Boelderl 1999       Start     Weiter

1. Evolution der Kindheit

Lloyd DeMause   Übersetzer: Wiggershaus, 1977

Do you hear the children- weeping, Oh my brothers....
(Elizabeth Barrett-Browning, The Cry of the Children)

12-40

Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell mißbraucht wurden. Wir wollen zusehen, wieviel von dieser Geschichte der Kindheit wir aufgrund der uns verbliebenen Zeugnisse rekonstruieren können.

Daß die Historiker die erwähnte Gesetzmäßigkeit nicht schon früher bemerkt haben, liegt daran, daß man lange Zeit geglaubt hat, seriöse Geschichts­schreibung befasse sich mit der Darstellung öffentlicher — und nicht privater — Ereignisse. Die Historiker haben sich so sehr auf den lärmenden Sandkasten der Geschichte mit seinen phantastischen Burgen und großartigen Schlachten konzentriert, daß sie meist gar nicht zur Kenntnis genommen haben, was in den Familien und Häusern rund um diesen Spielplatz vor sich ging. Während die Historiker im allgemeinen die Sandkasten­schlachten von gestern untersuchen, um die Gründe für die von heute herauszufinden, fragen wir, wie jede Generation von Eltern und Kindern jene Sachverhalte schafft, die später in der Arena des öffentlichen Lebens zur Darstellung gelangen.

Auf den ersten Blick erscheint das mangelnde Interesse am Leben der Kinder merkwürdig. Die Historiker sind traditionellerweise damit beschäftigt, Kontinuität und Wandel in der Geschichte zu erklären, und seit Platon ist bekannt, daß die Kindheit ein Schlüssel zu deren Verständnis ist. Die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehungen für den sozialen Wandel ist nicht erst von Freud entdeckt worden; Augustinus' Ausruf: »Gebt mir andere Mütter, und ich gebe euch eine andere Welt!« ist fünfzehn Jahrhunderte lang von großen Denkern immer wieder aufgenommen worden, ohne daß sich dadurch die Geschichtsschreibung verändert hätte. 

Seit Freud hat unsere Sicht der Kindheit natürlich neue Dimensionen angenommen, und in den letzten fünfzig Jahren ist die Untersuchung der Kindheit für Psychologen, Soziologen und Anthropologen zu einer Selbst­verständ­lichkeit geworden. Der Historiker steht hier erst ganz am Anfang. Ein so entschlossenes Ausweichen verlangt nach Erklärung.

Gewöhnlich führen die Historiker als Grund für das Fehlen seriöser historischer Untersuchungen zur Kindheit die Lücken­haftigkeit der Quellen an. Peter Laslett wundert sich, warum...

»die unzähligen kleinen Kinder in schriftlichen Berichten unerwähnt bleiben ... Es hat etwas Rätselhaftes, daß die vielen Babys, Krabbelkinder und Heranwachsenden in den Äußerungen der Menschen jener Zeit über ihre eigenen Erfahrungen überhaupt nicht erwähnt werden ... Wir wissen nicht, ob die Väter sich an der Pflege der Kinder beteiligten ... Wir können bis heute noch nichts über das sagen, was die Psychologen Reinlichkeits­training nennen ... Es fällt in der Tat schwer, sich ständig vor Augen zu halten, daß es in der Vergangenheit stets eine so große Zahl von Kindern gab — fast die Hälfte der Gemeinschaft — eine Hälfte, die in einem Zustand zwischen Leben und Tod dahinvegetierte«.1  

Der Familien­soziologe James Bossard meint: »Leider ist die Geschichte der Kindheit nie geschrieben worden, und es ist zweifelhaft, ob sie je geschrieben werden kann, da die historischen Daten dazu fehlen.«2

Diese Überzeugung ist bei den Historikern so stark verwurzelt, daß es nicht verwunderlich ist, daß dieses Buch nicht auf dem Feld der Geschichtswissenschaft, sondern auf dem der angewandten Psychoanalyse entstanden ist. Vor fünf Jahren war ich damit beschäftigt, ein Buch über eine psychoanalytische Theorie des historischen Wandels zu schreiben, und angesichts der Ergebnisse eines halben Jahrhunderts angewandter Psychoanalyse gewann ich den Eindruck, daß sie vor allem deshalb nicht zu einer Wissenschaft geworden war, weil sie sich den Gedanken der Evolution nicht zu eigen gemacht hatte.

Da der Wieder­holungs­zwang per definitionem den historischen Wandel nicht erklären kann, mußte jeder Versuch von Freud, Róheim, Kardiner und anderen, eine Theorie des historischen Wandels zu entwickeln, letztlich in einem fruchtlosen Disput um die Priorität von Henne oder Ei enden, das heißt hier: in einem Disput über die Frage, ob die Kindererziehung von der Art der Kultur abhängt oder ob es sich umgekehrt verhält.

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Es ist häufig genug gezeigt worden, daß die Praktiken der Kindererziehung die Grundlage für die Persönlich­keit des Erwachsenen bilden. Die Frage nach dem Ursprung jener Praktiken aber versetzte jeden Psychoanalytiker, der sie stellte, in Verlegenheit.3

In einem 1968 vor der Association for Applied Psychoanalysis gehaltenen Vortrag, habe ich eine von den Wandlungen in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ausgehende evolutionäre Theorie des historischen Wandels entworfen. Ich habe damals vorgeschlagen, daß, da die Historiker noch nicht einmal damit angefangen hätten, eine Geschichte der Kindheit zu schreiben, die Association for Applied Psychoanalysis ein Team von Historikern damit beauftragen sollte, die entsprechenden Quellen zu studieren, um die wichtigsten Stadien der Kindererziehung der westlichen Welt seit der Antike herauszuarbeiten. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis jenes Projektes.

Die in meinem Projektvorschlag skizzierte »psychogenetische Theorie der Geschichte« ging von einer umfassenden Theorie des historischen Wandels aus und machte die Voraussetzung, daß die zentrale Antriebskraft historischen Wandels weder in der Technologie noch in der Ökonomie zu finden ist, sondern in den »psychogenen« Veränderungen der Persönlichkeits- oder Charakterstruktur, die sich aufgrund der Generationenfolge der Interaktionen zwischen Eltern und Kindern ergeben. Diese Theorie schloß mehrere Hypothesen ein, von denen jede durch empirische historische Zeugnisse beweisbar oder widerlegbar ist:

1. Die Evolution der Eltern-Kind-Beziehungen bildet eine unabhängige Quelle historischen Wandels. Der Ursprung dieser Evolution liegt in der Fähigkeit der jeweils nachfolgenden Elterngeneration, sich in das psychische Alter ihrer Kinder zurückzuversetzen und die Ängste dieses Alters, wenn sie ihnen zum zweiten Mal begegnen, besser zu bewältigen, als es ihnen in der eigenen Kindheit gelungen ist. Dieser Prozeß gleicht dem der Psychoanalyse, zu dessen charakteristischen Merkmalen ebenfalls die Regression und eine zweite Gelegenheit, sich mit den Ängsten der Kindheit auseinanderzusetzen, gehören.

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2. Diese von der Generationsfolge abhängende Tendenz zu psychischem Wandel ist nicht nur spontan — aus dem Bedürfnis des Erwachsenen nach Regression und dem Streben des Kindes nach Beziehungen zu anderen Menschen entspringend —, sondern tritt auch unabhängig von sozialem und technologischem Wandel auf. Daher findet sie sich auch in Zeiten sozialer und technologischer Stagnation.

3. Die Geschichte der Kindheit ist eine Kette von immer engeren Beziehungen zwischen dem Erwachsenen und dem Kind, wobei jede Verringerung der psychischen Distanz neue Angst hervorruft. Die Verminderung dieser Angst der Erwachsenen ist der entscheidende Bereich, der die Praktiken der Kindererziehung eines jeden Zeitalters neu bestimmt.

4. Die Kehrseite der Hypothese, die Geschichte sei durch eine allgemeine Verbesserung der Kinderfürsorge gekennzeichnet, besteht darin, daß, je weiter man in der Geschichte zurückgeht, die Eltern immer weniger in der Lage sind, den sich entwickelnden Bedürfnissen der Kinder zu entsprechen. Das würde zum Beispiel bedeuten, daß, wenn die Zahl der in Amerika mißhandelten Kinder unter einer Million liegt,4) es irgendwann in der Geschichte eine Zeit gegeben hat, in der die meisten Kinder — nach unseren heutigen Vorstellungen — mißhandelt worden sind.

5. Weil die psychische Struktur von Generation zu Generation durch den Engpaß der Kindheit weiter­gegeben werden muß, sind die Praktiken der Kindererziehung in einer Gesellschaft mehr als ein beliebiges kulturelles Merkmal neben anderen. Sie stellen vielmehr die entscheidende Bedingung für die Überlieferung und Entwicklung aller anderen Merkmale der Kultur dar und legen definitive Grenzen für das in den verschiedenen Bereichen der Geschichte Erreichbare fest. Es bedarf spezifischer Kindheits­erfahrungen, um spezifische Merkmale einer Kultur aufrechtzuerhalten; sobald die betreffenden Erfahrungen fehlen, verschwindet auch das entsprechende kulturelle Merkmal.

*

Es ist klar, daß eine evolutionistische psychologische Theorie, die so anspruchsvoll ist wie die hier skizzierte, nicht in einem einzigen Buch getestet werden kann. Unser Ziel in diesem Buch ist denn auch ein viel bescheideneres, nämlich aus den uns vorliegenden Zeugnissen zu rekonstruieren, was es in der Vergangen­heit bedeutet hat, Kind oder Eltern zu sein. Das Beweis­material für die Evolution der Kindheit in der Vergang­enheit wird nur dann zum Vorschein kommen, wenn wir die in unserer bisherigen Arbeit entdeckte fragment­arische und oft verwirrende Geschichte des Lebens der Kinder in den letzten zweitausend Jahren wieder­geben.

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Frühere historische Werke  über Kinder

Obgleich ich der Meinung bin, daß dieses Buch das erste ist, das sich ernsthaft mit der Geschichte der Kindheit im Westen auseinandersetzt, kann man nicht leugnen, daß Historiker seit einiger Zeit auch über Kinder in vergangenen Zeiten geschrieben haben.5 Dennoch glaube ich, daß die Untersuchung der Geschichte der Kindheit gerade erst beginnt, denn in den meisten jener Arbeiten werden die die Kindheit betreffenden Tatsachen stark verzerrt. Offizielle Biographen verfahren am schlimmsten. Die Kindheit wird bei ihnen im allgemeinen idealisiert, und nur wenige Biographen geben irgendeine brauchbare Information über die ersten Lebensjahre der von ihnen behandelten Person.

Die Geschichtssoziologen entwickeln Theorien zur Erklärung von Wandlungen in der Kindheit, ohne sich mit der Untersuchung auch nur einer einzigen Familie — sei es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart — zu befassen.6 Die Literaturhistoriker verwechseln Bücher mit dem Leben und konstruieren ein fiktives Bild von der Kindheit, als ob man, was sich in der amerikanischen Familie des neunzehnten Jahrhunderts wirklich abspielte, dadurch erfahren könnte, daß man Tom Sawyer liest.7

Der Sozialhistoriker schließlich, dessen Aufgabe darin besteht, die realen sozialen Bedingungen vergangener Zeiten darzustellen, sperrt sich am energischsten gegen die Tatsachen, auf die er stößt.8 Wenn zum Beispiel ein Sozialhistoriker entdeckt, daß es eine Zeit gab, in der der Kindesmord weit verbreitet war, so erklärt er ihn für »bewundernswert und menschlich«.9 Wenn eine Sozialhistorikerin Mütter beschreibt, die ihre Kinder, die noch in der Wiege liegen, regelmäßig mit Stöcken schlagen, gibt sie dazu, ohne auch nur die Spur eines Beweises zu liefern, folgenden Kommentar: »Wenn ihre Bestrafung streng war, so war sie doch auch gerecht und angemessen und wurde mit Freundlichkeit durchgeführt.«10 Wenn eine andere Sozialhistorikerin auf Mütter stößt, die ihre Kinder jeden Morgen in Eiswasser tauchen, um sie >abzuhärten<, wobei die Kinder aber sterben, meint sie: »Sie waren nicht absichtlich grausam«, sondern hätten nur »Rousseau und Locke gelesen«.11

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Es gibt keine Praktiken in der Vergangenheit, die den Sozialhistorikern nicht in einem günstigen Licht erschienen. Wenn Laslett feststellt, daß Eltern ihre Kinder, sobald sie sieben Jahre alt waren, als Diener in andere Häuser schickten, während sie selber Kinder anderer Familien aufnahmen, damit sie ihnen dienten, meint er, das geschähe aus Freundlichkeit, denn es zeige, »daß die Eltern wahrscheinlich nicht gewillt waren, die eigenen Kinder der Arbeitsdisziplin zu Hause zu unterwerfen.«12  

Nachdem William Sloan zugegeben hat, daß das Auspeitschen kleiner Kinder mit den verschiedensten Instrumenten »in der Schule und zu Hause im siebzehnten Jahrhundert genauso üblich gewesen zu sein scheint wie in späterer Zeit«, fühlt er sich genötigt hinzuzufügen, daß »Kinder damals wie später manchmal die Peitsche verdienten«.13

Philippe Aries, der angesichts zahlreicher Zeugnisse für die offene sexuelle Belästigung von Kindern zugibt, daß die »Sitte, mit dem Geschlechtsteil des Kindes zu spielen, zu einer weitverbreiteten Tradition (gehörte)«14, beschreibt anschließend eine »traditionelle Szene«, bei der ein Fremder während einer Eisenbahnfahrt aus Spaß auf einen kleinen Jungen zuspringt »und sich in brutaler Weise an dessen kleinem Hosenlatz zu schaffen machte«, während der Vater lächelt, und beschließt dann die Darstellung dieser Szene mit den Worten: »Es handelte sich um ein Spiel, dessen schlüpfrigen Charakter wir nicht überbewerten dürfen ...«15

Unmassen von Dokumenten sind uns entzogen, sind entstellt oder verschwommen dargestellt oder gar nicht zur Kenntnis genommen worden. Die frühen Jahre der Kindheit werden bagatellisiert, die Inhalte der formalen Bildung dagegen endlos untersucht, wobei eine Diskussion ihres emotionalen Gehalts peinlich vermieden wird; man redet viel von der Kinder betreffenden Gesetzgebung, aber gar nicht vom Zuhause der Kinder. Und wenn nicht geleugnet werden kann, daß es in einem Buch nichts als unerfreuliche Fakten gibt, dann wird die Theorie entwickelt, »gute Eltern hätten keine Spuren in den schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen«. 

Alan Valentine beispielsweise, der Briefe von Vätern an ihre Söhne aus sechs Jahrhunderten untersuchte und unter 126 Vätern keinen einzigen zu finden vermochte, der nicht gefühllos, moralistisch und völlig egozentrisch gewesen wäre, kommt zu dem Schluß:

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 »Zweifellos haben unzählige Väter an ihre Söhne Briefe geschrieben, die unsere Herzen erwärmen und erheben würden, wenn wir sie nur auffinden könnten. Die besten Väter hinterlassen keine Briefe; nur jene Männer, die kein gutes Verhältnis zu ihren Kindern haben, schreiben wahrscheinlich die herzzerreißenden Briefe, die uns erhalten sind.«16 

Ähnlich verhält es sich bei Anna Burr, die in ihrem Bericht über 250 Autobiographien feststellt, daß es keine glücklichen Erinnerungen an die Kindheit gibt, es aber sorgfältig vermeidet, irgendwelche Schlüsse daraus zu ziehen.17

Von allen Büchern über die Kindheit vergangener Zeiten ist Philippe Aries' Buch Geschichte der Kindheit wahrscheinlich das bekannteste; ein Historiker weist darauf hin, wie häufig es »als Heilige Schrift zitiert wird«.18 Aries' zentrale These ist der meinen genau entgegengesetzt. Er meint: während das Kind der traditionalen Gesellschaft glücklich war, weil es die Freiheit hatte, mit vielen Klassen und Altersstufen zu verkehren, wurde zu Beginn der Neuzeit ein besonderer Zustand »erfunden«, nämlich der der Kindheit; das führte zu einer tyrannischen Vorstellung von der Familie, die die Zerstörung von Freundschaft und Geselligkeit zur Folge hatte und den Kindern nicht nur ihre Freiheit nahm, sondern sie zum ersten Mal mit Rute und Karzer bekannt machte.

Zum Beweis für diese These führt Aries zwei Hauptargumente an. Zum einen sagt er, daß es im Mittelalter keine eigene Vorstellung von der Kindheit gab. »Bis zum 12. Jahrhundert kannte die mittelalterliche Kunst die Kindheit entweder nicht oder unternahm doch jedenfalls keinen Versuch, sie darzustellen«; Kinder waren einfach »hinsichtlich der Größe reduzierte Erwachsene«.19

Aries vergißt nicht nur ganz die Kunst der Antike, sondern ignoriert auch zahlreiche Beispiele dafür, daß die Künstler des Mittelalters Kinder durchaus auch realistisch malen konnten.20 Sein etymologisches Argument, es habe keinen gesonderten Begriff der Kindheit gegeben, ist ebenfalls unhaltbar.21 Auf jeden Fall ist die Vorstellung von der »Erfindung der Kindheit« so verschwommen, daß es überrascht, daß so viele Historiker sie sich zu eigen gemacht haben.22

Sein zweites Argument, die moderne Familie schränke die Freiheit des Kindes ein und verschärfe die Härte der Bestrafung, widerspricht allen Erfahrungen und Zeugnissen.

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Viel verläßlicher als Aries' Buch sind vier Bücher, von denen nur eines von einem professionellen Historiker geschrieben wurde:

George Payne:  The Child in Human Progress,
G. Rattray Taylor:  The Angel Makers,
David Hunt:  Parent and Children in History und
J. Louise Despert:  The Emotionally Disturbed Child — Then and Now.

Payne, der sein Buch 1916 schrieb, war der erste, der die weite Verbreitung des Kindesmords und der Brutalität gegenüber Kindern in der Vergangenheit, besonders in der Antike, untersuchte. Taylors Buch, das sehr viel dokumentarisches Material enthält, ist eine anspruchsvolle psychoanalytische Deutung von Kindheit und Persönlichkeit im England des späten achtzehnten Jahrhunderts. Hunt konzentriert sich, wie Aries, vor allem auf das einzigartige Dokument des 17. Jahrhunderts, Heroards Tagebuch über die Kindheit Ludwigs XIII., und zwar mit großem psychologischem Einfühlungsvermögen hinsichtlich der psycho-historischen Implikationen seiner Entdeckungen. Und Desperts psychiatrischer Vergleich von Kindesmißhandlungen in der Vergangenheit und in der Gegenwart gibt einen Überblick über die Reichweite der emotionalen Einstellungen gegenüber den Kindern seit der Antike, wobei das wachsende Entsetzen der Autorin angesichts einer Geschichte unaufhörlicher »Herzlosigkeit und Grausamkeit« zum Ausdruck kommt.23

Ungeachtet dieser vier Bücher sind die Hauptfragen einer vergleichenden Geschichte der Kindheit noch nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. In den beiden nächsten Abschnitten möchte ich einige psycho­logische Prinzipien darstellen, die für die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in der Vergangenheit gelten. Die von mir benutzten Beispiele sind — obgleich sie für das Leben des Kindes in der Vergangenheit nicht untypisch sind — nicht gleichmäßig allen Zeitepochen entnommen, sondern ausgewählt worden, weil sie die von mir beschriebenen psychologischen Prinzipien am klarsten veranschaulichen. 

Erst in den drei darauffolgenden Abschnitten, in denen ich einen Überblick gebe über die Geschichte des Kindesmordes, der Kinderaussetzung, des Säugens, des Wickelns, des Schiagens und des sexuellen Mißbrauchs, werde ich untersuchen, wie weit verbreitet diese Praktiken in den verschiedenen Epochen waren.

 

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Psychologische Prinzipien der Geschichte der Kindheit:  Projektive und Umkehr-Reaktionen  

Bei der Untersuchung der Kindheit über viele Generationen hinweg ist es vor allem wichtig, sich auf jene Momente zu konzentrieren, die die Psyche der nächsten Generation am meisten beeinflussen. Das heißt: man muß zuerst einmal untersuchen, was geschieht, wenn ein Erwachsener einem Kind gegenübersteht, das bestimmte Bedürfnisse hat. Dem Erwachsenen stehen dabei meiner Ansicht nach drei Reaktionen zur Verfügung: (1) Er kann das Kind als ein Vehikel für die Projektion von Inhalten seines eigenen Unbewußten benutzen (projektive Reaktion / projective reaction); (2) er kann das Kind als Substitut für eine Erwachsenenfigur benutzen, die in seiner eigenen Kindheit wichtig war (Umkehr-Reaktion / reversal reaction); oder (3) er kann sich in die Bedürfnisse des Kindes einfühlen und sie zu befriedigen suchen (empathische Reaktion / empathic reaction). 

Die projektive Reaktion ist Psychoanalytikern natürlich bekannt unter Begriffen, die von »Projektion« bis zu »projektiver Identifikation« reichen, einer konkreteren, eindringlicheren Form der Übertragung eigener Gefühle auf andere. Für den Psychoanalytiker ist es zum Beispiel eine vertraute Erfahrung, daß der Patient ihn als »toilet-lap«24 für seine massiven Projektionen benutzt. Genau dies, nämlich als Vehikel für Projektionen benutzt zu werden, war das, was Kindern in der Vergangenheit in der Regel geschah.

Auch die Umkehr-Reaktion ist Psychologen vertraut, die sich mit der Untersuchung von Eltern befassen, die ihre Kinder schlagen.25 Das Kind ist in solchen Fällen nur dazu da, die Bedürfnisse der Eltern zu befriedigen, und jedesmal, wenn das als Eltern-Substitut fungierende Kind die von ihm erwartete Liebe nicht gibt, wird es geschlagen. Eine ihr Kind schlagende Mutter drückte das einmal so aus: »Ich habe mich in meinem ganzen Leben nicht geliebt gefühlt. Als das Baby kam, dachte ich, es würde mich lieben. Als es schrie, bedeutete das, es liebte mich nicht. Deshalb habe ich es geschlagen.«

Der dritte Begriff — empathische Reaktion — wird hier in einem engeren Sinne benutzt als dem, den die Definition im Lexikon angibt. Er bezeichnet die Fähigkeit des Erwachsenen, auf die Stufe der kindlichen Bedürfnisse zurückzugehen und sie richtig einzuschätzen, ohne ihnen eigene Projektionen beizumischen.

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Der Erwachsene muß aber gleichzeitig in der Lage sein, genügend Distanz zu dem kindlichen Bedürfnis zu bewahren, um es befriedigen zu können. Diese Fähigkeit ist identisch mit dem Gebrauch, den der Psychoanalytiker von seinem Unbewußten macht und der als »gleichschwebende Aufmerksamkeit« oder — wie Theodor Reik es ausdrückt — als »Hören mit dem dritten Ohr«26 bezeichnet wird.

Projektive und Umkehr-Reaktionen sind bei Eltern in der Vergangenheit oft gleichzeitig aufgetreten und haben zu einer »Doppel­vorstellung« geführt. Dabei erscheint das Kind einerseits als eine aus den in es hineinprojizierten Wünschen, Feindseligkeiten und sexuellen Gedanken des Erwachsenen bestehende Figur, andererseits als eine Mutter- oder Vaterfigur. Das heißt, es ist sowohl schlecht als auch liebevoll. Hinzu kommt: je weiter man in die Geschichte zurückgeht, desto stärker ist die »Konkretisierung« oder Vergegenständlichung dieser projektiven und Umkehr-Reaktionen, zu desto bizarreren Einstellungen gegenüber den Kindern haben sie geführt. Vergleichbare Einstellungen findet man heute bei Eltern geschlagener und schizophrener Kinder.

Bei dem ersten Beispiel, an dem wir diese eng ineinandergreifenden Konzepte untersuchen wollen, handelt es sich um eine Szene zwischen einem Erwachsenen und einem Kind aus dem Jahre 1739. Nicholas, ein damals vierjähriger Junge, erinnert sich später an das folgende Ereignis, das seine Mutter bestätigt: Sein Großvater, der ihn einige Tage lang aufmerksam beobachtet hatte, gelangt zu der Überzeugung, er müsse ihn nun »prüfen« und sagt:  »Nicholas, mein Sohn, du hast viele Fehler, und die machen deiner Mutter Kummer. Sie ist meine Tochter und hat immer auf mich gehört; höre auch du auf mich und bessere dich, sonst peitsche ich dich aus wie einen Hund, der abgerichtet wird.« 

Nicholas, zornig über den Verrat von jemandem, »der so freundlich zu mir war«, wirft sein Spielzeug ins Feuer. Der Großvater scheint zufrieden zu sein:

»Nicholas..., ich habe dir das gesagt, um dich zu prüfen. Hast du denn wirklich geglaubt, daß ein Großvater, der gestern und vorgestern noch so freundlich zu dir gewesen ist, dich heute wie einen Hund behandeln könnte? Ich dachte, du wärest klug ...« — »Ich bin kein Tier wie ein Hund.« — »Nein, aber du bist auch nicht so klug, wie ich glaubte, sonst hättest du begriffen, daß ich dich nur geneckt habe. Es war nur ein Scherz ... Komm zu mir.«

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— Ich warf mich in seine Arme. »Das ist noch nicht alles«, fuhr er fort, »ich möchte dich in Freundschaft mit deiner Mutter sehen; du hast ihr Kummer gemacht, großen Kummer ... Nicholas, dein Vater liebt dich; liebst du ihn?« — »Ja, Großvater!« — »Nimm einmal an, er sei in Gefahr, und um ihn zu retten, wäre es notwendig, deine Hand ins Feuer zu halten; würdest du das tun? Würdest du sie ... hinein halten, wenn es notwendig wäre?« — »Ja, Großvater.« — »Und für mich?« — »Für dich? ... Ja, ja.« — »Und für deine Mutter?« — »Für Mama? Beide, beide!« — »Wir werden sehen, ob du die Wahrheit sagst, denn deine Mutter bedarf deiner kleinen Hilfe sehr. Wenn du sie liebst, so mußt du es beweisen.« — Ich gab keine Antwort, aber indem ich mir all das, was ich gesagt hatte, vergegenwärtigte, ging ich zum Kamin und hielt — während sie sich gegenseitig Zeichen gaben — meine rechte Hand ins Feuer. Der Schmerz ließ mich tief seufzen.27

Was diese Szene so typisch für die Eltern-Kind-Beziehungen in der Vergangenheit macht, ist das Vorhanden­sein so vieler widersprüchlicher Einstellungen auf seiten des Erwachsenen, ohne daß sich auch nur der mindeste Versuch zu einer Lösung dieser Widersprüche zeigt. Das Kind wird geliebt und gehaßt, belohnt und bestraft, ist böse und lieb — alles zu gleicher Zeit. 

Daß das zu einer »double bind«-Situation mit sich widersprechenden Signalen führt (die nach Bateson28 und anderen der Schizophrenie zugrundeliegt), liegt auf der Hand. Aber die gegensätzlichen Signale kommen von Erwachsenen, deren Streben dahin geht, zu zeigen, daß das Kind sowohl sehr schlecht (projektive Reaktion) als auch sehr liebenswert (Umkehr-Reaktion) ist. Die Funktion des Kindes besteht darin, die den Erwachsenen bedrückenden Ängste zu reduzieren. Das Kind dient dem Erwachsenen als Mittel der Abwehr.

Es sind eben diese projektiven und Umkehr-Reaktionen, die es unmöglich machen, bei den schweren Züchtigungen, denen wir in der Vergangenheit so oft begegnen, von Schuld zu sprechen. Denn es ist ja nicht das wirkliche Kind, das geschlagen wird; geschlagen werden entweder die Projektionen des Erwachsenen (»Sehen Sie, wie sie Sie anblickt! Damit fängt sie die Männer — sie ist eine richtige Verführerin!«, sagte eine Mutter von ihrer mißhandelten zweijährigen Tochter) oder die Personen, als deren Substitut die Kinder dienen (»Er glaubt, er wäre der Boß — ständig versucht er, alles zu bestimmen — aber ich habe ihm gezeigt, wer hier zu sagen hat!« sagt ein Vater von seinem neun Monate alten Jungen, dessen Schädel er zerschlagen hat).29

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Man trifft in den historischen Quellen oft auf Beispiele, in denen der Schlagende mit dem Geschlagenen verschmilzt und so etwas wie Schuld daher nicht vorkommt. Ein amerikanischer Vater (1830) erzählt davon, daß er seinen vierjährigen Jungen ausgepeitscht hat, weil er nicht lesen konnte. Das Kind wurde nackt im Keller angebunden:

Das Kind war festgebunden, ich selbst, die Frau meines Herzens und die Hausherrin waren voller Kummer und niedergeschlagen. Ich begann, die Rute zu gebrauchen ... Während dieser höchst unerfreulichen, mir sehr wider­strebenden und unangenehmen Arbeit machte ich häufig Pausen, gab Befehle und versuchte es mit Überredung, brachte Entschuldigungen zum Schweigen, antwortete auf Einwände ... Ich spürte die ganze Kraft göttlicher Autorität und einen ausdrücklichen Befehl, wie niemals sonst in meinem Leben ... Aber angesichts des alles beherrschenden Einflusses einer derart zornigen Leidenschaft und Hartnäckigkeit, wie sie mein Sohn gezeigt hatte, war es kein Wunder, daß er glaubte, er >müsse mich ausprügeln< — schwach und ängstlich wie ich war, und wo er doch wußte, daß es mich fast krank machte, ihn zu peitschen. Zu jener Zeit konnte er weder mit mir noch mit sich selbst Mitleid haben.30

Genau auf dieses Bild der Verschmelzung von Vater und Sohn — der Vater klagt, er selbst sei der Geschlagene und des Mitleids bedürftig — stoßen wir, wenn wir die Frage stellen, wieso das Schlagen von Kindern in der Vergangenheit so weitverbreitet sein konnte. So meint ein Pädagoge aus der Renaissance-Zeit, man solle dem Kind, wenn man es schlägt, sagen, daß man »die Bestrafung gegen seinen Willen, aber durch sein Gewissen gezwungen« vornehme. »Dann forderst du es auf, dir nicht noch einmal solche Mühe und Pein zu bereiten; denn wenn du das tust (so sagst du), dann mußt du einen Teil der Pein mit mir ertragen, und deshalb sollst du jetzt erleben, welche Pein es für uns beide bedeutet.« — Wir können hier schwerlich die Verschmelzung übersehen und den Vorgang als Heuchelei mißverstehen.31

Eltern können das Kind so sehr als Teil ihrer selbst ansehen, daß wirkliche Unfälle, die dem Kind passieren, als Verletzungen oder Bestrafungen der Eltern erlebt werden. Als seine Tochter Nanny ins Feuer fiel und sich schlimm verbrannte, rief Cotton Mather: »Oh weh, für meine Sünden wirft der gerechte Gott mein Kind ins Feuer!«32 Er überlegte, was er in der voran­gegangenen Zeit falsch gemacht hatte, aber obgleich er überzeugt war, daß er der Bestrafte war, konnte er keine Schuld gegenüber seinem Kind feststellen (zum Beispiel, daß er es allein gelassen hätte), so daß auch keine Bestrafung erfolgen konnte.

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Bald darauf erlitten zwei andere Töchter schwere Verbrennungen. Seine Reaktion darauf bestand in einer Predigt über das Thema »Wie Eltern auf Unglücksfälle, die ihre Kinder treffen, reagieren sollten«. Diese Kindern widerfahrenden »Unfälle« sollten nicht leichtgenommen werden, denn in ihnen liegt der Schlüssel zur Beantwortung der Frage verborgen, warum Erwachsene in der Vergangenheit so schlechte Eltern waren.

Läßt man einmal Todeswünsche beiseite, über die wir später sprechen wollen, so kam es in der Vergangen­heit deshalb so häufig zu Unfällen, weil kleine Kinder so oft allein gelassen wurden. Mathers Tochter Nibby wäre verbrannt, wenn nicht »zufällig in dem Augenblick eine Person am Fenster vorbeigekommen wäre«33; denn sonst war niemand da, der ihre Schreie hätte hören können. Ein Vorfall im kolonialen Boston ist ebenfalls typisch:

"Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, brachte die Mutter die beiden Kinder ins Bett, das in demselben Raum stand, in dem auch die Eltern schliefen, und dann gingen sie fort, um einen Nachbarn zu besuchen. Als sie zurückkamen ..... ging die Mutter zum Bett, wo sie aber ihr jüngstes Kind nicht fand (eine Tochter von ungefähr fünf Jahren), und nachdem sie lange gesucht hatten, fanden sie es ertrunken in einem Brunnen in ihrem Keller..."34

Der Vater schreibt diesen Unfall der Tatsache zu, daß er an einem Feiertag gearbeitet hat. Der entscheidende Punkt besteht nicht einfach darin, daß es bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein üblich war, kleine Kinder allein zu lassen. Wichtiger ist, daß die Eltern gar kein Interesse an der Verhütung von Unfällen haben, solange bei ihnen keinerlei Schuldgefühl vorhanden ist — sind es doch ihre eigenen Projektionen, die bestraft werden. Menschen, die sehr starke Projektionen entwickeln, erfinden keine unfallsicheren Öfen; ebensowenig kümmern sie sich darum, daß ihren Kindern auch nur die einfachste Pflege zuteil wird. Und ihre Projektionen sorgen dafür, daß sich an der Situation nichts ändert.

Der Benutzung des Kindes als einer »Toilette« für die Projektionen von Erwachsenen liegt die Vorstellung von der Erbsünde zugrunde; achtzehnhundert Jahre lang stimmten die Erwachsenen darin überein, daß — wie Richard Allestree (1676) es ausdrückte — »das neugeborene Kind voll (ist) von den Makeln und Befleckungen der Sünde, die es durch unsere Lenden von unseren ersten Eltern erbt ...«35

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Die Taufe, die u.a. der Teufelsaustreibung dienen sollte, und der Glaube, das bei der Taufe schreiende Kind lasse den Teufel heraus, überlebten die formale Abschaffung des Exorzismus in der Reformationszeit.36) Selbst da, wo die formale Religion kein Gewicht auf den Teufel legte, herrschte derselbe Glaube; hier eine Schilderung, wie ein polnischer Jude im neunzehnten Jahrhundert Unterricht erteilte:

Er zog eine große Freude aus den Qualen des kleinen Opfers, das auf der Bank zitterte und bebte. Er verabreichte die Hiebe kalt, langsam, wohlüberlegt ... er forderte den Jungen auf, seine Kleider auszuziehen und sich auf die Bank zu legen ... und schlug mit den Lederriemen zu ... >In jedem Menschen gibt es einen guten Geist und einen bösen Geist. Der gute Geist hat seinen eigenen Sitz das ist der Kopf. Ebenso der böse Geist, und das ist die Stelle, an der du ausgepeitscht wirst<.37)

Dem Kind wurden in der Vergangenheit soviele Projektionen aufgebürdet, daß es, wenn es zu sehr schrie oder sonstwie zuviel Aufwand verlangte, Gefahr lief, als Wechselbalg betrachtet zu werden. Es gibt eine umfangreiche Literatur über Wechselbälge38, aber es ist noch nicht allgemein erkannt worden, daß nicht nur mißgebildete Kinder als Wechselbälge getötet wurden, sondern auch solche, die, wie der hl. Augustinus sagt, »unter einem Dämon leiden ... sie stehen unter der Macht des Teufels ... einige Kinder sterben in diesem Zustand ...«39)

Einige Kirchenväter erklärten, das bloße Schreien eines Babys bedeute schon, daß es eine Sünde begehe.40 In ihrer Bibel der Hexenjagd, Malleus Maleficarum (1487), behaupten Sprenger und Krämer, man könne Wechselbälge daran erkennen, daß sie »ständig erbärmlich heulen und daß sie niemals wachsen, selbst wenn vier oder fünf Mütter zur Verfügung stehen, um sie zu stillen.« Luther ist der gleichen Ansicht und meint, sie nähmen oft die Kinder von Frauen, die im Wochenbett lägen, und legten sich selbst an deren Platz und seien im Trinken, Essen und Schreien schlimmer als zehn Kinder.41

Guibert von Nogent hielt im 12. Jahrhundert seine Mutter für heilig, weil sie das Schreien eines von ihr adoptierten Kindes geduldig hinnahm:

"... das Baby belästigte meine Mutter und deren Diener durch sein nächtliches Wimmern und Schreien so sehr — obgleich es bei Tage sehr lieb war und abwechselnd spielte und schlief —, daß alle, die in dem kleinen Raum waren, kaum Schlaf finden konnten. Ich hörte die Ammen, die meine Mutter sich genommen hatte, sagen, daß sie nachts niemals aufhören könnten, die Kinderrassel zu schütteln, so schlimm sei das Kind, und zwar nicht durch eigene Schuld, sondern weil es vom Teufel besessen sei, den auszutreiben die Kraft einer Frau bei weitem nicht ausreiche. Die gute Frau wurde unsäglich gepeinigt; kein Kunstgriff half gegen das grelle Geschrei... Aber sie schaffte das Kind niemals aus dem Haus ..."42

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Der Glaube, daß Kinder nahe daran wären, sich in gänzlich gottlose Geschöpfe zu verwandeln, ist einer der Gründe, warum sie so lange und so fest angebunden oder gewickelt wurden. Man spürt diese Tendenz bei Bartholomäus Anglicus (ca. 1230); »Wegen ihrer Weichheit können die Gliedmaßen der Kinder leicht verbogen oder gekrümmt werden und verschiedene Formen annehmen. Deshalb sollten die Gliedmaßen von Kindern mit Bandagen und anderen geeigneten Mitteln umwickelt werden, damit sie nicht verwachsen oder mißbildet werden können ...«43

Gewickelt wird das mit den gefährlichen, bösen Projektionen der Eltern angefüllte Kind. Die in der Vergangenheit für das Wickeln angeführten Gründe sind dieselben wie die, die man heute in Osteuropa angibt: das Baby muß gewickelt und angebunden werden, weil es sich sonst die Ohren abreißt, die Augen auskratzt, die Beine bricht oder seine Genitalien berührt.44 Wie wir in dem Abschnitt über Wickeln und andere Einschränkungen der kindlichen Freiheit sehen werden, gehört dazu oft, daß die Kinder in alle möglichen Arten von Korsetts gesteckt werden, an Geradehaltern, Rückenbrettern und Gängelbändern und sogar an Stühlen festgebunden, werden, um zu verhindern, daß sie »wie Tiere« auf dem Boden herumkriechen.

Wenn Erwachsene all ihre unannehmbaren Gefühle in das Kind projizieren, liegt es auf der Hand, daß ernsthafte Maßnahmen ergriffen werden müssen, um diese gefährlichen »Toiletten-Kinder, wenn sie den Windeln entwachsen sind, weiterhin unter Kontrolle zu halten. Ich werde später auf eine Reihe von Methoden eingehen, die von den Eltern jahrhundertelang benutzt wurden; hier möchte ich nur auf eine dieser Methoden eingehen — das Erschrecken der Kinder mit Gespenstern —, um ihren projektiven Charakter zu erörtern.

Um Kinder zu erschrecken, haben sich Erwachsene im Verlauf der Geschichte bis in die jüngste Zeit einer Unzahl von gespensterähnlichen Figuren bedient. Das Altertum hatte seine Lamia und Striga, die, wie ihr hebräisches Vorbild Lilith, die Kinder mit Haut und Haaren fraßen und die wie Mormo, Canida, Poine, Sybaris, Acco, Empusa, Gorgo und Ephialtes »zum Wohle der Kinder erfunden worden waren, um sie weniger wild und unregierbar zu machen« — wie es bei Dion Chrysostomos heißt.45

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Die meisten Alten stimmten in der Auffassung überein, daß es gut sei, den Kindern ständig die Vorstellung solcher Gespenster vor Augen zu halten, damit sie den Schrecken spürten, der darin lag, nachts mit Geistern rechnen zu müssen, die kommen, um sie mitzunehmen, sie zu fressen, sie in Stücke zu reißen und ihnen das Blut oder das Knochenmark auszusaugen. Im Mittelalter standen natürlich Hexen und Teufel im Vordergrund, wobei gelegentlich noch ein Jude hinzukam, der Kindern die Kehle durchschnitt, sowie Scharen von anderen Ungeheuern und Gespenstern, »mit denen die Ammen sie gerne zu erschrecken pflegten«.46

Nach der Reformation wurde Gott selbst, »der dich über den Abgrund der Hölle hält, wie man eine Spinne oder irgendein anderes widerliches Insekt über das Feuer hält«47), zum schwarzen Mann, mit dem man die Kinder erschreckte. Es wurden Abhandlungen in Kindersprache verfaßt, in denen die Torturen geschildert wurden, die Gott in der Hölle für Kinder bereithielt: »Das kleine Kind steckt in diesem rotglühenden Ofen. Hör, wie es schreit und hinaus will... Es stampft mit seinen kleinen Füßen auf den Boden ...«48

Als die Religion ihre zentrale Rolle für den Schreckensfeldzug gegen die Kinder verlor, wurden vertrautere Gestalten benutzt: der Werwolf wird dich verschlingen; Blaubart wird dich in Stücke hacken; Boney (Bonaparte) wird dich auffressen; der schwarze Mann oder der Schornsteinfeger wird dich nachts holen.49 Gegen diese Praktiken wurde erst im neunzehnten Jahrhundert Kritik laut. Ein englischer Vater sagte 1810, daß der »einst weit verbreitete Brauch, Kinder mit Geistergeschichten zu erschrecken, dank eines wachsenden Maßes an nationaler Vernunft nun allgemein verurteilt wird. Doch viele unter uns können sich noch an die Ängste vor übernatürlichen Mächten und vor der Dunkelheit als wirklichen Nöten der Kindheit erinnern ...«50

In vielen europäischen Dörfern drohen Eltern jedoch heute noch ihren Kindern mit dem Werwolf, dem Mann mit dem langen Bart oder dem Schornsteinfeger, oder sie drohen ihnen, sie in den Keller zu sperren, damit die Ratten an ihnen nagen.51

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Das Bedürfnis nach der Personifizierung strafender Figuren war so übermächtig, daß, dem Prinzip der »Konkretisierung« folgend, Erwachsene tatsächlich Puppen ähnlich den Katchinas der Pueblo-Indianer herstellten, um Kinder damit zu erschrecken. Ein englischer Schriftsteller beschrieb 1748, wie Kindermädchen bei ihren Schützlingen Furcht und Schrecken erzeugten, indem sie ihnen Geschichten von Schreckgespenstern und Knochenmännern erzählten:

Das Kindermädchen nimmt sich vor, das zänkische Kind zur Ruhe zu bringen. Zu diesem Zweck stellt es eine ziemlich ungeschlachte Puppe her, läßt sie hereinkommen und schreit und brüllt in den barbarischsten, unangenehmsten Tönen auf das Kind ein, daß es in den Ohren weh tut; gleichzeitig läßt es die Puppe auf das Kind zugehen und so gestikulieren, als ob sie das Kind verschlingen wollte.52

Diese furchterregenden Puppen waren auch bei Kindermädchen beliebt, die die Kinder im Bett halten wollten, während sie selbst abends ausgingen. Susan Sibbald erinnert sich, daß Geister einen realen Bestandteil ihrer ins achtzehnte Jahrhundert fallenden Kindheit bildeten:

Das Auftauchen von Geistern war eine sehr verbreitete Erscheinung . .. Ich erinnere mich noch genau daran, wie die beiden Kindermädchen, die wir in Fowey hatten, eines Abends das Kinderzimmer verlassen und ausgehen wollten .... Wir wurden dadurch zum Schweigen gebracht, daß wir ein entsetzlich schauriges Stöhnen und Kratzen hinter der Zwischenwand an der Treppe hörten. Plötzlich flog die Tür auf und oh Schrecken! — es kam eine große, weiß gekleidete Gestalt herein, aus deren Augen, Nase und Mund Feuer zu kommen schien. Wir verfielen fast in Krämpfe und fühlten uns tagelang schlecht, wagten aber nicht, davon zu erzählen.53

Die eingeschüchterten Kinder waren aber nicht immer so alt wie Susan und Betsey. Eine amerikanische Mutter berichtete 1882 von dem Kindermädchen der zweijährigen Tochter eines Freundes, das sich am Abend, während die Eltern ausgegangen waren, mit dem übrigen Dienstpersonal vergnügen wollte, und, um nicht gestört zu werden, dem kleinen Mädchen erzählte, daß....

ein schrecklicher schwarzer Mann ... in dem Zimmer versteckt sei und sie sofort ergreifen werde, wenn sie ihr Bett verlassen oder auch nur das leiseste Geräusch machen würde ... um sicherzustellen, daß sie während ihres abendlichen Vergnügens nicht gestört würde. Sie machte eine riesige Puppe, die einen schwarzen Mann mit schrecklich starrenden Augen und einem riesigen Mund darstellte und plazierte sie an das Fußende des Bettes, in dem das kleine unschuldige Kind lag und fast eingeschlafen war. Als der Abend in der Gesindestube zu Ende war, ging das Kindermädchen zu seinem Schützling zurück. Als es leise die Tür öffnete, sah es das kleine Mädchen aufrecht im Bett sitzen und zu Tode erschrocken auf das furchtbare Ungeheuer vor sich starren, beide Hände in sein blondes Haar gekrampft. Es war tot! 54

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Es gibt Hinweise darauf, daß dieser Brauch, Kinder durch maskierte Figuren zu erschrecken, bis in die Antike zurückgeht.55 Das Erschrecken von Kindern durch Masken ist ein beliebtes Thema bei Künstlern von der römischen Freskenmalerei bis hin zu den Stichen von Jacques Stella (1657). Da aber diese frühen traumatischen Erlebnisse sehr energisch verdrängt wurden, war es mir nicht möglich, ihre antiken Formen genau festzustellen. Bei Dion Chrysostomos heißt es, daß »furchterregende Bilder Kinder daran hindern, ihr Verlangen nach Nahrung, nach Spiel oder irgend etwas anderem Unpassenden zu befriedigen«, und es wurden Theorien über ihre wirkungsvollste Verwendung diskutiert: »Ich glaube, jeder Junge hat Angst vor irgendeinem Kobold, der ihm sonderbar erscheint, und wird durch diesen auch gewöhnlich in Schrecken versetzt — Burschen, die von Natur aus furchtsam sind, schreien natürlich sofort los, ganz gleichgültig, wodurch man ihnen einen Schrecken einjagt ...«56

Wenn nun aber Kinder nur deshalb, weil sie weinen, essen oder spielen wollen, durch maskierte Figuren in Angst und Schrecken versetzt werden, dann haben das Ausmaß der Projektion und das Bedürfnis der Erwachsenen, es zu kontrollieren, enorme Dimensionen angenommen, wie man sie heute nur bei offen psychotischen Erwachsenen findet

Wie häufig der Gebrauch solcher konkreten Figuren in der Vergangenheit war, läßt sich bis jetzt noch nicht exakt bestimmen, obgleich er oft als etwas Übliches erwähnt wird. Von vielen Formen kann man jedoch zeigen, daß sie sehr verbreitet waren. In Deutschland zum Beispiel gab es bis vor kurzem in der Vorweihnachtszeit stapelweise Reisigbesen zu kaufen, die in der Mitte so gebunden waren, daß sie zu beiden Seiten hin eine harte Bürste bildeten. Sie wurden dazu benutzt, Kinder zu schlagen; in der ersten Dezemberwoche zogen die Erwachsenen schreckenerregende Kostüme an und gaben sich als Boten Jesu Christi aus, die man Pelznickel nannte. Sie bestraften die Kinder und sagten ihnen, ob sie zu Weihnachten Geschenke bekämen oder nicht.57*

 

* Gemeint ist Knecht Ruprecht, im 19. Jahrhundert auch Pelzmärtel oder Nickel genannt, der heute als Begleiter des hl. Nikolaus mit Rute und einem Sack voller Geschenke auftritt (5./6. Dez.). A.d.Ü.

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Erst wenn man sieht, welche Kämpfe die Eltern durchzustehen haben, um die Verwendung konkreter schrecken­erregender Figuren aufzugeben, wird klar, wie stark ihr Bedürfnis nach solchen Verhaltensweisen war. 

Einer der ersten, der sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts für die Kinder einsetzte, war Jean Paul Richter. In seinem populären Buch »Levana oder Erziehlehre« verurteilt er Eltern, die ihre Kinder durch Schreckbilder erziehen, und verweist auf die mittelalterliche Einsicht, daß Kinder dadurch »leicht dem Wahnsinn anheimfallen«. Sein eigener Zwang, die Traumata seiner Kindheit zu wiederholen, war jedoch so groß, daß er nicht anders konnte, als für seinen eigenen Sohn abgeschwächte Versionen zu erfinden:

"Wenn man über jede Sache eigentlich nur einmal erschrickt, nicht zweimal, so glaub' ich, könnte man ja durch scherzhafte Vorspiele den Kindern den Ernst ersparen. Zum Beispiel: ich gehe mit meinem neunjährigen Paul in einem dicken Wald spazieren. Plötzlich fallen drei geschwärzte und gewaffnete Kerle hervor und uns an, weil ich mit ihnen Tages vorher gegen eine kleine Diebs-Prämie den Überfall abgekartet habe

Wir beide sind nur mit Stöcken gerüstet, die Räuberhorde aber mit Stechgewehr und einer blindgeladenen Pistole. Hier gilt nun nichts als Gegenwart des Geistes und Entschlossenheit. Einer ficht gegen drei — (Paul ist für nichts zu rechnen, ob ich ihm gleich zurufe, einzuhauen) aber dadurch, daß ich dem einen Schnapphahn die abgedrückte Pistole seitwärts schlage, damit sie mich verfehlt, dem andern mit dem Stocke den Degen aus der Hand legiere, den ich dann selber aufhebe, um damit auf den dritten loszudringen, dadurch, hoff ich, soll das Gauner-Gesindel geworfen und in die Flucht gejagt werden von einem einzigen rechten Mann und dessen Föderativ-Sohn. 

Wir setzen dem zerstreuten Heere noch ein wenig nach, kehren aber, da es ein lebendiges Lauf-Feuer ist, bald um; und ich lasse unter fortwährendem Gespötte über die feindliche Marschsäule — die wie ein wohlgeordneter Büchersaal nichts zeigt als den Rücken — nun meinen Verbündeten selber schließen, wie viel bloße Tapferkeit gegen Überzahl ausrichte, besonders gegen Spitzbuben, welche nach allen Erfahrungen selten Mut besitzen. 

Allerdings (setz' ich hier in der zweiten Auflage dazu) sind solche Spiele schon ihrer Unwahrheit wegen bedenklich; auch könnten sie nur durch Wiederholung den Nachteil verwischen, welchen immer ein auch nachher in nichts aufgelöstes Erschrecken eindrückt. Recht viele Erzählungen von siegendem Mut sind vielleicht bessere Stärkmittel. Andere Degen- und Mantelstücke — wie die Spanier, nach Bouterwek ihre Intrigenstücke nennen — wären mit Vorteil in der Nacht aufzuführen, um die Phantasien des Gespensterglaubens zu platter Alltäglichkeit zu entkleiden ..."58

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Ein anderer Bereich, in dem sich das Bedürfnis, Kinder einzuschüchtern, konkretisiert, ist die Verwendung von Leichen. Viele kennen wahrscheinlich die Szenen aus Mary Sherwoods Roman History of the Fairchild Family59, in denen Kinder mit zum Galgen genommen werden, damit sie sich die dort hängenden verwesenden Leichen ansehen, wobei man ihnen moralische Geschichten erzählt. Was man sich oft gar nicht klarmacht, ist, daß diese Szenen dem wirklichen Leben entnommen sind und einen wichtigen Bestandteil der Kindheit in der Vergangenheit ausmachten. Wenn jemand aufgehängt wurde, mußten dabei oft ganze Schulklassen zusehen. Eltern nahmen ihre Kinder oft mit, wenn jemand durch Erhängen hingerichtet wurde, und zu Hause peitschten sie ihre Kinder, damit sie nicht vergäßen, was sie gesehen hatten.60) Sogar ein so humanistischer Erzieher wie Mafio Vegio, der Bücher schrieb, in denen er gegen das Schlagen von Kindern protestierte, meinte, daß »es überhaupt nichts Schlechtes sei, Kinder zu Zeugen einer öffentlichen Exekution zu machen.«61)

Die Wirkung, die dieses wiederholte Anschauen von Leichen auf die Kinder hatte, war natürlich außerordentlich groß. Nachdem eine Mutter ihrer kleinen Tochter die frische Leiche ihres neunjährigen Freundes als Beispiel gezeigt hatte, ging das Mädchen herum und sagte: »Sie werden die Tochter in das tiefe Loch legen, und was wird die Mutter tun?«62 Ein anderes Kind, ein Junge, wachte nachts schreiend auf, nachdem er bei Hinrichtungen durch den Strang zugegen gewesen war, und »erhängte seine Katze«.63 Die elfjährige Harriet Spencer berichtet in ihrem Tagebuch, daß sie überall Leichen sehe, an Galgen hängend oder aufs Rad geflochten. Ihr Vater hatte sie mitgenommen, um Hunderte von Leichen zu besichtigen, die ausgegraben worden waren, um Platz für neue zu machen.

... Papa sagte, es sei dumm und abergläubisch, sich vor dem Anblick von Leichen zu fürchten; deshalb folgte ich ihm auf einer dunklen, schmalen, steilen Wendeltreppe, die sich in die Tiefe wand, bis wir an eine Tür kamen, hinter der eine große Höhle war. Sie war durch eine Lampe erhellt, die in der Mitte herabhing, und der Mönch trug eine Fackel in der Hand. Zuerst konnte ich nichts erkennen, als sich meine Augen aber an das flackernde Licht gewöhnt hatten, "wagte ich kaum hinzusehen, denn zu beiden Seiten lagen schreckliche, schwarze, grausige Gestalten, von denen einige grinsten, andere auf uns zeigten, wieder andere Schmerzen zu leiden schienen, und das in allen

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möglichen Stellungen und so gespenstisch anzusehen, daß ich kaum ein Schreien unterdrücken konnte und glaubte, sie bewegten sich alle. Als Papa sah, wie unbehaglich mir war, war er nicht ärgerlich, sondern sehr freundlich, und sagte, ich müsse mich überwinden und zu einer der Leichen hingehen und sie berühren, was schrecklich war. Ihre Haut war schwarzbraun und auf den Knochen festgetrocknet; sie war ganz hart und fühlte sich wie Marmor an.64

Das Bild des freundlichen Vaters, der seiner Tochter hilft, ihre Angst vor Leichen zu überwinden, ist ein Beispiel für das, was ich »projektive Fürsorge« nenne, im Unterschied zur wahren empathischen Fürsorge, die das Ergebnis einer empathischen Reaktion ist. 

Bei der projektiven Fürsorge besteht der erste Schritt immer in der Projektion des Unbewußten des Erwachsenen auf das Kind; sie kann von der empathischen Fürsorge dadurch unterschieden werden, daß sie in bezug auf die eigentlichen Bedürfnisse des Kindes entweder unangemessen oder unzureichend ist. Die Mutter, die auf jegliches Unbehagen ihres Kindes mit Hätscheleien reagiert; die Mutter, die sorgfältig auf die Kleidung ihres Babys achtet, wenn sie es zur Säugamme bringen läßt; die Mutter, die eine volle Stunde braucht, um das Baby in Windeln zu wickeln — dies alles sind Beispiele für eine projektive Fürsorge.

Die projektive Fürsorge reicht allerdings aus, um Kinder großzuziehen, bis sie erwachsen sind. Sie ist von Anthropologen, die die Kindheit primitiver Völker untersuchten, häufig als »gute Fürsorge« bezeichnet worden; erst wenn psychoanalytisch ausgebildete Anthropologen dieselben Stämme untersuchen, wird deutlich, daß ihr Verhältnis zu Kindern durch Projektionen und nicht durch wirkliche Empathie bestimmt ist.

Untersuchungen über die Apachen65 zum Beispiel gestehen diesen immer die höchsten Werte auf der Skala der für die, Entwicklung des Gefühls von Sicherheit so wichtigen »oralen Befriedigung« zu. Wie bei vielen anderen primitiven Stämmen stillen auch bei den Apachen die Mütter ihre Kinder auf Verlangen zwei Jahre lang, und darauf beruht ihre Einstufung. 

Aber erst als der psychoanalytisch ausgebildete Anthropologe L. Bryce Boyer diesen Stamm aufsuchte, wurde die projektive Basis dieser Fürsorge aufgedeckt:

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"Die Fürsorge, die die heutigen Apachenmütter ihren Säuglingen zukommen lassen, ist erschreckend inkonsequent. Sie sind gewöhnlich sehr zärtlich und aufmerksam in den körperlichen Beziehungen zu ihren Babys. Es gibt ein großes Maß an körperlichem Kontakt. Die Stillzeiten richten sich gewöhnlich nach dem Schreien der Babys, und jeder Kummer wird zuerst einmal mit der Brustwarze oder einem Flaschenschnuller gelindert.

Gleichzeitig haben die Mütter aber ein sehr begrenztes Verantwortungsgefühl, was die Fürsorge für die Kinder betrifft, und man gewinnt den Eindruck, daß die Zärtlichkeit der Mutter für ihr Baby darauf beruht, daß sie ihrem Kind eine Fürsorge angedeihen läßt, die sie selbst sich als erwachsene Person wünscht. Viele Mütter verlassen ihre Kinder oder geben sie weg — Babys, die sie noch eine Woche zuvor liebevoll gestillt haben. 

Die Apachen bezeichnen diese Praxis sehr treffend als <das Kind wegwerfen>. Sie verspüren nicht nur kaum Gewissensbisse wegen dieses Verhaltens, sondern sind manchmal offen erfreut darüber, daß sie fähig waren, sich von dieser Bürde zu befreien. In manchen Fällen <vergessen> Mütter, die ihre Kinder weggegeben haben, ganz, daß sie ihnen einmal gehörten. 

Die durchschnittliche Apachenmutter glaubt, daß die physische Fürsorge für das Kind alles sei, was es braucht. Sie hat wenige oder gar keine Bedenken, ihr Baby mir irgend jemandem allein zu lassen, während sie plötzlich fortgeht, um zu plaudern, einzukaufen, zu spielen oder zu trinken und >sich herumzutreiben<. Im günstigsten Fall vertraut die Mutter ihr Baby einer Schwester oder einer älteren Verwandten an. In früheren Zeiten, als die Apachen auf ihrem Boden noch heimisch waren, war eine solche Vereinbarung fast immer möglich."66

*

Selbst ein so simpler Akt wie der, sich in Kinder, die geschlagen werden, einzufühlen, war für Erwachsene in der Vergangenheit schwierig. Die wenigen Erzieher, die vor unserer modernen Zeit dazu rieten, Kinder sollten im allgemeinen nicht geschlagen werden, begründeten das damit, daß das Schlagen böse Folgen habe, und nicht etwa damit, daß es dem Kind Schmerzen zufüge oder es verletze. Ohne das Element der Empathie hatte dieser Rat überhaupt keine Wirkung, und Kinder wurden weiter wie zuvor geschlagen. Die Mütter, die ihre kleinen Kinder drei Jahre lang zu Säugammen schickten, waren zutiefst bekümmert, daß ihre Kinder nach dieser Zeit nicht zu ihnen zurückkehren wollten, waren aber nicht in der Lage, den Grund dafür zu erkennen. 

Wohl hundert Generationen von Müttern schnürten ihre kleinen Kinder in Wickelbänder und sahen ihrem Protestgeschrei teilnahmslos zu, weil ihnen der für die Einfühlung in ihre Kinder nötige psychische Mechanismus fehlte. Erst als der langsame historische Prozeß der Evolution der Eltern-Kind-Beziehungen schließlich durch die aufeinanderfolgenden Generationen von Eltern-Kind-Interaktionen dieses Vermögen hervorbrachte, wurde offenbar, daß das Wickeln völlig überflüssig war.

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1706 beschrieb Richard Steele in The Tatler, wie sich seiner Ansicht nach ein Kind nach der Geburt fühlen mußte:

Ich lag ganz still da, aber die Hexe nahm mich ohne jeden Grund und Anlaß und wickelte meinen Kopf, so fest sie nur konnte, ein; dann umwickelte sie meine Beine und ließ mich eine schreckliche Mixtur herunterschlucken. Das schien mir ein grausamer Eintritt ins Leben, bei dem man sofort mit der Einnahme von Arzneimitteln anfing. Nachdem ich auf diese Weise angezogen worden war, wurde ich zu einem Krankenbett gebracht, wo eine vornehme junge Frau (von der ich wußte, daß sie meine Mutter war) mich fast zu Tode gedrückt hätte ... bevor sie mich in die Arme eines Mädchens warf, das herbeigeholt worden war, damit es sich um mich kümmerte. Das Mädchen war sehr stolz darauf, sich als Amme betätigen zu können, und begann, weil ich einen Laut von mir gegeben hatte, mich von neuem auszuziehen und wieder anzuziehen, um zu sehen, was mir fehlte; am Ende steckte sie alles gewissenhaft mit Nadeln zusammen. Ich weinte noch immer, woraufhin sie mich mit dem Gesicht nach unten in ihren Schoß legte, und um mich zu beruhigen, klopfte sie mir auf den Rücken, so daß die Nadeln mir wie Nägel ins Fleisch drangen, und schrie ein Wiegenlied .....67)   

Eine Beschreibung mit einem solchen Maß an Empathie hat es meines Wissens vor dem achtzehnten Jahrhundert nicht gegeben. Nicht lange danach hörte die zweitausendjährige Gewohnheit des Wickelns auf.

 

Man könnte meinen, das fehlende Einfühlungsvermögen in der Vergangenheit ließe sich an allen möglichen Stellen finden. Als erstes schaut man natürlich in die Bibel; man sollte annehmen, hier fände man gewiß Empathie in bezug auf die Bedürfnisse der Kinder, denn wird Jesus nicht immer als jemand dargestellt, der kleine Kinder um sich hat? Liest man aber tatsächlich einmal jede der über zweitausend Stellen über Kinder, auf die die Bibelkonkordanz hinweist, so sieht man, daß es solche erfreulichen Vorstellungen dort gar nicht gibt. 

Man findet sehr viel über Kinderopfer, über das Steinigen von Kindern, über das Schlagen von Kindern, über ihren strikten Gehorsam, über ihre Liebe zu den Eltern und über ihre Rolle als Träger des Familien­namens; man findet aber nicht den geringsten Hinweis auf irgendeine Form der Einfühlung in kindliche Bedürfnisse. Selbst der bekannte Spruch Jesu: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Himmelreich«, erweist sich als die in Vorderasien übliche Praxis des Exorzismus durch Handauflegen, eine Praxis, die viele Heilige ausübten, um das den Kindern innewohnende Böse auszutreiben: »Da wurden Kindlein zu ihm gebracht, daß er die Hände auf sie legte und betete ...Und er legte die Hände auf sie und zog von dannen.« (Matthäus 19,13-15)

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All das besagt indes nicht, daß in der Vergangenheit Eltern ihre Kinder nicht geliebt haben; sie haben ihre Kinder durchaus geliebt. Sogar diejenigen, die heutzutage ihre Kinder schlagen, sind keine Sadisten. Sie lieben ihre Kinder sogar zuzeiten, und zwar auf ihre eigene Weise, und sind manchmal fähig, zärtliche Gefühle zu äußern, besonders dann, wenn die Kinder nichts fordern

Dasselbe gilt für die Eltern in der Vergangenheit; Äußerungen von Zärtlichkeit gegenüber Kindern zeigen sich meist dann, wenn das Kind nichts fordert, insbesondere, wenn das Kind schläft oder tot ist. Homers Beobachtung, »wie eine Mutter eine Fliege von ihrem Kind verscheucht, wenn es in tiefem Schlaf liegt«, entspricht Martials Epitaph:

Decke die zarten Gebeine kein starrer Rasen, und, Erde,
sei ihr nicht schwer! Denn auch sie war es ja niemals für dich.
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Erst wenn das Kind tot ist, klagen die Eltern, die zuvor unfähig zur Empathie waren, sich an. So heißt es bei Morelli (1400): »Du liebtest ihn, benutztest deine Liebe jedoch nie dazu, ihn glücklich zu machen; du behandeltest ihn mehr wie einen Fremden denn wie einen Sohn; du schenktest ihm niemals eine Stunde der Ruhe ... Du gabst ihm niemals einen Kuß, wenn er es wünschte; du ließest ihn die Schule erleiden und viele harte Schläge.«69

Was den Eltern in der Vergangenheit fehlte, war nicht Liebe, sondern eher die emotionale Reife, die nötig ist, um das Kind als eine eigenständige Person anzuerkennen. Es ist schwer einzuschätzen, wie groß heute der Anteil jener Eltern ist, die mit einer gewissen Konsistenz die Stufe der Empathie erreicht haben. Als ich einmal eine informelle Umfrage bei einem Dutzend Psychotherapeuten gemacht und gefragt habe, wieviele ihrer Patienten bei Beginn der Analyse fähig waren, ihre Kinder unabhängig von ihren eigenen projizierten Bedürfnissen als eigenständige Individuen anzuerkennen, antworteten sie alle, daß nur sehr wenige diese Fähigkeit hätten.

Einer von ihnen, Amos Gunsberg, meinte: »Dazu kommt es erst nach einer gewissen Zeit der Analyse, und zwar stets zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt — nämlich dann, wenn der Patient zu einer Vorstellung von sich selbst als einen von der eigenen allumfassenden Mutter getrennten Individuum gelangt.«

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Parallel zu der projektiven Reaktion verläuft die Umkehr-Reaktion, bei der Eltern und Kind die Rollen umkehren, was oft zu höchst absonderlichen Resultaten führt. Die Umkehrung beginnt lange vor der Geburt des Kindes sie ist die Quelle des in der Vergangenheit zu beobachtenden äußerst starken Wunsches nach Kindern, bei dem im Vordergrund immer die Frage steht, was die Kinder den Eltern geben können, und niemals die, was die Eltern den Kindern geben können. Medeas Klage vor dem Kindesmord bezieht sich darauf, daß sie, wenn sie ihre Kinder tötet, niemanden mehr haben wird, der sich um sie kümmert:

Vergebens also zog ich euch, ihr Kinder auf!
Vergebens duldet' ich und schwand in Sorgen hin
Und trug umsonst die grausen Schmerzen der Geburt!
Traun! ehemals nährt ich Arme schöne Hoffnungen.
Der Greisin, wähnt ich, solltet einst ihr pflegen, ihr
Die Augen einst zudrücken der Entschlummerten:
Das schönste Glück der Sterblichen. Nun ist dahin
Die süße Sorgfalt.70

Sobald es geboren ist, wird das Kind unter positiven und negativen Aspekten zum Vater oder zur Mutter seiner eigenen Eltern, ohne daß auf sein wirkliches Alter Rücksicht genommen würde. Ungeachtet seines Geschlechts wird es oft in Kleider gesteckt, die denen gleichen, die die Mütter seiner Eltern getragen haben, das heißt, das Gewand ist nicht bloß lang, sondern auch seit mindestens einer Generation aus der Mode gekommen.71 Die Mutter ist im wahrsten Sinne des Wortes im Kind noch einmal geboren; die Kinder werden nicht nur wie »kleine Erwachsene« gekleidet, sondern deutlich wie kleine Frauen, häufig mit einem Dekollete.

Die Vorstellung, daß in dem Baby der Großvater oder die Großmutter wiedergeboren ist, war im Altertum sehr verbreitet72, und die Verwandtschaft zwischen dem Ausdruck »Baby« und den verschiedenen Ausdrücken für Großmütter (Baba, Bäbe) verweist auf ähnliche Vorstellungen.73 Es gibt jedoch auch Hinweise auf noch konkretere Umkehrungen in der Vergangenheit, die schon halluzinatorisch sind. Häufig haben Erwachsene die Brust von kleinen Kindern geküßt oder daran gesaugt. Zum Beispiel wurden Penis und Brustwarzen des kleinen Ludwigs XIII. häufig von den Leuten, die um ihn herum waren, geküßt. 

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Obgleich Heroard, der Tagebuch über ihn führte, ihn stets als den aktiven Teil erscheinen läßt (mit dreizehn Monaten »läßt er M. de Souvre, M. de Termes, M. de Liaucourt und M. Zamet seinen Piephahn küssen«74), wird später deutlich, daß er der passive Teil war: »Er will um keinen Preis zulassen, daß die Marquise seine Hoden berührt; seine Amme hatte ihm das eingeschärft: >Monsieur, lassen Sie nur niemanden Ihre Hoden anrühren, auch Ihren Piephahn nicht, sonst wird er Ihnen abgeschnitten.«75 Aber die Erwachsenen konnten Hände und Lippen nicht von seinem Penis und seinen Brustwarzen lassen. Beide waren die mütterliche Brust.

Ein anderes Beispiel für das »Kind als Mutter« ist die verbreitete Überzeugung, Kinder hätten Milch in der Brust, die herausgeholt werden müßte. Im vierzehnten Jahrhundert wurde in Italien die balia, (Säugamme) angewiesen, »immer wieder die Brust des Kindes zu drücken, um die etwa darin befindliche Milch, die das Kind quäle, herauszuholen«.76 Es gibt einen Anflug von rationaler Erklärung für diesen Glauben, denn auf der Brust eines neugeborenen Kindes ist gelegentlich ein Tropfen einer milchigen Flüssigkeit zu beobachten, die ein Überbleibsel eines von der Mutter stammenden weiblichen Hormons ist. Es bestand jedoch eine deutliche Diskrepanz zwischen diesem Phänomen und »der unnatürlichen, aber allgemein verbreiteten Praxis, daß die grobe Hand der Amme gewaltsam die zarte Brust des neugeborenen Kindes preßte, was die häufigste Ursache für Entzündungen in diesem Bereich war« — wie der amerikanische Kinderarzt Hamilton noch 1793 schrieb.77

Küssen, Saugen und Pressen der Brust sind indes nur einige der Praktiken, bei denen das »Kind als Brust« verwendet wurde; es gibt noch eine Vielzahl weiterer, wie zum Beispiel die folgende, vor der ein Kinderarzt zu Anfang des 19. Jahrhunderts warnte:

»Eine der schädlichsten und widerlichsten Praktiken, die sich bei Kindermädchen, Tanten und Großmüttern findet, besteht darin, das Kind an den Lippen der Erwachsenen saugen zu lassen. Ich hatte Gelegenheit, den Verfall eines blühenden Kindes zu beobachten, das mehr als ein halbes Jahr an den Lippen seiner kranken Großmutter gesaugt hatte.«78

Ich habe sogar mehrere Hinweise darauf gefunden, daß Eltern ihre »Kinder belecken«. So sagt George du Maurier in bezug auf seine neugeborene Tochter: »Das Kindermädchen bringt sie mir jeden Morgen ans Bett, damit ich sie mit der Zunge ablecken kann; an dieser Handlung habe ich soviel Gefallen, daß ich sie beibehalten werde, bis das Kind strafmündig ist.«79

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Man gewinnt den Eindruck, wirklich vollkommen sei ein Kind, das seine Eltern buchstäblich stillt, und die Alten würden dem zustimmen. Wo es um Kinder ging, wurde stets die Geschichte des Valerius Maximus erzählt, der ein »vollkommenes« Kind war. Plinius berichtet:

In der ganzen Welt findet man zwar unzählige Beispiele liebender Hingebung, zu Rom aber eines, mit dem alle übrigen keinen Vergleich aushalten. Eine dem gemeinen Volke angehörende und deshalb unbekannte Wöchnerin, welche die Erlaubniß, ihre Mutter, welche zum Hungertode verurtheilt in einen Kerker eingesperrt war, zu besuchen erhalten hatte, jedesmal aber, damit sie keine Lebensmittel einschwärze, von dem Pförtner durchsucht wurde, ertappte man endlich, wie sie ihre Mutter mit den Brüsten nährte. Dieses unerhörten Falles wegen wurde die kindliche Liebe der Tochter durch die Begnadigung der Mutter belohnt, und Beide erhielten lebenslänglich ihren Unterhalt; der Ort selbst wurde der Göttin der kindlichen Liebe [Pietas] geweiht, und dieser unter dem Consulate des C. Quintius und M. Acilius [130 vor Chr.] an der Stelle jenes Kerkers, wo jetzt das Theater des Marcellus steht, ein Tempel erbaut. 80)

Diese Geschichte wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder als ein Schulbeispiel angeführt. Peter Charron (1593) nannte es »den Strom wieder zurück zur Urquelle leiten«81); das Thema wurde Gegenstand zahlreicher Gemälde von Rubens, Vermeer und anderen.

Oft gewinnt das Bedürfnis, die Vorstellung des »Kindes als Mutter« auszuagieren, überwältigende Stärke; im folgenden ein — durchaus typischer — »Scherz«, den sich der Kardinal Mazarin und andere Erwachsene 1656 mit einem sechsjährigen Mädchen erlaubten:

Eines Tages machte er sich über sie wegen eines Galans lustig, der ihr, wie sie sagte, den Hof machte; schließlich tadelte er sie, weil sie schwanger sei ... Sie strichen ihre Kleider von Zeit zu Zeit glatt und versuchten, ihr zu suggerieren, daß sie immer dicker würde. Das machten sie solange, wie es ihrer Ansicht nach notwendig war, um sie davon zu überzeugen, daß sie wahrscheinlich schwanger sei... Dann kam die Zeit der Entbindung, und als sie am Morgen aufwachte, fand sie zwischen den Bettlaken ein neugeborenes Kind. Man kann sich kaum das Erstaunen und den Kummer vorstellen, in die sie beim Anblick des Kindes geriet. <So etwas>, sagte sie, <passierte bisher niemandem außer der Jungfrau Maria und mir, denn ich habe niemals irgendwelche Schmerzen gespürt.> Die Königin kam, um sie zu trösten, und bot ihr an, Patin zu werden; viele kamen, um mit ihr, der soeben Entbundenen, zu schwatzen.82) 

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Kinder haben stets in sehr konkreter Form für Erwachsene gesorgt. Seit den Zeiten der Römer warteten Jungen und Mädchen ihren Eltern bei Tisch auf, und im Mittelalter fungierten alle Kinder außer den königlichen entweder zu Hause oder bei anderen als Diener. Oft rannten sie mittags von der Schule nach Hause, um ihre Eltern zu bedienen.83 Ich will hier nicht auf den ganzen Bereich der Kinderarbeit eingehen, aber man sollte festhalten, daß die Kinder — im allgemeinen vom vierten oder fünften Lebensjahr an — einen großen Teil der zu erledigenden Arbeiten taten, lange bevor die Kinderarbeit im neunzehnten Jahrhunden zu einem umstrittenen Problem wurde.

Die Umkehr-Reaktion zeigt sich indes am deutlichsten in der emotionalen Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem. Sozialarbeiter, die heutzutage »schlagende« Mütter aufsuchen, sind oft erstaunt, wie rasch kleine Kinder die Bedürfnisse ihrer Eltern erfassen:

Ich erinnere mich an ein 18 Monate altes Kind, das seine äußerst verängstigte und weinende Mutter beruhigte. Erst stellte die Kleine die Flasche, an der sie saugte, hin. Dann bewegte sie sich auf die Mutter zu, berührte sie und beruhigte sie schließlich (wozu ich noch nicht einmal ansatzweise in der Lage gewesen war). Als sie merkte, daß ihre Mutter sich wieder wohl fühlte, ging sie zurück, legte sich hin, nahm ihre Flasche und begann wieder zu saugen.84

Diese Rolle wurde in der Vergangenheit von Kindern häufig übernommen. Von einem Kind heißt es, man habe es »niemals schreiend oder unruhig erlebt ... Als Baby in den Armen der Mutter hob es bei solchen Gelegenheiten die kleine Hand und wischte der Mutter die Tränen von der Backe ...«85

Ärzte versuchten Mütter dadurch zu veranlassen, ihre Säuglinge selber zu stillen, statt sie zu Säugammen zu schicken, daß sie ihnen versicherten, »als Entschädigung für das Stillen wird das Kind sich bemühen, der Mutter tausend Freuden zu erweisen ... es küßt sie, streichelt ihr Haar, ihre Nase und ihre Ohren, es schmeichelt ihr ...«86

Unter dem Gesichtspunkt dieses Themas habe ich über 500 Gemälde von Müttern und Kindern aus allen möglichen Ländern katalogisiert und festgestellt, daß auf ihnen die Kinder die Mütter zu einem viel früheren Zeitpunkt anblicken, anlächeln und liebkosen als umgekehrt die Mütter die Kinder, was auf den Bildern überhaupt nur ganz selten vorkommt.

Die Fähigkeit von Kindern, Erwachsene zu bemuttern, war oft ihre Rettung. Mme. de Sevigne beschloß 1670, ihre 18 Monate alte Enkelin nicht mit auf eine Fahrt zu nehmen, die für das Kind hätte gefährlich werden können.

Mme. du Puy-du-Fou will nicht, daß ich meine Enkelin mitbringe. Sie meint, dadurch würde sie einer Gefahr ausgesetzt, und ich habe schließlich nachgegeben. Ich will die kleine Dame nicht gefährden — ich liebe sie sehr ..... Sie tut hundert kleine Dinge: sie liebkost, sie verteilt Klapse, sie macht das Kreuzzeichen, sie bittet um Verzeihung, sie knickst, sie küßt die Hand, sie zuckt die Achseln, sie tanzt, sie schmeichelt, sie faßt einen beim Kinn: kurz, sie ist in jeder Beziehung reizend. Ich vergnüge mich ganze Stunden mit ihr. Ich möchte nicht, daß sie stirbt.87

Das Bedürfnis der Eltern nach Bemutterung bedeutete für das heranwachsende Kind eine große Belastung und war zuweilen die Ursache für seinen Tod. Ein häufig angegebener Grund für den Tod von Kindern lautete, sie seien im Bett erdrückt oder erstickt worden. Obgleich das häufig bloß eine Bemäntelung von Kindesmord war, stellten die Kinderärzte in den Fällen, in denen solche Angaben zutrafen, doch fest, die Schuld daran liege bei der Mutter, die ihr Kind nicht in ein eigenes Bett gelegt habe, als sie schlafen ging.

»Weil sie nicht von dem Kind lassen wollte, hielt sie es beim Schlafen noch enger an sich gepreßt. Ihre Brust verschloß die Nase des Kindes.«88

Diese Umkehr-Vorstellung vom Kind als einer Schutzdecke verbirgt sich hinter der mittelalterlichen Warnung, die Eltern sollten darauf achten, daß sie ihre Kinder nicht verhätschelten »wie der Efeu, der den von ihm umschlungenen Baum mit Sicherheit tötet, oder die Äffin, die ihre Jungen aus lauter Zärtlichkeit zu Tode drückt«.89)  

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