13. Der Strom schwillt an:
1975-1980 — ein qualitativer Sprung (1)
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Seitdem die vorangegangenen Kapitel dieses Buches geschrieben wurden, haben sich entscheidende Veränderungen in der russischen Literatur vollzogen; ein bedeutsames Ereignis folgte so rasch auf das andere, daß der Chronist gar nicht mehr nachkommt.
Wie das »Samisdat-Archiv« (München) mitteilt, gelangten in einem Zeitraum von sechs Jahren, von 1968 bis 1973, insgesamt 1540 verschiedene literarische Werke und schriftliche Dokumente des Samisdat in den Westen; allein im Jahre 1974 kamen 455 dazu. Und das, obgleich sich die »Jagd nach Manuskripten« verstärkt hat. Doch die Herrschenden können gegen diese Bewegung schon nichts mehr unternehmen. Gegen Ende der siebziger Jahre schwoll der Strom von Untergrundmanuskripten, Untergrundzeitschriften, Sammelbänden und Almanachen noch stärker an.
Die beispiellose Unterdrückung der menschlichen Freiheit führte zu einem in der Geschichte beispiellosen Phänomen: einer inoffiziellen, alternativen Kultur. Innerhalb dieser alternativen Kultur vollzog sich nun ein qualitativer Sprung: Sie begann, sich ihrer selbst bewußt zu werden, sie formierte sich zu einer organischen, wenn auch in ihrem Inneren vielgestaltigen Bewegung, deren Teilnehmer nicht länger als isolierte einzelne in ihren vier Wänden sitzen, ohne Verbindung miteinander zu halten, ohne den anderen zu kennen, sondern sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußt geworden sind und innerhalb eines einheitlichen Prozesses aufeinander einwirken.
Es sind keine Illegalen mehr, die zwei Namen haben und zwei Leben führen — ein offenes, aber verlogenes und ein geheimes, vor allen anderen verborgenes, aber wahres (wie einst Sinjawskij und Daniel) —, sondern es sind Oppositionelle, die sich als solche zu erkennen geben, sie gewinnen ihre Kraft aus dem Bewußtsein ihrer Vielzahl und der Machtlosigkeit der Herrschenden, die schon nicht mehr in der Lage sind, diesen unumkehrbaren und unaufhaltsamen Prozeß mit Repressionen einzudämmen.
Besonders aufschlußreich ist in dieser Hinsicht der Erfolg der Leningrader Zeitschrift »37« (der Titel geht auf die Nummer der Wohnung zurück, in der sich oppositionelle Künstler, Bildhauer, Dichter, Schriftsteller, Philosophen, Kritiker zu Diskussionen, Vorträgen und Lesungen aus ihren Werken versammelten). Diese Zeitschrift entstand aus dem Bedürfnis, nicht einfach eine weitere Sammlung neuer Untergrundwerke vorzulegen, sondern das umfangreiche Material, das im Samisdat zur Verfügung steht, unter bestimmten Gesichtspunkten zu systematisieren und aufzuarbeiten. In der gleichen Richtung wirkte auch eine weitere Gruppe von Leningrader Literaten, die die Untergrundzeitschrift »Tschassy« (Die Uhr) herausgaben.
Kennzeichnend für die vergangenen Jahre ist überhaupt die Entstehung freier literarischer und künstlerischer Gruppierungen, die sich um bestimmte ästhetische und gesellschaftspolitische Zielsetzungen versammeln, Gruppen, wie sie zu Beginn unseres Jahrhunderts in Rußland existiert haben. Es erschienen Almanache und Sammelbände, gemeinsam erstellt von Autoren, die in ein und derselben Richtung arbeiten — wie zum Beispiel »Archiv«, »Lepta« (Das Scherflein), »Moskwa« oder »Mera wremeni« (Maß der Zeit). Die aufschlußreichsten und interessantesten ihrer Art sind sicherlich die beiden Almanache »Apollon-77« und »Metropol« — der erste wurde in Paris von einer Gruppe von Schriftstellern herausgegeben, die kurz vorher die Sowjetunion verlassen hatten, enthält jedoch auch Beiträge von Gleichgesinnten, die noch in Rußland leben; der zweite wurde als getipptes Manuskript in Moskau veröffentlicht und entfesselte einen veritablen Sturm in Literatenkreisen.
In dem Band »Apollon-77« trifft man nicht nur zeitgenössische inoffizielle Lyriker und Prosaisten an, wie Ju. Mamlejew, A. Rowner, Je. Geff, W. Maramsin, W. Bachtschanjan, Wsewolod Nekrassow, Aleksej Zwetkow, I. Burichin, K. Kusminskij und andere, sondern auch Avantgardisten der zwanziger Jahre, deren Werke seitdem verboten sind, wie Pawel Filonow, A. Wwedenskij, D. Charms oder K. Waginow. Dadurch betont die neue russische Avantgarde ihre Kontinuität mit der gewaltsam erstickten Avantgarde der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts. Im Vorwort zum »Apollon-77« lesen wir:
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»Warum ein Almanach? Weil ein Almanach eine Bombe ist, während alle Anthologien bloß den Bücherstaub in den Bibliotheken vermehren (...) Er errichtet der Kunst ein Denkmal, die endlich aus der tiefsten Unterwelt ans Licht des Tags und vor das Gericht der Menschen gebracht worden ist (...) Ihr werdet mit eigenen Augen sehen, daß das monströse <Sur> der sowjetischen Realität, die Atmosphäre des stinkenden Atems ihre würdigen Gestalter gefunden hat. Welche eindrückliche Belebung vermag uns die nie erkaltende Glut eines von innen nach außen gewendeten Lebens zu spenden! Und auf welcher Brandstätte gottlosen Lasters, kultureller Degradation und allumfassender Armut! >Der Geist weht, wo er will<!
Zwanzig Jahre Kampf — und ins Nichts schwindet die Antikultur des <Sozrealismus>, die zum Schaden des Volkes errichtet worden war (...) Autoren sind aufgetaucht, die auf einer <anderen Etage> des Lebens wohnen. Die das Kreuz des Verfemten, Gehetzten und Hungerleiders auf sich genommen haben (...) Wir haben nicht die noble Lyzeumskultur Puschkins genossen, sondern den harten, brüchigen Jargon der Hinterhöfe und der Straße, den unmöglichen Slang der Fabrik und des Arbeiterwohnheims, die unsägliche sowjetische Sprachen das Behörden-Neusprech. Wir stehen ehrlich und kompromißlos dazu, daß wir mit dieser Welt, die uns ausgespien hat, verbunden sind, und deshalb stellen wir hier mit voller Absicht eine ganze Gruppe von Meistern dieser <Barbarensprache> vor. Sollen wir auf der Schwelle zur Apokalypse die Welt durch die Lorgnons ältlicher Turgenjewscher Adelsfräuleins betrachten?«1)
Was die Autoren bei aller Verschiedenheit miteinander verbindet, ist das vehemente Aufbegehren gegen die abgestandenen traditionellen Formen, und das ist keineswegs eine intellektuelle Spielerei von Ästheten, die des Immergleichen überdrüssig sind, sondern dieser Ästhetizismus ist weitaus ernsthafter, als es den Anschein hat. Herausforderung und Provokation sind zu ästhetischen Kategorien des Dissidententums geworden, wie Georges Nivat auf der Biennale in Venedig 1977 zutreffend bemerkte (daß diese Biennale der freien Literatur und der inoffiziellen Kunst Osteuropas gewidmet war, zeigt, daß man im Westen endlich das Ausmaß dieses Phänomens und seine wahrhaft historische Bedeutung zu begreifen beginnt).
Die Dissidenz ist das Durchbrechen des Schweigens, sagt Nivat, und dieser Akt ist »grenzüberschreitend« in jeder Hinsicht. Dieses Durchbrechen müßte erfolglos bleiben, wenn es nicht in der Lage wäre, den Gegner nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch in die Schranken zu fordern. Die Begegnung mit dem Unsagbaren macht die Menschen stumm; indem er aus dieser Aphasie ausbricht, entdeckt der Dissident eine neue Art zu sprechen, die ihn zum Leben zurück führt, freilich unter Krämpfen und Schmerzen. Auf den völligen Verlust der Sprache folgt ihre ungestüme Wiedergewinnung, sagt Georges Nivat.
Kennzeichnend für die Autoren von »Apollon-77« sind komplizierte Konstruktionen, Elemente des Absurden, anspruchsvolle Metaphorik, religiöse Symbolik, Widerwillen gegen den Materialismus und Streben nach inneren Werten.
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Ganz anderen Charakter trägt der 1979 in Moskau veröffentlichte Almanach »Metropol«, ein voluminöser Band von fast tausend Seiten. Im Unterschied zum »Apollon-77« und den Leningrader Sammelbänden, in denen hauptsächlich junge inoffizielle Literaten, die als »Abtrünnige« am Rand der Gesellschaft stehen und nie zur offiziellen Literatur gehörten, zu Wort kommen, treffen wir im »Metropol« auf geachtete Mitglieder des sowjetischen Schriftstellerverbandes wie Wassilij Aksjonow, Bella Achmadulina, Andrej Bitow, Andrej Wosnessenskij, Fasil Iskander und andere. Es sind Schriftsteller, die viele Jahre lang die Spielregeln akzeptieren mußten, die in der Literatur Nischen abseits von Politik und Ideologie gefunden hatten, in denen sie sich einrichten konnten, ohne mit den Herrschenden aneinanderzugeraten.
Was hat sie dazu gebracht, die Mächtigen jetzt herauszufordern? Hat die sowjetische Zensur vielleicht die Schrauben fester gezogen?
Nein, im Gegenteil — Aksjonow und Iskander zum Beispiel durften in der letzten Zeit Sachen veröffentlichen, die man weniger bedeutenden Schriftstellern niemals erlaubt hätte und die auch sie selbst noch vor wenigen Jahren nicht hätten drucken können. Der wahre Grund ist vielmehr, daß sich diese Schriftsteller mit dem von oben sanktionierten »Liberalismus« nicht mehr zufriedengeben wollen.
Das Anwachsen der freien russischen Literatur, die an Kraft und Reife immer mehr zunimmt, wirkt auch auf die offiziellen Schriftsteller ansteckend. Man kann nicht auf seinem hergebrachten Niveau verharren, wenn um einen herum immer neue Begabungen kometenhaft aufsteigen, die ein vollkommen neues, höheres literarisches Niveau begründen.
Man kann nicht seinen liebgewordenen Winterschlaf fortsetzen, wenn rings umher die freie Debatte brandet und das Denken ruhelos pulsiert. Unter dem Ansturm der alternativen Kultur ist die Macht gezwungen nachzugeben, die Sphäre des Erlaubten dort zu erweitern, wo keine tödliche Gefahr droht, die Leine zu lockern, an der sie ihre Diener von der Literatur hält. Trifonow, Rasputin, Below, Astafjew und verschiedene andere dürfen schon viel weiter gehen, viel offener reden als zuvor, unter der Bedingung freilich, daß sie die Grenzen des Erlaubten nicht überschreiten, doch nicht alle geben sich mit solch einer »genehmigten« Freiheit zufrieden.
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Im Vorwort zu dem Almanach »Metropol« heißt es:
»Warum hat man sich gerade zu dieser literarischen Form entschlossen? Diese Frage wird unvermeidlich von Menschen gestellt, die mit einigen Besonderheiten unseres kulturellen Lebens noch nicht so vertraut sind. Die Feststellung ist sicher nicht allzu vermessen, daß das Leben hierzulande an einer Art chronischen Gebrechens leidet, das man als Feindseligkeit gegen das Andersgeartete< oder schlicht als <Furcht vor der Literatur> bezeichnen könnte. Die dumpfe Trägheit, die in den Zeitschriftenredaktionen und Verlagen herrscht, führt zu einer aufgeblähten gesellschaftlichen Verantwortlichkeit für eine Scheinliteratur, die nicht nur weit hinter dem zurückbleibt, was sie sein müßte, sondern nicht einmal mehr das ist, was sie gestern noch war (...) Die Autoren des >Metropol< sind unabhängige (auch voneinander unabhängige) Schriftsteller. Das einzige, was sie entschieden unter einem Dach zusammenführt, ist die Erkenntnis, daß nur der Autor selbst für sein Werk verantwortlich ist. Das Recht auf die eigene Verantwortlichkeit ist uns heilig.«2)
Hier haben wir es also mit einem ganz anderen Ausgangspunkt zu tun, der dem des »Apollon-77« diametral entgegengesetzt ist. Dort nahm die offen erklärte soziale Revolte die Form des ästhetischen Avantgardismus an. Im »Metropol« dagegen wird unter dem Mantel der ästhetischen Neuerung die rein politische Forderung nach der Freiheit des Worts sorgfältig verborgen. Und diese Forderung nach Freiheit ist die allgemeine Plattform, auf der sich vollkommen unterschiedliche Autoren zusammenfinden. Doch die Tatsache ihrer Vereinigung und ihres offenen Auftretens gewinnt wiederum den Charakter eines hochbedeutsamen literarischen Ereignisses — und so schließt sich der Kreis: Ästhetik — Politik — Ästhetik.
Die Autoren des Almanachs stellten ihr Kind in Moskau westlichen Journalisten vor. Darauf setzten Repressionen ein. Zwei jüngere und weniger bekannte Schriftsteller, Jewgenij Popow und Viktor Jerofejew, wurden aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, Wassilij Aksjonow und Andrej Bitow erklärten aus Protest von sich aus ihren Austritt. Daraufhin zwang man Aksjonow ebenso wie einen weiteren »Metropol«-Autor, Jus (Iossif) Aleschkowskij, zur Emigration.
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Verboten wurde der Almanach wohlgemerkt nicht aus Furcht vor seinem formalen Neuerertum — Wosnessenskij hat in der Sowjetunion ebenso extravagante Lyrik und Aksjonow ebenso extravaganta Prosa publiziert wie im »Metropol« —, sondern wegen seiner gefährlichen Themen: Gott, der Tod, die soziale Ungleichheit, die Ödnis des sowjetischen Alltags, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, der Alkohol. Aber vor allem natürlich, weil die Schriftsteller es gewagt hatten, sich zusammenzutun. Der totalitäre Staat fürchtet nichts so sehr wie die freie, von ihm nicht sanktionierte Vereinigung seiner Untertanen.
Unter den Beiträgen zu dem Almanach »Metropol« muß man zwei als besonders gelungen hervorheben; beide verfaßt von ganz jungen Autoren, die erst durch diesen Almanach bekannt geworden sind: »Dwe tetradi« (Zwei Hefte) von Pjotr Koshewnikow (die eindrucksvolle Erzählung von dem düsteren und widernatürlichen Klima, in dem die sowjetische Jugend heranwächst und in dem sich ihre Persönlichkeit formt) und »Tschortowa djushina^ rasskasow« (Ein Bäckerdutzend Erzählungen) von Jewgenij Popow (ironische und treffende Skizzen aus dem sowjetischen Alltag, entfernt an Soschtschenko erinnernd, doch mit anderer Schattierung). Erwähnung verdient auch Friedrich Gorensteins Erzählung »Stupeni« (Stufen; über die innere Gärung und die schmerzliche Suche jenes Teils der sowjetischen Intelligenz, der auf halbem Wege zwischen Materialismus und Idealismus, zwischen Atheismus und Glauben steckengeblieben ist, der das erste schon hinter sich gelassen hat, doch das zweite noch nicht zu erreichen vermag), Fasil Iskanders wunderbare Erzählung »Malenkij gigant bolschogo seksa« (Der kleine Gigant mit viel Sex; die witzige und spannende Geschichte von dem Fotografen Marat aus dem Kaukasus, einem modernen Don Juan, der im Überschwang der Leidenschaft zum Rivalen von Lawrentij Berija, dem schrecklichen Oberhaupt des KGB, wird) und schließlich Boris Wachtins Erzählung »Dubljonka« (Der Schafpelz; eine moderne Variante von Gogols »Mantel« — paradoxerweise haben gerade diese offenen Anleihen bei Gogol, die hier ganz bewußt die literarische Technik bestimmen, es Wachtin erlaubt, ein eigenständiges und sehr lebenskräftiges Werk zu schaffen, dem die ambitionierte Gespreiztheit, wie sie mehr oder minder alle seine vorangegangenen Arbeiten kennzeichnete, vollkommen fehlt).
Ein entscheidender neuer Faktor, der den Charakter des literarischen Prozesses in den letzten Jahren erheblich beeinflußt hat, ist die massenhafte Abwanderung russischer Schriftsteller ins Ausland. Man kann sagen, daß sich heute, Mitte 1980, der Schwerpunkt der russischen Literatur schon außerhalb Rußlands befindet.
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Die Versuche, die Schriftsteller mit Repressionen einzuschüchtern, fruchteten nichts. Der Ausschluß Lydia Tschukowskajas, Lew Kopelews, Wladimir Wojnowitschs, Felix Swetows und vieler anderer aus dem Schriftstellerverband vermochte niemanden abzuschrecken, im Gegenteil — Schriftsteller wie Wladimir Kornilow, Georgij Wladimow, Dawid Dar oder Wassilij Aksjonow erklärten selber ihren Austritt. Sie konnten die Mitgliedschaft in dieser Organisation nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren.
In der Hoffnung, die Ausbreitung der »Seuche« eingrenzen zu können, gingen die Behörden dazu über, den mißliebigen Schriftstellern die Emigration zu erleichtern. Und die Schriftsteller ihrerseits, verlockt von der Möglichkeit, im Westen frei zu leben und zu arbeiten, bemühten sich energischer als zuvor um die Erlaubnis zur Ausreise.
Die Liste der in der letzten Zeit Emigrierten würde viele Seiten füllen. Unter ihnen sind so bekannte Schriftsteller wie Viktor Nekrassow, Felix Kandel (Kamow), Wassilij Aksjonow, Alexander Sinowjew, Sergej Dowlatow, Iossif Aleschkowskij, Natalja Gorbanewskaja, Kira Sapgir, Lew Chalif, Arkadij Lwow, David Dar, Sergej Jurjenen, Igor Jefimow, Ilja Suslow, Wadim Netschajew, Kirill Uspenskij (Koszinskij), Ruf Sernowa; und hoffnungsvolle junge Begabungen, die erst im Westen zur Entfaltung gelangt sind, wie Nikolaj Bokow, Sascha Sokolow, Jewgenij Zwetkow, Igor Pomeranzew, Jurij Miloslawskij, Sima Ostrowskij, Sinowij Sinik, Jewgenij Ternowskij, Wladimir Rybakow.
Sie alle haben Rußland mit sich ins Exil genommen und arbeiten an den Themen weiter, die ihnen das in Rußland Erlebte aufgibt. Sie verlieren die Verbindung mit Rußland nicht, sie durchleiden weiter dasselbe Leben wie ihre in der Heimat zurückgebliebenen Kollegen. Neue russische Zeitschriften, die eine nach der anderen im Westen gegründet wurden, veröffentlichen nicht nur die Werke emigrierter Autoren, sondern bieten auch den in Rußland Lebenden ein Forum. Es gibt heute im Westen bereits mehr russische Literaturzeitschriften als in Moskau.
In den vergangenen fünf Jahren haben allein in Paris neben »Kontinent« — das, von Wladimir Maximow geleitet, eindeutig die repräsentativste Zeitschrift der Emigration darstellt und sich als unabhängiges Forum für ganz Osteuropa versteht — noch fünf weitere neue Zeitschriften zu erscheinen begonnen: »Tretja wolna« (Die dritte Welle), von A. Gleser herausgegeben und den »Apollon«-Herausgebern nahestehend; »Echo«, herausgegeben von W. Maramsin und A. Chwostenko, und »Kowtscheg« (Die Arche), herausgegeben von N. Bokow — beide so etwas wie ein Laboratorium für literarische Experimente; »Sintaksis« von A. Sinjawskij und »Russkoje wosroshdenije« (Russische Wiedergeburt) von S. Obolenksij.
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In New York gibt A. Rowner die Zeitschrift »Gnosis« heraus, die sich stärker religiösen und philosophischen Themen widmet, und in Israel, wo ebenfalls eine sehr starke Gruppe emigrierter russischer Schriftsteller besteht, erscheinen die Zeitschriften »Sion« (Zion), »Wremja i my« (Die Zeit und wir) und »22«.
Ein derart massenhafter Exodus von Schriftstellern aus Rußland hat auch die Struktur des Samisdat verändert. Der Samisdat wird immer weiter vom »Tamisdat« verdrängt, doch was heute heimlich im Land zirkuliert, sind nicht mehr in erster Linie maschinengeschriebene lose Blätter, sondern gedruckte Zeitschriften und Bücher, die im Ausland hergestellt sind.
Das Wort »Samisdat« selbst hat bereits seine Bedeutung verändert und wird unpräzise verwendet: Man versteht darunter heute jegliche Art heimlich verbreiteter, verbotener Literatur.
Die erste Etappe — das Selbstherausgeben — ist inzwischen vom normalen Buchdruck abgelöst worden; alle anderen Glieder der Kette jedoch — Weiterverbreitung, Diskussion, Propaganda usw. — bleiben bestehen. Das heißt nicht, daß der Samisdat (in des Wortes ursprünglicher Bedeutung) ganz ausgestorben ist: Die Exemplare aus dem Ausland allein können das Vakuum nicht füllen, und neben den gedruckten Büchern zirkulieren auch weiterhin noch die traditionellen getippten Manuskripte.
So gehen auf herkömmliche Art von Hand zu Hand die Lagererzählung »Ogljanis« (Sieh dich um) von Schibanow und A. Gawrilows Erzählung »Bratsk-54«, die »Slutschajnyje sametki o litschnoj shisni: wpetschatlenija i rasmyschlenija Nikolaja Iwanowitscha Tetenowa i jego syna Aleksandra« (Zufällige Bemerkungen über das Privatleben: Eindrücke und Überlegungen des Nikolaj Iwanowitsch Tetenow und seines Sohnes Alexander), P. Dudotschkins Roman aus dem Kolchosleben »Rawnowesije« (Gleichgewicht), eine autobiografische Lagererzählung von Roald Muchamedjarow, neue Pamphlete von W. Gussarow (wie der »Monolog sowetskogo rabotschego [Monolog eines sowjetischen Arbeiters]), R. Reichlins Erzählung »Charakteristika« (Die Personalakte; über die Hetze und das Scherbengericht gegen einen Menschen, der den Antrag auf eine Ausreisegenehmigung gestellt hat), Ossip Tschornyjs Roman »Kniga sudeb« (Das Schicksalsbuch; über das Schicksal der Menschen, die der Stalinsche Wirbelsturm erfaßt hat), die Erzählung »K wolnoj wole sapowed-
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nyje puti« (Zur Freiheit die verborgnen Wege) von Anna Gerz (über das Leben in Dissidentenkreisen — sozusagen ein Samisdat über den Samisdat), S. Daschkowas slawophiler Roman »Lebedinaja pesnja« (Schwanengesang; über das Leben der russischen Intelligenz unter der Stalindiktatur), die anonyme Erzählung »Otschisna neiswestnaja« (Herkunft unbekannt; über das tragische Leben eines russischen Priesters), A. Dobrowolskijs Erzählband »Desjat min« (Zehn Pfund; der Gewinn aus dem Pfunde, mit dem man wie in dem biblischen Gleichnis gewuchert hat — dem Pfund der Begabung, der Gabe Gottes), der Roman »Otschtschepenez« (Der Abtrünnige) und die Erzählung »Nassedka« (dt. Der Zellenspitzel) von Iossif Bogoras (autobiografische Berichte über den Terror der dreißiger Jahre; besonders interessant ist die Psychologie der Parteifunktionäre gezeichnet — selbst wenn sie selbst von den Repressionen erfaßt werden, sind sie nicht um Rechtfertigungen für diesen Terror verlegen) oder Wladimir Michajlows Erzählung »Jeschtscho dolgo« (Noch lange; über das Jahr des Umbruchs 1954 im hohen Norden in einem Gebiet, wo ehemalige Sträflinge und ehemalige Aufseher nebeneinander leben).
Doch am merkwürdigsten ist wohl das Schicksal des Poems »Igrajuschtschij tschelowek« (Homo ludens) von Jurij Iwask: Geschrieben im Westen von einem Repräsentanten der ersten russischen Emigration, fand dies Gedicht auf dem ganz normalen, schlichten Weg des Samisdat Verbreitung in Rußland.
Die Erzählung »Wernyj Ruslan« (dt. Die Geschichte vom treuen Hund Ruslan) mit dem Untertitel »Istorija karaulnoj sobaki« (Geschichte eines Wachhunds) hatte schon jahrelang anonym im Samisdat zirkuliert, bevor ihr Autor Georgij Wladimow — der durch die seinerzeit vielbeachtete Erzählung »Bolschaja ruda« (im »Nowyj mir« Nr. 7/1961; dt. Das große Erz) bekannt geworden ist — sie 1975 umarbeitete und unter seinem vollen Namen in Umlauf brachte.
Diese Erzählung ist zweifellos eines der bedeutendsten Werke der letzten Jahre. Das Thema der Lager wird hier aus einem ganz unerwarteten Blickwinkel betrachtet: Der Held des Buches ist ein ehemaliger KZ-Wachhund, der nach den Chruschtschowschen Rehabilitierungen »arbeitslos« geworden ist. Von den Menschen verlassen und ohne Bleibe, geht der treue Ruslan heroisch zugrunde, der Pflicht gehorchend, die ihm die Menschen aufgegeben haben. Das Ende der Erzählung, als Ruslan zwischen eine Brigade von Bauarbeitern fährt, um Ordnung in den Haufen zu bringen, den er für eine Kolonne von Sträflingen hält (in einer der umlaufenden Varianten der Erzählung ist es eine Kolonne von Maidemonstranten, was meines Erachtens noch eindringlicher wirkt) — dieses Ende ist voller Tragik.
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Überhaupt gemahnt die ganze Erzählung an eine antike Tragödie, so eindeutig und kompromißlos stoßen hier unvereinbare Prinzipien aufeinander. An dem Stoff — der Geschichte eines Lagerhundes — haben sich andere Schriftsteller bereits verschiedentlich versucht, etwa der Tscheche Ludvik Askenazy in seiner Erzählung »Brut«. Doch nur Wladimow vermochte sich auf die Höhe der wahren Tragödie zu erheben. Seine Erzählung läßt sich zweifach lesen (wobei die eine Lesart die andere nicht ausschließt).
Die Geschichte vom Hund Ruslan kann man zum einen einfach nehmen, wie sie ist: als die Geschichte einer heilen, natürlichen und daher dem Menschen moralisch überlegenen Kreatur, die von den Menschen verdorben wird und in tragischen Widerspruch zu dieser grauenhaften Welt der Menschen gerät, einer Welt, die nicht nur sich selbst, sondern alles Reine, Schöne und Gute verkrüppelt und verstümmelt. Entscheidend ist für diese Lesart die Episode mit dem Hundetrainer, der den Verstand verliert (den Verstand der Menschen) und plötzlich selber ein Hund sein will, sich weigert, seine Hunde weiter zum Haß abzurichten, sich lossagt von der Menschenwelt und ihrer Grausamkeit und Niedertracht. Wesentlich für diese Interpretation ist auch die Episode, wo die Lagerhunde revoltieren, weil sie nicht willens sind, den Menschen auch in die entsetzlichsten Abgründe der Grausamkeit zu folgen (die Häftlinge werden zur Strafe bei vierzig Grad Frost mit Wasserübergossen). Doch man kann Wladimows Erzählung auch metaphorisch verstehen, ähnlich wie Bulgakows »Hundeherz«, das den »Treuen Ruslan« durchaus beeinflußt haben mag. Die sowjetische Propaganda der Stalinzeit schuf einen neuen Typ menschlichen Bewußtseins, das als Norm betrachtete, was man ihm einredete. Dieser ideologischen Verführung erlagen natürlich am ehesten naive und beschränkte Menschen, aber gerade sie glaubten am aufrichtigsten und unbeirrbarsten an das neu Gelernte. Die schließliche Zerstörung ihres Mythos machte dann den Zusammenprall mit der plötzlich offenbar werdenden Realität zur Katastrophe und führte zu tragischen Konflikten.
Am 10. Oktober 1977 erklärte Wladimow seinen Austritt aus dem Schriftstellerverband; er wiederholte die Worte Arkadij Belinkows »Ohne mich!«. »Indem ich hier im Land bleibe, habe ich doch nicht länger die Absicht, mit euch zusammenzusein«, schrieb Wladimow.
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»Ich schließe euch aus meiner Welt aus. Unterdrückt nur weiter, verfolgt, würgt ab. Aber — ohne mich.« Standhaft nahm der Schriftsteller alle Folgen dieses Schritts auf sich: Verlust des Arbeitsplatzes und der Möglichkeit, von seiner schriftstellerischen Arbeit zu leben, Verfolgung, Haussuchungen, Drohungen und Erpressungen.
Unter den Büchern, die schon vor dem Aufblühen des Tamisdat bekannt wurden, sind einige hervorzuheben — besonders die Romane und Erzählungen von W. Kornilow, W. Grossman, Je. Lobas, W. Sosnora, S. Schenbrunn, L. Borodin, F. Swetow, L. Chalif, B. Chasanow, Ju. Dombrowskij und G. Aleksandrow. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, daß die Periodisierung hier wie überall nur annähernd sein kann, da viele Werke, die während des Tamisdat-Booms bekannt wurden, bereits in den sechziger Jahren entstanden sind und seinerzeit nur im engen Freundeskreis gelesen wurden, bevor sie die Woge einer neuen literarischen Bewegung an die Oberfläche trug.
Der bekannte Lyriker Wladimir Kornilow trat um die Mitte der siebziger Jahre als Prosaiker hervor: Bekannt wurden seine Erzählungen »Bes ruk, bes nog« (dt. Ohne Arme, ohne Beine), »Dewotschki i damotschki« (dt. Mädchen und Dämchen), »Ryshikan« und der Roman »Demobilisazija« (dt. Abschied vom Regiment). Die Erzählung »Ohne Arme, ohne Beine« schildert in geglückter Anschaulichkeit die Atmosphäre und Stimmung im Moskau des Jahres 1945. Alles wird mit den Augen eines Heranwachsenden, eines Schülers der zehnten Klasse, gesehen, und das verleiht der Erzählung Neuartigkeit und Frische.
»Mädchen und Dämchen« behandelt den Angriff der Deutschen auf Moskau im Winter 1941. Auch hier wird Zeitgeschichte aus einem recht engen und dennoch charakteristischen Blickwinkel verfolgt: Es ist die Geschichte einer Frauen-Landsturmbrigade, die zum Ausheben von Schützengräben an die Front kommandiert wird und nun schutzlos den deutschen Panzern gegenübersteht.
Die Erzählung »Ryshikan« ist die Geschichte eines nonkonformistischen Malers vor dem anschaulich ausgestalteten Hintergrund des Moskauer Künstlermilieus. Der Roman »Abschied vom Regiment« ist ein aufschlußreiches Buch, das freilich weniger wegen seiner literarischen Qualitäten Beachtung verdient als wegen der sorgfältigen und genauen Rekonstruktion des sowjetischen Alltags der fünfziger Jahre.
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Man atmet förmlich die Luft jener Zeit in Moskau, wenn man dieses Buch liest. Die bedächtige und etwas monotone Erzählweise läßt ein anschauliches Bild vom Leben der Moskauer Intelligenz, von den Lebensbedingungen in der Sowjetarmee und von dem geistigen Klima jener Jahre entstehen. Man kann sagen, daß Kornilow seine Aufgabe erfüllt hat: den Nachgeborenen ein Bild von einer für immer entschwundenen, einmaligen und unwiederholbaren Existenzweise zu bewahren und ihnen damit Material für vergleichende Betrachtungen zu liefern.
Nach dem Tod Wassilij Grossmans wurde der zweite Teil seines monumentalen Romans über den Zweiten Weltkrieg, »Für die gerechte Sache«, bekannt. Der erste Teil war in der Sowjetunion erschienen, der zweite jedoch, zusammen mit dem Roman »Alles fließt«, vom KGB beschlagnahmt worden. Bei der Haussuchung hatte man dem Schriftsteller nicht nur sämtliche Kopien des Romans und alle Skizzen und Entwürfe weggenommen, sondern sogar die Farbbänder aus den Schreibmaschinen entfernt, auf denen Stenotypistinnen den Roman getippt hatten — trotz allem jedoch blieb eine Kopie des Romans dank der Hilfe von Freunden wundersamerweise erhalten. Das Manuskript stellt allerdings wohl nicht die vollständige Fassung dar; es wirkt fragmentarisch und unfertig.
Zu dem gleichen Kreis von Realisten und Wahrheitssuchern gehört auch der bemerkenswerte Schriftsteller Je. Lobas. Am bekanntesten wurde seine Erzählung »Ras w shisni« (Einmal im Leben)3, die plastisch und eindringlich die Öde und Zurückgebliebenheit des dörflichen Lebens schildert. Im Zentrum der Erzählung steht die Arbeit einer kleinen Rayonzeitung, wo man getreu dem Funktionsmechanismus der sowjetischen Propaganda im kleinen die Schablonen der großen sowjetischen Zeitungen übernimmt — nur auf solch primitiver Ebene und in so karikaturhafter Form, daß der Autor reichlich Gelegenheit zu geistreichen und belustigenden Episoden erhält.
Der bekannte Leningrader Lyriker Viktor Sosnora schreibt schon seit geraumer Zeit Prosa, doch bislang hat sie sich durchweg als offiziell nicht druckbar erwiesen — zu heikel sind die Themen, die er aufgreift, zu anstößig die Einzelheiten des sowjetischen Alltags, die er näher ins Auge faßt, zu selbständig und den offiziellen Richtlinien zu sehr zuwiderlaufend sind die Gedanken, die er ausspricht. 1973 wurde der Schriftsteller 37 Jahre alt (ein Alter, in dem russische Dichter traditionsgemäß Bilanz zu ziehen pflegen) und stellte eine Sammlung seiner Prosa und Lyrik zusammen, die er unter dem Titel »1973« in den Samisdat gab.
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Später vereinigte er seine Erzählungen, Geschichten und unveröffentlichten Poeme in dem Buch »Letutschij Gollandez« (Der fliegende Holländer). Die Titelerzählung selbst ist dabei am wenigsten von Interesse — die konventionelle symbolische Fabel und die Abstraktheit der Figuren lassen sie leblos und steril wirken. Viel aufschlußreicher sind die autobiografischen Erzählungen, welche die erlebte Realität anschaulich und lebensprall wiederzugeben wissen.
Anfang 1975 gerieten zwei Samisdat-Erzählungen der Schriftstellerin und Drehbuchautorin Swetlana Schenbrunn in den Westen: »Kak na retschke na Oke« (Wie am Oka-Flüßchen) und »Dwadzat tschetwjortaja gorodskaja klinitscheskaja« (Städtische Klinik Nr. 24), denen bald darauf, im September 1975, die Autorin selbst nachfolgte. Die zuletzt genannte Erzählung ist eine Reportage aus einem gewöhnlichen Moskauer Krankenhaus, keinem »geschlossenen« für Privilegierte, sondern einem ganz normalen. Das niedrige Niveau der medizinischen Fachausbildung (besonders bei der Diagnostik), die Enge, die fehlenden sanitären Einrichtungen, die Herzlosigkeit und Grobheit des Personals — das kennzeichnet die »kostenlose medizinische Versorgung«, die im übrigen gar nicht kostenlos ist. »Ich habe mein ganzes Leben lang Einkommensteuer bezahlt«, sagt eine der Kranken.
»Kak na retschke na Oke« ist eine sehr lebendig, locker und spannend geschriebene Erzählung über ein kleines Dorf an der Oka. Sehr genau sind die Bauern und Bäuerinnen von heute in ihren typischen Zügen erfaßt. Den Gegensatz zu ihnen bilden zwei realistisch dargestellte Intelligenzler, die aus Moskau ins Dorf gekommen sind, um dort Ferien zu machen. In Israel, wo die Schriftstellerin sich niedergelassen hat, publizierte sie kleinere Erzählungen. Vor allem gelingen ihr psychologische Skizzen, deren Stimmung an Tschechows Prosastücke denken läßt, wie zum Beispiel »Asja« oder »Maltschik« (Der Junge).
Leonid Borodin haben wir oben bereits als Lagerdichter erwähnt. Er verbrachte sechs Jahre, von 1967 bis 1973, als Mitglied des »Allrussischen Sozial-Christlichen Bundes zur Befreiung des Volkes« in Haft. In den siebziger Jahren, nach seiner Entlassung, wurde er als Prosaiker und Herausgeber des »Moskowskij sbornik« (Moskauer Sammelband; mit slawophiler Tendenz) im Samisdat bekannt. Borodins Erzählungen und Romane4 sind durch ungewöhnliche Dramatik gekennzeichnet, »Grenzsituationen« innerhalb der erregenden und tragischen Handlung markieren die Konflikte, welche die Gesellschaft zerreißen, mit aller Schärfe.
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In der Erzählung »Pered sudom« (Vor dem Prozeß) sehen wir das Problem von Verbrechen und Strafe, von Schuld und Sühne zu einem völlig unentwirrbaren Knäuel verschlungen. In der Westukraine, wo nach dem Zweiten Weltkrieg sowjetische Spezialeinheiten einen grausamen Kampf gegen die nationalistische Widerstandsbewegung führen, tötet der Chef der Rayonsabteilung des Staatssicherheitsministeriums Schitow seinen Vorgesetzten und Rivalen Kalinitschenko. Er begeht die Tat nicht selbst, sondern bedient sich dazu seines Untergebenen Snizarenko, doch so, daß dieser von dem wahren Zusammenhang nichts ahnt, weil er der Überzeugung bleibt, er habe mit Platzpatronen geschossen. Achtzehn Jahre später spürt Kalinitschenkos Frau Snizarenko auf und forderte seine Bestrafung, und dieser macht sich auf die Suche^ nach Schitow; doch als er ihn gefunden hat, verzichtet er auf die Rache: Vor ihm sitzt ein alter, kranker Mann, der seine Tat bereut; zudem würde Schitows Bestrafung Schmerz und Kummer für seinen Sohn bedeuten — also ein erneutes Verbrechen. Kalinitschenko schließlich, der sich Grausamkeiten, Folterungen und Morde zuschulden kommen ließ, wird sein Ende verdient haben. Aber hat seine Frau, die ihn liebte, die Leiden und Qualen der Einsamkeit verdient? Diese nicht abreißende Kette von Übeln kann nur durch einen Akt der Güte gesprengt werden.
Die »Powest strannogo wremeni« (Erzählung von einer merkwürdigen Zeit) ist die Tragödie einer Familie, auf der »der Fluch der Zeit« liegt. Einer blutjungen Frau wird der Mann durch die Verhaftung entrissen. Sie ist schwanger, und einer der verantwortlichen Beamten, an den sie sich um Hilfe wendet, rät ihr, sich von ihrem Mann loszusagen. Etwas später heiratet er sie selbst und adoptiert ihren Jungen, der nicht erfährt, wer sein wirklicher Vater ist. Beide, der Beamte und die Frau, sind davon überzeugt, daß sie richtig handeln, denn solches Handeln diktieren ihnen die selbstverständlichen Normen jener Zeit sowie der blinde Glaube an die Weisheit der Partei und die Gesetzmäßigkeit alles Geschehenden. Der Junge wächst zu einem ergebenen jungen Leninisten und Pionier heran. Eines Tages — er ist mit seinem Gewehr auf dem Weg in den Wald — kommt ihm ein verdächtiger Herumtreiber vor die Augen (»ein Spion«, wie er, im Geiste der »Wachsamkeit« erzogen, sogleich vermutet): Er hält ihn fest und übergibt ihn der Miliz. Dieser Mann ist sein Vater, der aus dem Lager geflohen ist, um seinen Sohn zu sehen. Er wird wegen seines Flucht-
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Versuchs erschossen. Der Sohn erfährt das viele Jahre später und will sich das Leben nehmen. Doch als er die Verzweiflung und das Entsetzen seiner Mutter sieht, beschließt er, zu ihr zurückzukehren. Die Handlung zeichnet sich, wie immer bei Borodin, durch eine etwas übertrieben forcierte Dramatik aus, doch die psychologische Herleitung ist stets überzeugend.
In der Erzählung »Wariant« (Die Variante) beschließt eine Gruppe junger Leute, eine illegale Organisation mit dem Ziel zu gründen, Verbrecher der Stalinzeit mit dem Tode zu bestrafen, also jene Gerechtigkeit zu üben, die der Staat nicht üben will, wenn er die Verbrechen der Stalinzeit lediglich pauschal verurteilt. Natürlich werden die jungen Verschwörer nach ihrer ersten Aktion entdeckt und zum Tode verurteilt. So liquidiert der Staat jene, die seine juristischen Gesetze übertreten, aber jene, welche die Gesetze der Menschheit und der Moral mit Füßen getreten haben, läßt er ungestraft. Die jugendlichen Rächer selbst freveln freilich gegen das göttliche Gesetz. Die christliche Position des Autors kommt in dieser Erzählung besonders deutlich zum Ausdruck.
Dem Thema der Renaissance des Christentums, die sich in Rußland vollzieht, ist Felix Swetows Roman »Otwersi mi dweri« (Machet mir auf) gewidmet. Der Autor kennt das Leben jener Kreise der russischen Intelligenz, die sich heute dem Glauben zuwenden, sehr gut und weiß die dort herrschende Atmosphäre mit ihren endlosen religiösen und philosophischen Debatten anschaulich wiederzugeben. Ausführlich behandelt er die jüdische Frage und das Problem der getauften Juden (zu denen der Autor selber zählt). Die überlangen Diskussionen belasten allerdings die Erzählungen merklich und rauben der Charakterisierung der Personen jede Lebenskraft.
In den sechziger Jahren veröffentlichte Swetow regelmäßig Essays und literaturkritische Beiträge im »Nowyj mir«. Der Roman »Otwersi mi dweri« wurde 1975 beendet und begann im Samisdat zu zirkulieren. Auf demselben Wege wurden drei weitere Romane von Swetow bekannt, die alle ebenfalls das religiöse Leben im heutigen Rußland zum Thema haben: »Opyt biografii« (Versuch einer Biografie), »Ofelija« (Ophelia) und »Mytar i farissej« (Der Zöllner und der Pharisäer). Nachdem »Otwersi mi dweri«5 und eine Reihe von Samisdat-Artikeln Swetows im Westen erschienen waren, schloß das Sekretariat der Moskauer Sektion des Schriftstellerverbandes den Autor aus.
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Unmittelbar vor seiner Ausreise in den Westen, im Sommer 1975, beendete Lew Chalif seinen neuen Roman »Orfej« (Orpheus), der das Schicksal der vorangegangenen Bücher teilte und in der Heimat verboten wurde. Die Handlung zielt auf Wirkung und erinnert mit ihrer Tendenz zu Grenzsituationen an die reißerischen Erzählungen Borodins. Diese Tendenz ist verständlich: Zugespitzte soziale Konflikte wollen mit zugespitzten literarischen Mitteln dargestellt werden. »Orfej« ist die Geschichte eines Häftlings mit dem Spitznamen »Orpheus« (er war schon die Gangway zum Flugzeug auf dem internationalen Flughafen Scheremetjewo hochgestiegen, einen falschen Paß in der Tasche, als er sich im letzten Moment noch einmal umdrehte — und verhaftet wurde; daher sein Name), der in ein Frauenlager kommt und von den ausgehungerten Frauen, die zu lange keinen Mann mehr gesehen haben — Bacchantinnen unserer Tage — zerrissen wird. Diese extreme Handlung ist jedoch bloßes Gerüst, eine formale Konstruktion ohne inneren Halt. Der Text des Romans ist eine vollkommen unstrukturierte, amorphe Prosa, die in unverbundene Bruchstücke zerfällt: Häftlingsbiografien, Reflexionen des Autors, erbauliche Geschichten, zufällige Gestalten usw. Nach diesem Mißerfolg in der Prosa kehrte Chalif, inzwischen in die USA übergesiedelt, zu seinen sarkastisch-ätzenden aphoristischen Gedichten zurück.
Weitaus ernsthafter finden wir das Lagerthema von Schriftstellern wie B. Chasanow oder Ju. Dombrowskij behandelt. Dieses Thema wird sicherlich auch in den kommenden Jahrzehnten in der russischen Literatur immer wieder aufgegriffen werden.
Boris Chasanow6) ist eine der interessantesten Entdeckungen des Samisdat in den letzten Jahren. Allem Anschein nach ist der Name ein Pseudonym. Man weiß von dem Autor lediglich, daß er Philologe ist, Ende der zwanziger Jahre geboren wurde, unter den Repressionen zu leiden hatte, fünf Jahre in sowjetischen Konzentrationslagern verbrachte und heute bei einer Moskauer Behörde arbeitet. Chasanow hat seine Kräfte in verschiedenen Literaturgattungen erprobt; diese Versuche sind nicht immer neuartig und bahnbrechend, aber sie verraten einen außergewöhnlich begabten und hochkultivierten Schriftsteller. »Tschas korolja« (Die Stunde des Königs), im Stil Thomas Manns geschrieben, ist eine Mischung von brillantem Essay und intellektuellem Roman im Gewand eines wissenschaftlichen Traktats.
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»Tschastnaja i obschtschestwennaja shisn natschalnika stanzii« (Das private und öffentliche Leben des Stationsvorstehers) gemahnt an Kafka; meisterlich wird hier eine unheimliche, surrealistische, »kafkaeske« Atmosphäre vermittelt, in die der junge Held der Erzählung plötzlich gerät und der er nicht mehr entkommen kann. »Tschas korolja« erzählt von dem tollkühnen und heldenmütigen Schritt, als der König eines kleinen nordeuropäischen Landes mit dem gelben sechseckigen Stern auf der Brust auf die Straße geht, nachdem die Nazi-Besatzer diese Kenntlichmachung der Juden befohlen haben. Hier stoßen wir auf Chasanows zentrales Thema; man kann sagen, daß dieser Schriftsteller nur dieses eine Thema kennt: die Achtung der persönlichen Freiheit und die Würde des Menschen, die in unserer seelenlosen und grauenerregenden Zeit nur noch mit Füßen getreten werden, die Treue zu Werten, die immer weiter aus unserem Leben verschwinden und zum Anachronismus werden — Ehre, Edelmut, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Güte, Anständigkeit, Unabhängigkeit.
Dieser altmodische Humanismus gibt Chasanows Büchern eine pessimistische, romantische Tönung. »Tschas korolja« ist das Hohelied eines Menschen, der in einem verzweifelten, selbstmörderischen Schritt der eisernen Logik der realen Verhältnisse und dem erbarmungslosen Determinismus seinen eigenen Willen und sein Gewissen entgegenstellt. Er ist ein Hymnus auf eine Tat, die Chasanow selbst als »absurde Aktion« bezeichnet. »Die absurde Aktion erklärt die Realität für ungültig. An die Stelle einer Wahrheit, die für alle verbindlich ist, setzt sie eine Wahrheit, die nur für einen einzigen Menschen sichtbar ist. Strenggenommen bedeutet diese Aktion, daß derjenige, der sich zu ihr entschlossen hat, selbst zu einer lebendigen Wahrheit geworden ist.« Doch solcher Heldenmut verlangt ein hohes Maß an Selbstbewußtsein; es reicht also nicht aus, romantisch nach der Freiheit zu streben, man muß auch charakterliche Reife besitzen und fest zu seinen Grundsätzen stehen. Daß sich das nur von wenigen Menschen sagen läßt, wirft einen pessimistischen Schatten über die romantische Freiheitsemphase.
Ganz seine eigene Stimme gewinnt Chasanow in seinen realistischen Erzählungen vom sowjetischen Alltag. Sein Stil ist klar, treffsicher und lakonisch und steckt voller philosophischer Reflexionen. Im Grunde ist jede seiner Erzählungen eine Illustration zu diesem oder jenem Gedanken des Autors. In »Strach« (Furcht) analysiert er die Gründe für den Verlust der Freiheit. Der Hauptfigur fehlt eben jene Charakterstärke, die ihn zur »absurden Aktion« befähigen könnte. Das Erzählte ereignet sich 1947, als der Stalinterror ein letztes Mal wütet.
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Ein junger Student ist rettungslos in eine reizende Kommilitonin verliebt. Eines Tages erhält er von ihr unerwartete und verwirrende Zeichen der Aufmerksamkeit. Es stellt sich heraus, daß man ihren Vater verhaftet hat; das Mädchen sucht nun die Hilfe und Nähe eines anderen Menschen. Doch der erschrockene Verehrer flieht vor ihr. Kräfte, die stärker sind als die Liebe, treiben ihn an — und das sind nicht etwa konkrete Institutionen wie das Innenministerium oder der Staatssicherheitsdienst, sondern namenlose, unbestimmte, fast mystische »Kräfte«, die das »Kraftfeld« des totalitären Staates regieren. »Wie die Stimme des Gewissens zum Beweis für die Existenz Gottes diente, so ist die Furcht als solche Beweis für die Existenz dieser Kräfte«, sinnt der Erzähler. »Die vorhergehende Generation hat der Krieg verstümmelt, wir aber sind von Kindesbeinen an mit der Wunde der Angst geschlagen, wir sind von der Angst durchtränkt, sie wurde unser Wesen, unser beständiges Dasein.« Die Menschen, die in der Angst aufwuchsen, sind das Produkt der totalitären Gesellschaft, doch sie schaffen auch selbst aktiv die Atmosphäre, die in der Gesellschaft herrscht, und tragen deren Gesetze mit. »Ich wage zu behaupten, daß nicht die Ursache die Folge hervorgebracht hat, sondern die Folge, wenn man so sagen kann, die Ursache konstruierte (...) Die Arbeit der Geheimdienste realisiert nur, was in der Seele schon angelegt ist.« Hier finden wir die gleiche pessimistische Auffassung von der Sowjetgesellschaft, wie sie später in erschöpfender Gründlichkeit von Aleksandr Sinowjew ausgearbeitet worden ist.
Von größtem Interesse sind Chasanows Lagernovellen: »Wsgljani w glasa moi surowyje« (Schau in meine harten Augen), »Sapach swjosd« (Der Geruch der Sterne), »Doroga na stanziju« (Der Weg zur Station) und vor allem »Gluchoj newedomoj tajgoju« (Durch die öde, unbekannte Taiga). Die pessimistischen Ansichten des Autors finden hier besonders schlagend ihren Ausdruck. Die Menschen sind einander fremd und feindlich, sie sind allesamt Sklaven, beherrscht von demselben Kasernengeist. Dieser ganze alptraumhafte Ameisenhaufen ist »im gleichen Maße Erschaffung der Völker wie ihre Verdammnis«. »Nicht dieser oder jener Befehlsgeber, überhaupt niemand einzelner ist schuldig. Überall, in allen Dingen, waren das Böse und die Gewalt, fast übernatürlich, anonym, dem Einfluß der Menschen entzogen und doch zugleich straff organisiert.« Erschütternd, wie die »Freiheit«, das heißt das Leben außerhalb des Lagers, geschildert ist:
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Die Bäuerinnen unterschieden sich in nichts von den Häftlingen und Wachmannschaften — dieselbe Mentalität, dieselben Gewohnheiten, Maßstäbe, Begriffe. In dieser Hölle wird die Natur des Menschen selbst verstümmelt und erniedrigt, und sogar der romantische Drang zur Freiheit wird unmöglich, denn diesem Drang muß, wie schon gesagt, im Bewußtsein der Begriff der Freiheit vorangehen. Eine beliebte, immer wiederkehrende Lagerlegende, sagt Chasanow (Gluchoj, newedomoj tajgoju), ist die Geschichte von dem unergreifbaren Flüchtling, der, von keinem gefangen, von selbst ins Lager zurückkehrt — weil es für ihn keinen Ort gab, zu dem er fliehen konnte. Dennoch flieht in Chasanows Erzählung der Held, der einfache Bauer Griwnin; er entwaffnet die Bewacher und geht in sein sicheres Verderben. Seine »absurde Aktion« ist nicht die bewußte Tat eines freiheitsliebenden Menschen, nicht die Willensanstrengung einer unabhängigen Persönlichkeit, sondern eine Art Instinkthandlung, für ihn selbst ganz überraschend und gar nicht voll begriffen. In dem Augenblick seiner Heldentat hatte Griwnin »keine Gedanken: für ihn dachte sein Rückenmark«. Und er selbst ist in diesen Minuten nicht herrlich und heroisch anzusehen, im Gegenteil — »er ähnelte einem Affen in menschlicher Kleidung«.
Bewußtsein kann in dieser Finsternis nicht entstehen, doch der impulsive Drang zur Freiheit, so erweist sich, ist im Menschen so tief eingewurzelt, daß er selbst in dieser Herde von Sklaven, in diesem »Menschengehäcksel«, das sich allmorgendlich aus den Lagertoren ergießt, immer wieder in herrlichen Fünkchen aufsprüht. Doch in all dem ist absolut kein Hymnus an den Menschen und die Freiheit zu entdecken, wie einige Verehrer Chasanows meinen. Wir haben es darin vielmehr mit einer Art rudimentärem Überbleibsel der entschwundenen Zivilisation zu tun, einem zufälligen Relikt, der letzten schwachen Glut eines unwiederbringlich erloschenen Feuers — es gibt ja die Persönlichkeit nicht mehr, und damit die notwendige Voraussetzung für die Freiheit. Bei Solschenizyn ist das Lager — und überhaupt die ganze kommunistische Diktatur — Gewalt gegen den Menschen, das Geschöpf Gottes, das immer überall und unwandelbar die göttliche Seele bewahrt oder sie doch zumindest jederzeit wiederzugewinnen vermag; bei Chasanow überleben auf den Trümmern der alten Welt nur ganz wenige, vereinzelte Persönlichkeiten, und die Freiheit kommt nur einer kleinen Elite zu. Aus Solschenizyn leuchtet die Liebe zu Rußland und seinen Menschen, er ruft auf zur aktiven Arbeit für die Wiedergeburt Rußlands und die Gesundung des Volkes.
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Chasanow fühlt tiefe Abneigung gegen dieses zugrunde gerichtete Land, wo »jeder Tag des Lebens Erniedrigung heißt, jede Begegnung wie eine Ohrfeige ist, wo alles — Landschaft und Menschen — das Auge beleidigt« (so schreibt er in seinem Artikel »Nowaja Rossija« [Neu-Rußland]7), wo ringsum nur Trümmer zu sehen sind«, wo »gegenseitiges Herumkommandieren und Verachtung für die menschliche Persönlichkeit« zur Norm für den Umgang miteinander geworden sind, wo »die Männer die Würde der Frauen mit Füßen treten und die Erwachsenen die Kinder beleidigen«, wo »jeglicher Ausdruck von Verfeinerung — Schönheit, Talent, Originalität — mit Haß verfolgt, alles Kümmerliche und Unbedarfte aber begrüßt wird«. Es bleibt nur eines: die Flucht aus diesem Land, irgendwohin, wo, am Ende der Welt, ein Häuflein übriggebliebener freier Individuen ein »Neu-Rußland« gründen mag (so wie einst Neu-England gegründet wurde), denn Rußland — das ist heute schon ein metaphorischer Terminus, und als Vaterland ist einzig die russische Sprache geblieben.
Der Humanismus Chasanows schließt auf diese Weise einen tiefen Widerspruch ein. Es ist ein abstrakter Humanismus, denn er kommt nicht aus der Liebe zu den lebendigen, konkreten Menschen, wie bei Solschenizyn, sondern aus der Liebe zu bestimmten moralischen Werten und hehren Prinzipien, zu denen sich in der Realität nur einzelne erwählte Menschen erheben können. Die Liebe zur Menschheit geht einher mit der Verachtung für die Sklavenherde, aus der der größte Teil dieser Menschheit besteht. Daß aber jeglicher Elitismus verhängnisvoll ist, braucht man heutzutage kaum noch eigens nachzuweisen.
Nicht weniger aufschlußreich ist auch die Behandlung, die das Thema des Lagers und des Terrors in Jurij Dombrowskijs Roman »Fakultet nenushnych weschtschej« (Die Fakultät der nutzlosen Dinge)8 erfährt. Bis zum Lager kommt das Buch eigentlich gar nicht — der Held durchläuft bloß die Untersuchungshaft; nur in dem gesondert veröffentlichten Epilog des Romans9 taucht auf einigen wenigen Seiten das Lager vor uns auf. Dombrowskij begann seinen monumentalen Roman 1964, nachdem, gleichsam als Vorbereitung und Annäherung dazu, im »Nowyj mir« seine Erzählung »Chranitel drewnostej« (Der Hüter von Altertümern) erschienen war. Er arbeitete an dem Buch fast zehn Jahre, bis zum März 1975. Als bekannt geworden war, daß der Roman in Paris erscheinen werde, wurde Dombrowskij auf der Straße von KGB-Agenten brutal zusammengeschlagen und starb bald darauf (27.5.1978). Einige Freunde des Schriftstellers sind überzeugt, daß sein Tod eine Folge dieser Schläge war.
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In der im Samisdat umlaufenden Fassung trug der Roman den Untertitel »Kniga o filossofii prawa« (Ein Buch über Rechtsphilosophie); die Herausgeber oder der Autor selbst ließen ihn später weg, wohl weil sie ihn für zu einschränkend ansahen. Dabei ist er durchaus wichtig, weil er zu verstehen hilft, von wo das Denken des Autors seinen Ausgang nimmt. Die alte, vorrevolutionäre juristische Fakultät war eine Fakultät der nutzlosen Dinge, sagt der Untersuchungsrichter zu Sybin, der Hauptfigur des Romans. Neben anderen »bürgerlichen Formalitäten« wurden im Zuge des sozialistischen Aufbaus alle Normen des sogenannten »bürgerlichen« Rechts umgeworfen. An die Stelle des Rechts trat die »revolutionäre Gesetzlichkeit«, und der »bürgerliche Humanismus« wich der erbarmungslosen Grausamkeit von Menschen, die davon überzeugt waren, daß ihnen die Gesetze der historischen Entwicklung und des Fortschritts offenbar seien, daß sie die Gesellschaft nach diesen Gesetzen umgestalteten.
In der von ihnen regierten Gesellschaft ist Humanismus eine Untugend (»bourgeoiser Humanismus«, »verweichlichte bourgeoise Humanisten« waren beliebte Schlagworte jener Zeit), Toleranz ein Staatsverbrechen (»Nachlassen der Wachsamkeit«) und Güte eine lächerliche und verächtliche Eigenschaft (»die idiotische Krankheit der Gutmütigkeit« — ein bekannter und von seinen Schülern gern zitierter Ausdruck Stalins). Für einen Augenblick schwankt der Boden sogar unter Sybin, der der Justizmaschinerie heldenhaft Widerstand leistet und es ablehnt, sich schuldig zu bekennen. Sybins Zweifel erstreckt sich nicht nur auf das »bürgerliche Recht«, er geht weiter, und hier gewinnt der Roman an Kraft und Breite: »Und wenn ihr auf einmal recht habt? Und die Welt heil bleibt und weiter gedeiht? Das hieße also, daß Vernunft, Gewissen, Güte, Humanität — alles, was sich im Laufe von Jahrtausenden herausgeprägt hat, was als das Ziel der menschlichen Existenz galt —, daß das gar nichts bedeutet«! Aber dann findet Sybin doch die Kraft, den Zweifel im Inneren und den Druck von außen zu überwinden; er ist bereit zu sterben, aber nicht, sich zu ergeben. Und er ergibt sich nicht, er wird sogar aus dem Gefängnis entlassen, was ganz unwahrscheinlich wirken mag. Für die Struktur des Romans ist dieser Schluß jedoch angemessen, weil er den Sieg des menschlichen Geistes demonstriert. Rein sachlich läßt er sich damit erklären, daß Sybins Verhaftung im Plansoll des NKWD nicht vorgesehen war, sondern
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zufällig erfolgte, und daß just in jenen Tagen der NKWD-Chef Jagoda stürzte und für kurze Zeit ein »Tauwetter« eintrat. Im übrigen gibt der Autor am Schluß klar zu verstehen, daß die Leiden des Helden noch nicht zu Ende seien und ihm das Schlimmste noch bevorstehe.
Der Roman schildert mit größter Genauigkeit die ganze Prozedur der Untersuchung im NKWD von Anfang bis Ende, die Methoden und Tricks der Untersuchungsrichter, mit denen sie den Willen des Häftlings zu brechen versuchen, die psychischen und physischen Druckmittel. Der Untersuchungshäftling soll nicht nur das Gefühl haben, daß seine Sache verloren, sein Kampf aussichtslos, er selbst ein Nichts vor der allmächtigen Staatsmaschinerie sei, sondern er soll glauben, bei ihm selbst liege der Fehler und das Unrecht. In diesen Schilderungen spüren wir die reichhaltige eigene Erfahrung des Autors: Er wurde mehrere Male verhaftet und verbrachte viele Jahre im Lager. Die Terrormaschine wird von innen gezeigt, wird in ihre Bestandteile zerlegt und analysiert — von den unschuldigen jungen Stenotypistinnen bis hinauf zu dem Tyrannen selbst, zu Josef Stalin.
Darüber hinaus finden wir in Dombrowskijs Roman psychologisch sehr überzeugend beschrieben, wie ein Mensch zum Informanten für die Geheimpolizei wird. Sybins Kollege Kornilow, den man zum Spitzel macht, ist durchaus kein ehrloses und nichtswürdiges Subjekt, kein zu allem bereiter Zyniker, sondern ein Mensch, den der riesige Krake Staat so mit seinen Fangarmen umschlungen hat, daß er nicht mehr ein noch aus weiß.
Das Duell, das Sybin mit dem Untersuchungsrichter austrägt, ist mehr als nur der Kampf für seine Freilassung. Bei diesem Duell eines einsamen Menschen, bewaffnet nur mit dem Bewußtsein, daß das Recht auf seiner Seite steht, gegen die monströse Maschinerie des totalitären Staats, geht es um weit wichtigere Probleme: um das Recht des einzelnen und die Machtvollkommenheit des Staates, diese Persönlichkeitsrechte für seine Zwecke mit Füßen zu treten; um die Frage nach dem Wohl der Allgemeinheit und nach dem ethisch Richtigen und um die Frage, ob sich das erstere ohne oder gar gegen das letztere verwirklichen lassen könne. Selbst die schönsten Ideen und die verlockendsten Projekte für den Aufbau der neuen Gesellschaft verwandeln sich plötzlich in Gewalt und Horror, wenn dieser einzige, unanfechtbare Wert ignoriert wird: die menschliche Persönlichkeit, die Unantastbarkeit ihres Lebens und ihrer Freiheit.
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»Was geschieht mit der Idee, wenn sie Wirklichkeit wird? Viel, viel Unerwartetes und Schlimmes geschieht mit ihr. Sie wird ganz und gar unkenntlich. Manchmal kommen statt der Engel solche Nattern hervorgekrochen, daß man ein Kreuz machen und sie alle zum Teufel schicken möchte. Außerdem haben Ideen in der Wirklichkeit nicht ein oder zwei Gesichter, sondern ein gutes Dutzend. Bloß erscheinen sie nicht sofort. Zuerst ein hübsches Lärvchen, und dann Fratzen, Fratzen und nochmals Fratzen, und wenn man die sieht, vergeht einem alles.«
Das Buch ist ganz in der Tradition des russischen realistischen Romans des vorigen Jahrhunderts geschrieben, in schöner Prosa von bewährt gemächlichem Erzählfluß. Wir finden hier die Tolstojsche Einläßlichkeit in der Beschreibung der Verhältnisse und Personen, die Tolstojsche Vorliebe für ästhetische und weltanschauliche Probleme. Die Charaktere allerdings werden nicht mit derselben Deutlichkeit und Geradlinigkeit wie bei den Klassikern porträtiert, sondern nach einem viel komplizierteren Plan gezeichnet, der verschiedene, ja gegensätzliche Interpretationen erlaubt.
In ganz anderem Geist ist G. Aleksandrows Roman »Ja uwoshu k otwershennym selenjam« (Ich führe dich zu abgelegenen Orten) geschrieben (der Titel ist eine Zeile aus Dantes Göttlicher Komödie). Aleksandrow (offenbar ein Pseudonym) wollte das Lagerthema mit leichter und spannender Lektüre verbinden und eine Art Schelmenroman schreiben. Es ist eine Geschichte voll von ungewöhnlichen Abenteuern, wilden Leidenschaften, beängstigenden Gefahren und wunderbaren Errettungen, voller Übertreibungen, mit bewußt konventionellen Stilmitteln, wo die Guten von den Bösen scharf geschieden sind usw. Neben seiner unbestreitbaren Begabung, brisante Konfliktsituationen zu knüpfen, steht das Unvermögen des Autors, einen einheitlichen Stil durchzuhalten und den richtigen Ton beim Erzählen zu treffen. Er verfällt einmal in Sentimentalität, dann wieder in pathetisches Räsonnement, naturalistische Szenen wechseln ab mit naiven Attacken auf die Philosophie oder inneren Monologen, die aus unerfindlichen Gründen dort hineingeraten sind und die sich nicht mehr als Stilisierung primitiven Denkens auffassen lassen, sondern selber die ordinärste Primitivität ausdrücken. Einzelne Szenen sind gelungen, das Gesamtbild jedoch bleibt chaotisch und wenig einnehmend.
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Von anderem Niveau ist Fasil Iskanders Schelmenroman »Sandra is Tschegema« (dt. Onkel Sandro aus Tschegem)10. Um drei Viertel gekürzt und auch dann noch beschnitten und stark entstellt, erschien der Roman zunächst (1977) in der Sowjetunion, doch dieses Fragment vermittelte eine derart verzerrte Vorstellung von dem dichterischen Rang dieses bedeutsamen und tiefen Werks, daß der Autor sich gezwungen sah, es zur vollständigen Publikation ins Ausland zu geben (diese Kühnheit hätte ihn noch vor wenigen Jahren den Kopf gekostet, aber heute bleibt den Machthabern schon nichts mehr übrig, als sich damit abzufinden).
Iskander ist abchasischer Abstammung, lebt aber in Moskau und schreibt russisch. So entsteht eine Mischung aus kaukasischer Thematik und russischer Literaturtradition. Weit bekannt wurde Iskander durch seine satirische Erzählung »Soswesdije Koslotura« (dt. Das Sternbild des Ziegentur); große Popularität genießen auch seine geistreichen und schwermütigen kürzeren Erzählungen. »Onkel Sandro aus Tschegem« ist nicht nur sein umfangreichstes Werk, sondern auch der Gipfel seiner Kunst; in dieses Buch legte Iskander seine ganze Lebenserfahrung, all seinen Schmerz, sein Träumen, seine Liebe. Wenn ein wahrhaft großes Talent zur Reife gelangt ist, wird ihm der Rahmen der sowjetischen Zensur zu eng (das gleiche konnte man an Wassilij Aksjonow sehen). Das Verlangen nach freier Artikulation bewog Iskander zur Mitwirkung an dem Almanach »Metropol«; später (Anfang 1980) veröffentlichte er in der in Paris erscheinenden Zeitschrift »Kontinent« seine für die sowjetische Presse unannehmbare philosophische Erzählung »Kroliki i udawy« (Die Kaninchen und die Riesenschlangen), eine allegorische Erzählung über das Königreich der Kaninchen und über die Riesenschlangen, von denen die Kaninchen verschlungen werden, mit durchsichtigen Anspielungen auf gewisse Züge unseres sowjetischen Lebens.
»Onkel Sandro« hat nur rein äußerlich Ähnlichkeit mit einem Schelmenroman. Der Titelheld ist ein Schelm, listig und gewandt, erfolgreich und findig — sympathisch und abstoßend zugleich. Das Buch besteht aus einer Serie von Novellen, die nur durch die Hauptperson verbunden sind, aber keiner durchgehenden Handlung folgen. Vor dem Leser rollt die ganze Geschichte Abchasiens in den letzten sechzig Jahren ab: Befreiung und Eroberung des Kaukasus durch die Rote Armee, die Absurdität der Kollektivierung, die allmähliche Entpersönlichung der Menschen und wachsende Seelenlosigkeit des Lebens (»der Lauf des Lebens widersprach mit konstanter Bosheit den klaren Anweisungen der
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proletarischen Wissenschaft von Marx»11), der Massenterror der dreißiger und vierziger Jahre, »die entsetzlichen Folgen des unermüdlichen Triumphs des Haupts der marxistischen geistlichen Familie, des behaarten Männchens namens Haß«, die nachstalinsche bürokratische Stagnation. In Ton und Kolorit erinnert Iskanders Roman entfernt an den großartigen, wundervollen »Don Quijote« von Cervantes. Wir finden hier eine Mischung aus fröhlichem Humor und feiner Ironie, das herzliche Lachen geht niemals in ätzenden Sarkasmus über, die altmodisch gesuchte Sprache bleibt immer vornehm und erhaben, und der edle, gelassene Erzählton mit seiner weisen Nachsicht gegen alles macht dieses Buch voller Güte, Poesie und Traurigkeit zu einem wundervollen Anachronismus in unserer unruhigen Zeit.
Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Romans schreibt Iskander:
»Als ich den >Onkel Sandro< zu schreiben begann, sollte es ein lustiges Stück und eine leise Parodie auf den Schelmenroman werden. Aber Schritt für Schritt wurde das Geplante komplizierter, Details wuchsen ihm an, aus denen ich mich auf die Ebene des reinen Humors zu retten versuchte, was mir jedoch nicht glückte (...) Die Gestalten, die ich darstellen will, sollen (...) die machtvolle Weite und die Schönheit des sittlichen Himmels offenbar werden lassen, unter dem die Menschen von Tschegem lebten. Je weiter das Buch fortschritt, desto mehr und stärker wurde ich von der Poesie des Volkslebens inspiriert. Der Tradition der klassischen russischen Literatur folgend, die das innere Leben des sogenannten kleinen Mannes in seiner Vollwertigkeit gezeigt hat, versuche ich nach Maßgabe meiner Kräfte die epische Existenz eines kleinen Volkes in seiner Bedeutsamkeit sichtbar zu machen (...) Idealisiere ich damit eine Lebensweise, die im Verschwinden begriffen ist? Vielleicht. Der Mensch kann nicht anders als zu erhöhen, was er liebt. Indem wir eine entschwindende Lebensweise idealisieren, legen wir, ohne uns dessen bewußt zu sein, der Zukunft die Rechnung vor. Wir fragen sie gleichsam: Dies alles hier verlieren wir — was bekommen wir dafür von dir? Darüber mag die Zukunft einmal gründlich nachdenken, wenn sie überhaupt zum Denken fähig ist.«
Auch ein Vergleich mit den Romanen von Gabriel Garcia Marquez bietet sich an, mit dem Iskander die Verwurzelung im Humus, die Teilhabe an den verborgenen Tiefen des kraftvollen und farbenfrohen Lebens der Volksmassen verbindet. »Onkel Sandro aus Tschegem« ist der Schwanengesang einer im Entschwinden begriffenen Welt voller Schönheit, Ruhe und Güte.
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Es ist das Requiem für jene lebensprallen und ganzheitlichen Charaktere, die allmählich aussterben und sich in der Masse flacher Durchschnittsmenschen auflösen — ein Requiem für den ergreifend naiven ritterlichen Edelmut, für Schlichtheit des Herzens, Uneigennützigkeit, Güte und Sanftmut, Treue und scheue Ehrfurcht, die vielleicht für immer aus unserem Leben verschwunden sind.
Großartig sind die Kapitel des Romans, in denen die Begegnungen Onkel Sandros mit Stalin geschildert werden. Es ist die eindrucksvollste Darstellung Stalins, die es gibt. Ohne Groll und Haß, ohne karikierende Übertreibung, doch auch ohne herbeigezwungene (weil unmögliche) »kühle Objektivität« zeichnet uns Iskander Stalin als ein Opfer der eigenen Machtliebe; er erscheint hier als eine Shakespearesche Gestalt aus jener grausigen Tragödie, die Geschichte heißt.
Auch von den realistisch schreibenden Wahrheitssuchern erscheinen immer neue Bücher, wenn es auch nicht diese Richtung ist, die heute vorherrscht oder überwiegt. Hierher gehört der bemerkenswerte Schriftsteller Friedrich Gorenstein, der in der Sowjetunion nur eine einzige Erzählung, »Dom s baschenkoj« (Das Haus mit dem Türmchen), veröffentlichen konnte. Neben der schon erwähnten Erzählung »Stupeni« (Stufen; erschienen in dem Almanach »Metropol«) wurden zwei weitere Erzählungen von ihm sehr bekannt, die aus dem Tamisdat in den Samisdat gelangten: »Sima 53 — go goda« (Winter 1953) und »Iskuplenije« (Sühne).
Die erstere erzählt die tragische Geschichte des jungen Kim, der wegen freimütiger Gedanken der Universität verwiesen und zur Arbeit im Bergbau gezwungen wird. Die unmenschlichen Arbeitsbedingungen unter Tage, ohne die elementarsten Sicherheitsvorkehrungen und ohne die notwendige Technik, sind mit der gewissenhaftesten Faktentreue beschrieben; manche Details lassen das Blut in den Adern gefrieren. Die Direktion ist nur an einem interessiert — an der Erfüllung des Stalinschen Fünfjahrplans. Und als Kim mit anderen jungen Arbeitern ums Leben kommt, schiebt man die Schuld dafür den Bergleuten selber zu. Die Erzählung ist handwerklich hervorragend geschrieben. Der Autor hat einen klaren, scharfen und erbarmungslosen Blick, er sieht ein wenig von ferne, mit der kühlen Wißbegier des Naturwissenschaftlers (wohl aus Furcht, in weinerliche Sentimentalität oder billige Demaskierung zu verfallen).
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In dasselbe gleichmäßige und grelle Licht, wie es leidenschaftslose Forschung notwendig macht, ist auch die Erzählung »Iskuplenije« getaucht, die ebenfalls jenen wenig erforschten Zeitabschnitt zwischen dem Ende des Krieges und Stalins Tod behandelt. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Saschenka, die in einer seelenlosen, durch und durch ideologischen Umgebung unwissend und dumm gehalten wird. Sie zeigt ihre Mutter wegen Schädigung des sozialistischen Eigentums an — die Mutter arbeitet als Tellerwäscherin in einer Kantine und ist gezwungen, dort Essen zu stehlen, um Saschenka zu ernähren. Sie wird verhaftet (eine Parallele zu Borodins Erzählung »Powest strannogo wremeni« drängt sich auf). Am Schluß jedoch siegt die alles verwandelnde Liebe, und Saschenka schüttelt den bösen Zauber ab, befreit sich aus dem grausigen Reich der Ratten mit seinen Worten und Gesetzen, die nicht des Menschen sind.
Sehr interessant sind die beiden jungen Schriftsteller Sergej Dowlatow und Wladimir Rybakow. Dowlatow arbeitete als Journalist, aber seiner Belletristik blieb, abgesehen von einigen wenigen seiner interessanten Erzählungen, die Veröffentlichung verwehrt. Lange Jahre versuchte er erfolglos, seinen Roman »Pjat uglow« (Fünf Ecken) und seinen Erzählband »Sona« (Die Zone) bei einem Verlag unterzubringen. 1973 wäre der Sammelband fast in Tallinn gedruckt worden, doch das KGB sorgte für das Verbot der Publikation. Nach seiner Ausreise in den Westen veröffentlichte Dowlatow in Amerika seine schriftstellerische Biografie »Newidimaja kniga« (Das unsichtbare Buch)12 — einen dokumentarischen Bericht über »die abenteuerlichen Erlebnisse von Manuskripten« und über seinen erfolglosen Kampf mit der sowjetischen Zensur. An die Öffentlichkeit gab er auch Auszüge aus seinen Notizbüchern — »Solo na underwude« (Solo auf der Underwood-Schreibmaschine) —, die von Geist und Witz nur so sprühen.
In Dowlatows Erzählungen dominiert das Lagerthema. Behandelt wird es allerdings aus einer völlig überraschenden Sicht — von der Warte des Bewachers. Dowlatow, der 1963 zur Armee gezogen wurde, leistete seinen Militärdienst bei den Wachtruppen, und diese außergewöhnliche Erfahrung hinterließ eine unauslöschliche Spur in seinem Inneren. Die Handlung enthält dramatische, manchmal fast unglaubliche Situationen, doch sie beruhen fast alle, wie Dowlatow versichert, auf Ereignissen, die sich tatsächlich abgespielt haben. Die Sprache ist lakonisch und klar, die psychologische Zeichnung scharf und stets aufs neue überraschend; die Handlung wird zielstrebig entwickelt. Alles zusammen wirkt bissig und geißelnd, voll Frische und Energie. Die Atmosphäre in der Armee wird sehr expressiv gezeichnet: die hoffnungslose Schwermut und Langeweile, der alles beherrschende Alkohol, die Brutalität und Unmenschlichkeit.
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Nicht minder lesenswert sind auch die nicht im Lager spielenden Erzählungen über Themen des Alltagslebens, wie »Jubilejnyj maltschik« (dt. Der Jubiläumsjunge) oder »Doroga w nowuju kwartiru« (Der Weg in die neue Wohnung); auch hier: nichts Überflüssiges, exakte Details, expressiver Dialog, elastische, klare Prosa.
Auf ähnliche Art wie bei Dowlatow finden wir die Sowjetarmee in Wladimir Rybakows Roman »Tjashest« (Die Last) geschildert. Der Autor selbst nennt sein Buch übrigens nicht Roman, sondern im Untertitel »Eine wahre Geschichte«, um damit die Glaubwürdigkeit des Geschilderten zu betonen. Auch Rybakow erzählt von seinen Erfahrungen während des Militärdienstes. Er war an der sowjetisch-chinesischen Grenze stationiert, gerade als die Grenzstreitigkeiten eskalierten. Geschrieben wurde das Buch, als Rybakow schon in Frankreich war — nachdem er um die Ausreise einen schweren Kampf mit den sowjetischen Machthabern hatte ausfechten müssen. Nachklänge dieses Kampfs finden wir auch in dem Roman, der in vielem autobiografischen Charakter trägt. Es ist Rybakows erstes Buch und mit noch ungeübter Hand geschrieben; die Sprache ist noch stachelig und eckig, zum Teil sogar lächerlich in ihrem Bemühen um Ausdruckskraft. Seine später verfaßten Erzählungen sind weitaus reifer und nicht mehr nur durch die vermittelten Informationen von Interesse, sondern auch wegen ihrer literarischen Qualitäten.
Eine große Enttäuschung bereitete der zweite Band der »Abenteuer des Soldaten Tschonkin« — »Pretendent na prestol, nowyje prikljutschenija soldata Iwana Tschonkina« (Der Thronprätendent. Neue Abenteuer des Soldaten Iwan Tschonkin). Woinowitsch bleibt hier weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Dieses Absinken erklärt sich möglicherweise daraus, daß der Autor seinen Helden, den Soldaten Tschonkin, im zweiten Band ganz aus dem Blick verliert — nur am Anfang und am Schluß taucht er kurz auf — und sich völlig auf die Schilderung von Tschonkins Umgebung konzentriert. Einzelne Seiten sind eindrucksvoll in kraß realistischem Stil geschrieben, aber das meiste ist ziemlich oberflächliches Feuilleton mit reichlich grobem und plattem Humor. Es bleibt zu hoffen, daß Woinowitsch bei einem dritten Band wieder Inspiration gewinnt.
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Gute realistische Geschichten und Erzählungen schreiben W. Netschajew, G. Beljakow (»Kolchos«-Erzählung »Iwanowa top« [Der Iwanow-Sumpf]), L. Tschertkow, W. Filandrow, I. Sinowjew, R. Kaplan, I. Suslow, Je. Korina (neben den bereits erwähnten »Strukturalisty« [Die Strukturalisten] sind ihre autobiografische Erzählung »Tanzujte s nami« [Tanzt mit uns] und ihr Geschichtenband »Kto na abort?« [Wer wird abgetrieben?] weit bekannt), W. Gawrilow, S. Glusman, N. Olin (»Tretja skamejka sprawa [Dritte Bank rechts], eine Erzählung über die Verhältnisse in der Welt des sowjetischen Films), Je. Ljubin, A. Lwow, L. Melamed, S. Keren (dokumentarische Erzählung »Oskomina na subach« [etwa: Ein bitteres Gefühl im Mund] — über die neuen Emigranten in Wien), M. Kosyrjowa (Erzählung »Dewotschka pered dwerju« [Das Mädchen vor der Tür] — der große Terror der dreißiger Jahre mit den Augen eines Kindes gesehen), D. Markisch (die Romane »Werschina utinoj poljanki« [Die Höhe der Entenwiese] — über das Leben der Moskauer Boheme — und »Priskaska [Vorspruch] — über das schwere Leben einer jüdischen Familie), Ju. Karabtschijewskij (der Roman »Shisn Aleksandra Silbera« [Das Leben des Alexander Silber]), I. Warlamowa (der Roman »Mnimaja shisn« [Imaginäres Leben] — in der onkologischen Klinik beginnen die Patienten zum erstenmal ernsthaft nachzudenken und ehrlich zu reden und zu handeln), E. Sewela (über die Juden — mit jüdischem Humor, aber in gut geschriebenem Russisch), N. Gutin (der Roman »Dwojnoje dno« [Der doppelte Boden] — über die Korruption in der sowjetischen Wirtschaft und über deren illegalen Sektor) und F. Kandel.
Felix Kandel (Kamow) ist der Autor der interessanten Erzählung »Sona otdycha ili 15 sutok na rasmyschlenije« (Der Erholungsbereich oder 15 Tage zum Nachdenken). Die dokumentarische Reportage über einen fünfzehntägigen Aufenthalt im Gefängnis (wegen der Teilnahme an einer Demonstration von Juden) zusammen mit Alkoholikern und kleinen Hooligans wechselt hier ab mit lyrischen Abschweifungen und lustigen Geschichten über das Leben des Arbeiters Wassilij Snegirjow, genannt Anderthalbtonner. Diese beiden verschiedenen Ebenen der Erzählung erlauben es dem Autor, uns in die dunkelsten Abgründe des sowjetischen Lebens zu führen und sehr markant die Sitten und Gebräuche des sowjetischen Arbeitsvolks zu skizzieren.
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Dem Thema der jüdischen Emigration ist Kandels Buch »Wrata Ischoda naschego. Dewjat straniz istorii« (Die Pforte unseres Auszugs. Neun Seiten der Geschichte) gewidmet; es sind Dokumente, Dialoge, traurige Geschichten, Reflexionen über das quälende Problem der heutigen Sowjetgesellschaft. Kandel schrieb außerdem geistvolle satirische Erzählungen und den Roman »Koridor« (Der Korridor) — über den Alltag in einer Gemeinschaftswohnung (acht Zimmer für sieben Familien: sechzehn Erwachsene, fünf Kinder; mit einer Küche und einer Toilette).
Überhaupt steht die Gemeinschaftswohnung — diese entsetzliche Ausgeburt des Sowjetregimes, das Produkt aus der Mißachtung menschlicher Bedürfnisse und der Gigantomanie »großer Errungenschaften« — im Mittelpunkt zahlreicher Samisdat-Werke. Und das ist verständlich: Die unmenschlichen Wohnverhältnisse verursachten Millionen Familientragödien, wirkten sich verheerend und monströs auf die Erziehung der Kinder aus, verdarben den Charakter der Menschen, machten ihre Beziehungen untereinander banal und niedrig. Dieses Thema behandelt zum Beispiel der Roman »Mnogosemejnaja chronika« (Mehrfamilienchronik) von A. Antonowitsch, der dem Remisowschen Skas-Stil nachempfunden ist. Doch das bemerkenswerteste Buch, das bis heute zu diesem Thema erschien, ist »Bolschaja epocha«13 (Die große Epoche) von Boris Jampolskij.
Der Alltag in der Gemeinschaftswohnung, die Bewohner, ihre Beziehungen untereinander — das alles ist hier mit feinem Humor und großer Überzeugungskraft beschrieben. Diese Erzählung wurde erst nach dem Tode des Schriftstellers bekannt. In seinem Schreibtisch fanden sich zahlreiche unveröffentlichte Texte, darunter besonders seine lesenswerten Erinnerungen über Wassilij Grossman — »Poslednije wstretschi s Wassilijem Grossmanom« (dt. Letzte Begegnung mit Wassilij Grossman) — und über Jurij Olescha — »Da sdrawstwujet mir bes menja« (dt. Es lebe die Welt ohne mich!). Furchtbar, sagt Jampolskij, waren Grossmans letzte Tage, allein in seinem Zimmer, umgeben von Spitzeln, von Lauschapparaturen, »im Bewußtsein des aufmerksamen, immer wachen, immer funktionierenden elektronischen Ohres, das Tag und Nacht horcht — den Husten, das Röcheln, die Schmerzensschreie der Menschen aufnimmt; und manchmal ist einem, als würde es auch unsere Gedanken kennen, als wüßte es alles, durchleuchtete es alles.«
Jampolskij berichtet uns von Grossmans kaum bekannter, erschütternder Erzählung »Mama«: Ein Mädchen, dessen Eltern man erschossen hat, wird von keinem geringeren als Jeshow aus dem Kinderheim geholt und adoptiert. Bemerkenswert ist auch das Porträt, das Jampolskij in seinen Erinnerungen von Jurij Olescha zeichnet, dem großen Schriftsteller, der den größten Teil seines Lebens in Armut und Vergessenheit verbrachte, gehetzt, gekränkt und gedemütigt, und der dennoch nicht seinen klaren Verstand und lichten Humor verlor.
Das Beispiel der Manuskripte von Jampolskij ist bezeichnend. Die Namen vieler inoffizieller Schriftsteller und Dichter wurden erst nach ihrem Tod bekannt. Besonders erstaunlich ist das literarische Schicksal des wundervollen Lyrikers Roald Mandelstam (1932-1961), der nach einem Leben in Armut an Tuberkulose starb. Er, der zu Lebzeiten völlig unbekannt war, ist heute für die jüngere Generation von Lesern einer der populärsten Lyriker geworden.
Auch der bemerkenswerte Prosaiker und Lyriker Michail Sokownin (1938-1975), ein Fortsetzer der Oberiu-Tradition, dessen stilistische Spannweite von avantgardistischen »konkreten« Poemen bis zu philosophisch-psychologischen Erzählungen reicht, wurde erst nach seinem Tode bekannt. Das gleiche gilt für Semjon Wisa (Wjatscheslaw Semikow, 1936-1971), der Lyrik und gute realistische Prosa schrieb und am Alkoholismus zugrunde ging, den Lyriker und Drehbuchautor Gennadij Schpalikow, der sich vor Kummer und Einsamkeit erhängte, und den neunzehnjährigen Lyriker Felix Raburin, der die Härte des Armeedienstes nicht aushielt und Selbstmord beging.
Postum bekannt wurden weiterhin der großartige Lyriker, Prosaiker und Essayist Ilia Rubin, der nur wenige Monate die Freiheit genießen durfte (er starb 1977 in Israel, mit sechsunddreißig Jahren), die Lyrikerin Anna Barkowa (1900-1976), die dreißig Jahre in Lagern und in der Verbannung verbrachte, die Lyriker Jakow Sugman, Wladimir Woskressenskij, Georgij Oboldujew und die Lyrikerin W. Frenkel, der junge, vielversprechende Prosaiker Sergej Andrejew, dem keine weitere Entwicklung mehr vergönnt war, und Boris Norilskij, der Autor des biografischen Romans »Tschornoje i beloje« (Schwarz und Weiß).
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Juri Malzew 1981