Vorwort 1973 von William L. Langer
7-9-11
Die Leitung und Lenkung der menschlichen Verhältnisse ist bisher niemals Kindern anvertraut gewesen, und die Historiker, die sich hauptsächlich mit politischen und militärischen Ereignissen — und insbesondere mit den Intrigen und Rivalitäten an Königshöfen — beschäftigten, haben den Qualen der Kindheit bisher so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt. Selbst die Pädagogen widmen sich im wesentlichen der Organisation von Schulen und Lehrplänen sowie Theorien über die Erziehung und fragen sich nur gelegentlich, was mit den Schülern zu Hause und in der übrigen außerschulischen Welt geschieht.
Es dürfte inzwischen kein Zweifel mehr daran bestehen, daß die Geschichte der Kindheit für das Studium der menschlichen Gesellschaft von höchster Bedeutung sein muß, denn wenn, wie es heißt, das Kind der Vater des erwachsenen Menschen ist, müßte es möglich sein, durch das Verstehen der Vergangenheit eines Individuums oder einer Gruppe zu einem klügeren Urteil über die Erwachsenenphase des Individuums wie der Gruppe zu gelangen. Aus diesem Grunde kann man den hier vorgelegten Versuch, die Einstellungen und Verhaltensweisen von Eltern gegenüber ihren Kindern systematisch zusammenzutragen, nur sehr begrüßen. Wie immer die Befunde der Forscher, die zu der in diesem Band dokumentierten Pionierarbeit beigetragen haben, im einzelnen aussehen — sie werden unser Wissen über die Vergangenheit der Menschheit wesentlich erweitern und dadurch unser Verständnis des Prozesses, in dem Einstellungen und Verhaltensweisen sich verändern, vertiefen.
Die hier vorgelegten Forschungsergebnisse sind leider höchst deprimierend. Sie berichten von der langen und traurigen Geschichte der Mißhandlung von Kindern, die in frühester Zeit begann und heute noch nicht zu Ende ist.
Wir müssen nicht annehmen, daß die hier formulierten allgemeinen Schlußfolgerungen für die ganze Menschheit und für alle Zeiten gelten. Zweifellos hat es zu allen Zeiten auch Eltern gegeben, die ihre Kinder liebten und ihnen zärtlich zugetan waren, und ebenso zweifellos sind viele Fehler, die sie beim Großziehen ihrer Kinder gemacht haben, eher ihrer Unkenntnis als ihrer Böswilligkeit zuzuschreiben.
Noch immer gibt es eine erschreckend hohe Zahl von Kindesmißhandlungen, aber es ist auch eine Tatsache, daß sich seit dem achtzehnten Jahrhundert allmählich eine menschlichere Einstellung zu Kindern herausbildet.
Vielleicht ist die herzlose Behandlung von Kindern — Kindesmord, Weggabe, Vernachlässigung, barbarische Wickelpraktiken, absichtliches Verhungernlassen, Prügel, Isolierung usw. — nur ein Aspekt der Grausamkeit der menschlichen Natur, der tief verwurzelten Mißachtung der Rechte und Gefühle anderer.
Kinder können sich gegen Angriffe der körperlich stärkeren Erwachsenen nicht wehren; sie sind Opfer von Kräften, über die sie selbst nicht verfügen, und sie wurden und werden auf alle erdenklichen — und oft auch unerdenklichen — Weisen gequält, in denen sich bewußte und — viel häufiger — unbewußte Motive ihrer Eltern ausdrücken.
Das Problem könnte freilich sehr wohl noch einen anderen Aspekt haben, den man zwar nicht »beweisen« kann, für den es aber zahlreiche Anzeichen gibt. Wie die Tiere und Pflanzen können sich auch die Menschen nahezu unendlich vermehren.
Zu allen Zeiten sind mehr Kinder geboren worden, als Wohn- und Arbeitsplätze vorhanden waren oder von der Gesellschaft geschaffen werden konnten. Wahrscheinlich liegt darin ein Hauptgrund für die weitverbreitete Praxis des Kindesmords, der stets hauptsächlich Mädchen, zum Opfer gefallen sind, die ja eines Tages weitere Kinder gebären könnten.
Und die zumindest in der christlichen Welt herrschende Vorstellung, sexuelle Beziehungen seien sündig und Kinder von Geburt an böse, hat wahrscheinlich dieselbe Ursache. Wie anders ließen sich die grausamen Praktiken erklären, die das Böse bannen und die Kinder weniger lästig machen sollten?
Zahllose Frauen glaubten, sie hätten zu viele Kinder. Sicherlich waren die reichen oberen Klassen an Nachkommen interessiert, um Erben für ihr Vermögen zu haben, und in manchen Teilen der Welt wollen Bauern auch heute noch große Familien haben, um sich für das Alter versorgt zu wissen; doch solange die durchschnittliche Lebenserwartung in der westlichen Welt dreißig Jahre oder weniger betrug, konnten diese Momente keine regulierende Wirkung haben. Bauersfrauen, die den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten mußten, konnten ihre kleinen Kinder kaum anders denn als Plage erleben und scheuten vor keinem Mittel zurück, sie ruhig zu halten.
Kinder wurden — das ist keine neue Erkenntnis — in sehr frühem Alter zur Arbeit gezwungen und auch dabei eher als Sklaven denn als Menschen behandelt.
Kurz, daß man Kinder als eine wirkliche Last empfand, die man haßte, war keineswegs die Ausnahme.
Dieser Band enthält eine Fülle von verschiedenartigen Materialen aus allen Zeiten und Völkern. Die Geschichte, die sie erzählen, ist von monotoner Schmerzlichkeit; aber es ist höchste Zeit, daß die Geschichte erzählt wird und nicht nur die Psychologen und Soziologen, sondern auch die Historiker aus ihr lernen. Ein so großer und entscheidender Teil der menschlichen Existenz darf nicht länger im verborgenen bleiben und von denen übersehen werden, deren Aufgabe es ist, die Vergangenheit des Menschen zu erhellen.
9
William L. Langer, Dezember 1973
Vorbemerkung von Lloyd deMause
10-11
Was hat es bedeutet ein Kind zu sein — im kolonialen Amerika oder in Italien zur Zeit der Renaissance? Haben sich Eltern im wesentlichen immer so verhalten, wie sie es heute tun? Haben sie im Grunde immer auf die gleiche Weise für ihre Kinder gesorgt oder hat sich die Sorge für die Kinder im Laufe der Jahrhunderte völlig verändert? Welche Gefühle haben Eltern ihren Kindern entgegengebracht, was haben sie ihnen gesagt, welche heimlichen Phantasien haben sie in bezug auf sie gehabt, und welche Bedeutung haben diese Phantasien für das Aufwachsen der Kinder in der Vergangenheit gehabt?
Solche Fragen haben wir zehn Autoren dieses Bandes uns gestellt, als wir vor fünf Jahren mit der von der Association for Applied Psychoanalysis unterstützten Arbeit an dem großen Forschungsprojekt über die Geschichte der Kindheit in der westlichen Welt begannen. Die über die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern Auskunft gebenden Zeugnisse, die wir gefunden haben, bieten den Stoff für eine als solche schon höchst faszinierende Geschichte; aber nicht nur das — sie werden uns zweifellos auch zu einem besseren Verständnis unserer Geschichte verhelfen, uns klarer sehen lassen, wie wir so geworden sind, wie wir heute sind. Und Einsicht in unsere Geschichte ist von überragender Bedeutung für die schwierige Aufgabe, die nächste Generation zu erziehen, die mit der Welt fertig werden muß, die wir ihr überlassen.
Trotz des psychoanalytischen Ansatzes unserer Arbeit sind wir alle in erster Linie Historiker und sehen unsere Hauptaufgabe darin, die Quellen objektiv daraufhin zu prüfen, ob sie etwas über die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in verschiedenen Zeiten und Ländern aussagen. Historiker haben bisher nur selten zusammengearbeitet. Unsere bisherige Zusammenarbeit ist besonders eng und fruchtbar gewesen; wenn jemand eine neue Quelle entdeckt hatte, berichtete er sofort allen anderen darüber. Wir sind in diesen fünf Jahren mehrere Male zusammengetroffen und standen durch eine Reihe von Projektbulletins in Verbindung. Gleichwohl ist schließlich jeder einzelne Beitrag unabhängig von den anderen niedergeschrieben worden. Unterschiedliche Interpretationen haben wir nicht zu verbergen versucht; gerade sie werden sich wahrscheinlich als die besten Ausgangspunkte für die weitere Forschungsarbeit erweisen.
Daß dieses Buch erst ein Anfang ist, geben wir gerne zu.
Die Geschichte der Kindheit ist nicht gerade das am einfachsten zu bearbeitende Spezialgebiet historischer Forschung. Wenn wir auf der Suche nach einer einzigen Aussage über die Kindheit Dutzende schwer zu entziffernder Manuskripte sorgfältig durchgesehen hatten, schien es uns oft, daß die Regel der Historiker, nämlich: »die Dinge, auf die es ankommt, sind kaum jemals zu Papier gebracht worden«, insbesondere auf unserem Gebiet gelte.
Doch die Rekonstruktion der Geschichte der Kindheit ist ein aufregendes Unternehmen und der größten Anstrengungen wert. Wir glauben, daß Sie nach der Lektüre dieses Bandes der gleichen Ansicht sein werden.
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