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8  Das Problem mit der menschlichen Güte

Carl Rogers und die humanistische Psychologie

  Anmerk   

 

229-250

Nach Rosen, Honig und den Therapeuten, die ihre Patienten sexuell mißbrauchen, wird uns Carl Rogers aufatmen lassen und wie die Güte selbst erscheinen. Skandale wie die aus den vorigen beiden Kapiteln wird der Leser hier vergeblich suchen. Dennoch müssen wir auch die Arbeit von Rogers kritisch betrachten. Um einen zwar nicht ganz zutreffenden, aber doch vielleicht anschaulichen Vergleich aus dem politischen Leben anzustellen, dürfen wir sagen, daß ein gutartiger Despotismus zu besseren politischen Verhältnissen führt als ein bösartiger, wie wir ihn unter Hitler erlebt haben, aber es bleibt Despotismus, und er gründet sich notwendigerweise auf das gleiche Fundament.

Der vielleicht bekannteste Kritiker der Psychiatrie ist Thomas Szasz. Er hat seine Kritik jedoch nicht auf die Psychotherapie ausgeweitet. Ganz im Gegenteil. Er glaubt, daß die Psychiater zu wenig Psychotherapie praktizieren; wenn sie sich mehr für die Psychotherapie interessierten, würden sie bessere Erfolge haben. In dem Vorwort eines kürzlich erschienenen Buchs, in dem er diese Auffassung vertritt, sagt er am Schluß:

»Die echte Psychotherapie — das soll heißen die humane und dem Gleichheits­gedanken verpflichtete <Seelenheilkunde> im Gegensatz zu der herablassenden, sich väterlich gebärdenden Psychiatrie oder der anmaßenden Pseudowissenschaft der Psychoanalyse — wird auch künftig nicht von der amerikanischen Szene verschwinden.«1)

Dem Glauben an den »menschlichen« Wert der Psychotherapie im Gegensatz zu ihrem medizinischen Mißbrauch verdankt Carl Rogers mehr als jedem anderen. Die große Bedeutung von Carl Rogers, der im Februar 1987 im Alter von 85 Jahren starb, auf dem Gebiet der Psychotherapie wird praktisch überall anerkannt. 

So heißt es zum Beispiel in dem viel zitierten Buch Psychoanalysis and Psychotherapy: 36 Systems von Robert A. Harper2)

»Das erste wirklich allgemein anerkannte System der Psychotherapie, das seine Wurzeln fast ausschließlich in der amerikanischen Psychologie hat (im Gegensatz zu der in Europa entwickelten Psychiatrie), wurde zunächst als nicht-direktive Beratung und in neuerer Zeit als klientenzentrierte Therapie bezeichnet. Der Begründer und hervorragendste Vertreter dieses System ist Carl Rogers.«

Die Arbeit von Rogers hat sich auch auf vielen anderen Gebieten ausgewirkt. So schreibt Richard Farson:

Fachleute auf den Gebieten der Erziehung, der Religion, der Krankenpflege, der Medizin, der Psychiatrie, der Gerichtsbarkeit, des Geschäftslebens, der Verwaltung, der öffentlichen Gesundheitspflege, der inneren Sicherheit, der Rassenbeziehungen, der Sozialarbeit — und die Liste könnte noch sehr viel länger sein —, sie alle sind zu der Überzeugung gelangt, daß man hier endlich eine Methode gefunden hatte, die es ermöglicht, die bisher vernachlässigte menschliche Dimension in den jeweiligen Arbeitsbereich einzubeziehen, um die Menschen zu erreichen, für die sie sich verantwortlich fühlten, denen sie jedoch oft bisher nicht helfen konnten.3)

Carl Rogers war Professor für Psychologie an der Universität von Chicago, Präsident der Amerikanischen psychologischen Gesellschaft (die ihm mehrere Auszeichnungen verlieh, unter anderem den <Distinguished Scientific Contribution Award> und den <Distinguished Professional Contributor Award>) und Fellow der amerikanischen Akademie für Kunst und Wissenschaft. Nachdem er 1963 seinen Lehrauftrag als Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Universität von Wisconsin zurückgegeben hatte, gründete er in La Jolla, Kalifornien, das <Center for the Study of the Person>. Seine Bücher haben auf die amerikanische Kultur und insbesondere auf die Psychotherapie einen wesentlichen Einfluß ausgeübt.4)

Rogers wird gemeinsam mit Rollo May und Abraham Maslow als der Mann angesehen, der in den 60er Jahren die humanistische Psychologie begründet hat (die »dritte Kraft« im Unterschied zur Psychoanalyse und zum Behaviorismus), und er war eine der führenden Persönlichkeiten in der sogenannten »Bewegung zur Entdeckung des menschlichen Potentials«.


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In den Augen fast aller Therapeuten, mit denen ich gesprochen habe, ist Carl Rogers der Repräsentant einer Richtung, die im direkten Widerspruch zu den von John Rosen oder Albert Honig praktizierten Methoden steht. Viele haben mir gesagt, seine Methode entspreche dem, was die Psychotherapie eigentlich sein sollte. Es gibt keine Horrorgeschichten ehemaliger »Klienten« von Carl Rogers. Eine genauere Betrachtung einiger seiner Ideen über die Psychotherapie wird dem Leser trotzdem verdeutlichen, welche Gefahren die Psychotherapie nach meiner Ansicht in sich birgt, gleichgültig, wie menschenfreundlich sie sich geben mag und wie weit sie davon entfernt ist, Menschen zu mißhandeln oder zu mißbrauchen.

Es läßt sich nicht bestreiten, daß Rogers mit gewissen unangenehmen Begleitumständen Schluß gemacht hat, die sich daraus ergeben, daß der Therapeut gegenüber seinem Patienten als Autorität auftritt. So bestand er zum Beispiel darauf, das Wort »Patient« durch das Wort »Klient« zu ersetzen, das, weil es kaufmännischer klingt, der Wirklichkeit näherkommt. Er nannte seine Methode »klientenzentriert« oder »personenzentriert« oder »nicht-direktiv« und vermied es, sich als Facharzt oder Spezialist zu bezeichnen. Er verlangte, daß jedem dafür Begabten der Zugang zur Ausbildung in der Psychotherapie offen sein müsse und diese Ausbildung sich nicht auf Akademiker beschränken dürfe, lehnte alle in der Diagnostik üblichen Krankheitsbezeichnungen ab, besonders das »medizinische Modell der Geisteskrankheit«. Er war gegen alle Formen der Manipulation im Rahmen der Therapie. Allerdings müssen wir erst noch feststellen, ob diese Modifizierungen an der essentiellen Unausgewogenheit in der Machtbeziehung und an den wesentlichen Schwächen in der Theorie der Therapie etwas geändert haben.

Rogers hat in vielen Veröffentlichungen behauptet, für eine erfolgreiche Therapie gebe es drei absolut unverzichtbare Voraussetzungen:

Das erste und das allerwichtigste ist die Übereinstimmung des Therapeuten mit seinem Klienten, seine Aufrichtigkeit — seine Fähigkeit, im Umgang mit den Klienten wirklich menschlich zu sein. Das zweite ist die Fähigkeit des Therapeuten, den Klienten als selbständige Person zu akzeptieren, ohne ihn zu beurteilen oder zu bewerten. Es ist eine bedingungslose Akzeptanz — ich kann dich so akzeptieren, wie du bist. 


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Die dritte Voraussetzung ist das aufrichtige und mitfühlende Verständnis... Der Klient muß wissen, daß er es mit einem wirklichen Menschen zu tun hat, der ihn akzeptiert und ein sensibles Verständnis für ihn hat, der genau weiß, welches Bild sich der Klient von der Welt macht - ein solches Verständnis scheint die Menschen voranzubringen.5

Wenn wir jedoch diese Voraussetzung prüfen, stellen wir fest, daß sie nur deshalb zu verwirklichen sind, weil die Situation in der Therapie eine künstliche ist. Gerade weil der Klient nur eine begrenzte Zeit mit dem Therapeuten zusammen ist (einmal wöchentlich weniger als eine Stunde), kann der Therapeut (theoretisch — ob es wirklich geschieht, ist etwas anderes) auf eine Beurteilung des Klienten verzichten.

In Wirklichkeit ist der Therapeut im Umgang mit dem Klienten nicht vollkommen menschlich, denn wenn er es wäre, würde er auf den Klienten ebenso reagieren wie auf andere Menschen im täglichen Leben, die er mit Sicherheit nicht »bedingungslos akzeptiert«, bei denen er nicht darauf verzichtet, sie zu beurteilen, und denen er auch kein wirkliches mitfühlendes Verständnis entgegenbringt. Wir »akzeptieren« nicht jeden, der uns begegnet. Vielmehr beurteilen wir unsere Mitmenschen ständig, lehnen einige ab, vermeiden den Umgang mit anderen (sie verhalten sich uns gegenüber ebenso), und wir tun das aus guten Gründen. Kein Mensch tut im täglichen Leben die Dinge, die Rogers hier verlangt. Wenn es also dem Therapeuten gelingt, sich in einer therapeutischen Sitzung so zu verhalten, und wenn er den Eindruck erweckt, seinen Klienten zu akzeptieren und zu verstehen, dann ist das nur ein Kunstgriff; es ist nicht die Wirklichkeit. Ich will damit nicht sagen, daß der Klient eine solche Haltung nicht als hilfreich empfindet, aber wir sollten erkennen, daß der Therapeut dabei eine bestimmte Rolle spielt. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was Rogers als das zentrale Element seiner Therapie bezeichnet: Es ist keine Aufrichtigkeit.

Rogers glaubte, die Bindungen, die sich zwischen ihm und seinen Klienten gebildet hatten, seien zu motivierenden Kräften in ihrem Leben geworden. Aber diese Behauptung widerspricht den von ihm verkündeten Theorien (und, nach dem, was ich gelesen habe, auch seinem Leben, denn er hat sich geweigert, die Rolle eines Guru zu übernehmen, obwohl man ihm oft die Gelegenheit dazu geboten hat).


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Als er zum Beispiel gefragt wurde, was er von der These des Psychiaters Thomas Szasz über »den Mythos von der Geisteskrankheit« hielte, beantwortete Rogers diese Frage mit einer Anekdote über einen Klienten, der mit der Diagnose »schizophrene Reaktion — einfacher Typus« in eine Nervenklinik eingeliefert worden war. Rogers besuchte ihn etwa eineinhalb Jahre lang zweimal wöchentlich in der Klinik. Bei diesen Besuchen wurde kaum etwas gesprochen. Einige Jahre später rief der Klient Rogers an und sagte ihm, er sei aus der Klinik entlassen worden, und es ginge ihm gut. Rogers schreibt dazu:

War nun dieser Mann schizophren? Ich weiß es nicht. Er hatte Schwierigkeiten und war nicht in der Lage, den Anforderungen der Gesellschaft zu genügen. Das standfest. Was ihn von diesen Schwierigkeiten befreite, war nach meiner Ansicht die Tatsache, daß wir eine enge Beziehung von Mensch zu Mensch herstellen konnten. (S. 95)

Rogers hatte diesen Mann acht Jahre nicht gesehen. Er wußte nicht, was er während dieser Zeit getan und mit wem er Kontakt gehabt hatte. Trotzdem nahm er für sich in Anspruch, mit seiner Heilmethode den gewünschten Erfolg erzielt zu haben. Offensichtlich hatte er nichts getan, um dem Mann zu helfen, damit er aus der Nervenklinik entlassen werde. Und doch konnte er im Brustton der Überzeugung behaupten, die Beziehung zu ihm sei der entscheidende Faktor gewesen, der diesem Mann geholfen habe. Die Beziehung war nicht nur völlig einseitig, sondern die hier gegebene Darstellung erfolgt ausschließlich aus der Sicht des Therapeuten. Und wir werden aufgefordert zu glauben, daß andere Faktoren im Leben dieses Mannes unmöglich eine so entscheidende Rolle gespielt haben können wie diese angeblich »echte« Beziehung. Der Therapeut nimmt also sein Heilverfahren außerordentlich ernst.

Wollen wir uns nun ansehen, wie Rogers seine Ideen in einem seiner bekanntesten Aufsätze darstellt:6)

Um eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung herbeizuführen, ist es notwendig, daß die folgenden Voraussetzungen gegeben sind und über einen gewissen Zeitraum bestehen bleiben:


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1. Zwei Personen sind in einem psychologischen Kontakt.

2. Die erste, die wir als den Klienten bezeichnen wollen, befindet sich in einem Zustand der Disharmonie, ist verwundbar oder beunruhigt.

3. Die zweite Person, die wir als den Therapeuten bezeichnet wollen, ist ausgeglichen oder in die Beziehung integriert.

4. Der Therapeut hegt für den Klienten bedingungslose und positive freundschaftliche Gefühle.

5. Der Therapeut hat ein einfühlendes Verständnis für den inneren Bezugsrahmen des Klienten und bemüht sich darum, ihn diese Tatsache spüren zu lassen.

6. Die Kommunikation des einfühlenden Verständnisses und der bedingungslosen positiven Gefühle des Therapeuten gegenüber dem Klienten ist bis zu einem Mindestmaß gelungen Weitere Voraussetzungen sind nicht notwendig. Wenn diese sechs Vorbedingungen gegeben sind und über einen gewissen Zeitraum bestehen bleiben, genügt das. Die konstruktive Persönlichkeitsveränderung wird folgen.

 

Es gibt keinen Grund zu glauben, daß ein Therapeut, irgendein Therapeut, sich unbedingt mehr in die Beziehung zu seinem Klienten »harmonisch integriert« fühlt als in irgend eine andere Beziehung. Rogers erklärt, was er im einzelnen damit meint:

Die dritte Vorbedingung ist, daß der Therapeut im Rahmen dieser Beziehung ein harmonischer, ehrlicher und integrierter Mensch ist. Das bedeutet, daß er innerhalb der Beziehung frei und zutiefst er selbst ist, wobei seine innere Erfahrung zutreffend durch das Bewußtsein seiner selbst wiedergegeben wird. Im Gegensatz zum Aufbauen einer Fassade sei es bewußt oder unbewußt.

Welche Garantie kann es dafür geben, daß irgendein Therapeut eine so offene und ehrliche Persönlichkeit ist, wie Rogers es verlangt? Die bedingungslose positive Einstellung, die der Therapeut gegenüber dem Klienten haben soll, ist etwas, das sich ebensowenig erzwingen läßt wie die Liebe. Wir können diese Gefühle nicht auf Kommando entwickeln; entweder sind sie da, oder sie sind nicht da. Und die bloße Tatsache, daß jemand hilfesuchend zu einem gekommen ist, bedeutet an sich noch nicht, daß man diesen Menschen lieben wird.


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Die »bedingungslose Zuwendung« ist weder wahrscheinlich noch wünschenswert. Warum sollte ein Therapeut, der einen Menschen behandeln soll, der Frauen brutal vergewaltigte oder Kinder ermordete, seine bedingungslos positiven Gefühle entgegenbringen? Oder einem Mann, der seine Frau mißhandelte? Was Rogers verlangt, ist eine Haltung, die in der Psychotherapie schon seit langer Zeit gefordert wird: die Empathie.

Die fünfte Voraussetzung ist, daß der Therapeut ein authentisches mitfühlendes Verständnis für das aufbringt, was der Klient von seinen eigenen Erfahrungen wahrnimmt. Die private Welt des Klienten so zu empfinden, als ob es die eigene wäre, aber ohne die Qualität des >als ob< aus dem Auge zu verlieren — das ist Einfühlungsvermögen, und dieses Einfühlungsvermögen ist eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie.

Für Rogers war eines der Zeichen dafür, daß der Klient Fortschritte macht, seine »zunehmende Fähigkeit, die bedingungslos positive Einstellung des Therapeuten zu erfahren, ohne dabei das Gefühl zu haben, bedroht zu werden.«7

Man beachte das Dilemma: Wenn der Klient das nicht fühlt, wenn der Klient das Gegenteil empfindet, daß nämlich der Therapeut ihn nicht mag, sondern verabscheut, dann ist das ein Zeichen dafür, daß der Patient noch nicht gesund ist, noch eine Defensivhaltung einnimmt und der Therapie Widerstand entgegensetzt, das heißt, er widersetzt sich der Wahrheit, die darin besteht, daß der Therapeut ihm gegenüber eine bedingungslos positive Haltung einnimmt. Doch was geschieht, wenn der Therapeut tatsächlich keine solchen positiven Gefühle hat? Wie soll der Klient darauf reagieren? Bei der von Rogers entwickelten Methode kann das nicht geschehen, weil sie eine solche negative Möglichkeit nicht vorsieht.

Auf dieses Problem der negativen Anschauung, des nicht Erkennens der Wirklichkeit, stoßen wir überall in den Theorien von Rogers. Die Geschichte der Psychologie lehrt uns jedoch, daß der Fähigkeit, das Innenleben eines anderen Menschen zu verstehen, in der Theorie mehr Beachtung zuteil geworden ist als in der Praxis. 

Die Geschichte der Psychologie (und der Psychiatrie) weiß von ungezählten Therapeuten, die völlig unfähig gewesen sind zu verstehen, was ihre Klienten ihnen sagten. 


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Ein gutes Beispiel dafür ist Freud mit seinem Mangel an Verständnis für die Probleme von Dora. So gibt es zahllose Frauen, die versucht haben, ihren Therapeuten davon zu überzeugen, daß sie tatsächlich mißhandelt worden sind (ob es sich nun um den sexuellen Mißbrauch in der Kindheit oder brutale Mißhandlungen durch den Ehemann handelt), während der Therapeut glaubte, das seien nur Wahnvorstellungen. 

Und bis in die 60er Jahre haben die Ärzte, und zwar sowohl die Kinderärzte als auch die Psychiater (und sehr viele Therapeuten) den Kindern nicht geglaubt, die ihnen erzählten, sie seien körperlich mißhandelt worden. Und die große Zahl ehemaliger stationär behandelter psychiatrischer Patienten, die über die erschreckenden Mißbräuche in den Irrenanstalten berichtet haben, sind auf den gleichen Unglauben gestoßen. Wenn ein solches Einfühlungsvermögen die wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist, dann fehlt es daran in besorgniserregender Weise in der ganzen Geschichte der Psychotherapie.

Ohne zu diesen wichtigen Punkten Stellung zu beziehen, kann der Therapeut nicht einmal ihre reale Existenz anerkennen, geschweige denn verstehen, was der Patient erlebt hat, der in dieser Weise mißhandelt wurde, und auch kein Mitgefühl für ihn entwickeln. Nirgends in seinen Schriften erkennt Rogers an, daß es solche Mißbräuche gibt, und mißt ihnen daher auch keinerlei Bedeutung zu. Und wie kann man feststellen, daß ein Therapeut tatsächlich Einfühlungsvermögen besitzt? Es ist doch absurd, wenn Rogers meint, man könne das Einfühlungsvermögen messen, wenn man »ausgebildete Richter die Tiefe und die Zuverlässigkeit des Einfühlungsvermögens des Therapeuten beurteilen läßt«.8)

Wer sollte solche Richter ausbilden? Und wer könnte das Einfühlungsvermögen der Richter beurteilen? Und müßten diese Richter nicht bei jeder Sitzung zugegen sein, um sich ihr Urteil zu bilden? Und was würde der Richter tun, wenn er dem Einfühlungsvermögen eines bestimmten Therapeuten eine schlechte Note geben müßte?

Es ist klar, daß Rogers die Vorstellung hatte, ein guter Therapeut müsse auch ein guter Freund sein. Wir alle wissen, wie schwer es ist, gute Freunde zu finden, und daß man sie nicht kaufen kann. Aber Rogers scheint geglaubt zu haben, daß ein Therapeut nur deshalb, weil er behauptet, ein guter Freund zu sein, sogar automatisch ein besserer Freund ist als ein wirklicher Freund:


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Es wird sich zeigen, daß viele gute Freundschaften zumindest für kurze Zeit die sechs Bedingungen erfüllen. Aber gewöhnlich gilt das nur für den Augenblick, und dann geht das Einfühlungsvermögen verloren, die positive Einstellung wird an Bedingungen geknüpft, oder die Ehrlichkeit des Freundes, der zugleich die Aufgabe des Therapeuten übernehmen soll, wird zum Teil von einer Fassade oder einer defensiven Haltung verdeckt.9

Hier nimmt Rogers an, daß Freunde sich normal verhalten werden. Manchmal mögen sie einen und manchmal nicht. Er glaubt jedoch, daß der Therapeut seinen Klienten immer mag und stets aufrichtig und nicht defensiv ist. Was im wirklichen Leben unmöglich erreicht werden kann, gehört angeblich automatisch zum Handwerkszeug des guten Therapeuten. Das ist nach meiner Meinung eine allzu optimistische Betrachtungsweise. Rogers zeigt diesen Optimismus auch, wenn er schreibt:

Schließlich kann diese Forderung auch in den Programmen — im Bereich der Erziehung, der Rehabilitation, der militärischen Ausbildung oder in der Industrie —, welche die Persönlichkeitsstruktur und das Verhalten des einzelnen konstruktiv verändern wollen, versuchsweise als Kriterium dafür dienen, den Wert eines solchen Programms zu beurteilen.10)

Glaubte Rogers wirklich, daß man beim Militär und im Strafvollzug »konstruktive Persönlichkeitsveränderungen« bewirken will? Es zeigt seine zutiefst optimistische Haltung, wenn er schreibt, er erwarte, daß diese denkbar repressivsten Institutionen fähig seien, dem Widerspruch mit echtem Einfühlungsvermögen zu begegnen. Und was er »konstruktive Veränderungen« nennt, ist ein Allerweltsbegriff, mit dem sich auch die abstoßendsten Methoden beschreiben lassen, mit denen dem Individuum die Persönlichkeitsrechte und die Freiheit genommen werden.

Solche Vorstellungen waren zweifellos ein integrierender Bestandteil im Denken von Carl Rogers. In einem 1986 veröffentlichten Buch schreibt er:


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1969 habe ich einen Vortrag zu dem Thema <Die Persönlichkeit von morgen> gehalten und darin über die Merkmale der neuen, starken Persönlichkeit gesprochen, die sich in unserer Kultur entwickelt... Ich habe bis heute keinen Grund, an diesem Bild etwas Entscheidendes zu verändern. Man denke zum Beispiel nur an die erstaunlichen Veränderungen der Vorschriften über die Behandlung der Soldaten bei den Streitkräften... Wir verfügen über die Erkenntnisse und Fähigkeiten, dieses neue Amerika aufzubauen.11)

 

Rogers glaubte, in der Armee habe sich ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Viele von uns werden ihm kaum zustimmen können. Aber Rogers hielt an der Überzeugung fest, daß solche Veränderungen häufig vorkommen und leicht zu bewirken sind. Er hat sein ganzes Leben mit dem Versuch zugebracht, die Menschen im Rahmen einzelner Gruppen enger aneinander zu binden, und er muß überzeugt gewesen sein,, daß seine Bemühungen erfolgreich waren. (In den 80er Jahren hat Rogers zum Beispiel in Südafrika rassistische Weiße und zornige Schwarze in Diskussionsgruppen zusammengebracht, wie es sie in den Vereinigten Staaten gibt. Man muß sich nur fragen, was er auf die Dauer mit diesem Experiment bewirkt hat.)

In seiner Autobiographie spricht er von seinem »fortgesetzten Versuch, die Spannung zwischen Psychiatrie und Psychologie aufzuheben«.12)

Später sprach er von seinem »Ringen mit der Psychiatrie« und sagte:

Das sind die einzigen beiden Gelegenheiten, bei denen ich mich auf einen offenen Streit mit den Psychiatern eingelassen habe... Ich habe mich darum bemüht, die beiden Berufe bei der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels miteinander zu versöhnen ... 1957 ging ich an die Universität von Wisconsin, und ich bin glücklich, sagen zu dürfen, daß es mir im Rahmen meines Lehrauftrags für Psychologie und Psychiatrie gelungen ist, diese Gegensätze zu überwinden.13)

Aber was sagt das über das Ausmaß seiner Sorgen um die Ungerechtigkeit in der Psychiatrie aus? Konnte diese Ungerechtigkeit allein schon dadurch beseitigt werden, daß Carl Rogers einen doppelten Lehrauftrag erhielt? In »My Personal Growth« hatte er auch geschrieben:


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In diesen Jahren nach dem Krieg hat es große Veränderungen und Ausweitungen in der Psychologie gegeben, und ich habe mich selbst mit Erfolg an der Gestaltung der klinischen Ausbildung, der Gründung des American Bo...  Examiners in Professional Psychology und an dem fortwährenden Versuch beteiligt, die Spannungen zwischen Psychiatrie und Psychologie zu beseitigen. (S. 56)

Ein noch belastenderes Anzeichen dafür, daß Rogers bereit gewesen ist, den Überbau der Psychiatrie unverändert bestehen zu lassen, ist das von ihm herausgegebene und zum Teil verfaßte Buch The Therapeutic Relationship and Its Impact: A Study of Psychotherapy with Schizophrenics.14

Es ist der Bericht über eine Studie, an der mehr als zweihundert Psychiater über einen Zeitraum von fünf Jahren mitgearbeitet haben. Behandelt wurden 32 »chronische und akute schizophrene« Patienten am Mendota State Hospital bei Madison, Wisconsin. Zur Therapie fast aller dieser Patienten gehörten Elektroschocks oder Insulininjektionen, Rogers wählte diejenigen aus, die weniger als fünfzigmal behandelt worden waren (24). Er bezeichnete sie auf der ersten Seite seiner Einführung als die »gestörten, refraktären und apathischen Individuen, die von der Hand des Schicksals unter dem Namen >Wissenschaft< ausersehen waren, als das menschliche Material für die Studie zu dienen«. Mit anderen Worten, diese Menschen haben sich nicht freiwillig für die Studie zur Verfügung gestellt, sie wurden dazu gezwungen. Diesen Zwang nannte Rogers zunächst »die Hand des Schicksals« und dann, »Wissenschaft«. Und das war ebenso falsch. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, worum es hier ging, beschreibt Rogers den folgenden Musterfall aus diesem Forschungsprojekt:

Im Herbst 1958 wurde Miss Fas für das Forschungsprojekt ausgewählt. Neben ihr stand auch noch eine andere Versuchsperson zur Verfügung, aber schließlich ließ man das Los entscheiden, und Miss Fas wurde der vorgesehenen Therapie unterzogen. Die Behandlung begann im Dezember 1958. Testdaten und Forschungs­unterlagen wurden in drei- und sechsmonatlichen Abständen über sie, ihren Therapeuten und dessen Mitarbeiter gesammelt. Alle drei Monate wurde sie in einem ausführlichen Gespräch befragt, zwei solche Befragungen mußten allerdings ausfallen.


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Als 1961 eine Aufstellung der mit ihr vorgenommenen Tests erfolgte..., hatte sie im Lauf von mehr als 30 Monaten 57 Tests über sich ergehen lassen. Während dieser Zeit waren 238 therapeutische Kontakte mit ihr auf Tonband aufgenommen worden. Dabei war Miss Fas zeitweilig zur Zusammenarbeit bereit, häufiger indifferent und sehr oft aggressiv und ablehnend gewesen. Dabei hatte man sie abwechselnd in der geschlossenen Abteilung unter strenger Bewachung gehalten und dann wieder auf eine offene Station verlegt. Es gab Perioden, in denen sie deutlich Fortschritte machte, aber auch Zeiten, in denen sich ihr Zustand verschlimmerte. In jeder Phase ihres sich immer wieder verändernden Verhaltens wurde sie getestet, und die Ergebnisse dieser Tests wurden auf Tonband festgehalten. (S. 49-51)

Über die Bedeutung des Projekts schreibt Rogers folgendes:

Es zeigt die Erfahrung von zwölf Therapeuten — gewissenhaften und engagierten Mitarbeitern, die, jeder auf seine Weise, versuchten, mit ihren Klienten hilfreiche Kontakte aufzunehmen. Ihre Methoden unterschieden sich voneinander. Der eine sitzt zum Beispiel dreißig Stunden wie ein Buddha schweigend vor seiner Patientin, bevor sie beginnt, sich zu öffnen. Der andere sagt in einem Gespräch zum Beispiel, <ich werde mir diesen Unsinn nicht mehr länger anhören>. (S. XV)

Auch hier zeigt sich wieder, daß Rogers von Anfang an mit Vorurteilen an das Problem heranging. Da diese Leute »gewissenhafte, engagierte Mitarbeiter« waren, wurde alles, was sie taten, so aufdringlich, empörend oder unsinnig es auch sein mochte, automatisch als »hilfreich« interpretiert. So hat er zum Beispiel auch nichts dagegen einzuwenden, daß einer der Therapeuten sagt, »ich werde mir diesen Unsinn nicht länger anhören«. Rogers akzeptierte jede Haltung, vom Schweigen eines Buddha bis zur Direktheit eines Rosen. Obwohl manche behaupten, die Methoden von Rogers ließen sich mit der Therapie von Rosen nicht in einem Atemzug nennen, erfahren wir aus seinem Artikel »Some Learnings from a Study of Psychotherapy with Schizophrenics«, daß Rogers ausdrücklich bestätigt, Rosen gelesen zu haben. Außerdem schreibt er:15)

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Einige unserer Therapeuten gehen in ihrem Verhalten noch weiter. So gibt es besonders einen, der sich immer deutlicher mit der verborgenen und nicht erkennbaren Persönlichkeit in dem Schizophrenen verbündet und die Schutzschicht >zerschlägt< (die der Schizophrene um diese Persönlichkeit aufgebaut hat). In seiner Arbeit gibt es eine deutlich erkennbare Ähnlichkeit mit Rosen oder Whitaker. Er fühlt sich offensichtlich der sich verbergenden Persönlichkeit verbunden, kritisiert aber sehr heftig und manchmal sarkastisch die psychotischen Symptome, die Furcht vor der Enthüllung, die Abwehr und das Ausweichen (des Patienten).

Vielleicht hält er diese Methode zum Teil deshalb für wirksam, weil sie seinem eigenen Charakter entspricht. Wenn wir die Bandaufnahmen hören, die von den Gesprächen der Therapeuten in den einzelnen Gruppen gemacht worden sind, erweitern wir allmählich das Repertoire der Verhaltensweisen eines jeden einzelnen von uns im Umgang mit unseren psychotischen Klienten und eröffnen uns Möglichkeiten, der nicht motivierten Person die innere Entwicklung zu erleichtern. (S. 190)

John Rosen hätte das nicht besser sagen können. Im gleichen Artikel schildert Rogers die völlig verschied­enen Methoden der an dem Projekt beteiligten Therapeuten und behauptet, daß es im Grunde nicht darauf ankam, was sie taten, denn er hielt sie alle für tüchtige Leute:

So erreichen alle unsere so ganz verschiedenen Therapeuten auf völlig verschiedenen Wegen gute Ergebnisse. Bei dem einen ist die ungeduldige, sachliche Haltung, mit der er verlangt, daß die Karten auf den Tisch gelegt werden sollen, die wirksamste, weil er, wenn er sich so verhält, am ehrlichsten er selbst ist. Bei einem anderen ist es eine viel sanftere und deutlich warmherzige Art, weil sie dem Wesen dieses Therapeuten entspricht. Unsere Erfahrungen haben mich in meiner Auffassung bestärkt und bestätigt, da eine Persönlichkeit, die fähig ist, in diesem Augenblick ganz ehrlich sie selbst zu sein und zu zeigen, was in ihrem tiefsten Innern vorgeht, als Therapeut die besten Erfolge hat. Vielleicht ist dies das einzig Wichtige. (S. 186)


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Doch was ist über den sadistischen Therapeuten zu sagen, der sich offen als das zeigt, was er ist? Oder wie steht es um den nicht sehr hilfsbereiten, nicht sehr freundlichen oder nicht sehr empfindsamen Therapeuten? Natürlich behauptet Rogers, daß solche Therapeuten den nach seiner Methode ausgebildeten Mitarbeitern nicht vorkommen. Aber warum nicht? Die Methode von Rogers ist sicherlich auch deshalb so beliebt, weil es ganz einfach ist zu behaupten, ein Schüler von Rogers zu sein. Die der Arbeit von Rogers zugrundeliegenden Ideen sind einfach, unkompliziert — und es sind nur sehr wenige. Man kann sie in ein paar Stunden lernen. Robert Harper schreibt sogar in Psychoanalysis and Psychotherapy, wie sehr die Therapie von Rogers den Therapeuten gefällt, die sich eine kurze Ausbildungszeit wünschen:

Die klientenzentrierte Methode gefällt dem jungen, unsicheren, unerfahrenen künftigen Therapeuten, weil sie, wenigstens oberflächlich betrachtet, die einfachste ist. Der Therapeut braucht hier nicht viel über die Persönlichkeitsdiagnose und die Persönlichkeitsdynamik zu wissen und übernimmt keine wirkliche Verantwortung für die Führung des gestörten Klienten. Er ermutigt den Klienten nur, mehr er selbst zu sein; ergibt ihm Wärme und Akzeptanz als die Mittel, mit denen der Klient seine Selbstverwirklichung erreichen kann. Mit dem klientenzentrierten System kann jeder nachsichtige, warmherzige Mensch ohne weiteres Therapeut werden. (S. 83)16)

Vor allem dürfen wir nicht vergessen, daß diese Patienten, die von den Therapeuten als »chronisch Schizophrene« bezeichnet wurden, sich nicht freiwillig an dem Forschungsprojekt beteiligten, sondern gegen ihren Willen stationär in einer Anstalt behandelt wurden. Die meisten lebten schon seit Jahren in der Anstalt. Sie wurden zweimal wöchentlich behandelt, aber in den meisten Fällen geschah das im direkten Widerspruch zu den Wünschen dieser Patienten: »Der Therapeut konnte dem Patienten seine Gegenwart aufzwingen, ihn im Absonderungsraum besuchen (wenn der Patient dort festgehalten wurde) oder ihn mehr oder weniger gegen seinen Wunsch von den Pflegern in das Behandlungszimmer bringen lassen.« (S. 57) Hier gibt Rogers zu, daß Gewalt angewendet wurde, und zwar körperliche Gewalt, was, wie er wiederholt behauptet hat, in seiner Praxis niemals vorgekommen ist.


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In einem faszinierenden Kapitel mit der Überschrift »Die menschliche Seite der Forschung« gibt er etwas sehr Wichtiges zu, nämlich daß die meisten Patienten den Therapeuten aus einem ganz einfachen, logischen und menschlichen Grund nicht sehen wollten; sie fühlten sich als Versuchskaninchen mißbraucht, weil sie gezwungen wurden, unzählige psychologische Tests über sich ergehen zu lassen.

Eine Frau konnte die Tests nicht mehr ausstehen. Sie fühlte sich als Versuchskaninchen behandelt, erniedrigt und psychologisch nackt ausgezogen. Sie empfand jeden Test wie eine Operation — von der sie überzeugt war, daß sie sie nicht überleben werde. Es bedurfte der größten Anstrengungen nicht nur des Psychometrikers, sondern in diesem Falle auch des Therapeuten, sie dazu zu bewegen, diese »Tortur« über sich ergehen zu lassen. (S. 64)

Rogers wußte natürlich genau, daß seine »Klienten« diese »Behandlung« als einen gewaltsamen Eingriff in ihre Intimsphäre empfanden. Trotzdem setzte er sie fort, und man beginnt daran zu zweifeln, daß dies etwas mit der Hilfe zu tun hatte, die er diesen Menschen zu leisten glaubte. An anderer Stelle in seinem Buch sagt er einem Patienten: »Ich glaube, Sie wissen, daß ich Sie hier herausholen will. Ich würde mich freuen, Sie in der Stadt in meiner Praxis zu sehen. Ich kann es eigentlich nicht verantworten. Sie noch länger hierzulassen.« (S. 388) Das sind deutliche Worte, und ich habe keinen Grund daran zu zweifeln, daß Rogers sie ehrlich meinte. Aber so aufrichtig seine Gefühle auch sein mochten, in Wirklichkeit konnte Rogers, wie er selbst zugibt, keinen Patienten aus der Anstalt herausholen, und die Patienten, die sich dessen bewußt waren, ärgerte es mit Recht: »Als man sich im Lauf der Zeit der Tatsache bewußt wurde, daß der Therapeut administrativ nicht für seinen Klienten zuständig war, hatte das oft, zumindest vorübergehend, negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen beiden.« Ein Patient sagte Rogers: »Was hat es für einen Sinn, darüber zu sprechen, wenn Sie mich hier nicht herausholen können?« (S. 64-65) Das ist ein gutes Argument, aber es blieb wirkungslos, wenn es nur dem Therapeuten vorgetragen wurde. Und so zitiert Rogers einen Therapeuten, der


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Gefühlen Ausdruck verleiht, die alle unsere Therapeuten gelegentlich gehabt haben. Er sagte: »Ich habe hier gelernt, daß es nicht genügt, kooperative Therapeuten, wie wir es sind, mit den Patienten arbeiten zu lassen, wenn man erreichen will, daß diese Menschen aus den Anstalten entlassen werden. Mich hat es erschüttert zu sehen, mit welch stoischer Ruhe die Patienten den Status quo akzeptieren. Zunächst muß ich geglaubt haben, daß jede Neuerung auf dieser Station begrüßt werden würde, gar nicht zu reden von der stillen Hoffnung auf ein neues Leben, das wir diesen Menschen bieten könnten. Die Feststellung, daß der Patient die Möglichkeit, sich mit jemandem aussprechen zu können, so gleichgültig aufnimmt, verblüfft mich. (S. 68)

Noch verblüffender ist die Aussage des Therapeuten, der genau weiß, daß er den einzigen Wunsch, den der Patient hat, nämlich aus der Anstalt entlassen zu werden, nicht erfüllen kann. Das Annehmen des Status quo ist genau die Haltung, die den Therapeuten von ihren Patienten vorgeworfen wird. Es ist die Unfähigkeit der Therapeuten, wenn sie dem Verlangen des Patienten, nicht mehr eingesperrt zu werden, zustimmen. Wenn der zitierte Therapeut von der »Hoffnung auf ein neues Leben« spricht, dann versucht er damit nur, sein eigenes Fehlverhalten zu entschuldigen, denn er konnte diesen Patienten kein neues Leben bieten, sondern nur das gleiche Leben, dessen Sinn zudem noch von irgendeinem anderen interpretiert wird. Hätte es denn einem Sklaven etwas genützt, mit einem Soziologen über die Unmenschlichkeit der Sklaverei zu sprechen?

Wir müssen es Rogers zugute halten, daß er das Problem erkannt hat, aber wir müssen ihm auch vorwerfen, daß er nichts unternommen hat, um es zu lösen. Damit, daß er den Patienten anstelle der Freiheit seine Therapie angeboten hat, stellte er sich auf die Seite der Anstalt, die, wie er sagt, auf »eine lange und achtbare Geschichte« zurückblicken kann. (S. 69) Rogers behauptet, es sei ihm aufgrund vorher getroffener Vereinbarungen nicht möglich gewesen, die Entlassung der Patienten aus der Anstalt zu bewirken, aber wir können deutlich erkennen, daß er diese Vereinbarung getroffen hat, um seine eigenen Interessen (und dazu gehörte auch das Interesse an seinem Forschungsprogramm) zu schützen und nicht diejenigen der Patienten:


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Es entsprach unseren Auffassungen vom Sinn der Psychotherapie und einem Teil unserer Vereinbarungen mit der Klinik, daß die Therapeuten keine administrativen Zuständigkeiten oder Funktionen in der Klinik hatten. Daß wir uns jedoch an diese Grundsätze hielten, führte zeitweilig zu schweren Konflikten für die Therapeuten. Was tut der Therapeut, wenn er zu der Überzeugung gelangt, daß sein Patient viel zu lange in der Klinik festgehalten worden ist? Wie soll er sich verhalten, wenn dem Patienten, der verzweifelt um seine Unabhängigkeit ringt, die menschlichen Grundrechte vorenthalten werden? Wie kann der Therapeut reagieren, wenn sein Patient in der Klinik ein neues, freieres und unabhängigeres Verhalten zeigt und dieses Verhalten von den Pflegern nur als störend empfunden wird? Alles, was der Therapeut unternehmen kann, wird als störend empfunden werden. Wenn er sich für den Patienten einsetzt oder dafür kämpft, daß ihm seine Persönlichkeitsrechte gewährt werden, gerät er mit der Administration der Klinik in Konflikt, und sein Verhalten wird mit Sicherheit mißbilligt werden. (S. 69)

Es ist nicht wahr, daß alles, was der Therapeut unternehmen könnte, störend wirken würde. Rogers will sagen, daß sein Forschungsvorhaben gefährdet würde, sobald die Therapeuten die herrschenden Zustände nicht mehr schweigend hinnähmen, sondern in irgendeiner Weise die Initiative ergriffen. Wenn er sich für die Rechte der Patienten eingesetzt hätte, dann wäre das zweifellos von dem Personal in der Klinik mißbilligt worden. Aber ist das wirklich ein Grund, es nicht zu tun? Rogers konnte nur sagen, er habe sich vorher verpflichtet, nicht einzugreifen. Und die Klinik hat ihm auch nur deshalb erlaubt, in ihr zu arbeiten. Aber das bedeutet, daß er entweder bereit sein mußte, das Unrecht zu übersehen, das den Patienten angetan wurde, oder die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß er nichts dagegen unternahm, obwohl er die Notwendigkeit des Handelns erkannte. Da Rogers in seinem umfangreichen Buch keinen einzigen konkreten Fall beschreibt, in dem es zu Ungerechtigkeiten gekommen ist (obwohl er in dem zitierten Abschnitt pauschal sagt, das sei an der Tagesordnung gewesen), hat der Leser keine Vorstellung davon, was es für die Patienten bedeutete, in dieser bedrückenden Atmosphäre zu leben.


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So darf man auch vermuten, daß sich Rogers im Grunde genommen des Dilemmas gar nicht bewußt gewesen ist, das er behauptet erkannt zu haben. Er hat offenbar bewußt weggesehen, weil er wußte, daß er nichts dagegen unternehmen konnte, wie es auch nicht möglich ist, die grausame Behandlung von Tieren bei den Experimenten zu verhindern, in denen es um die »erlernte Hilflosigkeit« geht. Aber anders als diese Tiere oder die Patienten, die sich in einer Zwangslage befanden, wurde Rogers von niemandem gezwungen, nichts dagegen zu unternehmen. Er hätte auf die Weiterführung seines Forschungsprogramms verzichten können. Aber um das zu tun, hätte er bereit sein müssen, den grundsätzlichen Wert der Psychotherapie in Frage zu stellen. Und dazu war er natürlich nicht bereit.17)

Rogers wollte seine Therapie unter anderem auch deshalb in einer Klinik praktizieren, weil so oft gesagt worden war, sie eigne sich nur für mit ihrem Leben unzufriedene Angehörige des amerikanischen Mittelstandes. Wie viele leidenschaftliche Verfechter einer bestimmten Idee wollte Rogers den Wirkungskreis für seine Lehren erweitern. Nach Meinung vieler Therapeuten war es ihm gelungen zu zeigen, daß sich seine Methode auch für die Behandlung von »Schizophrenen« eignete. Der Psychiater Joel Kovel sagte zum Beispiel in seinem bekannten Buch A Complete Guide to Therapy: From Psychoanalysis to Behavior Modification, daß »die Therapie von Rogers für die Behandlung eines weiten Spektrums emotionaler Zustände angelegt ist. Man hat relativ normale Menschen ebenso nach diesem System behandelt wie schizophrene in psychiatrischen Kliniken.« Dann spricht er von den Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten und sagt: »Die Behandlung nach der Methode von Rogers wirkt dort am besten, wo der Patient nicht sehr weit oder sehr tief gehen muß — wie etwa der Student, für den es nur darauf ankommt, daß sich seine Nerven beruhigen —, oder wo er praktisch nicht dazu in der Lage ist - wie der chronische Schizophrene in einer psychiatrischen Klinik.«18)

Die Patienten am Mendota State Hospital lebten in einer bedrückenden Atmosphäre. Obwohl Carl Rogers wegen seines Einfühlungsvermögens und seiner Menschenfreundlichkeit bekannt war, konnte er das nicht erkennen. Wie hätte er sich sonst so leicht mit dem Zwang und der Gewalt abfinden können, die das tägliche Leben dieser Menschen beherrschten? Wie war es möglich, daß ihn das, was er hier sah, nicht berührte?


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In seinem Buch The Therapeutic Relationship and Its Impact oder in seinen späteren Schriften deutet nichts darauf hin, daß er in wirklich humaner Weise auf das Leiden reagiert hat, dem er in dieser großen staatlichen psychiatrischen Klinik begegnet ist. Die Lektüre der Schriften von Rogers wirkt so besänftigend, daß ich an die bekannte Definition denken mußte, die Psychotherapie sei der Vorgang, bei dem die Sanften die nicht Sanften lehren, sanft zu sein. Diese Reaktion ist ein Hinweis darauf, daß bei Rogers und seinen Schriften etwas fehlt, und das ist die Sensibilität für das wirkliche Leiden der Menschen. Beim Lesen der zahlreichen Krankengeschichten in den Büchern von Rogers war ich erstaunt, feststellen zu müssen, daß nichts über das Vorhandensein echter Traumata darin zu finden war. Obwohl Rogers die meisten psychoanalytischen Theorien ablehnt, hat er offenbar geglaubt, daß die »Schwierigkeiten«, wie er es nannte, nur im Inneren des Menschen entstehen und nicht durch Ereignisse in der realen Welt verursacht werden.

In einem der letzten Aufsätze von Rogers mit der Überschrift »Rogers, Kohut and Erickson: A Personal Perspective on Some Similarities and Differences« spricht er über den Gegensatz zwischen dem Versuch von Heinz Kohut, etwas über die frühe Kindheit seiner Patienten zu erfahren, und seiner eigenen Methode: 

»Wir können nie etwas über die Vergangenheit erfahren. Es gibt nur die gegenwärtige Vorstellung eines Menschen von der Vergangenheit. Auch die ausführlichste Krankengeschichte oder die vollständigste freie Assoziation über die Vergangenheit zeigt nur die jetzt gegenwärtigen Erinnerungen, <Tatsachen>, wie sie heute gesehen werden.

Wir lernen die Vergangenheit eines Individuums niemals kennen. Ich habe schon früher darauf hingewiesen, daß <die wirksame Realität, welche das Verhalten beeinflußt, immer nur die wahrgenommene Realität ist.> Wir können theoretisch von dieser Basis ausgehend arbeiten, ohne die schwierige Frage beantworten zu müssen, welches die wirklichen Kriterien der Realität sind.«19)

Diese Erkenntnis vermittelte er auch seinen Klienten, wie auch jeder Psychoanalytiker sein Weltbild seinen Patienten vermittelt. Das ist auch der Grund, weshalb solche Berichte in fast allen Krankengeschichten fehlen, obwohl im wirklichen Leben der behandelten Personen Traumata sehr häufig vorgekommen sind. Der Mangel an Verständnis für Grausamkeiten fällt einem besonders in einer Krankengeschichte auf, die Rogers in dem Buch The Therapeutic Relationship and Its Impact zitiert. 


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Ein Patient erzählt über seine Erlebnisse auf der Jagd und die Freude, die es ihm macht, Kaninchen zu töten:

Manchmal scheuche ich eines auf, und dann genügt es, wenn man nur ganz langsam weitergeht und unter die kleinen Erdhaufen schaut. Sie springen nur ein bißchen um ihre Löcher herum — (der Therapeut lacht) — es ist etwas dunkel in den Löchern, man bückt sich, schaut hinein und kann sie sehen — und oft nimmt man nur den Gewehrkolben und schlägt ihnen damit den Schädel ein. (S. 481)

Wie soll der Patient dieses Lachen des Therapeuten verstehen? Sicherlich soll es nur sein Einverständnis ausdrücken, seine Freude an diesem sadistischen Bericht. Aber der Therapeut beschäftigt sich nicht weiter mit dem Problem der Grausamkeit, weil er mit diesem Verhalten einverstanden ist. Dann erzählt derselbe Patient, wie er Kinder mißbraucht hat:

Nun, eben habe ich über die Zeit gesprochen, als ich sechzehn war. Ich habe immer eine Vorliebe für solche gehabt und hatte allerhand Beziehungen zu Schwulen. (Pause) Ich glaube, mein größtes Problem ist der Sex. Nun, als ich — sechzehn (Pause, er seufzt) — als ich sechzehn war, fing ich an — kleine Mädchen zu belästigen. Ich wollte ihnen nicht weh tun — ich habe ihnen auch niemals weh getan. (S. 486)

Wir erfahren nichts über die Reaktion des Therapeuten auf dieses ungewöhnliche Geständnis. Aber als Rogers den Psychiater Paul Bergman vom National Institute of Mental Health bat, zu dieser Aufzeichnung Stellung zu nehmen, sagte er: »Mich beeindruckt besonders der derbe, feste, <maskuline> Ton des Therapeuten.« (S. 489) Meint er damit vielleicht das derbe Lachen des Therapeuten? Der Psychiater O. Spurgeon English »meint, Smith (der Patient) gebe indirekt zu, daß er sich vor sexuellen Beziehungen mit Mädchen seines Alters fürchtet, >und daß er noch nicht so weit ist, das zu fühlem, daß der Therapeut ihn aber dazu bringen wird.« Aber niemand sagt ein Wort darüber, daß dieser Mann zugibt, er habe kleine Mädchen sexuell mißbraucht. Die Therapeuten weigern sich nicht nur, darauf einzugehen, wenn Patientinnen ihnen sagen, was sie erlebt haben, sondern sie wollen sich auch nicht damit beschäftigen, wenn der Mann, der Kinder sexuell belästigt, es ihnen gesteht!


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Andererseits ist Rogers häufig von anderen Therapeuten kritisiert worden, weil er die Gewohnheit hat, die Aussagen seiner Klienten mit anderen Worten, aber im gleichen Sinne zu wiederholen. Wenn man die von Rogers verfaßten Krankengeschichten liest, fällt einem diese Art des Wiederholens tatsächlich auf. Was Rogers in den meisten Fällen tat, war, daß er es vermied, dem Patienten eine Deutung der »tieferen Bedeutung« dessen zu geben, was der Patient oder die Patientin ihm gesagt hatten. 

Man muß Rogers irgendwie zugute halten, daß er in den Denkprozeß seiner Patienten nicht eingreifen wollte. Er wollte ihnen nur einen Spiegel vorhalten und bewußt machen, was sie ihm gesagt hatten. Doch dabei gibt es unüberwindliche Schwierigkeiten. Denn wenn es ein richtiger Spiegel gewesen wäre, hätte er das Gesagte wörtlich wiederholt, und der Klient hätte zweifellos erwidert, »das habe ich doch gerade gesagt« und das ständige Echo hätte ihn schließlich ermüdet. Und wenn er kein perfekter Spiegel war, dann mußte er absichtlich oder unabsichtlich die Worte seines Klienten, seinen Ton und den Kontext verändern und das Ganze so formulieren, wie er es brauchte. Das ist aber eine Form der Deutung und damit gerade das, was Rogers behauptete vermeiden zu wollen. Rogers benutzte andere Worte, veränderte den Kontext und gab dem tatsächlich Gesagten seinen eigenen Tonfall. Das tun wir alle. Aber der Therapeut behauptet, es nicht zu tun. Es gibt keimen Ausweg aus diesem Dilemma. Es liegt im Wesen der Therapie, die Wirklichkeit des anderen zu verzerren.

Wenn wir die Arbeit von Carl Rogers betrachten, finden wir nichts, was uns an die Exzesse erinnert, die wir bei einigen der anderen in diesem Buch erwähnten Therapeuten festgestellt haben. Er hat sich keine Mißhandlungen zuschulden kommen lassen, wie wir sie bei John Rosen oder Albert Honig gesehen haben. Zwar fehlten ihm die Tiefgründigkeit von Freud und die Empfindsamkeit von Ferenczi, aber er war trotzdem der Vertreter der »humanistischen« Psychotherapie, wie sie heute in den Vereinigten Staaten praktiziert wird. Er wurde von Laien und von seinen Kollegen in gleicher Weise geachtet. Die Universitäten lehren im Fach klinische Psychologie seine Ideen, und die Therapeuten machen reichlich Gebrauch davon. 

Die Fehler von Carl Rogers, die wir in diesem Kapitel untersucht haben, unterscheiden sich kaum von den Fehlern, die wir wahrscheinlich bei fast jedem Therapeuten feststellen können, der in den 80er Jahren irgendwo in diesem Lande arbeitete. Es sind nicht die Fehler der einzelnen Therapeuten, sondern die Fehler der Therapie als solcher. Sie werden sich durch keine Reform abschaffen lassen, weil sie zum Wesen der Psychotherapie gehören. Es gibt keine Schule der Psychotherapie, in der sie nicht vorkommen. Deshalb untersuche ich im letzten Kapitel kurz die wichtigsten Psychotherapieformen, die heute in den Vereinigten Staaten und in Europa praktiziert werden.

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