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9  Alternative Therapien  

   Anmerk

 

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Die von mir in den vorangegangenen Kapiteln kritisierten Fehler und Schwächen finden sich auch bei vielen anderen, bis jetzt noch nicht erwähnten Formen der Psychotherapie. Ich möchte nun einige verbreitete Behandlungs­methoden kurz untersuchen, um festzustellen, welche Gemeinsamkeiten es bei allen psycho­thera­peutischen Systemen gibt.

 

Die Familientherapie

Der Familientherapeut, der eine ganze Familie behandelt, übernimmt ebenso wie der Therapeut, der es nur mit einzelnen Patienten zu tun hat, die Rolle des Schiedsrichters, der die menschlichen Werte in jedem einzelnen Fall beurteilt. Ein Familientherapeut behandelt, wie der Name sagt, »kranke« Familien. Dabei ist es zunächst seine Aufgabe, diese »Krankheit« zu definieren. Oft bezeichnet der Therapeut ein Familien­mitglied als »krank«. In einigen Krankengeschichten über den Verlauf einer solchen Familien­therapie habe ich gelesen, daß jeweils die heranwachsende Tochter als »gestört« angesehen wurde. Nehmen wir jedoch an, daß das »gestörte« junge Mädchen das Opfer inzestuöser Belästigungen durch den Vater ist. Wird der Therapeut das erkennen? 

Angesichts der Tatsache, daß bis vor wenigen Jahren kein einziger Familientherapeut einen solchen Fall in der Fachliteratur beschrieben hat, ist es unwahrscheinlich, daß dieses echte und häufig vorkommende Problem jemals von einem Familientherapeuten berücksichtigt worden ist. Im Inhaltsverzeichnis des Journal of Marriage and the Family finden wir seit Beginn des Erscheinens dieser Zeitschrift bis 1969 keinen Hinweis auf das Problem »Gewalt«.1)

Soweit sich Familientherapeuten in jüngster Zeit der Tatsache bewußt geworden sind, daß es im Familien­leben häufig zu Gewalttätigkeiten kommt, neigen sie zu Auffassungen, die der Haltung entsprechen, die sie schon zu einer Zeit angenommen haben, als noch niemand erkannt hatte, welche Rolle die Gewalt im Familienleben spielt. Das heißt, sie neigen dazu, den Opfern (gewöhnlich den Frauen) die Schuld zu geben, oder sie bezeichnen diese Frauen als »unbewußte Verursacher« der Gewalt.2) Manchmal bestand die einzige Schuld der mißhandelten Frau darin, daß sie auf Armeslänge neben ihrem Mann stand.3)

Salvador Minuchin, einer der Begründer der Familientherapie, der auch noch heute von vielen als der hervor­ragendste Praktiker angesehen wird, hat kürzlich in einem Buch über einen typischen Fall von Kindes­mißhandlung in England berichtet:

Maria Colewell wurde am 25. März 1965 geboren. Als sie durch das Verschulden ihres Stiefvaters, William Kepple, in der Nacht vom sechsten zum siebten Januar 1973 starb, waren es noch 11 Wochen bis zu ihrem achten Geburtstag. Das ist der Anfang des Berichts des Untersuchungsausschusses, dessen Aufgabe es war zu ermitteln, in welcher Weise für das Kind Maria Colewell gesorgt und wie es beaufsichtigt wurde. Dieser Bericht wurde 1974 vom Stationery Office Ihrer Majestät in London abgedruckt.4)

Dieses kleine Mädchen ist ohne jeden ersichtlichen Grund von seinem Stiefvater durch Hunger und Schläge getötet worden. Als Maria starb, wog sie nur noch 35 Pfund, und der Arzt, der die Autopsie vornahm, sagte, er habe noch nie so schlimme Spuren der Mißhandlung gesehen wie in diesem Fall. Minuchin betrachtet dieses brutale Beispiel von Kindesmißhandlung aus der Perspektive des »Familiensystems« und bemüht sich deshalb, das Verhalten dieser Familie zu erklären (oder zu entschuldigen?): »Vielleicht haben die Kepples das Gefühl gehabt, in einer an Kafka erinnernden Welt zu leben, in der sie von Menschen umgeben waren, die ihnen etwas vorzuwerfen hatten.« (S. 151) 

Dann behauptet er, die Aussage eines Ausschußmitglieds ließe vermuten, der Stiefvater sei »durch die Einmischung des Staates in eine nach seiner Auffassung rein private Angelegenheit — das Aufziehen von Kindern — verwirrt gewesen«. Minuchin fährt fort: »Hat er damit, daß er die Kinder zwang, sich im Freien zu entleeren, zu dieser Situation Stellung nehmen wollen?« 

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Wer von seinen Interpretationen bis hierher noch nicht zutiefst beunruhigt ist, könnte es durch die folgenden werden. »Ist es möglich, daß er Maria geschlagen hat, um damit sein Verlangen nach Unabhängigkeit zum Ausdruck zu bringen?« (S. 154) Nehmen wir an, daß er recht hat, was hülfe das der kleinen Maria? Nehmen wir an, Maria hätte wie durch ein Wunder überlebt, würde ihr die Erklärung des Verhaltens ihres Stiefvaters durch einen Familientherapeuten etwas helfen? Der Versuch, ein so widerwärtiges und abstoßendes Verhalten mit psychologischen Begriffen zu erklären, wirkt moralisch anstößig. 

In der Familientherapie werden zahlreiche kulturell sanktionierte Auffassungen ins Spiel gebracht, als handle es sich um völlig neue Einsichten. Diese Auffassungen sind selten mehr als zeitbedingte Vorurteile. So erklärt zum Beispiel der Psychiater und Familientherapeut Ross Speck, wenn er eine Familie zu Hause aufsuche, eine für Familientherapeuten gängige Praxis, könne er die Symptome der »Krankheit« sofort erkennen:

In einem gutbürgerlichen Wohnzimmer steht immer ein weichgepolsterter Sessel, der für Papa freigehalten werden soll. Manchmal hat ein kleines Kind diesen Sessel mit Beschlag belegt, weil in einer gestörten Situation der Vater nicht die ihm zukommende Rolle als Elternteil spielt.5)

Hier handelt es sich um den von Speck so charakterisierten »weichen und passiven Vater, der auf seine Rolle in der Familie verzichtet«. Aber diese Aussagen von Speck sind nichts weiter als Werturteile. Wer sagt uns schließlich, daß »Weichheit« und »Passivität« Untugenden sind? Und selbst wenn sie es wären, kann das von einem Kind, das in einem Lehnsessel sitzt, bewiesen werden? Wie kann Speck so rasch den Unterschied zwischen »schwach« und »gütig« oder zwischen »passiv« und »geduldig« feststellen? Und wie kann Speck behaupten, er wisse, welche Rolle irgend jemand im Rahmen seiner Familie zu spielen habe? Und im übrigen, warum muß der weichgepolsterte Lehnsessel unbedingt der angestammte Platz des Vaters sein? Speck bringt hier nur seine eigenen Vorurteile und Meinungen zum Ausdruck und zwingt sie, als seien es wissenschaftliche Tatsachen, Menschen auf, die vielleicht ganz andere Wertvorstellungen haben.

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Die meisten Therapeuten übernehmen in der Familientherapie auch selbst eine aktive Rolle. Virginia Satir, eine Mitbegründerin der Familientherapie, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Patienten bestimmte Körperhaltungen einnehmen zu lassen:

Ich machte die Erfahrung, daß die Menschen, wenn ich sie bestimmte Körperhaltungen einnehmen ließ, häufig auch das empfanden, was diese Haltung ausdrückte. Wenn zum Beispiel jemand eine passive Haltung einnahm, fühlte er sich zunächst hilflos, wurde aber auch oft zornig.6)

Es ist allgemein üblich, daß der Familientherapeut den Weisen spielt und sich wie ein Guru verhält. Dieses Verhalten wird sogar in den Lehrbüchern empfohlen.7)

Was man in der allgemeinen Psychotherapie stillschweigend hinnimmt, wird hier lautstark zum Prinzip erhoben: Der Therapeut weiß es am besten, er darf in der Familientherapie auf jede gespielte Bescheidenheit verzichten und kühn Befehle erteilen. Manchmal erwartet man von den Therapeuten sogar die Entscheidung darüber, ob ein Kind bei den Eltern bleiben oder woanders in Pflege gegeben werden soll. Das führt in zunehmendem Maß dazu, daß sich die Therapeuten paradoxerweise aufführen wie die Zen-Meister: »Ein Junge, der zwanghaft in die Hosen machte, ungeachtet der Empörung der anderen Familienmitglieder und aller Verbote, hörte sofort damit auf, als der Therapeut ihm befahl, es wieder zu tun und ihm das Ergebnis zu bringen.«8)

Familientherapeuten halten sich für große Pragmatiker und glauben, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine sichere Basis zu haben. Viele von ihnen meinen, ihre Behandlungsmethoden sollten über die Familie hinaus auf die ganze Gesellschaft ausgedehnt werden. Aber die Vorstellung der Familientherapeuten über die Gesellschaft als Ganzes ist keine sehr profunde. Die »Realitäten«, für die sie glauben, Experten zu sein, sind in Wirklichkeit an der Oberfläche liegende Realitäten, die sie aus ihrer eigenen Kultur übernommen haben, ohne tiefer über ihre Bedeutung nachgedacht zu haben. In den Schriften der Familien­therapeuten gibt es keine Analyse von Klassen und Problemen wie Armut, Ungerechtigkeit und Hunger; traumatische Ereignisse wie Krieg, Vergewaltigung und Kindesmißbrauch werden nicht wahrgenommen.


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Die Familientherapie verdankt ihre Existenz der Tatsache, daß sie eine schwerwiegende Schwachstelle im Denken Freuds über das Wesen des Individuums festgestellt hat: Für Freud ist die Wirklichkeit auf das Innere des Menschen begrenzt, er läßt alle Einflüsse einer größeren, feindlichen oder gleichgültigen äußeren Welt unbeachtet. Die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Welt der Familie zu richten, bedeutet jedoch, sich mit einem zu engen Horizont zu begnügen. Aber sobald wir über die Familie hinaus in die Gesellschaft gehen, haben die Schlüsselbegriffe der Psychotherapie nur noch geringen Wert. Was wir brauchen, ist eine andere Art der Analyse, nämlich eine politische Analyse.

 

Gestalttherapie  

 

Gestalttherapie ist die Bezeichnung für ein in Theorie und Praxis entwickeltes System, mit dessen Hilfe der Patient zu einer bewußteren Wahrnehmung der gesamten Wirklichkeit geführt wird, besonders durch nonverbale Manipulation. Die Sitzungen finden gewöhnlich in Gruppen oder Arbeitskreisen statt, in denen ein Teilnehmer auf einem Stuhl, dem sogenannten »heißen Stuhl« Platz nimmt und in dramatischer Weise die einzelnen Mitglieder der Gruppe anspricht oder körperlich auf sie reagiert. Besonders charakteristisch ist das Aufteilen einer Person in einen Übermenschen und einen Untermenschen (Freuds Über-Ich und Ich; Jungs Anima und Persona). Beide führen dann einen Dialog. Die Therapie dauert oft nur 15 Minuten. Die Therapeuten, die sie praktizieren, halten sie für außerordentlich wirksam:

Die Gestalttherapie ist mehr als eine Spezialbehandlung oder Therapie. Die ihr zugrundeliegende Gestalt­philosophie erhebt den Anspruch, eine gültige Beschreibung der menschlichen Funktionen und Probleme zu sein, die jeder einzelne oder jede Gruppe als Anleitung zu einem erfüllteren Leben und Erleben verwenden kann. 
Die Grundsätze der Gestaltphilosophie gelten im täglichen Leben ebenso wie in der Therapie, für ein begabtes Kind ebenso wie für ein gestörtes, in der Klinik ebenso wie zu Hause. Die Grundsätze der Gestaltphilosophie sind nicht nur in allen denkbaren psychotherapeutischen Situationen und bei der Behandlung der verschiedensten Populationen, sondern auch bei der Erziehung, zur Behandlung von Sehproblemen und anderer körperlicher Erkrankungen angewendet worden.
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Miriam Polster, Professorin für Psychiatrie an der Universität von Kalifornien in San Diego, schreibt:

(Die Gestalttherapie) wurde aus der Vereinigung eines fruchtbaren Geistes mit einem fruchtbaren Milieu geboren. Was die Vitalität der Theorie erhält, ist ihre Zunahme an Subtilitat und die Ausweitung ihres Anwendungsbereichs durch die unaufhörlichen Bemühungen von Perls und seiner Kollegen und ihrer Schüler. Es ist eine reichhaltige und elegante Theorie, die dem Therapeuten Orientierung und ein Spektrum thera­peutischer Möglichkeiten an die Hand gibt.10)  

 

Frederick (Fritz) Perls, Begründer und wichtigster Vertreter der Gestalttherapie, wurde 1893 in Berlin geboren und starb 1970 in Chicago. Sein Einfluß war am stärksten zu der Zeit, als er in den 60er Jahren als leitender Psychologe am Esalen Institute in Big Sur, Kalifornien, arbeitete. Er hat viele der heute in der Psychotherapie gebräuchlichen Begriffe geprägt: »im Hier und Jetzt«, »Bewußtheit«, »die Weisheit des Körpers«, »Erregung und Wachstum« als Schlüsselvorgänge im menschlichen Organismus, »nonverbale „Stichworte« und andere. Perls schreibt:

Ein guter Therapeut hört nicht auf den Inhalt von dem Geschwätz, das der Patient vorbringt, sondern auf den Klang, die Musik, das Zögern. Die sprachliche Kommunikation ist gewöhnlich lauter Lüge. Die wirkliche Kommunikation liegt jenseits der Sprache.11

Das heißt natürlich, daß nur der Weise, also Perls selbst, in der Lage ist zu bestimmen, wann das Gesagte der Wahrheit entspricht und wann nicht.

Da Perls' Therapie und Techniken so eng mit ihm selbst und seinem Leben verbunden sind und er uns sehr freimütig Einblicke in sein Leben gewährt, ist es nicht besonders schwierig, den Wert der Gestalttherapie zu beurteilen. Perls hatte zunächst eine Ausbildung als Psychoanalytiker genossen (am stärksten war er von Freud, Reich, Rank und Jung beeinflußt worden). 


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In all seinen Schriften beschäftigt er sich in erster Linie damit, seine Leistungen und seine Therapie mit denen von Freud zu vergleichen. Dabei läßt er dem Leser keinen Zweifel an der Bedeutung seiner Leistungen. In seiner Autobiographie schreibt er: »Gestalt ist nicht irgendein von Menschen erfundener Begriff... Gestalt ist — und nicht nur für die Psychologie — eine der Natur inhärente Gegebenheit.«12)

Perls glaubte, die Gestalttherapie sei das einzige Mittel zur Rettung der Menschheit: »Entweder wird die amerikanische Psychiatrie eines Tages die Gestalttherapie als die einzige realistische und wirksame Form der Verständigung akzeptieren, oder sie wird in den Trümmern des Bürgerkriegs und der Atombomben untergehen.« Er ist auch nicht bereit zuzugeben, daß seine Erkenntnisse weniger bedeutend sind als die von Freud: »Ich habe in der Geschichte der Psychiatrie nach Freud den nächsten Schritt getan.« Und dann heißt es: »Der verrückte Fritz Perls entwickelt sich zu einem der Helden in der Geschichte der Wissenschaft.« In diese Bewertung schloß er nicht nur die von ihm entwickelte Theorie, sondern auch die Praxis ein: »Ich glaube, ich bin der beste Therapeut für jede Art von Neurose in den Vereinigten Staaten, vielleicht sogar in der Welt.« 

Diese Zitate sind alle seiner Autobiographie entnommen. Es mag sein, daß Perls ein humoristisches Buch schreiben wollte. Aber ähnliche Ideen finden sich auch in seinen anderen, eher ernstzunehmenden Büchern. So erklärt er in dem zusammen mit dem New Yorker Philosophen Paul Goodman geschriebenen Buch Gestalt Therapy in dem Vorwort von 1969: »Aber wie öffnen wir der Welt Ohren und Augen? Ich betrachte meine Arbeit als kleinen Beitrag zur Lösung des Problems, eine Möglichkeit für das Überleben der Menschheit zu schaffen«. (S. XI)13)

Perls hat sich offensichtlich auch selbst für einen Guru gehalten. Er kleidete sich entsprechend und sah mit seinem langen, weißen Bart und Haar, einer Mala, Sandalen und seinen wallenden Gewändern auch dementsprechend aus. Während eines kurzen Aufenthaltes in Japan hatte er sich in die Zen-Meditation einführen lassen und verhielt sich in mancher Hinsicht auch wie ein Zen-Meister. Er stellte paradoxe Behauptungen auf, schockierte seine Zuhörer durch sein unberechenbares Verhalten, das manchmal gewalttätig war und manchmal den Sexus betonte. Die Behandlung einzelner Patienten hielt er für eine Verschwendung seiner kostbaren Zeit, denn wenn seine Zuhörerschaft nicht groß genug war, würde das, was er zu sagen hatte, an Wirkung verlieren.


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Er nahm häufig LSD. Aber wie alle Gurus war er sich nicht der Tatsache bewußt, wie sehr seine Ausdrucks­weise und sein Verhalten von der Zeit diktiert wurden, in der er lebte. Sein berühmtes Gestaltgebet, mit dem er seine Sitzungen eröffnete, paßte besonders gut in die 60er Jahre, heute es peinlich und platt:

Ich tu, was ich tu; und du tust, was du tust.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben.
Und du bist nicht in dieser Welt, um nach den meinen zu leben.
Du bist du, und ich bin ich.
Und wenn wir uns zufällig finden - wunderbar.
Wenn nicht, kann man auch nichts machen.
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Es ist in mancher Hinsicht rätselhaft, weshalb Perls solche Verehrung genoß. Er ist vor allem dafür bekannt, daß er die Gefühle für das Wertvollste hielt und sich mit besonderem Eifer gegen jeden wandte, dem Gefühle nichts bedeuteten oder dessen Gefühle, wie er glaubte, nicht echt waren. Und doch konnte er selbst einen fast abgrundtiefen Mangel an Gefühlen für seine eigenen Familienangehörigen zeigen. In seiner Autobiographie erwähnt er seine älteste Schwester Eise nur einmal und berichtet kühl: »Sie war eine Klette... Außerdem hatte sie sehr schlechte Augen... Als ich hörte, daß sie in einem Konzentrationslager gestorben war, habe ich nicht sehr um sie getrauert.« Vielleicht noch erstaunlicher ist es, daß er über seine einzige Tochter nur einen Satz zu sagen hat:

»Renate ist ein Versager.« Seine Tochter erzählte einem seiner Bewunderer, dem Psychiater Martin Shepard: »In seinen letzten sechs Lebensjahren hat Fritz nicht ein einziges Wort mit mir gesprochen. Ich hatte In and Out ofthe Garbage Pail vor seinem Tode nicht gelesen. Und nachdem ich es gelesen hatte, dachte ich, wenn er nicht schon tot wäre, würde ich ihn umbringen.«15)

Sie berichtet auch, ihr Vater habe nicht einmal seine eigene Enkeltochter gekannt: »Das letzte Mal, als meine älteste Tochter Alli-son Fritz besuchte, brachte sie eine Freundin mit. Er ging auf die Freundin zu und sagte: >Hallo Allison.< Er hat sein eigenes Enkelkind nicht erkannt.« (S. 135)

Über seiner Haustür Jiatte Perls eine Tafel anbringen lassen mit der Aufschrift: »Kein Zutritt für Kinder. «Er scheute sich auch keineswegs zuzugeben, daß er Kinder nicht mochte:


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Die erstaunliche Überbewertung von Kindern in unserer Kultur, welche die Griechen oder die gebildeten Stände in der Renaissance in Erstaunen versetzt hätte, ist nichts anderes als die Reaktion auf die Unterdrückung der Spontanität der Erwachsenen (einschließlich des spontanen Verlangens, ihre Kinder abzuschlachten).16

Eines der Konzepte, die Perls bei Freud als besonders beunruhigend empfand, war der »Wiederholungszwang«, das zwingende Bedürfnis, das nach Auffassung von Freud viele Menschen haben, alte Wunden und Traumata aufzureißen, um mit ihnen fertig zu werden. Vielleicht fand Perls diese Vorstellung so abstoßend, weil sie so perfekt in sein eigenes Leben zu passen schien. Seine Aussagen über seinen Vater in seiner Autobiographie und in den Zitaten des Buches von Martin Shepard (Seite 19) lassen den Vater als einen Mann erscheinen, der seinen Sohn haßte und nichts mit ihm zu tun haben wollte. Der Vater nannte Fritz »ein Stück Scheiße«, eine Bezeichnung, die er auch für seine Frau verwendete, die er regelmäßig körperlich mißhandelte. So sehr mir der psychoanalytische Begriff <Einsicht> mißfällt, muß ich doch feststellen, daß Perls nur sehr wenig davon gehabt zu haben scheint.

Im Umgang mit Frauen zeigte er eine erstaunliche Gefühllosigkeit. Um das sagen zu können, brauchen wir nicht die Zeugenaussagen seiner Bekanntschaften, denn Perls hat in seiner Autobiographie selbst bereitwillig alle notwendigen Informationen zur Verfügung gestellt. Dort erzählt er, wie er mit einer Frau, die einer seiner Therapiegruppen angehörte, gekämpft und sie dreimal niedergeschlagen hat:

Nun lag sie wieder da, und ich sagte, nach Atem ringend: »Ich habe in meinem Leben mehr als eine Hündin verprügelt.« Dann stand sie auf, umarmte mich und sagte: »Fritz, ich liebe dich.« Offensichtlich hatte sie endlich das bekommen, wonach sie sich schon ihr ganzes Leben sehnte, und in den Vereinigten Staaten gibt es Tausende solcher Frauen. Sie provozieren und quälen ihre Männer, nörgeln an ihnen herum und verunsichern sie, bekommen aber nie die Prügel, die sie verdient haben. Du mußt keine Pariser Nutte sein und das brauchen, damit du deinen Mann respektierst.


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Er erwähnt in seiner Autobiographie auch, daß sein Vater seiner Mutter ständig untreu gewesen ist, und es war bekannt, daß Perls selbst mit Patientinnen sexuelle Beziehungen unterhielt. Er gibt das in seiner Autobiographie auch ganz offen zu:

Ich habe Zuneigung und Liebe — zuviel davon. Und wenn ich ein Mädchen in seinem Kummer oder seiner Verzweiflung tröste und das Schluchzen aufhört, und wenn sie sich dann anschmiegt und das Streicheln aus dem Takt kommt und über Hüften und Brüste gleitet — wo endet dann der Kummer, und wo beginnt das Parfüm so auf die Nüstern zu wirken, daß sie nicht mehr tropfen, sondern riechen?

Eine der Ideen, welche die moderne Psychotherapie auf Perls zurückführt, ist die Vorstellung, daß Menschen »Löcher« in ihrer Persönlichkeit haben. In den Anmerkungen zu dem bekanntesten Buch von Perls, Gestalt Therapy schreibt dieser: »Das schlimmste Loch, das ich mir vorstellen kann, ist ein Mensch, der keine Ohren hat. Man findet es gewöhnlich bei Leuten, die reden und reden und erwarten, die Welt werde auf sie hören.« (S. X)

Eine bessere Beschreibung dessen, was Fritz Perls tat, kann ich mir nicht vorstellen.

Ich habe mich in diesem Abschnitt mit meinen kritischen Bemerkungen auf die Person von Fritz Perls konzentriert, weil in der Gestalttherapie der Erfolg der Technik, in Gruppen zu arbeiten, davon abhängt, daß ein einzelner als Führer und Superego für alle anderen Mitglieder der Gruppe auftritt. Für Perls war es selbstverständlich, alle Privilegien und die ganze Autorität eines traditionellen Guru für sich in Anspruch zu nehmen. Zu seinen Machtbefugnissen gehört es auch, anderen große Schmerzen zuzufügen und sie zu zerbrechen, entweder direkt oder dadurch, daß er die Gruppe veranlaßt, sich gegen eines ihrer Mitglieder zu wenden, dieses anzugreifen und brutal zu mißhandeln. Perls scheint an der Macht, die er gegenüber den Menschen in seiner Gruppe besaß, großes Vergnügen empfunden zu haben. Es ist die Macht, die alle Führer von kultischen Vereinigungen für sich gewinnen wollen. 

Es überrascht daher nicht, daß wir in den Ritualen vieler Kulte auch Aspekte der Psychotherapie finden. Alle Gurus — und der Fall des Bhagwan Shree Rajneesh zeigt das ganz deutlich — leiden unter Größenwahn.


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Die feministische Therapie  

 

Was ich über die feministische Therapie weiß, beschränkt sich den Inhalt der wichtigsten Bücher zu diesem Thema, die man in jeder Universitätsbibliothek finden kann. Vieles von dem, was ich sage, trifft vielleicht nicht auf die feministische Therapie zu, wie sie sich zunächst entwickelt hat. Mit meinem beschränkten Wissen ist es mir nur möglich, gewisse Aspekte zu berücksichtigen, und deshalb wird die feministische Therapie auch noch in anderer Weise kritisiert werden können. Auf dem mir zur Verfügung stehenden engen Raum kann ich keine Analyse des Feminismus vornehmen. Ich stimme der feministischen Kritik an der traditionellen Psychiatrie und Psychotherapie in vieler Hinsicht zu.17)

Doch bei der Psychiatrie und Psychotherapie geht es um mehr als um patriarchalische Verhaltensweisen. Aus der Perspektive des anderen Geschlechts läßt sich vielleicht ein Problem lösen (die Voreingenommen­heit des Mannes gegenüber der Frau, doch auch das ist fraglich), aber andere Probleme werden auf diese Weise nicht aus dem Weg geräumt. Auch feministische Therapeutinnen gehören zu einem größeren therapeutischen Bereich. Wie andere Therapeuten sind auch sie darauf angewiesen, ihre Arbeit auf die ihrer Kolleginnen abzustimmen. Das heißt, sie müssen einer größeren Gemeinschaft angehören, um wirtschaftlich zu überleben. 

Die Kritik an der Arbeit dieser größeren Gemeinschaft muß deshalb modifiziert werden. Und in der Literatur habe ich tatsächlich gesehen, daß die Kritik an den Grundsätzen der Psychotherapie in der feministischen Therapie stark abgemildert wird, und zwar so sehr, daß sich das Interesse an der Freudschen Psychoanalyse bei den feministischen Therapeutinnen (ein Titel, der nicht verliehen wird und den jeder für sich in Anspruch nehmen kann) in letzter Zeit wesentlich verstärke hat.18) Woher leitet die feministische Therapie ihre Forderungen und die in der Psychotherapie anzuwendenden Techniken ab? Aus den traditionellen Formen der Psychotherapie. Lucia Albino Gilbert schreibt:

Aus der Literatur der jüngsten Zeit entnehmen wir, daß der praktischen Anwendung der feministischen Therapie keine besondere Theorie zugrundeliegt. Holroyd meint zum Beispiel, feministische Therapeuten könnten sich bei ihrer Arbeit nach jeder nur denkbaren Richtung orientieren, und dazu gehört auch


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die Psychoanalyse. Sie betrachtet die feministische Therapie als Kombination aus einer radikalen therapeutischen Philosophie und aus humanistisch therapeutischen Techniken... Unter anderem wird auch angenommen, daß die feministische Therapie stark durch die von Rogers entwickelte Theorie des Selbst beeinflußt ist.19)

Sobald der Anpassungsprozeß in Gang gekommen ist, müssen die feministischen Therapeutinnen auch andere Aspekte der traditionellen Psychiatrie übernehmen. In dem kürzlich erschienenen Handbook of Feminist Therapy finden wir ein von Lynne Rosewater verfaßtes Kapitel mit der Überschrift »Schizophrenia, Borderline, or Battered«. Man sollte glauben, daß sie es aus feministischer Sicht ablehnen würde, Frauen als »schizophren« oder als »Borderline«-Fall zu bezeichnen.20) Statt dessen beschäftigt sie sich mit einer »Differential-Diagnose«, bei der es darum geht, den Unterschied zwischen einer mißhandelten und einer »wirklich« schizophrenen Frau festzustellen. Mit anderen Worten, sie übernimmt alle traditionellen Kategorien von »Geisteskrankheiten«, ohne sie in Frage zu stellen. Die Autorin schreibt:

Um eine Frau, die mißhandelt wurde, von einer schizophrenen Frau (oder einem Borderline-Fall) unterscheiden zu können, muß der Therapeut mit der Verhaltensdynamik mißhandelter Frauen vertraut sein... Dabei kann ein standardisiertes Testverfahren gelegentlich hilfreich sein. (S. 216)

Rosewater übernimmt hier nicht nur die spezifischen Krankheitsbilder, die von den Psychiatern als Schizophrenie und Borderline bezeichnet werden, sie glaubt auch, daß spezifische psychologische Tests helfen können, einen »normalen« Menschen von einem »kranken« zu unterscheiden. Am Schluß schreibt sie:

Es gibt Frauen, die sowohl unter den Folgen von Mißhandlungen leiden, als auch Borderline-Fälle oder Schizoprene sind. Ich habe festgestellt, daß ein Test wie der MMPI (Minnesota Multiphasic Personality Inventory) mit dem Harris-Lingoes-und dem Seerkownek-Untertest die Unterschiede zwischen diesen diagnostischen Kategonen messen und dazu beitragen kann, sie deutlich werden zu lassen. (S. 224)


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Feministische Therapeutinnen sind ihren konservativeren männlichen Kollegen sehr ähnlich, wenn es darum geht, ihr Prestige zu wahren, von den Universitäten anerkannt zu werden und für ihre Arbeit finanzielle Unterstützung zu erreichen, wobei es ihnen augenscheinlich nicht darauf ankommt, in Ausschüssen mitzuarbeiten. Außerdem zeigen sie oft das gleiche Elitedenken, das sie mit Recht bei den Vertretern der eher konventionellen Therapien kritisieren.21)

Ein viel beachteter Artikel von Annette M. Brodsky und Rachel T. Hare-Musdin von der Harvard Universität nennt am Schluß folgende ihrer Forderungen als ihre wichtigsten: »Das National Institute of Mental Health sollte an führender Stelle veranlassen, daß Datenbanken und Kommunikationsnetze eingerichtet werden, aus denen ersichtlich ist, welche klinischen Einrichtungen Frauen zur Verfügung stehen, und dafür sorgen, daß diese Informationen allen Betroffenen zugänglich sind.«22)

Sogar die Ausdrucksweise in diesem Artikel ist von den männlichen Kollegen übernommen, und die Gefahren, die durch die Einrichtung eines solchen Systems entstehen könnten, sind noch keineswegs erforscht. Die feministischen Therapeutinnen übernehmen viele Kategorien, die sie grundsätzlich ablehnen, unter einer neuen Bezeichnung. Während zum Beispiel der Begriff des Spezialisten abgelehnt wird, schleicht sich das gleiche Konzept unbemerkt unter dem es kaum verhüllenden neuen Namen »Rollenmodell« wieder ein: »Das feministische Therapiemodell betont auch die Funktion der Therapeutin, unseren weiblichen Klienten als Rollenmodell zu dienen.«23)

Wodurch unterscheidet sich ein Rollenmodell von dem Modell des Gurus und Weisen, des allwissenden Meisters, der aus den traditionellen psychotherapeutischen Systemen nicht wegzudenken ist? Natürlich gibt es diesen Unterschied nicht:

Die Funktion des Rollenmodells ist ein wichtiger Teil dieses Vorgangs. In der feministischen Therapie wird ganz offen von der Person, den Erfahrungen, dem Verhalten und der Haltung der Therapeutin Gebrauch gemacht. Das Ziel ist nicht, die Klientin nach dem Vorbild der Therapeutin zu formen, sondern ein Beispiel dafür zu geben, wie eine tüchtige Frau erfolgreich mit dem Leben fertig wird.24)


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Das gleiche habe ich von vielen konservativen männlichen Psychoanalytikern gehört. Weshalb sollte man aber annehmen, daß die feministische Therapeutin eine tüchtige Frau sei, die Erfolg im Leben hat, nur weil sie Therapeutin geworden ist? Wenn die soziale Stellung genügt, Sachkunde oder Tüchtigkeit zu garantieren, dann hat der männliche Therapeut das gleiche Recht, diese Qualitäten für sich in Anspruch zu nehmen, wie die feministische Therapeutin. Niemand kann dies jedoch tun, wenn er ehrlich ist.

Die meisten Ideen der feministischen Therapie sind aus der traditionellen Psychotherapie übernommen worden. Ich gebe allerdings zu, daß die politischen Vorstellungen vom Machtmißbrauch usw. aus der feministischen Theorie stammen, und habe dagegen auch keine Einwände. Mir schien tatsächlich die Art, wie zunächst versucht wurde, den Grundsatz der Gleichberechtigung bewußt zu machen, wobei keine Honorare gezahlt wurden und keine Hierarchie existierte, sehr viel besser zu sein als das, was sich später daraus entwickelt hat. Das wird von den meisten feministischen Therapeutinnen ausdrücklich anerkannt. 

So kritisiert zum Beispiel Miriam Greenspan in ihrem vielgelesenen und außerordentlich lesenswerten Buch A New Approach to Women and Therapy25) sehr scharfsinnig die sogenannte humanistische Psychologie, übernimmt schließlich aber doch viele traditionelle Methoden:

In meiner eigenen therapeutischen Praxis habe ich den Wachstumstherapien für gewisse wirksame Techniken zu danken, die es erleichtern, Gefühlen Ausdruck zu verleihen, besonders in Fällen, in denen lange vorhandene Gefühle aus dem Bewußtsein verdrängt worden sind und nun die Klientin daran hindern, ein normales Leben zuführen. So könnte ich zum Beispiel den Vorschlag machen, daß eine Klientin mit der Faust oder einem Tennisschläger auf ein Kissen schlägt, um sich ihres Zorns als Frau bewußt zu werden. (S. 131)

Miriam Greenspan akzeptiert viele der allgemein in der Psychotherapie und in der Psychiatrie geltenden Wertvorstellungen, zum Beispiel daß das Mißtrauen gegenüber der Therapie ein Problem des inneren Widerstands des Klienten ist, das mit diesem erörterte werden muß. 

So fragt sie: »Inwiefern ist Ihr Mißtrauen etwas, das Sie im Gespräch mit jedem Therapeuten abbauen müßten, und wie weit ist es Ausdruck Ihrer Überzeugung, daß Sie es in diesem Fall nicht mit der richtigen Therapie oder nicht mit dem richtigen Therapeuten zu tun haben?« (S. 340) 


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Diese Frage setzt voraus, daß es Menschen gibt, die jedem Therapeuten mißtrauen würden, und daß eine solche Haltung nicht »gesund« sei.

Sehr oft bemühen sich feministische Therapeutinnen um einen »sanften« Ton im Gespräch mit ihren Klientinnen. Anica Vesel Mander schließt ihren Artikel »Feminismus als Therapie« mit der Feststellung:

Der Feminismus integriert die subjektiven und die objektiven, die rationalen und die intuitiven, die mystischen und die wissenschaftlichen, die abstrakten und die konkreten Aspekte des Universums und betrachtet sie als harmonische Teile eines Ganzen und nicht als einander widersprechende Gegensätze.26

Dorothy Tennov, deren Buch Psychotherapy: The Hazardous Cure wir oben schon einmal erwähnt haben, kritisiert mit ausgezeichneten feministischen Argumenten den Sexismus in der psychodynamischen Psychotherapie. Aber die Alternative, die sie anbietet, der Behaviorismus, den sie augenscheinlich praktiziert, ist schlimmer als das Problem, das er lösen soll. Man gewinnt den Eindruck, daß die feministische Therapie einer feministischen Orientierung dienen kann, und zwar kombiniert mit praktisch jeder anderen Orientierung, die dem Therapeuten geeignet erscheint. 

Juliet Mitchell, Nancy Chodorow und Jean Baker Miller sind Psychoanalytikerinnen der Freudschen Schule. Elizabeth Friar Williams bezeichnet sich als feministische Gestalttherapeutin.27) Helen Block Lewis war eine psychodynamisch orientierte klinische Psychologin.28) Ihre Tochter, Judith Lewis Herman, die ein hervorragendes Buch über den Inzest geschrieben hat, ist Psychiaterin.29) Das bedeutet, daß alle Schwächen der verschiedenen Methoden, die wir in diesem Buch vorgestellt haben, in mehr oder weniger subtiler Weise in die »feministische« Therapie einfließen werden. 

Ich stimme daher der scharfen Kritik von Mary Daly an der feministischen Therapie zu:

Hinter den offensichtlich weiberfeindlichen Vorstellungen der patriarchalischen Psychotherapie (z.B. vom »Penisneid« und von der Schuld der Mutter*) steht eine subtilere Vorstellungswelt, die sich nur schwer erschüttern läßt und für die die therapeutische Situation in ihren verschiedenen Formen endemisch zu sein scheint.30)

 

* Olf, 2005: Sicherlich gemeint hinsichtlich sexueller Übergriffe von Mann auf die Tochter.


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Die Behandlung der durch Inzest verursachten psychischen Schäden

Eng verbunden mit der feministischen Therapie ist die Behandlung der Opfer eines Inzests. Feministinnen wie Judith Herman, Florence Rush, Louise Armstrong, Diana Russell und der Wissenschaftler David Finkelhor haben als erste die Daten über den Inzest veröffentlicht, auf die sich die Psychotherapie stützt.31 Doch außer Judith Herman empfiehlt keiner dieser Verfasser eine Therapie.32 Therapeuten, die eine Therapie für die Opfer eines Inzests anbieten, sind nicht unbedingt feministisch orientiert. Oft sind es konservative Therapeuten. Je konservativer sie sind, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie aus einer Tradition kommen, die jahrelang das Problem des sexuellen Mißbrauchs bestritten hat.

Es ist erstaunlich feststellen zu müssen, daß in den vergangenen zwei Jahren viele konservative Psychiater angefangen haben, eine Therapie für die Opfer eines sexuellen Mißbrauchs anzubieten. Es sind dieselben Psychiater, die noch vor wenigen Jahren geleugnet haben, daß es so etwas überhaupt gibt. Sie haben diesem Tatbestand einen Namen gegeben, behaupten, die Opfer litten an einem Syndrom, und sie selbst seien besonders geeignet, dieses Syndrom zu behandeln. 

Ich habe mit Psychiatern gesprochen, die erklären daß Frauen ohne eine entsprechende Ausbildung den Inzestopfern nur schaden können, weil sie nicht über das notwendige Fachwissen verfügen, und daß die Behandlung stationär in einer psychiatrischen Klinik erfolgen sollte. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Frau, die sich in einer solchen Anstalt wiederfindet, in irgendeiner Form Schaden erleiden wird, ist sehr groß. Viele Menschen scheinen der Auffassung zu sein, daß ein sexuell mißbrauchtes Kind psychotherapeutisch behandelt werden sollte. Dr. Suzanne M. Sgroi schreibt: »Wir glauben, daß alle Opfer eines sexuellen Mißbrauchs im Kindesalter einer gewissen therapeutischen Hilfe bedürfen, gleichgültig, wer sich an diesem Kind vergangen hat.«33)


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Standardlehrbücher sagen nur wenig darüber, welche Therapie hier angewendet werden sollte.34 Augen­scheinlich sind sich die Verfasser dieser Lehrbücher nicht bewußt, daß es hier ein Problem gibt. Einige jüngst erschienene Bücher üben keinerlei Kritik an den traditionellen Therapien, und ihre Verfasser sind naiv genug anzunehmen, daß jeder Therapeut, der eine »Spezialausbildung« genossen hat, in solchen Fällen helfen kann. So heißt es zum Beispiel in dem Buch Incest and Sexuality: A Guide to Understanding and Healing:

Auf den akademischen Grad kommt es weniger an als auf die Spezialausbildung, die ein Berater genossen hat. Zu einer guten Vorbildung gehören eine Ausbildung und Erfahrungen in der Behandlung von Inzestopfern, in der Sexualtherapie, in der Partnerberatung, in der Familientherapie und in der Behandlung von Depressionen. Ein Therapeut, der sich auf Inzest- und Sexualtherapie spezialisiert hat, kann ohne weiteres über sexuelle Probleme sprechen und dabei sensibel auf die dahinter verborgenen Erfahrungen mit einem Inzest eingehen.35)

Anspruchsvollere Bücher wie zum Beispiel Sexual Abuse of Young Children beschäftigen sich nicht mit den Problemen, die durch die Haltung der Psychiatrie gegenüber dem Inzest entstanden sind.36)

Der Psychiater Roland Summit, dessen Spezialgebiet die Behandlung sexuell mißbrauchter Kinder ist, schreibt im Vorwort zu dem Buch Sexual Abuse of Young Children: »Dieses Buch enthält die zuverlässigsten, aus eigener Anschauung gewonnenen und für die Therapie am besten verwertbaren Erfahrungen, die bisher zum Nutzen sehr junger Opfer des sexuellen Mißbrauchs von Kindern zusammengestellt worden sind.« (S. XV) 

Doch das Buch scheint die Behandlungsmethoden von Parents United zu empfehlen. Parents United wurde in den 70er Jahren gegründet und hat einen enormen Einfluß auf alle Behandlungsmethoden für Inzestopfer und -täter gehabt (bemerkenswert ist, daß hier Opfer und Täter in gewisser Weise gleich behandelt werden, als könne es die gleiche psychiatrische Beratung für das Wachpersonal in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und die Überlebenden geben). Diese Auffassung wird in dem Buch von Henry Giarretto Integrat-ed Treatment of Child Sexual Abuse: A Treatment and Training Manual vertreten.37)


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Giarretto bestätigt ausdrücklich, daß sich seine Behandlungsmethoden auf die humanistische Psychologie stützen, und erwähnt unter anderem die Namen C.G. Jung, Carl R. Rogers, Karen Horney und Erich Fromm. (S. 10/11) Das bedeutet für ihn, »Menschen sind so, wie sie nun einmal sind«, und deshalb »verhalten sie sich so, wie es nach ihrem Verständnis am besten ist«. Der Vater, der sich seiner Tochter sexuell nähert, hat sich danach

... nicht so verhalten, weil er sich zu diesem Zeitpunkt bewußt dafür entschieden hat; sein selbstzerstörerisches und aggressives Verhalten war vielmehr die einzige Reaktion, deren er fähig war, um etwas gegen den chronischen Zustand eines fehlenden Selbstwertgefühls zu unternehmen, der durch unbefriedigte Bedürfnisse entstanden war. Der Vater, der zum Täter geworden ist, wird (wie jeder andere Täter) sein Verhalten ändern, wenn er lernt, sich dessen bewußt zu werden, was er für seine Selbstverwirklichung braucht und die persönliche Verantwortung für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu übernehmen.« (S. 18)

Giarretto behauptet, er habe bei den nach seinen Methoden behandelten Tätern kaum irgendwelche Rückfälle erlebt, es leuchtet jedoch ohne weiteres ein, daß es einer manipulierbaren Persönlichkeit kaum irgendwelche Schwierigkeiten bereiten dürfte, dieses Psychogeschwätz in wenigen Minuten zu begreifen. In Wirklichkeit kennt niemand die Gründe dafür, daß Männer Kinder sexuell mißbrauchen. Ich sehe auch nicht, wieso diese Therapie den Opfern solcher Täter etwas nützen wird. In dem Kapitel mit der Überschrift »Counseling Methods and Techniques« in Giarrettos Buch stützt sich die Verfasserin Ellie Breslin ausdrücklich auf die Grundsätze der Gestalttherapie, die kaum geeignet erscheinen, Menschen zu helfen, die sexuell mißbraucht worden sind. Wie wir gesehen haben, kann diese Therapie sogar durchaus schädlich sein.38

Eine ganz andere und sehr viel differenziertere Methode finden wir in Father-Daughter Incest von Judith Herman. Die Psychiaterin Herman gibt unumwunden zu, daß es in ihrem Beruf eine besondere Schwierigkeit gibt:


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Die meisten Therapeuten sind nicht in der Lage, Inzestopfern zu helfen, weil sie nicht dazu ausgebildet worden sind. Sie haben sogar gelernt, den Umgang mit ihnen zu meiden. Die psychoanalytische Tradition hat innerhalb des Berufsstandes der Psychotherapeuten eine Atmosphäre der Verdrängung und des Unglaubens geschaffen. Das Ergebnis ist, daß in den Ausbildungseinrichtungen die Unwissenheit von einer Generation der Berufs­psychologen und Psychotherapeuten zur nächsten weitergegeben wird. (S. 180)

Aber Frau Herman glaubt (was ich nicht tue), daß sich diese Schwierigkeiten beseitigen lassen. Für sie liegt das Problem darin, daß die Therapeuten nicht erkannt haben, daß es den Inzest gibt. Sie scheint zu glauben, daß diese bewußte Weigerung, das Offensichtliche zu sehen, von der Psychiatrie als solcher nicht gefördert wird: »Viele gut ausgebildete Therapeuten, die ohne weiteres mit anderen Problemen fertig werden, haben, wenn es um den Inzest geht, einen blinden Fleck.« (S. 181) Daraus folgt, daß jeder Thera-peut, der den Inzest als eine Tatsache anerkennt, auch in der Lage ist, einem Menschen zu helfen, mit diesem Problem umzugehen, weil er in der Psychotherapie ausgebildet worden ist, die Judith Herman uneingeschränkt akzeptiert:

Der Ausbilder bietet zunächst einen intellektuellen Rahmen, innerhalb dessen das Problem verstanden werden muß. Oft werden die Auszubildenden auf die entsprechende Fachliteratur hingewiesen. Zweitens bieten die Ausbilder praktische Hilfe zur Problemlösung mit den Strategien der Therapie. Drittens, und das ist das Wichtigste, helfen die Ausbilder den weniger erfahrenen Therapeuten, mit ihren eigenen Gefühlen umzugehen, die von den Patienten geweckt werden. Mit der Unterstützung tüchtiger Ausbilder sind die Therapeuten gewöhnlich in der Lage, ihre eigenen in Unordnung geratenen Gefühle zu beherrschen und sie angemessen einzuordnen. Wenn das geschehen ist, kann der Therapeut den Patienten mit mehr Einfühlungsvermögen und dem Vertrauen an die eigene Fähigkeit, ihnen zu helfen, begegnen. (S. 180)

Judith Herman ist so optimistisch zu glauben, daß »der Patient, der das Glück hat, einen solchen Therapeuten zu finden, auch die Möglichkeit bekommt, eine korrigierende emotionale Erfahrung zu machen.« Sie schließt mit dem Satz: »Wenn der Therapeut eine Frau ist, wird sie selbst zum Modell.« (S. 191) 


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Hier sind wir wieder in der Welt der traditionellen Therapie, wo man nur eine »Spezialausbildung« braucht, um zum »Rollenmodell« für eine andere Person zu werden. Das sind Behauptungen, die in diesem Buch zurückgewiesen werden. Judith Herman hat keine der fundamentalen Wertbegriffe der Psychiatrie in Frage gestellt, was uns angesichts der Tiefe ihres Verständnisses für die verheerenden Folgen des Inzest überraschen muß. Es kann kein reiner Zufall sein, daß die Psychiatrie so lange Zeit die Gewalt gegen Frauen nicht zur Kenntnis genommen hat.

Die Beiträge feministischer Psychologen und Psychiater zu Frauenfragen — wie der Beitrag von Judith Herman zum Problem des Inzest, von Paula J. Caplan zum Masochismus39) und von Robert Seidenberg zur Platzangst40) — sind insofern wertvoll, als sie sich mit Fragen beschäftigen, die ihre konservativen Kollegen zu ignorieren geneigt sind. Aber der Kern dieser Probleme wird niemals bloßgelegt werden, solange die geltenden Vorstellungen und Vorurteile in der Psychologie und Psychiatrie nicht gründlich untersucht werden.

Meine Kritik an der feministischen Therapie und an den Behandlungsmethoden für Opfer des Inzests gilt auch für die sogenannte radikale Therapie, die versucht hat, sich von der traditionellen Therapie zu lösen, während sie an den meisten für die letztere geltenden Grundsätzen festhält.41)

 

Die Hypnotherapie 

nach Erickson

 

Der Einfluß von Milton H. Erickson (1901-1980) (nicht zu verwechseln mit dem Psychoanalytiker und Schüler von Freud, Erik H. Erikson) auf die Psychotherapie hat ständig zugenommen.42)

Erickson erwarb seinen medizinischen Doktorgrad am Colorado General Hospital. Als Psychiater wurde er am Colorado Psychopathie Hospital ausgebildet. Am Wayne County General Hospital and Infirmary arbeitete er als Direktor für psychiatrische Forschung und Ausbildung, lehrte am College of Medicine an der Wayne State University und war außerdem Professor für Psychologie an der Michigan State University in East Lansing. 1948 ließ er sich in Phoenix, Arizona, nieder.


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Er war Mitglied der American Psychiatrie Association, der American Psychulogical Association und der American Psychopathological Association. Schließlich war er Gründungspräsident der American Society for Clinical Hypnosis sowie Herausgeber der Fachzeitschrift dieser Gesellschaft. Ein ausgezeichnetes Literaturverzeichnis von Büchern von und über Erickson findet sich in William Hudson O'Hanlon, Tap-roots: Underlying Principles of Milton Erickson's Therapy and Hypnosis, New York 1987.

Obwohl die breite Öffentlichkeit auf die zahlreichen Bücher von und über Erickson noch kaum reagiert hat, haben es seine Berufskollegen, besonders die eklektischen Psychotherapeuten durchaus getan. Sein Einfluß ist besonders zu erkennen bei Margaret Mead, Gregory Bateson, Paul Watzlawick, Don Jackson, Jay Haley, John Weakland und vielen anderen angesehenen Therapeuten. Durch die Neuauflage des Buchs von Jay Haley, Uncommon Therapy43) und den bekannten Büchern von Bandler und Grinder44 wurde Erickson allgemein als der Begründer der kurzen strategischen Zugänge zur Psychotherapie bekannt. Sein hohes Ansehen in Fachkreisen verdankt er der positiven Beurteilung seiner Arbeit durch Gregory Bateson45 und Jay Haley. Haley schreibt in der Einführung zu einer kürzlich erschienenen mehrbändigen Sammlung von Ericksons Gesprächen:

Milton H. Erickson, M. D; war der erste strategische Therapeut. Man könnte sogar sagen, er sei der erste Therapeut gewesen, denn er war der erste bedeutende Kliniker, da sich auf die Frage konzentriert hat, wie man Menschen verändern kann. Vorher bemühten sich die Kliniker um das Verständnis für den menschlichen Geist; sie erforschten das Wesen des Menschen. Ihr Interesse galt erst in zweiter Linie der Möglichkeit, Menschen zu verändern. Im Gegensatz dazu sah es Erickson als die Hauptaufgabe in seinem beruflichen Leben an, Möglichkeiten zu finden, Menschen zu beeinflußen. Ob nun die Beeinflußung von Menschen durch Hypnose, Überredung oder Anweisungen geschah, Erickson konzentrierte sich darauf, die verschiedensten Techniken zu entwickeln, um psychische oder körperliche Leiden zu lindern. Erscheint der erste bedeutende Therapeut gewesen zu sein, der von den Klinikern erwartet hat, neue Wegezufinden, um die vielfältigsten Probleme zu lösen, und der gesagt hat, daß die Verantwortung für die Entwicklung neuer therapeutischer Methoden beim Therapeuten und nicht beim Patienten liegt.46)


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Jay Haley ist selbst ein bedeutender Therapeut, der einige seiner Kollegen entscheidend beeinflußt hat. Er ist Direktor des Family Therapy Institute in Washington, D. C. und war Direktor des Family Experiment Project am Mental Research Institute sowie Direktor eines Projekts zur Erforschung der Familientherapie an der Philadelphia Child Guidance Clinic. Als Verfasser von sieben Büchern und ehemaliger Herausgeber der Zeitschrift Family Process hat Haley in der psychotherapeutischen Forschung und Praxis seit den 50er Jahren einen wesentlichen Einfluß gehabt. Deshalb ist seine Auffassung von der Richtung, in welche die Psychotherapie heute geht, wichtig. Im Dezember 1986 hat die Milton H. Erickson Foundation in Phoenix, Arizona, eine Konferenz über die Entwicklung der Psychotherapie veranstaltet. An ihr haben mehr als 7000 Therapeuten aus allen Teilen der Vereinigten Staaten teilgenommen, unter ihnen viele der bekanntesten Fachleute auf diesem Gebiet: Albert Ellis, Virginia Satir, Carl R. Rogers, Rollo May, Judd Marmor, Aaron Beck, Thomas Szasz, Paul Watzlawick, Jay Haley, Joseph Wolpe, Bruno Bettelheim, R.D. Laing, Salvador Mi-nuchin und Lewis Wolberg.47

Diese Veranstaltung löste ein starkes Echo aus. Haley begann seinen Vortrag mit den Worten: »Unter den Geheimnissen des menschlichen Lebens gibt es drei ganz besondere. Was ist das Wesen der Schizophrenie? Was ist Hypnose? Was ist das Wesen der Therapie?« (S. 17) Diese Fragen haben in der Geschichte der Psychotherapie immer im Vordergrund gestanden. Auch Freud hat sie gestellt und mit ihm viele seiner Kollegen (unter ihnen Eugen Bleuler), und fast alle Psychiater und Therapeuten nach ihm. Dann gab Haley eine historische Erklärung ab, die mir wichtig erscheint, weil sie von jemandem kam, der die Situation der Psychotherapie in den Vereinigten Staaten sehr genau kannte.:

Wenn (früher) jemand einen Analytiker gefragt hätte, »ist es Ihre Aufgabe, Menschen zu verändern?« dann hätte der Analytiker das bestritten. Es war seine A ufgabe, den Menschen zu helfen, sich selbst zu verstehen -, ob sie sich änderten oder nicht, war ihre Sache. Heute wird offenbar das Gegenteil von dem Analytiker erwartet. Der Therapeut ist nicht mehr nur Berater, sondern er soll die Menschen verändern, und wenn ihm das nicht gelingt, hat er versagt. Erickson würde sagen, ein Therapeut muß viele verschiedene Methoden lernen, um viele ver-


schiedene Arten von Menschen zu verändern, und wenn er das nicht kann, sollte er einen anderen Beruf ergreifen. Kurz gesagt, die Therapie, die heute von den meisten von uns praktiziert wird, ist das Gegenteil von dem, was früher getan wurde. Es gibt Menschen, die sich durch den Einfluß ihrer Lehrer geändert haben, andere haben es getan, nachdem sie aus Fehlschlägen etwas gelernt haben, und wieder andere, nachdem sie die Möglichkeit der Therapie erforscht haben. Heute haben wir eine Generation von Menschen, deren Berufsziel es ist, Menschen zu verändern. Es sind keine Berater, keine objektiven Beobachter und keine Diagnostiker. Es sind Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, andere zu beeinflußen. Sie haben gelernt, Menschen zu veranlassen, ihren Vorschlägen zu folgen, und zwar auch Vorschlägen, die diese Menschen nur unbewußt aufgenommen haben. (S. 27)

Dieser Wandel machte Haley stolz. Mich beunruhigt er sehr. Denn wie wollen Haley, Erickson oder andere Therapeuten Menschen verändern, wenn nicht in Richtung ihrer eigenen Wertvorstellungen?

So bittet Haley zum Beispiel wenige Seiten, nachdem er Erickson als den größten Therapeuten aller Zeiten vorgestellt hat, in Conversations with Milton H. Erickson, M. D., ihn um seinen Rat für die Behandlung eines 28jährigen »Mädchens«, das wegen schwerer, krampfartiger Menstruationsbeschwerden zu ihm gekommen sei. Erickson fragt Haley, ob das Mädchen hübsch sei und das auch von sich glaube. Dann erklärt er, daß das Körperimage sehr wichtig sei und hübsche Mädchen oft Minder­wertig­keits­komplexe haben:

Das Mädchen mit den schmerzhaften Menstruationsbeschwerden — was genau denkt sie über ihren Körper? Sind ihre Hüften zu groß? Sind ihre Fußgelenke zu dick? Sind ihre Schamhaare zu spärlich, zu gerade oder zu kraus? Oder was ist mit ihnen los? Vielleicht ist es ihr zu peinlich, sich dessen bewußt zu werden. Sind ihre Brüste zu groß? Zu klein? Haben die Brustwarzen nicht die richtige Farbe? (S. 3)


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Was sollen diese nicht einmal kulturellen Klischees, die dazu noch männliche Klischees sind? Woher nehmen Erickson und Haley das Recht, einer 28jährigen Frau (die sie immer noch »Mädchen« nennen) zu sagen, sie sei hübsch, oder ihr vorzuschreiben, was sie von ihrem Körper denken soll? Dies ist kein Ausnahmefall. Ericksons Schriften sind voll von Erklärungen, die er Frauen gibt und mit denen er den Anspruch erhebt, eine Autorität im Hinblick auf die äußere Erscheinung und den Geschmack zu sein.

So sagte er einer 35jährigen »rundlichen« berufstätigen Frau, er werde sie nur behandeln, wenn sie ihm erlaube, sie verbal »anzugreifen«, was er dann auch tat. Er sagte ihr, sie sei schmutzig und ungepflegt: »Hals und Ohren waren schmutzig, die Zähne mußten geputzt werden, das Haar war nachlässig gekämmt. Sie trug eine häßliche Nickelbrille und kein Make-up.« Dann sagte er ihr, sie solle sich waschen, Tanzunterricht nehmen, den Schönheitssalon im örtlichen Supermarkt aufsuchen, sich ein Abendkleid nähen und zu dem von ihrer Firma veranstalteten Ball gehen. Schließlich erklärte er:

Grace, Sie haben ein sehr sehr hübsches Fleckchen Fell zwischen den Beinen. Gehen Sie jetzt nach Hause und denken Sie darüber nach. Ziehen Sie sich nackt aus, stellen Sie sich vor den Spiegel, und Sie werden die drei schönen Abzeichen Ihrer Weiblichkeit sehen... Grace, Sie haben ein hübsches Stückchen Fell zwischen den Beinen.

Nun behauptet Erickson in seinem weiteren Gespräch mit Haley, daß er Grace diese Dinge gesagt hätte, habe bewirkt, daß sie einen Mann kennenlernte, heiratete, Kinder hatte und eine glückliche Ehe führte: »Das war die ganze Vergewaltigung, die sie brauchte.« Erickson sagte: »Grace hat mir später erzählt, sie sei mit dem Entschluß zu mir gekommen, wenn ich es für notwendig hielte, sie zu verführen, dies auch zuzulassen... Ich habe sie dann vergewaltigt — oder etwa nicht?« (S. 159-167) 

Wir sollten daran denken, daß Erickson von einer jungen Frau sprach, die er Ende der 40er oder Anfang der 50er Jahre in Phoenix behandelt hatte. Hat er dieser Frau tatsächlich geholfen, zu erreichen, was sie wollte, oder hat er sie nur gezwungen, sich den Normen des Gemeinwesens anzupassen, in dem sie lebte? Eine solche Haltung gegenüber Frauen, mit der man ihnen vorschreiben wollte, wie sie aussehen und sich verhalten sollten, war damals allgemein üblich und ist es in großen Teilen der Bevölkerung auch heute noch. 


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Aber dieser Bericht wurde 1985 veröffentlicht, und Haley sagt kein einziges Wort über die sexistische Arroganz, auf die sich die Methoden von Erickson gründeten.

Wenn man diesen Bericht von Haley liest, der angeblich nach Interviewprotokollen angefertigt wurde, muß man sich fragen, wie gut Ericksons Gedächtnis war. Als Erickson diese Krankengeschichte schrieb, glaubte er nicht, sie veröffentlichen zu können. Sie wurde jedoch nach seinem Tode veröffentlicht.48 Der schriftliche Bericht ist interessanter, anders und beunruhigender als das, woran sich Erickson erinnert (es handelt sich um die gleiche Frau). Erstens erfahren wir, Erickson habe von »einem unverheirateten Mann ihres Alters« gehört, daß er sich ernsthaft für sie interessieren könnte, »wenn dieses verdammte Mädchen sich die Haare kämmen, Ohren und Hals waschen und ein Kleid anziehen könnte, das nicht aussieht wie ein schlechtsitzender Kartoffelsack, wenn sie ihre Strümpfe heraufziehen und ihre Schuhe putzen wollte.« Erickson stellte sich ganz auf seine Seite und ergänzte seine Äußerungen mit seiner eigenen sexistischen Philosophie:

»Kurz gesagt, ihre äußere Erscheinung war Ausdruck ihres Problems.« Erickson erklärte sich nur unter der Bedingung bereit, sie zu behandeln, wenn sie seine Forderungen erfüllte:

Meine Bedingungen sind absoluter, vollständiger und uneingeschränkter Gehorsam im Hinblick auf jede Anweisung, die ich Ihnen gebe, gleichgültig, was ich Ihnen befehle oder von Ihnen verlange... 
Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun sollen, und Sie werden es tun. Das ist es. Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen Ihre Stelle aufgeben, dann werden Sie kündigen. Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen zum Frühstück rohe Knoblauchzehen essen, dann werden Sie es tun... Ich will Taten und Reaktionen sehen — keine Worte, keine Ideen, keine Theorien und keine eigenen Vorstellungen... 
Wenn Sie kommen, unterwerfen Sie sich der Therapie, und Ihr Bankkonto gehört mir ebenso wie Ihr Kraftfahrzeugschein... Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun müssen, und wie Sie es tun müssen, und Sie werden eine sehr gehorsame Patientin sein.

Dann versetzte Erickson sie in Trance und sagte ihr: 

»Ann (Grace), Sie sind einen Meter achtundfünfzig groß, und Sie wiegen etwa 120 Pfund. Sie haben schlanke Fesseln, eine ausgezeichnete Figur, einen schönen Mund und schöne Augen...« 


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Dann stellte er ihr in äußerst eindringlichem Ton, als handle es sich um eine lebenswichtige Mitteilung, die folgende Frage: »Ann, wußten Sie, daß Sie ein hübsches Stückchen Fell zwischen den Beinen haben?« Ann starrte den Verfasser ein paar Minuten an, errötete tief, war aber offensichtlich so weit kataleptisch verkrampft, daß sie weder die Augen schließen noch sich irgendwie bewegen konnte. »Das haben Sie wirklich, Ann, und es ist entschieden dunkler als das Haar auf Ihrem Kopf. Also wenigstens eine Stunde vor dem Zubettgehen, sagen wir heute abend um neun Uhr, nachdem Sie geduscht haben, stellen Sie sich nackt vor den großen Spiegel in Ihrem Schlafzimmer. Betrachten Sie Ihren Körper von der Gürtellinie abwärts systematisch und ganz gründlich... Versuchen Sie zu erkennen, wie sehr es Ihnen gefallen würde, wenn der richtige Mann Ihr schönes Schamhaar und Ihren sanft gerundeten Bauch streichelte. Denken Sie, wie es Ihnen gefallen würde, wenn er Ihre Oberschenkel und Hüften streichelte.«

 

Dann sagte er ihr, »betrachten Sie genau die beiden Kennzeichen Ihrer Weiblichkeit auf Ihrer Brust. Untersuchen Sie sie sorgfältig, mit den Augen und mit den Händen.« Nun fing er an, sie heftig und sehr ins einzelne gehend wegen ihres schlechten Geschmacks, mit dem sie sich kleidete, wegen der schmutzigen Fingernägel, der ungepflegten Frisur, ihrer Zähne, weil sie kein Deodorant benutzte und so weiter zu schelten. Er befahl ihr dann, alles, was er gesagt hatte, vollkommen zu vergessen: »Lassen Sie sich nicht mehr bei mir blicken, bevor Sie die nächste Behandlung nicht als eine <Vision des Entzückens> empfinden.« Anschließend berichtet er, welchen Erfolg er mit seiner Behandlung gehabt hat, und verbürgt sich natürlich für die Richtigkeit seiner Darstellung. Er sagt, die Frau habe einen Arzt geheiratet, vier Kinder mit ihm gehabt, »sah aus, als sei sie nicht älter als vierzig«, obwohl sie fünfundvierzig Jahre alt war, »und die ganze Familie war offensichtlich glücklich und lebte in geordneten Verhältnissen.« Offensichtlich glücklich und in geordneten Verhältnissen? Wer setzte hier die Maßstäbe? Natürlich Erickson. Aber offenbar wußte er nichts Näheres über die Frau und ihfte Familie. Warum war er dann so sicher, daß diese Menschen jetzt ein so überaus glückliches Leben führten? Wenn sie es taten, dann rechtfertigte es das, was er der Frau angetan hatte. 


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Er mußte glauben, daß seine »Therapie« wirkte, daß sie auf magische Weise erfolgreich war und daß er wie der Hexenmeister und Magier, für den ihn viele andere Therapeuten hielten, das häßliche Entlein in einer einzigen Sitzung in eine glückliche, schöne Prinzessin verwandelt hatte. Seine Krankengeschichten lesen sich wie Märchen, aber wie Märchen, die nur erfunden worden sind, um Milton H. Erickson mit einem Glorienschein zu umgeben.

Um gerecht zu sein muß gesagt werden, daß Erickson als Kind und als Erwachsener schwerste körperliche Behinderungen überwunden hat. Mit 17 Jahren erkrankte er schwer an Kinderlähmung. Er war vollkommen gelähmt, konnte nur noch sprechen und die Augen bewegen, und die Ärzte glaubten, er werde die Krankheit nicht überleben. Mit all seiner Energie schaffte er es, die Beweglichkeit seiner Glieder wiederherzustellen und entwickelte dabei einen sehr starken Oberkörper. Im späteren Leben schwächte sich seine Schultermuskulatur so weit, daß er oft beide Hände brauchte, um beim Essen das Besteck aufzuheben. Sein Zustand verschlimmerte sich so weit, daß er an den Rollstuhl gefesselt war. Seine Frau hat in einem Brief einen sehr bewegenden Bericht darüber geschrieben.49 Vielleicht war es diese Behinderung, die Erickson so sensibel gegenüber dem körperlichen Zustand anderer Menschen gemacht hat, und zwar in einer Weise, die dem Leser beleidigender erscheinen wird als den Menschen, die unmittelbar mit ihm zu tun hatten.

Zurück zu seiner Behandlungsmethode: Eine einzige therapeutische Sitzung, ein paar weise Worte, und die Person (gewöhnlich eine Frau) hat sich also für ihr ganzes Leben in das Ideal Ericksons verwandelt.

Eine versteckte Vorbedingung dafür, andere Menschen verändern zu können, ist der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit. Wenn es. wie Haley sagt, die Aufgabe des Therapeuten ist, einen Patienten rasch zu verändern, dann muß der Therapeut wissen, was wirklich, was wahr und was gut ist, und er muß den Patienten zwingen, die Definitionen des Therapeuten zu akzeptieren, damit die Veränderung sofort erfolgen kann. Erickson erreichte das durch Induktion und Suggestion in der Trance. Das geschah oft spontan, so daß die Person, welche die meist posthypnotische Anweisung erhielt, sich dieser Anweisung gar nicht bewußt wurde. Dabei zwingt, wie Erickson selbst zugibt, der Therapeut dem Patienten seinen Willen auf und veranlaßt ihn, sich in der vom Therapeuten gewünschten Richtung zu verändern. 


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Aber diese Veränderung ist nur so gut wie die Einsicht des Therapeuten. Ob die Wertbegriffe des Therapeuten mit denen des Patienten übereinstimmten, war für Erickson mehr oder weniger irrelevant, denn er war überzeugt, daß er in seinem Leben gelernt hatte, wie man sich in dieser Welt zu verhalten habe.

In einem anderen Fall wurde Erickson von einer mehr als 30 Jahre alten Frau konsultiert, weil sie ein übermäßiges Interesse für das Sexualleben anderer Menschen hatte.50)

Sie war verheiratet und hatte drei Kinder. Nach dem dritten Kind hatte sich ihr Mann sterilisieren lassen. Erickson versetzte sie in Trance und gab ihr die posthypnotische Anweisung, offen mit ihm zu sprechen.

Nun ergoß sich ein ganzer Wortschwall im gemeinsten Jargon der Straße... Sie war sich nicht klar darüber gewesen, was ihr durch die Sterilisierung verloren gehen würde... In ihrem zwanghaften Interesse für Liebesaffären, von denen sie gerüchteweise oder in den Nachrichten gehört hatte, interessierten sie nur solche, in denen die verheirateten oder geschiedenen Männer auch Kinder gezeugt hatten. Dann erklärte sie ganz unverhohlen, ihr Problem sei das zwingende Verlangen, wieder sexuelle Beziehungen mit einem biologisch voll funktionsfähigen Mann zu haben, selbst auf die Gefahr hin, illegitim schwanger zu werden.

Erickson kam zu der Überzeugung, daß sie in Wirklichkeit eine Affäre mit einem Mann anfangen wollte, hielt das aber nicht für richtig und versetzte sie daher noch einmal in Trance. Dabei gab er ihr die posthypnotische Anweisung, viele erotische, sexuell befriedigende Träume zu haben. Nach dem Aufwachen »würde sie sich an diese Träume erinnern und über sie phantasieren... Diese Phantasien würden spontan in einem intensiven Orgasmus gipfeln.« Das geschah, sehr zur Zufriedenheit von Erickson.

Als sie nun am Morgen hellwach den Traum an sich vorüberziehen ließ, beschloß sie, über einen der Männer zu phantasieren, den sie vorher genannt hatte, und war begeistert, nun einen Orgasmus zu erleben. Am gleichen Nachmittag holte sie ihren Mann in seinem Büro ab. Während sie auf ihn wartete, hatte sie

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seinen Geschäftspartner, einen verheirateten Mann mit einer großen Familie, begrüßt und auch dabei heimlich und sofort einen Orgasmus gehabt. Am Abend schlug sie ihrem Mann vor, ein Ehepaar zu besuchen, das sie sehr schätzte. Beim Kartenspiel mit dem Gastgeber als Partner hatte sie wieder einen Orgasmus.

Wenn man diesen Bericht liest, fragt man sich, ob er wirklich den Tatsachen entspricht. Ist das Vergnügen, das Erickson empfand, als die Frau ihm diesen Bericht lieferte, wirklich objektiv? Das Ganze klingt zu phantastisch und unglaubhaft. Viele von Ericksons Berichten vermitteln uns den Eindruck, daß sie ihm selbst sexuelles Vergnügen bereiten sollten. Natürlich spricht er niemals davon, daß ihm seine Arbeit sexuelles Vergnügen bereitet habe, aber Berichte wie der folgende lassen es vermuten. Hier erzählt er die Geschichte einer jungen Frau, die ihre Hochzeit mit dem Mann, den sie liebt, immer wieder hinausschiebt. Zu Ericksons Mißvergnügen stellte sie sich außerdem »jedes Mal, wenn das Thema Sex berührt wurde, taub. Sie schaltete einfach ab. Sie tat so, als könne sie einen weder sehen noch hören.« Also trug Erickson ihr auf, »die kürzesten Shorts zu kaufen, die es gibt.« Dann sagte er ihr:

»Jetzt werden Sie zuhören, wenn ich mit Ihnen über Sex spreche, oder ich werde Ihnen befehlen, die Shorts in meiner Gegenwart auszuziehen und wieder anzuziehen.« Nun hörte sie mir zu, als ich mit ihr über sexuelle Dinge sprach. Dann sagte ich ihr: »Heute haben wir den ersten Juli. Sie haben bis zum 17. dieses Monats Zeit, diesen Burschen zu heiraten. Kommen morgen wieder. Ich werde Sie auf die Hochzeit vorbereiten.« (S. 127)

Am folgenden Tag kam die Frau zur Behandlung, und Erickson sagte ihr:

»Jetzt müssen Sie lernen, sich in Gegenwart eines Mannes auszuziehen und zu Bett zu gehen. Fangen Sie also an, sich auszuziehen.« Langsam, fast automatisch, zog sie sich aus. Nun mußte sie mir ihre rechte Brust, ihre linke Brust, ihre rechte Brustwarze, ihre linke Brustwarze, ihren Bauch, ihren Genitalbereich, ihre Knie und ihren Glutäalbereich (das Gesäß) zeigen.

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Ich forderte sie auf, auf die Stellen zu deuten, an denen sie von ihrem Mann geküßt werden wollte. Dann sagte ich ihr, sie solle sich umdrehen und langsam anziehen. Sie zog sich an. Ich entließ sie. (S. 128)51

Obwohl Erickson die Rolle des verständnisvollen und freundlichen Weisen spielen wollte, wir wir ihn aus den fernöstlichen Legenden kennen, war er in Wirklichkeit nur ein mit allen medizinischen und psychiatrischen Fähigkeiten ausgerüsteter westlicher Psychiater. Als eine junge Frau ihn konsultierte, die dringend eine Abtreibung wünschte, weigerte sich Erickson, ihr einen Kollegen zu empfehlen, der ihr helfen könnte. Darauf drohte sie, sich das Leben zu nehmen. Nun würde man erwarten, daß er sie mit einer seiner Wunderkuren von ihrem Wahn befreite, aber Erickson ließ drei Polizeibeamte kommen, um sie loszuwerden. Haley fragte ihn nach dem Grund: »Warum haben Sie nicht versucht, ihr aus dieser Situation herauszuhelfen, anstatt die Polizei zu holen?« Seine Antwort war wenigstens ehrlich:

Weil es eine Studentin an der Temple University war und ihre Zimmergenossin wußte, daß sie mich aufgesucht hatte. Hätte das Mädchen Selbstmord begangen oder eine Schwangerschaftsunterbrechung vornehmen lassen, dann hätte mir das beruflich schwer schaden können. Davor mußte ich mich schützen, und deshalb holte ich die Polizei.52

Bei seiner Arbeit am Arizona State Hospital machte Erickson reichlich von Zwangsmaßnahmen Gebrauch. Er schreibt, er habe vielbesuchte Demonstrationen »über die Zweckmäßigkeit psychischen Zwangs« veranstaltet. »Dabei ließ ich meine Patienten auch in Zwangsjacken stehen.«53

Die Methoden, mit denen Erickson sogenannte psychotische Patienten behandelt, erinnern an John Rosen. Als ein männlicher Patient Erickson sagte, er glaube nicht, daß er einen Dickdarm habe, ließ Erickson ihn festbinden und ihm »mit einer Magensonde ein starkes Abführmittel verabreichen«. Als der Mann laut schreiend protestierte und verlangte, ins Klosett gebracht zu werden, sagte Erickson: »Aber Sie haben doch keinen Mastdarm.«54

Dann erklärte der Mann, er könne nicht aus einem Glas trinken. »Ich ließ ihm wieder eine Magensonde einführen und eine große Menge Salz einflößen. 


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Das war eine sehr unangenehme Art, ihn zu dehydrieren. Ich entzog ihm damit praktisch alle Körperflüssigkeit, und er hatte das Gefühl, vor Durst umzukommen.« Darauf trank der Mann ein Glas Milch, wie Erickson es vorausgesagt hatte. Das sind reichlich grobe Scherze. Manchmal kamen die Grobheit seiner Worte und die Grobheit des Denkens zusammen, wie bei der Frau, von der Erickson berichtet, daß sie ihm sagte,

sie habe endlich genug von ihren schlimmen Hemmungen. Auch ihre Mutter habe als Folge der grausamen Behandlung durch ihren Mann an furchtbaren Hemmungen gelitten. Sie und ihre Schwestern hätten darin ihrer Mutter geglichen und seien ihr ganzes Leben lang gehemmt gewesen. Nun wollte sie endlich ihre Hemmungen loswerden. Ich sagte ihr, sie solle entweder das Eis verlassen oder Schlittschuhlaufen. Das hatte ihr aber auch schon ihr anderer Psychotherapeut gesagt. »Schon gut, ich werde es Ihnen noch einmal sagen. Stehen Sie vom Topf auf, oder scheißen Sie.«55

Erickson glaubte, die Patientin mit diesem einen Satz von ihren Hemmungen befreit zu haben. Vieles von dem, was Erickson getan und gesagt hat, läßt mich an eine Art Gefängnistherapie denken. Er brüstet sich damit, daß er das Verhalten seiner Patienten nicht deutet. Aber seine Anweisungen unterscheiden sich im Grunde nicht von Deutungen. Es ist erschreckend daran zu denken, daß sich die Psychotherapie in diese Richtung entwickeln könnte, und doch scheint das der Fall zu sein. Haley schreibt:

Zu der Zeit, als ich anfing, diese Gespräche zu führen, waren Erickson und seine Therapie so einmalig, daß es uns schwerfiel, sie zu verstehen. In der damals üblichen psychodynamischen Standardtherapie sollte der Therapeut dem Patienten keine Anweisungen geben, sondern nur die Rolle des passiven Zuhörers übernehmen. Angesichts dieser Tatsache erschien uns die Therapie von Erickson als eine seltsame Abweichung vom Normalen, und wir bemühten uns vergeblich, den Sinn einer Methode zu begreifen, die uns zehn oder zwanzig fahre später durchaus vernünftig erschien. Obwohl er zur Zeit dieser Gespräche insofern eine Einzelerscheinung zu sein schien, als sich seine The-

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rapie von der seiner Kollegen unterschied, glaubt man jetzt, daß sich die Psychotherapie in seine Richtung entwickelt hat, und man hält es für richtig, Ehepaare und Familien gemeinsam zu behandeln und den Patienten klare Anweisungen zu geben, um diese Menschen zu veranlassen, sich zu ändern.56)

Jeffrey Zeig schreibt, »in der westlichen Welt wird wahrscheinlich keine psychotherapeutische Methode von so vielen Kollegen übernommen wie die von Erickson.«57)

Selbst wenn das eine Übertreibung ist, darf man nicht bezweifeln, daß Erickson und seine Schule die Psychotherapie in den 80er Jahren sehr stark beeinflußt haben.

Bei der Technik von Erickson geschieht in augenscheinlich gewaltloser Weise das gleiche, was wir bei Rosen sehen — der Therapeut ist der Boß. Die Hypnotherapeuten sagen ganz offen, was sie erreichen wollen: Sie wollen den Patienten in eine verwundbare, wehrlose Lage versetzen, in der man ihm befehlen kann, was er zu tun hat. Es überrascht nicht, daß Erickson der Versuchung erlegen ist, seine Patienten zu mißhandeln.

 

Die eklektische Therapie 

 

Etwa die Hälfte aller Psychologen, die als Therapeuten arbeiten, bezeichnen sich als Eklektiker.58) Nach Webster's Collegiate Dictionary ist das »die Methode oder Praxis, aus verschiedenen Systemen das auszuwählen, was am besten zu sein scheint.« Der Leser sollte sich allerdings klar darüber sein, daß die Systeme, aus denen diese Therapeuten das »Beste« ausgewählt haben, die gleichen sind, die ich in diesem Buch beschrieben habe. Die meisten Psychologen glauben, daß der »Eklektizismus die günstigsten Aussichten auf eine wirklich umfassende Behandlungsmethode bietet.«59)

Und die Eklektiker sagen, die neuesten Untersuchungen hätten gezeigt, Erfolg oder Mißerfolg einer Therapie haben fast nichts damit zu tun, für welche besondere Therapie sich der Psychiater entschieden habe. Sie seien alle gut oder verhältnismäßig wirksam. Jedenfalls habe es den Anschein, als gebe es keine Theorie, die irgendeiner anderen vorzuziehen sei.60)


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Sol L. Garfield, der ehemalige Herausgeber des Journal of Consulting and Clinical Psychology (und Präsident der Abteilung für klinische Psychologie der American Psychological Association) schreibt:

Es hat daher den Anschein, daß eine bestimmte Art der Erklärung, die im Verlauf der Psychotherapie von dem Therapeuten gegeben wird, eine positive Wirkung auf den Patienten hat. Scheinbar hat es in der therapeutischen Situation nur eine geringe Bedeutung, ob die zum Ausdruck gebrachte Erklärung oder Deutung in theoretischem oder wissenschaftlichem Sinn »richtig« ist oder nicht. Das ist eine recht kühne Behauptung, und wenn ich diese Auffassung vor Versammlungen von Therapeuten vertreten habe, war mir bewußt, daß sie wahrscheinlich sehr kühl aufgenommen werden dürfte — und das ist durchaus verständlich. Sie bedeutet eine Herausforderung des professionell-wissenschaftlichen Glaubenssystems des einzelnen Therapeuten und scheint dazu seine berufliche Arbeit herabzusetzen. Aber was wir, besonders in letzter Zeit, bei Vergleich der Ergebnisse der wichtigsten Formen der Psychotherapie festgestellt haben, sollte uns veranlassen, uns diesem Problem unvoreingenommen zu stellen.61

Der Eklektizismus ist nichts Neues. In gewissem Sinne könnte man behaupten, jeder Therapeut sei ein Eklektiker, auch wenn er sich selbst etwa als Psychoanalytiker bezeichnet, der sich streng an die von Freud entwickelten Methoden hält. Diesen Standpunkt hat auch der scharfzüngige kritische Psychoanalytiker Edward Glover vertreten, als er den Vorsitz des Ausbildungsausschusses der British Psycho-Analytical Society übernahm. Bei einer 1937 angestellten Untersuchung der Verfahren britischer Psychoanalytiker stellte er einen erstaunlichen Mangel an Übereinstimmung bei der Technik der Psychoanalyse fest, obwohl die meisten Analytiker eine ähnliche Ausbildung gehabt hatten. Er kam zu dem Schluß:

Um es ganz einfach zu sagen: Wenn Psychoanalytiker über wichtige Punkte der Lehre verschiedener Meinung sind, muß dereine oder andere, auch wenn er es bestreitet, seinen Patienten im Verlauf der Behandlung Anweisungen geben, anstatt sie zu analysieren.62)

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Dem Patienten »Anweisungen« zu geben bedeutet in der Geschichte der Psychoanalyse einen Verstoß gegen die Reinheit der Lehre. Dem Patienten würde dann gesagt, was er tun solle, anstatt ihm die Möglichkeit zu geben, selbst zu entdecken, welches Verhalten für ihn das richtige ist. Glovers Anliegen ist es, darauf hinzuweisen, daß Meinungsverschiedenheiten unter den Analytikern weitreichende Folgen haben und mit den theoretischen Grundsätzen der klassischen Psychoanalyse unvereinbar sind. Während man dieser Auffassung ohne weiteres zustimmen kann, ist es doch nicht so einfach, sich darüber zu einigen, wer eine Analyse vornimmt und wer seinen Patienten Anweisungen gibt, wie Glover in seinem heftigen Streit mit Melanie Klein und Angehörigen ihrer Schule feststellen sollte.

Ob ein Psychoanalytiker nun Eklektiker ist oder nicht, niemand kann Psychotherapie praktizieren, ohne gewisse theoretische Entscheidungen getroffen zu haben. Wie sollte man sich zum Beispiel entscheiden, ob man den Patienten am besten allein, mit seinem Ehepartner, mit der ganzen Familie oder im Rahmen einer Gruppe behandelt, wie lange diese Behandlung dauern soll, wie viele Sitzungen erforderlich sind und so weiter, ohne diese Entscheidung im Rahmen bestimmter theoretischer Voraussetzungen zu treffen? Soll man das Verhalten des Patienten interpretieren, ihn konfrontieren, ihn trösten, ihn befragen, ihm zustimmen oder einfach gar nichts sagen? Obwohl in jüngster Zeit die Tendenz besteht, den Eklektizismus als eine besondere theoretische Richtung anzusehen, ist er in Wirklichkeit eine Mischung der Methoden verschiedenster Schulen oder zumindest verschiedener theoretischer Richtungen.

Der eklektische Therapeut wird wahrscheinlich in den meisten Fällen seine Theorie als psychodynamisch orientierte Psychotherapie bezeichnen. Das ist nur eine Abwandlung des Begriffs »psychoanalytisch orientierte Psychotherapie«. Die Anfänge dieser Richtung finden wir bei den in den 50er Jahren unternommenen Versuchen, eine Therapie auf der Grundlage psychoanalytischer Prinzipien zu entwickeln.63)

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Wenn man eklektische Therapeuten bittet, einem die Persönlichkeiten und Schulen zu nennen, denen sie am meisten verdanken, dann hört man überraschend wenige Namen. 

Die meisten erwähnen Freud und seine Schüler (Anna Freud, Otto Fenichel, Heinz Hartmann, Phyllis Greenacre, Bertram Lewin, Erik Erikson64), besonders Ferenczi, vielleicht noch Wilhelm Reich und aus den moderneren Schulen Melanie Klein, Heinz Kohut,65) sowie die Neo-Freudianer Karen Horney und Erich Fromm,66) gelegentlich werden auch Harry Stack Sullivan und Frieda Fromm-Reichmann, Jung, Rogers und die Vertreter von Methoden genannt, die auf eine Beeinflussung des Patienten verzichten. 

Einige Therapeuten nennen auch Perls und die Gestalttherapie, den Existentialismus, Rollo May, Abraham Maslow, Ludwig Binswanger und sogar den psychoanalytischen Existentialisten R.D. Laing67) sowie den umstrittenen Psychiater Thomas Szasz. 

Viele Therapien haben in der allgemeinen Psychotherapie ihren Einfluß verloren, zum Beispiel Eric Bernes Transaktionsanalyse68) und Arthur Janovs Urschrei.69) Aus diesem Grund sind sie in diesem Buch nicht besprochen worden.70)

Es gibt schließlich eine geradezu unübersehbare Menge verschiedener therapeutischer Methoden.

1959 hat Robert A. Harper 36 verschiedene Therapien aufgezählt.71) Bis 1980 gab es mehr als 250 in zwei verschiedenen Büchern erwähnte Behandlungsmethoden.72)

Es war mir nicht möglich, mich Schule zu beschäftigen. Ich habe jedoch in diesem Buch die meisten wichtigen Persönlichkeiten erwähnt, die auf die Entwicklung der Psychotherapie Einfluß genommen haben. Viele von denen, auf deren Arbeit ich nicht eingegangen bin, sind von Kollegen beeinflußt worden, deren Methoden ich hier behandelt habe. So hat zum Beispiel Karen Horney den Ideen von Ferenczi viel zu verdanken. 

Mit Ausnahme von Honig hat sich die Psychotherapie mit den Methoden aller Therapeuten, auf die ich mich in diesem Buch konzentriert habe, auseinandersetzen müssen. Sogar John Rosen, der seine Patienten schwer mißhandelt hat und damit eines der abschreckendsten Beispiele darstellt, wird in der Literatur über die eklektische Psychotherapie häufig erwähnt. Jay Haley bezieht sich in seinem Buch Strategies of Psychotherapy (S. 100) ebenso unkritisch auf seine Arbeit wie Frieda Fromm-Reichmann.73)

Wichtig ist vor allem die Erkenntnis, daß die Grundvoraussetzungen für ^^ wie sie sich auch theoretisch orientieren und wie die Techniken ihrer praktischen Durchführung auch sein mögen. Ich meine damit eine Geisteshaltung, durch welche die Psychotherapie stärker geprägt wird als durch jede besondere Richtung, und zwar die grundsätzliche Entscheidung, eine Therapie anzubieten. 

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Wohl gibt es einzelne Therapeuten, die ihren Patienten mit menschlicher Wärme und liebendem Verständnis begegnen, aber kein Therapeut, welche Ausbildung er auch genossen haben mag oder welcher Schule er angehört, kann von der Kritik ausgenommen werden, die in diesem Buch zum Ausdruck kommt. Allein die Tatsache, daß sie eine Therapie anbieten, fordert mich zu meiner Kritik heraus. 

Als Einzelpersönlichkeiten mögen sie einen tadellosen Charakter und eine hohe Intelligenz besitzen, sobald sie jedoch die unsichtbare Robe der Autorität tragen, die ihnen von der Psychotherapie verliehen wird, haben sie sich in einen völlig anderen Bereich begeben. 

 

In keinem der buchstäblich Tausenden von Büchern und Artikeln über die Psychotherapie, die ich für die Arbeit an diesem Buch gelesen habe, wird der Wert der Therapie in Frage gestellt. Nicht einmal die vielen Psychotherapeuten, die diesen Beruf aufgegeben haben, zweifeln daran. Gewöhnlich stellen sie ihre Arbeit ein, weil sie »ausgebrannt« sind oder glauben, es fehle ihnen irgend etwas, weil ihre Tätigkeit als Therapeut sie nicht mehr so befriedigt wie am Anfang. 

Die Vorstellung, der Wert der Therapie als solcher könnte in Frage gestellt werden, ist ein solches Tabu, daß die meisten Therapeuten nicht einmal an die Möglichkeit denken, der Fehler liege nicht bei Ihnen sondern bei einer Idee, die sich als sinnlos erwiesen hat, wenn sie überhaupt jemals einen Sinn gehabt haben sollte.

Von der amerikanischen Regierung erstellte Statistiken schätzen, daß 35 Millionen Amerikaner an irgendeiner »geistigen Störung« leiden.74)

1980 wurden in den Vereinigten Staaten 25.523.915 Konsultationen bei Psychiatern und 26.887.870 Konsultationen bei Psychologen registriert. Fast 10 Millionen Menschen haben einmal oder häufiger eine psychologische oder psychiatrische Beratung in Anspruch genommen.75)

In der Psychotherapie werden viele Milliarden Dollar umgesetzt. Es wird Zeit, eine gründliche Unter­suchung über die Hintergründe der materiellen Ausbeutung des Elends anderer Menschen vorzunehmen. Das habe ich mit diesem Buch tun wollen. 

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