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1.  Die Linke angesichts der Konterrevolution  -   Marcuse-1972

    § 2   

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Das Vorherrschen eines nicht-revolutionären, ja anti-revolutionären Bewußtseins bei der Mehrheit der Arbeiterklasse springt in die Augen. Natürlich hat sich revolutionäres Bewußtsein immer nur in revolution­ären Situationen gezeigt; aber im Unterschied zu früher steht heute die allgemeine Lage der Arbeiterklasse in der Gesellschaft der Entwicklung eines solchen Bewußtseins entgegen.

Die Integration des größten Teils der Arbeiterklasse in die kapitalistische Gesellschaft ist kein Oberflächenphänomen, sondern ist im Unterbau, in der politischen Ökonomie des Monopolkapitalismus begründet: die Arbeiter­klasse der Metropole profitiert von den Überprofiten, von neokolonialer Ausbeutung, der Rüstung und den ungeheuren Subventionen der Regierung. Daß diese Klasse viel mehr als ihre Ketten zu verlieren hat, mag trivial sein, ist aber gleichwohl richtig. 

Man macht es sich zu leicht, wenn man die These von der tendenziellen Integration der Arbeiterklasse in die fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaft damit zu entkräften sucht, daß diese Veränderung nur die Sphäre der Konsumtion betreffe und die »strukturelle Definition« des Proletariats unberührt lasse.(3) Die Konsumsphäre ist eine Dimension des gesellschaftlichen Seins des Menschen und bestimmt als solche sein Bewußtsein, das wiederum ein Faktor ist, der sein Verhalten und seine Einstellung zur Arbeit wie zur Freizeit prägt. 

Das politische Potential steigender Erwartungen ist wohlbekannt. Die Konsumsphäre mit ihren umfassenden gesellschaftlichen Aspekten von der Strukturanalyse auszuschließen, verstieße gegen das Prinzip des dialektischen Materialismus. Freilich ist die Integration der Arbeiterklasse in einem anderen Sinn ein Oberflächenphänomen: sie verbirgt die desintegrierenden, zentrifugalen Tendenzen, deren Erscheinungsform sie selbst ist. Diese zentrifugalen Tendenzen wirken nicht außerhalb des integrierten Bereichs, sondern gerade in ihm erzeugt die monopolistische Wirtschaft Bedingungen und Bedürfnisse, die den kapitalistischen Rahmen zu sprengen drohen. 

3)  Cf. u. a. Kritikern Ernest Mandel, Workers and Permanent Revolution, in: George Fisher (Hrsg.), The Revival of American Imperialism, New York 1971, S. 170 ff.

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Ich möchte nur an die später zu erörternde klassische These erinnern, daß der überwältigende Reichtum des Kapitalismus seinen Zusammenbruch herbei­führen wird.
Wird die Konsumgesellschaft seine letzte Stufe, sein Totengräber sein? 

Es scheint kaum Argumente für eine bejahende Antwort auf diese Frage zu geben. Auf der höchsten Stufe des Kapitalismus erscheint die dringlichste aller Revolutionen als die allerunwahrscheinlichste — die dringlichste, weil das etablierte System sich nur noch durch die globale Zerstörung der Ressourcen, der Natur, des menschlichen Lebens erhalten kann, und weil die objektiven Bedingungen für seine Beendigung vorliegen. 

Diese Bedingungen sind: ein die Abschaffung der Armut ermöglichender gesellschaftlicher Reichtum; das technische Wissen für eine diesem Ziel dienende systematische Entwicklung der Ressourcen; eine herrschende Klasse, die die Produktivkräfte vergeudet, hemmt und vernichtet; das zu einer Abnahme des Reservoirs der Ausbeutung führende Erstarken antikapitalistischer Kräfte in der Dritten Welt; eine riesige Arbeiterklasse, die, von der Kontrolle über die Produktionsmittel ausgeschlossen, einer kleinen parasitären, herrschenden Klasse gegenübersteht. 

Aber zur gleichen Zeit kontrolliert das alle Dimensionen der Arbeit und Freizeit durchdringende Kapital die Bevölkerung vermittels der von ihm gelieferten Waren und Dienstleistungen sowie durch einen politischen, militärischen und Polizei-Apparat von erschreckender Effizienz. Die objektiven Bedingungen setzen sich nicht in revolutionäres Bewußtsein um; das vitale Bedürfnis nach Befreiung wird unterdrückt und bleibt ohnmächtig. Der Klassenkampf vollzieht sich in Formen »ökonomischen« Wettkampfs; Reformen werden nicht als Vorstufen zur Revolution betrachtet — der »subjektive Faktor« hinkt nach.

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Es wäre jedoch falsch, diesen Widerstreit zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit der Revolution allein unter dem Aspekt einer Divergenz von subjektiven und objektiven Bedingungen zu interpretieren. Jene stimmen weitgehend mit diesen überein: das reformistische oder konformistische Bewußtsein entspricht der erreichten Stufe des Kapitalismus und seiner allgegenwärtigen Machtstruktur — ein Zustand, in dem politisches Bewußtsein und Revolte auf nicht-integrierte Minderheiten beschränkt sind, und zwar in der Arbeiterklasse (besonders in Frankreich und Italien) wie in den Mittelschichten. In den objektiven Bedingungen selber liegt die Lösung des Paradoxons der »unmöglichen« Revolution.

Die Restabilisierung des Kapitalismus und Neoimperialismus, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, ist noch nicht abgeschlossen — trotz Indochina, trotz der Inflation, der internationalen Währungskrise und wachsender Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten. Dank seiner ökonomischen und militärischen Macht ist das System noch immer imstande, mit den sich verschärfenden Konflikten innerhalb und außerhalb seines Herrschafts­bereichs »fertig« zu werden. Gerade die beispiellose Leistungsfähigkeit des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts wird die Revolution des 20. Jahrhunderts hervorbringen — freilich eine Revolution, deren Basis, Strategie und Ziel sich von allen bisherigen Revolutionen, besonders von der russischen, fundamental unterscheiden werden. Deren Charakteristika waren die Führerschaft einer »ideologisch bewußten Avantgarde«, eine Massenpartei als ihr »Instrument« und die Proklamierung des »Kampfes um die Staatsmacht« als grundlegendes Ziel.

»Es ist kein Zufall, daß es für diese Art der Revolution im Westen kein Beispiel gibt. Hier hat das kapitalistische System nicht nur viele der Ziele erreicht, die in den unterentwickelten Ländern die treibende Kraft der modernen Revolutionen waren, sondern durch die konstante Steigerung des Einkommens, die Komplexität der Verteilungsmechanismen, die internationale Organisation der Ausbeutung ist es dem Kapitalismus auch gelungen, der Mehrheit der Bevölkerung eine Existenzmöglichkeit und häufig sogar eine partielle Lösung ihrer unmittelbaren Probleme anzubieten.«(4)

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Die zunehmende Befriedigung auch von Bedürfnissen, die über das Lebensnotwendige hinausgehen, verändert auch die Züge der revolutionären Alternative, die nun den Aufbau einer Gesellschaftsordnung entwirft, die es vermag, »nicht nur mehr zu produzieren und diese Produkte gerechter zu verteilen, sondern auch in anderer Weise zu produzieren, andere Güter zu produzieren und den zwischenmenschlichen Beziehungen eine neue Form zu geben«.(5) 

Die im 18. und 19. Jahrhundert durch das Verhältnis von Kapital und Arbeit geschaffene Massenbasis existiert heute in den Metropolen des Monopolkapitals nicht mehr (und verändert sich allmählich auch in den rückständigen kapitalistischen Ländern); eine neue Basis ist im Entstehen, die eine Erweiterung und Transformation der historischen Basis infolge der Dynamik der Produktionsweise darstellt. 

Auf der jüngsten Stufe der ökonomischen und politischen Konzentration werden die einzelnen kapitalistischen Unternehmen in allen Wirtschaftsbereichen den Erfordernissen des Gesamtkapitals untergeordnet. Diese Koordination vollzieht sich auf zwei eng miteinander verbundenen Ebenen: einerseits durch den Bedingungen monopolistischer Konkurrenz unterliegenden gewöhnlichen Wirtschaftsprozeß (wachsende organische Zusammen­setzung des Kapitals; Druck auf die Profitrate); andererseits durch »staatliches Management«.6

4) Lucio Magri, Parlement ou Conseils (1970), in: // Manifesto: Analyses et Theses..., hrsg. v. Rossana Rossanda, Paris 197 i, S. 332.   

5) Ibid. 

6) Cf. Seymour Melman, Pentagon Capitalism, New York 1970.  Der Begriff »staatliches Management« enthält allerdings eine zu starke Betonung der Unabhängigkeit des Staates vom Kapital.

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Infolgedessen werden immer mehr Schichten des ehemals unabhängigen Mittelstandes unmittelbare Diener des Kapitals, die, ausgeschlossen von der Kontrolle über die Produktionsmittel, damit beschäftigt sind, Mehrwert zu schaffen und zu realisieren. Der »tertiäre Sektor« (Produktion von Dienst­leistungen), für die Realisierung und Reproduktion des Kapitals seit langem unentbehrlich, stellt eine riesige Armee von Gehaltsempfängern. Gleichzeitig wird durch den zunehmend technologischen Charakter materieller Produktion die funktionelle Intelligenz in diesen Prozeß einbezogen. Die Basis der Ausbeutung erweitert sich so über die Fabriken und Geschäfte hinaus und umfaßt weit mehr Schichten als nur die Klasse der »blue collar«-Arbeiter.7)

Die kommunistische Strategie hat den entscheidenden Wandel in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse schon vor langem anerkannt. Die folgende Feststellung ist der Diskussion der Thesen für den XIX. Kongreß der Kommunistischen Partei Frankreichs entnommen: 

7) Die Diskussion über die »neue Arbeiterklasse« wurde durch Serge Mallets Buch La Nouvelle classe ouvriere (1963) ausgelöst. Zur neueren Literatur über dieses Thema gehören J. M. Budish, The Changing Structure of the Working Class, New York 1964; Stanley Aronowitz, Does the United States Have a New Working Class?, in: The Revival of American Socialism, 1. c, S. 188 ff.; und Andre Gorz, Technique, Techniciens et Lutte des Classes, in: Les Temps Modernes, August-September 1971, S. 141 ff.

Besonders wichtig ist Gorz' Unterscheidung zwischen den technisch-wissenschaftlichen Arbeitern, die an der Kontrolle über den Produktionsprozeß beteiligt sind und in der Regel faktisch zum Management gehören, und denjenigen, die dieser Hierarchie unterworfen sind. Cf. auch Herbert Gintis, The New Working Class and Revolutionary Youth, in: Socialist Revolution, San Francisco, Mai-Juni 1970.

Mit der Literatur über die Neue Linke und die gegenwärtige Phase des Kapitalismus könnte man bereits eine Bibliothek füllen. Ich möchte nur ein Buch erwähnen, das meiner Ansicht nach das klarste, ehrlichste, kritischste ist und von zwei jungen Aktivisten geschrieben wurde: A Disrupted History: The New Left and the New Capitalism, New York 1971.

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»[-..] die Kommunistische Partei hat niemals die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse mit der Ausübung körperlicher Arbeit verwechselt. [...] Angesichts des gegenwärtigen technologischen Fortschritts und der wachsenden Zahl von Nicht-Handarbeitern wird es immer schwieriger, Hand- und Kopfarbeit voneinander zu trennen, obwohl die kapitalistische Produktionsweise diese Trennung aufrecht­zuerhalten sucht.« 

Weiter heißt es, der Marxsche Begriff des »Gesamtarbeiters« sei nicht identisch mit dem der traditionellen (Lohn empfangenden) Arbeiterklasse: »Der <Gesamtarbeiter> schließt Gehaltsempfänger ein, die keine Arbeiter sind, wie Forscher, Ingenieure, Manager etc.« Die heutige Arbeiterklasse ist viel umfassender: sie besteht »nicht nur aus den Proletariern in der Landwirtschaft, den Fabriken, Bergwerken und auf den Baustellen, die den Kern dieser Klasse bilden, sondern auch aus der Gesamtheit jener Arbeiter, die direkt an der Vorbereitung und am Funktionieren der materiellen Produktion beteiligt sind«. Bei dieser Transformation der Arbeiterklasse werden ihr nicht nur neue Schichten von Gehaltsempfängern »integriert«, sondern es nehmen auch »Beschäftigungen, die nicht zum Sektor der materiellen Produktion gehörten, produktiven Charakter an«.8) 

»Die Macht des Monopols in der Gesellschaft von heute [artikuliert sich] nicht in erster Linie im Arbeitsverhältnis, sondern außerhalb der Fabrik, auf dem Markt, aber auch in allen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. [...] Der Monopolkapitalismus [findet] seine Opfer nicht allein unter den von ihm Abhängigen [...], so daß jeder von uns zu irgendeinem Zeitpunkt in das Netz der kapitalistischen Beziehungen gerät, während es nicht ausgeschlossen ist, daß die unmittelbar von ihm Abhängigen mitunter >weni-ger Opfer<, manchmal sogar Nutznießer oder gar potentielle Verbündete sein können.«9) 

8) France Nouvelle, Hebdomadaire Central du Parti Communiste Francais, 28. Jan. 1970.
9) Lelio Basso, Zur Theorie des politischen Konflikts, Frankfurt 1969, S. 10, 13 f. (Hervorhebungen von mir), geschrieben 1962.

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Der erweiterte Ausbeutungsbereich und das Bedürfnis, immer neue Bevölkerungsschichten in den Metropolen und in der Dritten Welt zu integrieren, fördern die herrschende Tendenz des Monopolkapitalismus: die Organisation der gesamten Gesellschaft in seinem Interesse und nach seinem Bild.

Der leitenden und organisierenden Kraft des »Gesamtkapitals« steht die Produktivkraft des »Gesamtarbeiters«10 gegenüber: der einzelne Arbeiter wird zum bloßen Fragment oder Atom in der gleichgeschalteten Masse der Bevölkerung, die, ausgeschlossen von der Kontrolle über die Produktionsmittel, den gesamten Mehrwert erzeugt. In dieser Masse spielt die Intelligenz eine entscheidende Rolle nicht nur im materiellen Produktionsprozeß, sondern auch bei der stets wissenschaftlicher werdenden Manipulation und Reglementierung des Konsum- und »produktiven« Verhaltens.

Der Prozeß der Realisierung des Kapitals bezieht immer größere Bevölkerungsschichten ein — er erstreckt sich weit über die »blue collar«-Arbeiter. Marx schon sah die strukturellen Veränderungen voraus, die die Basis der Ausbeutung durch das Einbeziehen ehemals »unproduktiver« Arbeiten und Dienste erweitern: 

»Da mit der Entwicklung der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital oder der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise nicht der einzelne Arbeiter, sondern mehr und mehr ein sozial kombiniertes Arbeitsvermögen der wirkliche Funktionär des Gesamtprozesses wird, und die verschiedenen Arbeitsvermögen, die konkurrieren, und die gesamte produktive Maschine bilden, in sehr verschiedener Weise an dem unmittelbaren Prozeß der Waren- oder besser hier Produktbildung teilnehmen, der eine mehr mit der Hand, der andere mehr mit dem Kopf arbeitet, der eine als manager, engineer, Technolog etc., der andere als overlooker, der dritte als direkter Handarbeiter,

10)  Cf. Karl Marx, Das Kapital, 14. Kapitel, 2. Absatz.

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oder gar bloß Handlanger, so werden mehr und mehr Funktionen von Arbeitsvermögen unter den unmittelbaren Begriff der produktiven Arbeit, direkt vom Kapital ausgebeuteter und seinem Verwertungs- und Produktionsprozeß überhaupt untergeordneter Arbeiter einrangiert. Betrachtet man den Gesamtarbeiter, aus dem das Atelier besteht, so verwirklicht sich materialiter seine kombinierte Tätigkeit unmittelbar in einem Gesamtprodukt, das zugleich eine Gesamtmasse von Waren ist, wobei es ganz gleichgültig, ob die Funktion des einzelnen Arbeiters, der nur ein Glied dieses Gesamtarbeiters, ferner oder näher der unmittelbaren Handarbeit steht. Dann aber: Die Tätigkeit dieses Gesamtarbeitsvermögens ist seine unmittelbare produktive Konsumtion durch das Kapital, d. h. also Selbstverwertungsprozeß des Kapitals, unmittelbare Produktion von Mehrwert.«11

Mit der inneren Dynamik des fortgeschrittenen Kapitalismus »erweitert sich daher notwendig der Begriff der produktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbeiters«12, damit der Arbeiterklasse selbst. Diese Veränderung ist nicht nur quantitativ; sie beeinflußt das ganze Universum des Kapitalismus.

Das erweiterte Universum von Ausbeutung bildet eine Totalität von Maschinen — in menschlicher, ökonomischer, politischer, militärischer und pädagogischer Hinsicht. Es wird von einer Hierarchie immer spezialisierterer »professioneller« Manager, Politiker und Generale beherrscht, die sich der Aufrechterhaltung und Erweiterung ihres jeweiligen Bereiches widmen, auf globaler Ebene zwar noch miteinander konkurrieren, dabei aber alle im Interesse des Gesamtkapitals der Nation handeln — der Nation als Kapital, als imperialistisches Kapital.

11) Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, frühere Version des 6. Kapitels des Kapital, Frankfurt/M. 1969, S. 65 f.
12)  Das Kapital, Band 1, 14. Kapitel, 2. Absatz. Cf. auch Theorien über den Mehrwert, hrsg. v. Karl Kautsky, Stuttgart 1905, Bd. 1, S. 324 f.

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Natürlich unterscheidet sich dieser Imperialismus von seinen Vorgängern: es steht mehr auf dem Spiel als unmittelbare und partikulare Wirtschaftsinteressen. Wenn die Sicherheit der Nation es heute erfordert, dort, wo einheimische herrschende Gruppen nicht gewillt oder imstande sind, Volksbefreiungsbewegungen zu vernichten, militärisch, ökonomisch und »technisch« zu intervenieren, so deshalb, weil sich das System nicht länger kraft seiner ökonomischen Mechanismen zu reproduzieren vermag. Diese Aufgabe stellt sich einem Staat, dem international eine militante Opposition »von unten« entgegentritt, die wiederum anfeuernd auf die Opposition in den Metropolen wirkt. Wenn das tödliche Spiel der Machtpolitik heute zur wirksamen Kooperation und Aufteilung der Einflußbereiche zwischen den staatssozialistischen und staatskapitalistischen Ländern führt, so begegnet diese Diplomatie der gemeinsamen Bedrohung von unten. »Unten« aber sind nicht nur die Verdammten dieser Erde, sondern auch die gebildeteren und privilegierteren menschlichen Adressaten der Kontrolle und Repression.

An der Basis der Pyramide herrscht Atomisierung. Diese verwandelt das ganze Individuum — Körper und Geist — in ein Instrument oder gar in den Teil eines Instruments: aktiv oder passiv, produktiv oder rezeptiv, in seiner Arbeits- wie Freizeit dient es dem System. Die technische Arbeitsteilung zerlegt den Menschen selbst in Teiloperationen und -funk-tionen, die von den Koordinatoren des kapitalistischen Prozesses koordiniert werden. Diese technologische Struktur der Ausbeutung organisiert ein riesiges Netz menschlicher Instrumente, die eine reiche Gesellschaft produzieren und aufrechterhalten. Denn wer nicht gerade zu den unbarmherzig unterdrückten Minderheiten gehört, profitiert von diesem Reichtum.

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Das Kapital erzeugt heute für die Mehrheit der Bevölkerung in den Metropolen nicht so sehr materielle Not als gesteuerte Befriedigung materieller Bedürfnisse,13 wobei der ganze Mensch — seine Intelligenz und seine Sinne — zu einem Verwaltungsobjekt werden, darauf abgestimmt, nicht nur die Ziele, sondern auch die Werte und Verheißungen des Systems, seinen ideologischen Himmel, zu produzieren und zu reproduzieren. 

13) Auf diesen Wandel weist der Anstieg des »zur freien Verfügung stehenden Einkommens« hin, d. h. des Einkommens, das nicht für die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse benötigt wird. (In seiner Ausgabe vom Dezember 1967 veranschlagte das Magazin Fortune diesen Anteil auf ein Drittel aller privaten Einkommen.) Cf. David Gilberts für einen Vortrag im Wisconsin Draft Resistance Union Institute angefertigte Arbeit Consumption: Domestic Impenalism. Gleichzeitig nimmt die Armut in den Vereinigten Staaten zu und signalisiert damit im Jahre 1970 das Ende einer zehnjährigen Entwicklungstendenz (Bureau of the Census, Bericht in der New York Times vom 8. Mai 1971).

Hinter dem technologischen Schleier, hinter dem politischen Schleier der Demokratie zeigt sich die Realität: die universale Knechtschaft, der Verlust menschlicher Würde bei vorfabrizierter Wahlfreiheit. Und die Machtstruktur tritt nicht mehr »sublimiert« auf im Stil einer liberalistischen Kultur, nicht einmal mehr heuchlerisch (so daß sie zumindest die »Förmlichkeiten«, die Hülse von Würde, beibehielte), sondern brutal, indem sie allen Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit über Bord wirft.

Wahr und falsch, gut und böse werden unverhüllt zu Kategorien der politischen Ökonomie; sie definieren den Marktwert von Menschen und Sachen. Die Warenform wird universell, während gleichzeitig, mit dem Ende freien Wettbewerbs, die »inhärente« Qualität der Waren aufhört, ein entscheidender Faktor ihrer Verkäuflichkeit zu sein. Ein Präsident wird verkauft wie ein Auto, und es erscheint hoffnungslos altmodisch, seine politischen Äußerungen nach ihrer Wahrheit oder Falschheit zu beurteilen — was ihnen Wert verleiht, ist ihre Qualität, Stimmen zu erhalten oder zu gewinnen.

Allerdings muß der Präsident fähig sein, die Funktion zu erfüllen, für die er gekauft wird: er muß imstande sein, den üblichen Gang der Geschäfte sicherzustellen. Genauso wird die Qualität eines Autos durch die Profitspanne bestimmt (und begrenzt); auch das Auto muß die Funktion erfüllen, für die es gekauft wird, aber diese »technische« Qualität wird »überlagert« von den Qualitäten, die der Verkaufspolitik dienen (hohe PS-Zahl, minderwertiger Komfort, protziges, aber schlechtes Material etc.). Indem die Warenform universal wird und auch Sektoren der materiellen und »höheren« Kultur erfaßt, die sich früher relativer Unabhängigkeit erfreuten, spitzt sich der wesentliche Widerspruch des Kapitalismus aufs äußerste zu: dem Kapital steht jetzt die gesamte Masse der arbeitenden Bevölkerung gegenüber.

Innerhalb dieser abhängigen Masse sorgt die Hierarchie der Positionen im Produktionsprozeß für ständige Klassenkonflikte — für unmittelbare Interessen­konflikte etwa zwischen den hochbezahlten Technikern, Experten und sonstigen Spezialisten einerseits und den unter der Anwendung der Technologie leidenden Arbeitern andererseits; zwischen der organisierten Arbeiterschaft auf der einen Seite und dem Subproletariat der Minderheiten auf der anderen Seite. Die »unproduktive« Intelligenz erfreut sich größerer Bewegungsfreiheit als die produktiven Arbeiter.

Nichtsdestoweniger bestimmt der Ausschluß von der Kontrolle über die Produktionsmittel die gemeinsame objektive Lage aller Lohn- und Gehaltsempfänger - eine objektive Lage, die die Bedingung ihrer Ausbeutung ist. Sie alle reproduzieren das Kapital. Die auf einen größeren Teil der Bevölkerung erweiterte Ausbeutung bei gleichzeitiger Anhebung des Lebensstandards — das ist die Realität, die sich hinter der Fassade der Konsumgesellschaft verbirgt. Diese Realität ist die einigende Kraft, die — hinter dem Rücken der Individuen — die sehr verschiedenen und miteinander kämpfenden Klassen der abhängigen Bevölkerung integriert.

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Herbert Marcuse - Konterrevolution und Revolte - 1972