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Seelische Krankheiten 

und ihre Behandlung

 

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Dies ist ein Buch über die Grundvoraussetzungen der Psychotherapie. Es ist kein Versuch, die Wirksamkeit der Psychotherapie in Frage zu stellen. Das heißt, ich bezweifle nicht, daß es Menschen gibt, die glauben, diese Therapie habe ihnen geholfen (obwohl ich bezweifle, daß ihnen tatsächlich geholfen worden ist). 

Die Statistiken über das Versagen der Therapie beeindrucken mich dabei nicht. Sie scheinen mir am Kern der Sache vorbeizugehen. Der Wert oder Unwert der Psychotherapie läßt sich nicht mit Statistiken nachweisen. Die Tendenz dieser Studien ist nur allzu offensichtlich: Organische »Heilmethoden« bringen bessere Ergebnisse, besonders bei der Behandlung der sogenannten »echten Geisteskrankheiten« wie zum Beispiel der »Schizophrenie« und der »manisch-depressiven Psychose«.

Wenn ich den Wert der Psychotherapie bezweifle, dann will ich sie nicht durch die Psychiatrie ersetzen, die Hans Eysenck (Decline and Fall of the Freudian Empire) eine »wirklich wissenschaftliche Psychologie« genannt hat, denn die Psychiatrie ist nach meiner Auffassung schon immer aufdringlich, destruktiv und unmoralisch gewesen. Im allgemeinen ist das, was von Fachleuten, einschließlich Eysenck und Garth Wood (The Myth of Neuroses), als Ersatz für die Psychotherapie angeboten wurde (Verhaltens­modifizierung oder organische Therapien einschließlich medikamentöser Behandlung) trotz ihrer Kritik noch schlechter.

Dieses Buch unterscheidet sich in einigen wesentlichen Punkten von anderen Büchern, welche die Psychotherapie kritisieren.

Ich mißtraue jedem der vom Leiden eines anderen Menschen profitiert. Ich glaube nicht, daß eine medikamentöse Behandlung oder andere Formen der Psychiatrie der Psychotherapie vorzuziehen seien. 

Im Gegenteil, ich halte sie für weniger wirksam und glaube, daß sie fast immer schädlich sind. Ich kann mich auch nicht der Auffassung anschließen, daß es Menschen gibt, die, weil sie »geisteskrank« sind, einer »regelrechten Behandlung« bedürfen, was die Verwendung von Psychopharmaka bedeutet (Martin Gross vertritt in The Psychological Society diese Auffassung), und daß für alle anderen Menschen eine mündliche psychologische Beratung genügt. 

Im Gegensatz dazu glaube ich, daß es den medizinischen Befund der Geisteskrankheit gar nicht, sondern daß viele, ja sogar die meisten Menschen irgendwann einmal oder auch mehrere Male in ihrem Leben schwere emotionale Krisen durchmachen müssen, in denen sie aus den verschiedensten Gründen ganz erheblich leiden. Ich bestreite nicht die große Bedeutung dieses Problems, sondern nur die Behauptung, daß es sich mit Sicherheit lösen ließe. Ich kritisiere in diesem Buch nicht die Menschen, die Heilung suchen. Sie gehen aus guten Gründen zum Therapeuten. Sie empfinden seelischen Schmerz, sind unglücklich und haben das Gefühl, daß ihnen in ihrem Leben irgend etwas fehlt. 

Wenn solche Menschen einen Therapeuten konsultieren, wollen sie sich von der Bürde ihrer eigenen Erinnerungen befreien. Vielleicht haben sie bisher noch nie mit einem anderen Menschen ausführlich über die Belastung durch diese Erinnerungen gesprochen. Oft haben sie tragische Dinge erlebt, besonders in der Kindheit, die von anderen bestritten werden, vor allem von denen, die sie verursacht haben. Bei der Lektüre fast jeder modernen Autobiographie sehen wir, wie schmerzlich für jeden dieser Menschen das Leben in einer Realität gewesen ist, die von anderen nicht gesehen wurde, die andere nicht anerkennen wollten oder die ihnen gleichgültig war.

Die Fragen nach dem Sinn der Psychotherapie stellen sich uns erst, wenn wir darüber nachdenken, mit welchen Mitteln der Therapeut auf den unglücklichen Zustand seines Patienten reagieren kann. Ich glaube, hier ist es notwendig, eine genaue Untersuchung aller der Beurteilung des einzelnen Falles zugrunde liegenden Vermutungen vorzunehmen. Es gibt bereits ausgezeichnete Kritiken an den organischen Therapien. Menschen, die mit Elektroschocks und Psychopharmaka behandelt und zwangsweise in Anstalten eingewiesen worden sind, haben viel dazu beigetragen, die Öffentlichkeit auf die zerstörerische Wirkung dieser sogenannten Behandlungsmethoden aufmerksam zu machen. 

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Aus zahlreichen Artikeln ehemaliger Insassen psychiatrischer Anstalten, die oft in Nachrichtenblättern und Zeitschriften mit einer niedrigen Auflage erschienen sind, kennen wir die Gefahren, denen diese Patienten in den modernen psychiatrischen Anstalten ausgesetzt. sind (diese Anstalten sollten als »Institutionen« bezeichnet werden, denn das sind sie in Wirklichkeit). 

Wir erkennen heute immer deutlicher, wie gefährlich es ist, zu erklären, ein Patient leide an Schizophrenie, und die Zahl derer, die erkannt haben, daß es einen solchen Befund gar nicht gibt, wird immer größer. Doch bisher sind diese als Voraussetzung für eine Psychotherapie geltenden Befunde noch von keinem Fachmann wirklich in Zweifel gezogen worden, und niemand hat den Versuch unternommen, deutlich zu sagen, wo die Problematik bei der Psychotherapie im Vergleich mit anderen Therapien liegt. Jede mir bekannte Kritik an der Psychotherapie will an die Stelle der von ihr kritisierten Behandlungsmethode eine andere Form der Psychotherapie setzen oder die Therapie irgendwie reformieren oder umstrukturieren. Diese Analysen dringen nicht bis zum Kern der Psychotherapie vor, um zu untersuchen, was an der Grundidee einer Psychotherapie falsch sein könnte.

Wir gehen zum Therapeuten und vertrauen darauf, daß er bestimmte Qualitäten besitzt: Mitleid, Verständnis, Freundlichkeit, menschliche Wärme, Gerechtigkeitssinn und Integrität. Aber warum sollten wir annehmen, daß irgend jemand diese Eigenschaften besitzt? Kann man sie erlernen? Freud hat das geglaubt, und die meisten Psychotherapeuten sind dieser Auffassung gefolgt. Doch wie erwirbt man solche Eigenschaften? Ist das in einem Hörsaal oder in einem »Ausbildungsprogramm« möglich? Können auch die weniger anspruchsvollen Qualitäten gelehrt werden? Können wir zum Beispiel lernen, geduldig zuzuhören? 

Und selbst wenn wir annehmen wollten, daß sich diese Eigenschaften erlernen lassen (und wer soll beurteilen, daß das geschehen ist?), wie kann der Patient sich vergewissern, daß der von ihm konsultierte Therapeut sie wirklich besitzt? Genügen dafür schon einige Sitzungen? Warum sollte das so sein, wenn wir beobachten können, daß es oft viele Jahre dauert, bis man sich über die positiven und negativen Seiten eines anderen Menschen klargeworden ist? Und wie soll das im Umgang mit einem Therapeuten möglich sein, der gelernt hat, seinen Patienten möglichst wenig von seinem eigenen Charakter zu offenbaren? 

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Die Tatsache, daß es anständige, warmherzige und mitfühlende Psychotherapeuten gibt, denen es manchmal gelingt, den Menschen zu helfen, die zu ihnen kommen, schützt den Berufsstand selbst und die darin angewendeten Praktiken nicht vor der Kritik, die ich in diesem Buch zum Ausdruck bringe. Sie zeigt nur, daß diese Leute Erfolg haben, obwohl sie Psychotherapeuten sind, nicht aber, weil sie es sind.

Die Förderung der obengenannten positiven Eigenschaften und Fähigkeiten ist Inhalt eines jeden Ausbildungs­programms für Therapeuten jeden Typs. Diese Qualitäten erwartet jedes Institut, das Psychotherapeuten ausbildet, von den Auszubildenden. Wenn nun der Therapeut eine eigene Praxis eröffnet, wird er natürlich auch glauben, diese Eigenschaften zu besitzen. Wenn er zugeben muß, daß er sie nicht besitzt, würde er wahrscheinlich zu der Überzeugung gelangen, daß er nicht geeignet ist, Patienten zu behandeln. Auf diese Weise entsteht ein innerer Widerspruch.

Manchmal wird das von den Therapeuten erkannt, die glauben, daß sie für ihre Patienten die Rolle eines Vorbilds übernehmen müssen. Deshalb hat Freud in seiner Geschichte der psycho­analytischen Bewegung geschrieben, die Analyse setze »die Situation eines Überlegenen und eines Untergeordneten voraus«. Die Therapeuten erwarten, daß ihre Patienten zu ihnen aufblicken. Wenn keine »Übertragung« stattfindet, dann halten sie — wenigstens die psychoanalytisch orientierten Therapeuten — eine Therapie für unmöglich. 

Wenn es Meinungs­verschieden­heiten zwischen dem Patienten und dem Therapeuten gibt, dann wird vorausgesetzt, daß der Therapeut mit größerer Wahrscheinlichkeit recht hat als der Patient (denn er ist objektiver, hat ein geringeres persönliches Interesse, weiß mehr und hat bei der Beurteilung menschlichen Verhaltens mehr Erfahrung). Wenn sich Patient und Therapeut über eine bestimmte Behandlungsmethode nicht einigen können, wird der Therapeut bestreiten, von Vorurteilen oder persönlichen Ansichten beeinflußt zu sein, die nichts mit dem Patienten zu tun haben.

Der Therapeut behauptet, er bemühe sich ständig um das Wohl seines Patienten. Das ganze Verhalten des Therapeuten und alles, was er dem Patienten auferlegt, geschehe zum »Besten« des Patienten. Aber das sagt jeder, der einen anderen Menschen veranlassen will, sein Verhalten zu ändern. Eltern sagen es, Lehrer sagen es, die Polizei sagt es, und die Regierung sagt es. Wer sagt uns, daß es wirklich wahr ist? 

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Der Therapeut, der seinen Patienten verständnisvoller behandeln will, wird vielleicht sagen: »Nein, ich kann unmöglich wissen, was für meinen Patienten das beste ist. Aber ich kann ihm helfen, das festzustellen, wenn ich mit ihm über alle Alternativen und ihre Folgen spreche. Wenn er sich für etwas entscheidet, das ich für falsch halte, dann ist es seine Entscheidung.« Das klingt sehr gut, aber dürfen wir von einem Therapeuten wirklich eine solche Unparteilichkeit und Toleranz erwarten? Wie viele Menschen kennen wir, von denen wn das sagen konnten? Viele Patienten haben im Verlauf der Therapie Situationen erlebt, in denen sie fürchteten, nicht mit wirklicher Toleranz und Objektivität rechnen zu können.

 

Das folgende Beispiel hat mir eine Frau erzählt, die aktiv in der Bewegung »Frauen gegen die Pornographie« tätig ist. Als sie ihrem Analytiker sagte, sie habe sich im Rahmen ihrer politischen Tätigkeit an Maßnahmen gegen die Zeitschritt Playboy beteiligt, erwiderte dieser gereizt, ihm gefiele Playboy. Sie erkannte sofort, daß seine Behandlung ihr nicht mehr helfen konnte und brach sie ab. Nehmen wir aber an, der Analytiker hätte seine persönliche Meinung für sich behalten? Wie hatte sie wissen können, daß sie sich auf eine Auseinandersetzung mit einem Menschen eingelassen hatte, der ihr nicht helfen konnte, kein Verständnis für sie hatte und nicht begriff, wie wichtig der Kampf gegen die Pornographie für sie war?

Eine Frau, zu der ich über viele Jahre sehr enge Beziehungen unterhielt, hatte sich einer klassischen Psychoanalyse unterzogen. Sie war im Warschauer Getto aufgewachsen und hatte einen Analytiker konsultiert, dessen Name so klang, als sei er Jude und werde deshalb die Probleme verstehen, mit denen sie es als Kind während des Krieges in Polen zu tun gehabt hatte. In Wirklichkeit war er Deutscher. Da er eine gute Ausbildung genossen hatte, beantwortete er ihre Frage, ob er Jude sei, nicht. Doch sie glaubte es, und er unternahm nichts, um ihr diesen Glauben zu nehmen.

Diese falsche Annahme (die der Analytiker später als reine Phantasie abtat) hatte verheerende Folgen für sie, aber nicht für ihn. Er hatte keine Ahnung, was damals im Warschauer Getto geschehen war, und verstand deshalb kaum, was sie ihm erzählte, sondern behauptete, viele ihrer Vorstellungen und Beobachtungen seien durch innere Aggressionen verzerrt. Die »arische Seite«, ein Ausdruck, den sie bei der Schilderung ihrer Vergangenheit häufig gebrauchte, war für ihn nichts anderes als eine Metapher für ihr Innenleben. 

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Der Therapeut hat sich vielleicht selbst dadurch geschützt, daß er die grausame Wirklichkeit mit dieser Metapher zudeckte, aber ihr hat es nicht geholfen. Der einzige Nutzen, den sie aus dieser Behandlung ziehen konnte, bestand darin, daß sie sich schließlich von einem neuen Peiniger befreite. Sein Mangel an Einfühlungsvermögen, seine historische Unkenntnis und sein allgemeines Unvermögen waren die Waffen, mit denen er diese Frau dafür bestrafte, daß sie die Welt aus einer andern Perspektive sah als er mit seinem engen Horizont und dem Bemühen, die grausame Wirklichkeit zu beschönigen. 

Ihre »paranoide« Vorstellung, verfolgt zu sein, wurde durch seine Ahnungslosigkeit nur noch verstärkt. Vielleicht wird es Leute geben, die die Haltung dieses Mannes damit zu rechtfertigen versuchen, daß sie behaupten, dieser Analytiker habe ihre Vergangenheit nicht ändern und ihr nur dadurch helfen können, daß er sich auf ihr Innenleben konzentrierte. Für den Therapeuten sind die grausamen Wirklichkeiten des Warschauer Gettos oder des Konzentrationslagers von Auschwitz ebenso wie andere Realitäten nur das Rohmaterial für unsere Phantasien, und der Psychotherapeut ist der Künstler, der aus diesem Material die Wirklichkeit formt. Es scheint jedoch, daß die Leute, die sich am lautesten für solche Methoden stark machen, persönlich am weitesten von traumatischen Ereignissen dieser Größenordnung entfernt sind. Sie liegen ganz einfach außerhalb ihres eigenen Erfahrungsbereichs.

Eine Ausnahme, an die ich mich erinnere, war ein Analytiker der Freudschen Schule, der mir sagte, es sei ihm unmöglich, Überlebende der Konzentrationslager zu behandeln, und zwar aus dem einfachen Grund, daß auch er in einem Konzentrationslager gewesen sei und er deshalb ein starkes Bedürfnis habe, seinen Leidensgenossen zu helfen. Aber gerade diese Tatsache mache es ihm nach seiner Auffassung unmöglich. Er konnte nicht objektiv sein. Er war sich jedoch der Tragödie nicht bewußt, die Menschen erwartete, die er zu seinen Kollegen schickte. Sie mußten jetzt Analytiker konsultieren, die nicht in der Lage waren, ihre Probleme zu begreifen, und deshalb nicht das Bedürfnis hatten, den Patienten verständnisvoll die Hand zu reichen. Nichtjüdische deutsche Analytiker haben in jüngster Zeit damit begonnen, jüdische Überlebende aus Konzen­trationslagern zu behandeln, und die International Psycho-Analytic Association veranstaltet Kongresse zu dem Thema »Überlebende des Holocaust und Therapie«. 

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Das könnte eine subtile (oder auch weniger subtile) Art sein, die Opfer der Judenverfolgung noch einmal auf die Schlachtbank zu führen.

Jeder Versuch des Therapeuten, dem Patienten die eigenen Auffassungen aufzudrängen, verstößt gegen die Grundsätze fast aller Therapieformen. Aber in Wirklichkeit tun es die meisten Therapeuten. Freud hat im Alter von achtundzwanzig Jahren eine sehr deutliche Erklärung gegen alle Versuche verfaßt, Patienten in Spiegelbilder ihrer Analytiker zu verwandeln:

So sehr es den Analytiker verlocken mag, Lehrer, Vorbild und Ideal für andere zu werden, Menschen nach seinem Vorbild zu schaffen, er darf nicht vergessen, daß dies nicht seine Aufgabe im analytischen Verhältnis ist, ja daß er seiner Aufgabe untreu wird, wenn er sich von seiner Neigung fortreißen läßt. Er wiederholt dann nur einen Fehler der Eltern, die die Unabhängigkeit des Kindes durch ihren Einfluß erdrückt hatten, ersetzt nur die frühere Abhängigkeit durch eine neuere.1)

 

Doch schon zwei Sätze weiter wird Freud seinen edlen Absichten untreu, wenn er schreibt: »Manche Neurotiker sind so infantil geblieben, daß sie auch in der Analyse nur wie Kinder behandelt werden können.« Damit öffnet er jeder Form des Mißbrauchs Tür und Tor, und zwar unter dem Vorwand, daß unter bestimmten Umständen »erzieherische« Maßnahmen notwendig seien.

Die meisten Therapeuten glauben, daß die Schwierigkeiten, derentwegen die Patienten sie konsultieren, keine sozialen Ursachen haben, sondern selbsterzeugt sind und daß die Patienten wenigstens zum Teil für die Unzufriedenheit verantwortlich sind, die sie empfinden. Oft wird der Therapeut erklären, daß er nicht in der Lage ist, die Gesellschaft oder die Vergangenheit eines Patienten zu verändern und er auch nicht in das Leben des Patienten eingreifen kann. Was der Therapeut behauptet anbieten zu können, ist sein Verständnis. Aber dieses Angebot besagt auch, daß der Therapeut sich in das Innenleben des Patienten einfühlen kann und begriffen hat, wodurch der Patient in die Lage geraten ist, die ihn unglücklich gemacht oder seine Unzufriedenheit intensiviert hat.

Das ist der Boden, auf dem tiefgreifende und dauernde Mißverständnisse entstehen können, und das wiederum führt zu einer Intensivierung der seelischen Leiden. Das ist eines der Gebiete, auf denen die Psychotherapie aufhört, eine harmlose Freizeitbeschäftigung zu sein, und beginnt, bedrückend auf den Patienten zu wirken.

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Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Bis vor kurzem haben fast alle Fachleute die Existenz des sexuellen Mißbrauchs von Kindern bestritten. Die Pädiatrie, die Psychoanalyse, die Psychiatrie, die Psychologie, die Sozialarbeit und Therapien aller Schulen waren bis in die letzten Jahre nicht bereit, das Vorhandensein und das Ausmaß des sexuellen Mißbrauchs von Kindern anzuerkennen. Wenn diese Leute sich heute als Experten für die Heilung eines Zustandes ausgeben, dessen Vorhandensein sie nur widerwillig und viel zu spät erkannt haben, dann ist das nicht sehr vertrauenerweckend.

Wie von den Angehörigen anderer Berufe könne man auch von den Therapeuten kein überdurch­schnitt­liches Verständnis für soziale Gerechtigkeit erwarten, wird argumentiert. Ich bin allerdings durchaus bereit zu glauben, daß es einzelne Therapeuten gibt, die empört über die soziale Ungerechtigkeit sind, die sie erleben. Aber hat irgendeine Gruppe von Psychotherapeuten jemals laut gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern protestiert? Hat Freud es getan? Wir wissen, daß er nicht bei seiner 1896 geäußerten Meinung geblieben ist, in ihrer frühen Kindheit sexuell mißbrauchte Frauen würden die Wahrheit sagen. 1903 hat er diese Behauptung zurückgenommen. Ebenso bedeutungsvoll erscheint mir die Tatsache, daß er 1932, als er seine letzte Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse2 herausbrachte, kein Wort über den politisch immer mächtiger werdenden Faschismus verloren hat. Sebastiane Timpanaro äußert sich in The Freudian Slip sehr zutreffend zu diesem Thema:

Auch in seiner letzten Vorlesung, in der er sich mit obskurantistischen oder vermeintlich progressiven »Weltanschauungen« auseinandersetzt, sagt er kein einziges Wort gegen den Faschismus, der in Italien und Ungarn an die Macht gekommen war, gegen den klerikalen Faschismus von Seipel und Dollfuss in Österreich oder gegen den Nationalsozialismus, der in Deutschland kurz vor der Machtergreifung stand.

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Als die Wähler in Berkeley, Kalifornien, 1982 ein Verbot des Elektroschocks durchsetzten, hat sich keine einzige Gruppe, die als Vertretung irgendeiner Form der Psychotherapie angesehen werden kann, öffentlich für dieses Verbot ausgesprochen, obwohl viele Psychotherapeuten mir privat gesagt haben, wie entsetzt sie darüber sind, daß diese in weiten Kreisen als unwirksam abgelehnte Technik immer noch angewendet werde.

Wie sogar einige seiner überzeugtesten Anhänger heute zugeben, war C. G. Jung bereit, mit der national­sozialistischen Psychiatrie in Deutschland zusammenzuarbeiten und hat sich antisemitisch über die »jüdische Psychotherapie« geäußert. Später hat er wenig überzeugend behauptet, er habe dies in der Hoffnung getan, sie damit am Leben erhalten zu können. Als die argentinische Regierung einige politisch aktive Psychoanalytiker einsperrte und folterte, war das psychoanalytische Institut, dem sie angehörten, nicht bereit, sie zu verteidigen. Vielleicht hat das daran gelegen, daß man sich zu sehr fürchtete. Doch wie läßt sich dann die Tatsache erklären, daß der Dachverband, die International Psycho-Analytic Association, obwohl er von einigen politisch wachsamen Kollegen dazu aufgefordert wurde, keine öffentliche Stellung bezog und keinen Protestbrief an die argentinische psychoanalytische Gesellschaft oder die argentinische Regierung schrieb?

Das beschämende Verhalten der Psychiater im Rahmen des Euthanasieprogramms in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs ist in einem jüngst erschienenen niederschmetternden Buch von Lenny Lapon untersucht worden, einem politisch denkenden Mann, der selbst in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden war. Was er über die Mass Murderers in White Coats: Psychiatrie Genocide in Nazi Germany and the United States zu sagen hatte, war so unpopulär, daß Lapon sein Buch im Selbstverlag herausbringen mußte.

Susan Brownmiller hat in ihrem 1975 erschienenen Buch Against Our Will gezeigt, daß die Einstellung der Psychiatrie zur Vergewaltigung ein Klima geschaffen hat, in dem erst die Entstehung der Frauenbewegung in den 70er Jahren dazu geführt hat, eine weite Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß in von Männern beherrschten Gesellschaften überall Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind. 

Hatte nicht die einflußreiche Psychiaterin und Psychoanalytikerin Helene Deutsch in ihrem zweibändigen Buch Die Psychologie der Frau geschrieben: »Gerade die Vergewaltigungsphantasien tragen oft so sehr den Stempel der Wahrheit, daß bei Gerichtsverhandlungen, in denen hysterische Frauen unschuldige Männer der Vergewaltigung bezichtigen, auch die erfahrensten Richter irregeführt werden.«3)

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Gibt es in der Psychotherapie Wertvorstellungen, die, wenn auch stillschweigend, angesichts von Ungerechtig­keiten ein passives Verhalten verlangen? Handelt es sich bei den eben angeführten (und bei den in den folgenden Kapiteln untersuchten) Beispielen nur um zufällige Entgleisungen? Ich fürchte, nein.

Das Beschuldigen des Opfers (blaming the Victim), das Thema einer glänzenden sozialen Analyse in einem Buch gleichen Titels von William Ryan, das 1971 erschienen ist, kann man als das besondere Kennzeichen der Psychotherapie bezeichnen. Die für die Psychotherapie maßgebenden Wertbegriffe hindern uns daran, gründlich und gewissenhaft über die Ursprünge menschlichen Leidens nachzudenken.

Die Werkzeuge der Psychotherapie sind Deutungen und Einsicht. Aber die Einsicht des einen kann die Uneinsichtigkeit des anderen sein. Der Ausdruck »Einsicht« wurde zuerst in der deutschen Psychiatrie verwendet, in der man von der »Krankheits­einsicht« sprach. Damit war das Erkennen der Krankheit durch den Patienten gemeint. Wenn ein Patient sagte, »ich bin krank«, dann befand er sich nach Auffassung der Therapeuten schon auf dem Wege der Besserung. Mit anderen Worten, der Heilungsvorgang begann, sobald die in der Gesellschaft geltende Definition der Krankheit persönlich akzeptiert wurde. 

Wie der Leser sehen wird, würde man das, was der deutsche Arzt im 19. Jahrhundert als »krank« bezeichnete, heute »unabhängig« nennen. »Moralisches Irresein« war die Diagnose, die am häufigsten einer jungen Frau gestellt wurde, die nicht bereit war, ihre untergeordnete Rolle in der Gesellschaft zu akzeptieren. Die gleichen Kriterien gelten auch heute noch in den psychiatrischen Institutionen, wo ein Patient oder eine Patientin nicht entlassen werden kann, bevor er oder sie bereit ist zuzugeben, daß die Unterbringung in dieser Anstalt aus gutem Grund erfolgt sei.

Wenige tapfere Persönlichkeiten haben, wie Janet Gotkin in ihrem Buch <Too Mach Anger, Too Many Tears>, die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes erkannt und gesehen, wie die Wahrheit damit auf den Kopf gestellt wird: Die wirklich »Gesunden« sind diejenigen, die die falschen Vorstellungen von der Psychiatrie in den psychiatrischen Anstalten durchschauen.

Doch während einige Therapeuten für eine solche Haltung Verständnis zu haben scheinen, wenn man mit ihnen über die Rolle der psychiatrischen Anstalten spricht, sind sie weniger »einsichtsvoll«, wenn die Kritik ihre eigene Arbeit betrifft. Den Schülern Freuds unter den Analytikern fällt es schwer, ihre eigenen psychoanalytischen Vorurteile kritisch zu betrachten.

 

Wenn irgend jemand einmal als »geisteskrank« abgestempelt ist, aber auch angesichts der Ablehnung seiner Person durch die Gesellschaft mutig seinen Standpunkt vertritt, wird dieser Mut von den Therapeuten als ein weiterer Beweis seiner Krankheit angesehen. Die Psycho­therapie pflegt auch heute noch das Erbe ihrer Vorgänger: Sie bleibt eine Einrichtung, die den ihr ausgelieferten Menschen die persönliche Freiheit nimmt.

Die Psychotherapie ist ebensowenig immun gegen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Druck wie irgendeine andere Berufsgruppe. Der Zweck dieser Untersuchung der Grundlagen der Psychotherapie es, zu zeigen, daß die anmaßende Haltung der Psychotherapeuten nicht zufällig entstanden ist. Es liegt im Wesen der Psychotherapie, daß sie den Anschein erwecken muß, für diejenigen, die ihre innersten Gefühle des Leidens und des Kummers zum Ausdruck bringen wollen, eine objektive, verständnisvolle und menschliche Atmosphäre zu schaffen. Das Tragische ist, daß dieses legitime Bedürfnis vom »Fachleuten« ausgebeutet wird, die behaupten, etwas bieten zu können, was sie nie besessen haben. Das geschieht natürlich in bester Absicht.

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