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1.  Die Linke angesichts der Konterrevolution

Marcuse-1972

 

   § 1  

7-12

Die westliche Welt hat eine neue Entwicklungsstufe erreicht: die Verteidigung des kapitalistischen Systems verlangt heute die Organisierung der Konter­revolution innerhalb wie außerhalb des eigenen Bereichs. In ihren extremen Erscheinungsformen setzt diese Konterrevolution die Greueltaten des Nazi-Regimes fort. 

In Indochina, Indonesien, dem Kongo, in Nigeria, Pakistan und dem Sudan wurden entsetzliche Massaker entfesselt, die sich gegen alles richteten, was »kommunistisch« genannt wird oder gegen die den imperialistischen Ländern dienstbaren Regierungen revoltiert. In den lateinamerikanischen Ländern, in denen faschistische und Militär-Diktaturen herrschen, finden grausame Verfolgungen statt. In der ganzen Welt sind Folterungen zum alltäglichen Mittel bei »Verhören« geworden. 

Die Qualen der Religionskriege leben auf der Höhe westlicher Zivilisation wieder auf, und ein ununterbrochener Strom von Waffen ergießt sich aus den reichen Ländern in die armen und hilft, die Unterdrückung der nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen zu verewigen. Wo der Widerstand der Armen gebrochen ist, führen Studenten den Kampf gegen die Soldateska und die Polizei; Hunderte von Studenten wurden nieder­gemetzelt, durch Bomben getötet und ins Gefängnis geworfen. Die Erschießung von dreihundert durch die Straßen von Mexico-City gejagten Studenten bildete den Auftakt der Olympischen Spiele. 

In den Vereinigten Staaten stehen die Studenten noch immer an der vordersten Front des radikalen Protests: die Erschießungen in Jackson und Kent sind Zeugnis ihrer historischen Rolle. Schwarze Militante bezahlten ihre kritische Einstellung mit dem Leben: Malcolm X, Martin Luther King, Fred Hampton, George Jackson.

Die neue Zusammensetzung des Obersten Bundesgerichts institutionalisiert das Vordringen der Reaktion.

Und die Ermordung der Kennedys zeigt, daß sogar Liberale ihres Lebens nicht sicher sein können, wenn sie als allzu liberal erscheinen.

Die Konterrevolution ist weitgehend präventiv; in der westlichen Welt ist sie das ausschließlich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die rückgängig gemacht werden müßte, und es steht auch keine bevor. Und doch schafft die Angst vor einer Revolution gemeinsame Interessen und verbindet verschiedene Stadien und Formen der Konterrevolution von der parlamentarischen Demokratie über den Polizeistaat bis hin zur offenen Diktatur. 

Der Kapitalismus reorganisiert sich, um der Gefahr einer Revolution zu begegnen, welche die radikalste aller historischen Revolutionen wäre: die erste wahrhaft weltgeschichtliche Revolution. 

Der Sturz der kapitalistischen Übermacht würde den Zusammenbruch der Militärdiktaturen in der Dritten Welt herbeiführen, die völlig von dieser Übermacht abhängen. Sie würden abgelöst nicht von einer nationalen »liberalen« Bourgeoisie (die in den meisten dieser Länder die neokolonialen Abhängigkeiten von der ausländischen Macht akzeptiert), sondern von einer Regierung der Befreiungsbewegungen, die ihre Aufgabe darin sehen, längst überfällige radikale soziale und ökonomische Veränderungen herbeizuführen. 

Die chinesische und die kubanische Revolution könnten sich endlich unbehindert entwickeln — befreit von der erdrückenden Blockade und der ebenso erdrückenden Notwendigkeit, einen immer kostspieligeren Verteidigungs­apparat zu unterhalten. Könnte in einem solchen Falle die sowjetisch bestimmte Welt lange immun bleiben oder eine solche Revolution langfristig »eindämmen«? Außerdem wäre die Revolution in den kapitalistischen Ländern selbst qualitativ verschieden von ihren mißglückten Vorgängerinnen. 

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Diese Differenz fiele infolge der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus verschieden aus. In ihren fortgeschrittensten Tendenzen könnte diese Revolution das repressive Kontinuum durchbrechen, das bis heute den sozialistischen Aufbau wettbewerbsmäßig an den kapitalistischen Fortschritt kettet. Ohne diese mörderische Konkurrenz könnte der Sozialismus die Fetischisierung der »Produktivkräfte« überwinden. Er könnte die Unter­ordnung des Menschen unter seine Arbeitsinstrumente allmählich verringern, die Produktion mit dem Ziel, die entfremdete Arbeit abzuschaffen, neu organisieren und auf den verschwenderischen und versklavenden Komfort der kapitalistischen Konsumgesellschaft verzichten.

Nicht länger dazu verdammt, sich im Kampf ums Dasein durch Aggressivität und Unterdrückung zu behaupten, wären die Individuen endlich imstande, eine technische und natürliche Umwelt zu schaffen, in der nicht länger Gewalt, Häßlichkeit, Beschränktheit und Brutalität dominierten. 

Hinter diesen vertrauten Zügen eines noch ausstehenden Sozialismus steht die Idee des Sozialismus selbst als einer qualitativ anderen Totalität. Das sozialistische Universum ist zugleich ein moralisches und ästhetisches Universum: der dialektische Materialismus enthält den Idealismus als Element sowohl der Theorie als auch der Praxis. Die herrschenden materiellen Bedürfnisse und Befriedigungen werden geprägt - und kontrolliert - durch die Erfordernisse der Ausbeutung. 

Der Sozialismus muß die Menge der Güter und Dienstleistungen vergrößern, um die Armut abzuschaffen; gleichzeitig aber muß die sozialistische Produktion auch die Qualität des Daseins — die Bedürfnisse und Befriedigungen selbst — verändern. Moralische, psychologische, ästhetische und intellektuelle Fähigkeiten, die heute — sofern sie sich überhaupt entfalten — einem kulturellen Bereich zugewiesen werden, der vom materiellen Dasein getrennt und abgehoben ist, würden dann zu wesentlichen Faktoren der materiellen Produktion selbst.

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Daß diese integrale Idee des Sozialismus heute maßgebend wird für die Theorie und Praxis der radikalen Linken, ist die historische Antwort auf die gegenwärtige Entwicklung des Kapitalismus. Das von Marx für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft vorausgesetzte Produktionsniveau ist in den technisch fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern längst erreicht, und eben diese Errungenschaft (die »Konsumgesellschaft«) dient dazu, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufrechtzuerhalten, sich der Unterstützung der Bevölkerung zu vergewissern und die rationale Grundlage des Sozialismus zu diskreditieren. 

Natürlich war es dem Kapitalismus niemals möglich und wird ihm auch niemals möglich sein, seine Produktionsverhältnisse in Einklang mit seiner technischen Kapazität zu bringen; eine Mechanisierung, die es zunehmend erlaubte, menschliche Arbeitskraft dem materiellen Produktionsprozeß zu entziehen, würde schließlich das Ende des Systems bedeuten.(1) Aber der Kapitalismus kann die Produktivität der Arbeit steigern bei gleichzeitiger Vergrößerung der Abhängigkeit der Bevölkerung. Das Gesetz des kapitalistischen Fortschritts liegt in der Gleichung: technischer Fortschritt = wachsender gesellschaftlicher Reichtum (wachsendes Bruttosozialprodukt) = größere Knechtschaft. Die Ausbeutung rechtfertigt sich damit, daß die Warenwelt und das Angebot an Dienstleistungen sich ständig vermehren — die Opfer gehören zu den laufenden Unkosten, zu den »Unfällen« auf dem Weg zum guten Leben.

So ist es kein Wunder, daß dort, wo die kapitalistische Technostruktur noch einen relativ hohen Lebensstandard und eine gegen öffentliche Kontrolle faktisch immune Machtstruktur ermöglicht, die Bevölkerung dem Sozialismus interesselos, wenn nicht gar feindlich gegenübersteht. 

1)  Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 593.

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In den Vereinigten Staaten, wo sich »das Volk« in seiner großen Mehrheit aus der Klasse der »blue collar«-Arbeiter zusammensetzt, richtet sich diese Feind­seligkeit gleichermaßen gegen die Alte wie die Neue Linke; in Frankreich und in Italien, wo die marxistische Tradition der Arbeiterbewegung noch lebendig ist, ist der größere Teil der Arbeiterklasse der Kommunistischen Partei oder den Gewerkschaften verbunden. Ist das nur auf die schlechten Lebens­bedingungen dieser Klasse zurückzuführen, oder auch auf die kommunistische Politik mit ihrem demokratisch-parlamentarischen Minimalprogramm, das einen (relativ) friedlichen Übergang zum Sozialismus verspricht? Wie dem auch sei, diese Politik verheißt der Arbeiterklasse eine beträchtliche Verbesserung ihrer gegenwärtigen Lage — um den Preis, daß die Aussicht auf Befreiung sich verringert. 

Nicht nur die Orientierung an der UdSSR, sondern bereits die Prinzipien dieser aufrechterhaltenen Minimalstrategie selbst ebnen den Unterschied zwischen der etablierten und der neuen Gesellschaft ein: der Sozialismus erscheint nicht mehr als die bestimmte Negation des Kapitalismus. Konsequenterweise lehnt diese Politik die revolutionäre Strategie der Neuen Linken ab und muß sie ablehnen, eine Strategie, die auf einem Begriff von Sozialismus beruht, der den Bruch — und zwar von Anbeginn — mit dem Kontinuum der Abhängigkeit beinhaltet: das Entstehen der Selbstbestimmung als Prinzip des Umbaus der Gesellschaft. Aber diese Ziele und diese radikale Strategie sind auf kleine Gruppen beschränkt, die eher mittelständisch als proletarisch sind, während ein großer Teil der Arbeiterklasse zu einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft geworden ist.

Zusammenfassend kann man sagen:  

Der höchsten Stufe der kapitalistischen Entwicklung entspricht in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ein Tiefstand revolutionären Potentials. Das ist durchaus bekannt und bräuchte nicht weiter diskutiert zu werden, wenn sich hinter dieser (allerdings sehr realen) Erscheinung nicht eine ganz anders geartete Realität verbärge.

Die innere Dynamik des Kapitalismus verändert mit der Struktur des Kapitalismus auch die der Revolution: weit davon entfernt, die potentielle Massenbasis für eine Revolution zu schmälern, verbreitet sie sie vielmehr und erheischt das Wiederaufleben der radikalen an Stelle der minimalen Ziele des Sozialismus. 

Eine angemessene Interpretation des paradoxen Verhältnisses zwischen dem zerstörerischen Wachstum des Kapitalismus und dem (offensichtlichen und tatsächlichen) Niedergang des revolutionären Potentials würde eine gründliche Analyse der neo-imperialistischen, globalen Reorganisation des Kapitalismus erfordern. Dazu gibt es bereits größere Beiträge.(2) Ich werde hier versuchen, auf der Grundlage dieses Materials die allgemeinen Aussichten für eine radikale Veränderung in den Vereinigten Staaten zu diskutieren.

(2)  Cf. beispielsweise Paul A. Baran und Paul M. Sweezy, Monopoly Capita-lism, New York 1966 (dt.: Monopolkapital, Frankfurt/M. 1967); Joseph M. Gillman, Prosperity in Crisis, New York 1965; Gabriel Kolko, Wealtb and Power in America, New York 1962 (dt: Besitz und Macht- Sozialstruktur und Einkommensverteilung in den USA, Frankfurt/M. 1967); Harry Magdoff, The Age of Imperialism, New York 1969 (dt: Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt/M. 1970); G. William Domhoff, Who rules America?, Englewood Cliffs 1967. ---- »Bürgerliche« Ökonomen wie A. A. Berle und John Kenneth Galbraith stimmen, was die Fakten betrifft, mit den Marxisten in erstaunlichem Maß überein. Eine repräsentative Anthologie: Maurice Zeitlin (Hrsg.), American Society, Inc., Chicago 1970.

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Herbert Marcuse - Konterrevolution und Revolte - 1972