des Verfalls.

Wie sollen sie den nächsten Frühling noch erleben,
Deine Stämme und meine betrübte Seele,
Wenn deine Früchte fortgetragen sind
Und nur noch deine Leere wirklich ist.«

Bitterer Humor, Hang zum Paradoxon, Ironie wechseln ab mit tiefem Ernst, wie in dem Eingeständnis:

»Der Tod wird sagen, daß Sarkasmus 
Die Kraft des Lebens nicht mehr einholt.«

Brodskijs langsamer, bedächtiger, schleppender Vers reicht in seiner Genauigkeit und Detailschärfe an die besten Beispiele realistischer Prosa heran; bei ihm ist nichts verschwommen, jedes Wort ist gezielt und treffend mit seinem vollen Gewicht gesetzt.

»Bei Kunst ist das Entscheidende doch wohl, 
Daß sie nur präzisiert — nicht daß sie lügt, 
Da ja ihr oberstes Gesetz unstreitig 
Die Unabhängigkeit der Einzelheiten ist.«

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Schon in Brodskijs frühen Jugendgedichten beeindruckt oftmals die ruhige Weisheit und Reife — ein untrügliches Anzeichen für eine große Begabung, denn Begabung ist Intuition, unmittelbares Wissen, und nicht angesammelte Erfahrung. Eines der bemerkenswertesten Werke Brodskijs ist das große Poem »Gorbunow i Gortschakow«, in klassischen Dezimen mit fünfhebigen Jamben geschrieben. Seine Helden sind zwei Angehörige der Intelligenz, die im Irrenhaus sitzen. Diese Aktualität des Themas, dieser Rückgriff auf die sowjetische Alltagsrealität findet sich bei Brodskij allerdings selten. Sein Denken bewegt sich gewöhnlich auf einer ganz anderen, tieferen Ebene; ihn beschäftigt der Sinn und Zweck des Menschenlebens, er reflektiert über Gott, über die Vergeblichkeit des Daseins; er hört die ganze Zeit

»im Lärm, Geschrei, Gestöhn der Stadt
das leise, feine Lied des Todes«.

Ihn quält die Unbegreiflichkeit der Welt:

»die Welt dringt in die Augen durch das Gitter 
durch das Gitter des Nichtverstehens«.

Er versucht stets, hinter den kurzlebigen empirischen Erscheinungen den wahren Sinn zu erfassen.

»Das Leben selbst tritt einen Schritt zurück
Und schaut verwundert auf die Formen.« 

Das Interesse für Metaphysik und Mystik ist bei Brodskij kein Tribut an die Mode, sondern ein tiefes inneres Bedürfnis. Weitbekannt ist seine »Große Elegie« an den englischen Dichter John Donne, einen Metaphysiker des siebzehnten Jahrhunderts.

 

Von allen sowjetischen Lyrikern von einiger Begabung gibt es ungedruckte, illegale Verse — sogar von Alexander Twardowskij, der Mitglied des ZK der KPdSU und Herausgeber der Zeitschrift »Nowyj mir« war (im Samisdat zirkuliert sein Poem »Po prawu pamjati« [Nach dem Recht der Erinnerung]). Besonders viele Gedichte sind von der begabten Dichterin Bella Achmadulina in Umlauf.

Das Beispiel eines anderen fähigen Lyrikers, des Leningraders Gleb Gorbowskij, zeigt, wie Talent verblaßt, wie Verse verarmen, wenn der Dichter, weil er gedruckt werden will, sich den Normen der offiziellen sowjetischen Literatur anzupassen beginnt. Gorbowskij hat ein elementares, bodenständiges, instinktives Talent Jesseninschen Ausmaßes, manchmal treffen wir sogar auf offene Imitation Jessenins oder Anleihen bei ihm. 

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Ebenso wie sein Vorbild hat Gorbowskij eine stürmische Biografie, er übte viele Berufe aus, fuhr kreuz und quer durch das ganze Land, auch er ist ein Vagabund, der aus den großen Städten geflohen ist, der den individualitätsfeindlichen und unmenschlichen technischen Fortschritt nicht akzeptiert. Weite Verbreitung im Samisdat fand sein Gedicht »Nach dem Krieg« über die atomare Katastrophe, die die Erde vernichtet und alles sterben läßt. Außerdem zirkulieren seine Poeme »Mjortwaja derewnja« (Das tote Dorf) — über das bettelarme furchtbare Leben der sowjetischen Bauernschaft — und »Morg« (Das Leichenschauhaus). 

Einige Gedichte von Gorbowskij über die Welt der Diebe und mit »ausgestoßenen« Helden wurden vetont und sind zu bekannten (natürlich gleichfalls illegalen) Volksliedern geworden, wie zum Beispiel das Lied »Wenn die Laternen im Nachtwind schaukeln«, das man an verschiedenen Ecken des Landes singt, ohne zu ahnen, wer sein Verfasser ist. (Bekanntlich sind auch von Jessenin einige Gedichte ins Repertoire der Gaunerfolklore eingegangen; nur wenige russische Dichter wurden dieser Ehre für würdig befunden — denn daß seine Verse Teil des Volksguts werden, ist vielleicht die höchste Auszeichnung für einen Dichter.)

Den umgekehrten Weg — von der offiziellen Literatur zum Samisdat — ging der bekannte Lyriker Naum Korshawin;7) ein Künstler von aktivem Temperament, ganz in Kampf, Polemik, Tagesaktualität aufgehend, gelangte er von der Faszination durch die »Weltrevolution« zur Ablehnung des Marxismus und zur scharfen Kritik am sowjetischen System. 

Ausgehend von der Verurteilung des Stalinismus (die Apologeten der Stalinschen Verbrechen verspottete er in einem weitverbreiteten Vierzeiler:

»Von Ansehn warst du grob und schief,
Von Herzen schlecht — doch was verschlägts?
Historisch letztlich progressiv
War doch die Richtung deines Wegs ...«), 

vertiefte er dann seine Kritik und erhob in seinen leidenschaftlichen Versen oftmals bittere Vorwürfe gegen die Menschen in Rußland, die das System der Lüge und Gewalt klaglos erdulden, und schleuderte Anschuldigungen gegen dieses System, das danach strebe, seine Macht und seine Ideale mit Gewalt über die ganze Welt auszubreiten:

»Die Furcht war allgemein, und allgemein die Sünde.
Wir fliegen wie im Staubgewölk,
Zerstampfen alles um uns her ... Wozu? Warum? Vergessen!

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Doch weiter treibt es uns! Und immer noch ists nicht genug! 
Und alles geht zugrund, worauf das Leben ruht, 
Zugrunde gehn wir selbst, verrohend wie das Element, 
Und lügen — denn die Welt soll denken, daß wir anders seien, 
Getäuscht von unsrer Lüge ist die Welt verrückt geworden, 
Und, uns vertrauend, ist sie selbst verroht. 
Wer waren wir? Was liegt dran, wer wir waren — 
Wir haben lang schon alle Grenzen überschritten. 
Und sehn kein Ende. Lügen weiter, rufen weiter auf. 
Und die Vergeltung rückt mit jedem Tag in weitre Ferne. 
Und immer schlimmer wirds, es gibt schon kein Zurück mehr...«

Korshawins Verse sind ein seltenes Beispiel dafür, daß eine durch und durch dem Tageskampf gewidmete Lyrik dennoch wahre Poesie sein kann.

»Trotz der Tatsache«, schreibt Korshawin, 

»daß mein Leben, ja sogar mein Schaffen eng mit der Zeit, mit ihrem Geist, ihren Hoffnungen und Verbrechen verknüpft war, ja daß sie fast meine geistige Biografie bestimmte, trotz alledem habe ich schon sehr früh erkannt, daß das Kriterium der Lyrik in dem zu suchen ist, was ich (...) die Puschkinsche Haltung nenne. Darunter verstehe ich ein freies, allumfassendes, auf Harmonie gegründetes Weltgefühl, dem sich das poetische Wesen des Lebens, mag es im Augenblick auch von Trauer oder gar Tragik umschattet sein, ohne jegliche Anstrengung frei und leicht noch im Geringsten und Alltäglichsten erschließt (...) Ein politisches Problem oder Ereignis kann nie eigentlicher Gehalt eines Kunstwerks, wohl aber sein Thema sein, denn es kommen darin Grundfragen des Seins ebenso zum Ausdruck wie in jeder anderen Lebensäußerung.«

Gerade deshalb, weil politische Probleme den Kern von Korshawins innerem Leben bilden (ohne es freilich zu erschöpfen), und gerade weil die politischen Motive bei ihm von starken Empfindungen und aufrichtiger Empörung durchdrungen sind (Beispiele solcher Verschmelzung lassen sich allenfalls in Nekrassows Lyrik finden), gelang es ihm, dieses seltene Vorbild für politische Poesie zu schaffen.

Überhaupt sind politische Themen in der Untergrundlyrik sehr häufig; nur sind das dann in den seltensten Fällen auch gute Gedichte. Eine Ausnahme bildet vielleicht das Lagerthema, das in der Untergrundlyrik wie in der ganzen Samisdatliteratur sehr stark vertreten ist. 

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Hier sind die Namen von Dichtern zu nennen, die ihren Weg durch die Konzentrationslager gemacht haben oder heute noch dort eingesperrt sind: 

W. Schalamow, P. Wostokow, I. Awdejew, I. Paschkow, G. Tscherepow, L. Borodin, N. Kolossow, W. Sokolow, Ju. Mulin, I. Bokstein. W. Mitrejkin, B. Weil, D. Kustanowitsch, Ja. Chromtschenko, W. Nekipelow, Jurij Dombrowskij (ein begabter Schriftsteller; er schrieb die bekannte Erzählung »Chranitel drewnostej« [Der Hüter von Altertümern], die 1964, allerdings nicht vollständig, im »Nowyj mir« erschien, und zahlreiche unveröffentlichte Prosawerke); Daniil Andrejew, der Sohn Lenid Andrejews, ein tief empfindsamer Dichter (während er das erste Mal in Haft war — 1947 —, wurde das Manuskript seines Romans »Kreml« beschlagnahmt und vernichtet; er verfaßte außerdem den monumentalen philosophischen Essay »Rosa mira« [Die Rose des Friedens] und weitere tief philosophische Prosawerke von sehr komplexer Struktur, in denen eine Atmosphäre des Surrealen herrscht); Anatolij Radygin, der 1971-72 im Gefängnis von Wladimir einige beachtenswerte »Sonettenkränze« schrieb; Alexander Petrow-Agatow, der, nachdem er zwanzig Jahre (von 1947 bis 1967) im Lager verbracht hatte, 1969 zum zweitenmal — zu sieben Jahren — verurteilt wurde: wegen seiner Gedichte (diese freimütige Begründung des Urteils ist ungewöhnlich für die sowjetische Justiz, die doch sonst immer wenigstens den Anschein einer »subversiven Tätigkeit« oder »böswilligen Verleumdung« zu beweisen versucht). Zur Last gelegt wurden ihm die Gedichte: »An Gott«, »Die Kolyma-Strecke«, »Alles wird so sein«, »Alle hasten«, »Der Moskauer Kreml«, »Verpestet«, »Auf den Tod Stalins«, »Das Weinen der Frau«, »Voraussage« und »Wanino«.

Bekannt sind sogar ganze handgeschriebene Gedichtsammlungen, die in Lagern eingesperrte Dichter illegal zusammengestellt haben, wie zum Beispiel die Almanache »Troja-68« und »Pjatiretschje« (Fünfstromland), in denen P. Antonjuk, L. Tschertkow und andere vertreten sind.

Es gibt auch zahlreiche anonyme Lagergedichte. Die bekanntesten sind: »Wir gingen auf Transport, und oftmals ...«, »Es war in solchem tiefen Dunkel...«, »Wenn ich sterben werde ...«, »Die Straße nach Kargopol« und andere.

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Die Renaissance des Glaubens, die Rußland heute erlebt, spiegelt sich auch in der Lyrik des Samisdat wider. Unter Gläubigen wie Ungläubigen zirkulieren ungedruckte Gedichte des Priesters D. Dudko. Das Fragen nach Gott, die Beantwortung moralischer Probleme im Geiste des Christentums, das Gefühl der Enttäuschung durch den Marxismus und des Abscheus vor dem Materialismus — all das kann man bei fast allen russischen Dichtern heute antreffen; bei einigen gewinnt das allerdings eine spezifisch slawophile Tönung, wie etwa bei A. Berjosowskij, W. Kositschew, S. Nesterowa, W. Kowschin, A. Barkowa, I. Awdejew, N. Rubzow, W. Sokolow, A. Wasjutkow und anderen. Orthodoxes Christentum und Nationalismus, verbunden mit der Ablehnung der heutigen sowjetischen Realität, führen zur Idealisierung der Vergangenheit Rußlands und entsprechenden Hoffnungen für seine Zukunft.

Nachdem in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre das literarische Leben in Rußland einen neuen Aufschwung genommen hat und sich zum Samisdat der aus dem Ausland hereingebrachte »Tamisdat« gesellte, kann man sich von einer Reihe von Lyrikern ein besseres Bild machen. 

Dazu gehören etwa der im engen Kreis von Liebhabern »reiner Lyrik« schon lang bekannte elegische und groteske S. Krassowizkij und B. Tschitschibabin mit seinen witzigen und unaufwendigen Versen, der ebenfalls schon seit langem schreibt und gelesen wird; 

der feinsinnige und tiefe L. Ioffe mit seinen sorgsam geschliffenen, schwerelos-durchsichtigen Versen; der hell-kräftige Traditionalist A. Zwetkow; der introvertierte und spirituelle Lyriker I. Burichin und der religiös intensiv suchende A. Mironow; P. Bulyshnikow mit seinen Versen voll Reflexionen und Zweifel; der Konstruktivist G. Chudjakow; der Experimentator P. Brand (der mit dem Tonbandgerät arbeitet); der emotionale Expressionist Je. Pasuchin; der Post-Akmeist W. Kapan; der »Antipoet« W. Nesterowskij; der Konkretist A. Shigalow; der aufrichtige und herzenswarme Lyriker A. Wernik; der Neofuturist W. Kasakow; B. Kamjanow mit seinen historischen Gedichten; der markante und grelle A. Chwostenko; 

A. Pachomow und M. Probatow, die christliche Themen lyrisch bearbeiten; der feinsinnige, sanfte A. Lossew mit seinen kultiviert-zurückhaltenden Versen; ferner Ju. Aleksejew, W. Tupizyn, M. Armalinksij, A. Monastyrskij, Ju. Lechtholz, W. Naumow, M. Kreps, Je. Geft, D. Vogel, W. Iwerni, A. Wolowik, M. Eisenberg, L. Jentin, S. Petrunis, O. Dris, Ju. Wosnessenskaja, W. Lasaris, M. Gendblew, A. Morew, T. Bukowskaja, W. Kriwoschejew, D. Nadeshdin, I. Lisnjanskaja, D. Sawizkij, B. Kenshejew, A. Gorbunowa, S. Afanasjewa, O. Sedakowa, G. Trifonow, A. Dragomoschtschenko, Je. Wensel, B. Schiljan, Ju. Eichenwald, W. Nekipelow, K. Sapgir, I. Bejn, S. Serebrow.

 

Weit mehr noch als bei Prosa spielen bei der Bewertung von Lyrik subjektive Kriterien eine Rolle, und da uns hier die eingehende Würdigung einer Vielzahl von Autoren nicht möglich war, ist sicherlich der eine oder andere Dichter, der in einem anderen Rahmen weit mehr Beachtung verdiente, nur kurz gestreift worden oder gar ganz unerwähnt geblieben. Wir können uns nur mit der Hoffnung trösten, daß ein anderer es einmal unternehmen möge, eine ausführliche Monografie über die nichtoffizielle russische Lyrik von heute zu schreiben.

205-206

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