Das psychologische Prinzip der Doppelvorstellung
Lloyd deMause
41-65
Der ständige Wechsel zwischen projektiver und Umkehr-Reaktion, zwischen dem Kind als Bösewicht und dem Kind als Erwachsenem, bringt eine Doppelvorstellung (double Image) hervor, die für einen großen Teil des bizarren Charakters der Kindheit in vergangenen Zeiten verantwortlich ist. Wir haben bereits gesehen, daß der Übergang von der Erwachsenen-Vorstellung zur Projektions-Vorstellung eine der Voraussetzungen für das Schlagen ist.
Ein genaueres Bild von der Doppelvorstellung können wir gewinnen, wenn wir uns einen bestimmten Fall aus der Vergangenheit näher ansehen.
Den vollständigsten vormodernen Bericht über eine Kindheit bietet das Tagebuch von Heroard, dem Arzt Ludwigs XIII., das fast tägliche Eintragungen darüber enthält, was das Kind und die Personen in seiner Umgebung taten und sagten. wikipedia Ludwig_XIII. 1601-1943
Dieses Tagebuch läßt an vielen Stellen erkennen, wie sich die Verschiebung in Heroards eigener Doppelvorstellung vollzieht, wie sein Bild des Kindes zwischen projektiver und Umkehr-Vorstellung wechselt.
Das Tagebuch beginnt mit der Geburt des Dauphins im Jahre 1601. Sofort treten seine Erwachsenen-Eigenschaften zutage. Als er aus dem Mutterleib hervorkam, hielt er seine Nabelschnur »mit solcher Kraft (fest), daß es schwierig war, sie ihm zu entwinden«. Er wurde als »sehr muskulös« geschildert; er schrie so laut, daß »er sich gar nicht wie ein Kind anhörte«. Sein Penis wurde sorgfältig geprüft und für »gut beschaffen« befunden.90
Da er ein Dauphin war, könnte man diese ersten Projektionen von Erwachsenen-Eigenschaften als Stolz auf einen ungeborenen neuen König abtun, aber bald beginnen solche Vorstellungen sich zu häufen, und die Doppelvorstellung, die einerseits einen Erwachsenen, andererseits ein unersättliches Kind in ihm sieht, verstärkt sich.
Am Tage nach seiner Geburt ... hören sich seine Schreie im allgemeinen überhaupt nicht so an wie die Schreie eines Kindes, und auch später klangen sie nie so, und wenn er an der Brust saugt, nimmt er den Mund so voll und öffnet ihn so weit, daß er bei einem Mal soviel nimmt, wie andere bei dreien. Deswegen ist seine Säugamme fast immer trocken ... Er war nie zufrieden.91
Daß der eine Woche alte Dauphin abwechselnd wie ein kindlicher Herkules, der Schlangen erwürgt, und wie ein Gargantua erscheint, der 17.913 Kühe braucht, um satt zu werden, steht in krassem Widerspruch zu dem in Wirklichkeit kranken, schwachen, gewickelten Kind, von dem Heroard berichtet. Obwohl Dutzende von Personen zu seiner Pflege bestimmt waren, war niemand in der Lage, seine einfachsten Nahrungs- und Ruhebedürfnisse zu befriedigen. Ständig wurden unnötigerweise die Säugammen ausgetauscht und laufend Ausflüge und lange Fahrten unternommen.92
Im Alter von zwei Monaten war der Dauphin dem Tode nahe. Heroards Besorgnis nahm zu, und zur Abwehr seiner Ängste trat nun seine Umkehr-Reaktion stärker in den Vordergrund: Auf die Frage der Säugamme: »Wer ist jener Mann?« antwortete er in seiner Sprechweise und mit Vergnügen: »Erouad!« (Heroard). Man kann sehen, daß sein Körper sich nicht mehr entwickelt und auch nicht gepflegt wird. Die Muskeln auf seiner Brust sind ganz aufgezehrt, und die große Falte, die er früher an seinem Hals hatte, war nun nur noch Haut.93
Als der Dauphin fast zehn Monate alt war, wurden Gängelbänder an seinen Kleidern befestigt. Das Gängelband, das angeblich dazu diente, dem Kind das Gehen beizubringen, diente in Wirklichkeit weitaus häufiger dazu, das Kind wie eine Puppe zu manipulieren und zu kontrollieren. Dies — zusammen mit Heroards projektiven Reaktionen — macht es schwierig zu begreifen, was wirklich vorging und was von den Personen in der Umgebung des kleinen Ludwig manipuliert wurde. So heißt es z. B., mit elf Monaten habe er solche Freude daran gehabt, mit Heroard zu fechten, »daß er mich lachend durch das ganze Zimmer verfolgt«. Einen Monat später berichtet Heroard jedoch, daß er »sich kraftvoll zu bewegen beginnt, wobei er unter den Armen festgehalten wird«.94 Es ist offensichtlich, daß er zuvor am Gängelband getragen oder geschaukelt wurde, wenn es hieß, er habe Heroard »verfolgt«.
Da er erst viel später Sätze sprechen kann, ist es eine Halluzination Heroards, wenn er berichtet, daß jemand gekommen sei, den vierzehn Monate alten Dauphin zu besuchen, und dieser »sich umdreht und sich alle Personen ansieht, die an der Balustrade stehen, dann auf den Besucher zugeht und ihm seine Hand hinstreckt, die dieser küßt. M. d'Haucourt tritt ein und sagt, er sei gekommen, um das Kleid des Königs zu küssen; er dreht sich um und sagt zu ihm, das sei nicht nötig.«95
Der junge Dauphin wird als sexuell äußerst aktiv dargestellt. In Heroards Schilderungen tritt die projektive Basis für die Zuschreibung von erwachsenen sexuellen Verhaltensweisen an das Kind deutlich zutage: »Der (zwölf Monate alte) Dauphin ruft den Pagen zurück und mit einem >Heh!< hebt er seinen Rock hoch und zeigt ihm seinen Piephahn ... Er läßt jeden seinen Piephahn küssen ..... Vor einem kleinen Fräulein hat er seinen Rock hochgehoben und ihr mit einem solchen Eifer seinen Piephahn gezeigt, daß er darüber außer sich geriet.«96
42
Nur wenn man sich vor Augen hält, daß es sich im folgenden um ein erst fünfzehn Monate altes Kind handelt, das wahrscheinlich noch am Gängelband gehalten wird, ist es möglich, sich die beschriebene Szene frei von Heroards massiven Projektionen vorzustellen:
"Der Dauphin geht hinter Mad. Mercier her, die aufschreit, weil M. de Montglat sie mit der Hand auf den Hintern geschlagen hat; der Dauphin schreit ebenfalls. Sie flüchtet zum Bett. M. de Montglat folgt ihr und will ihr einen Schlag auf das Hinterteil geben; sie schreit sehr laut. Der Dauphin hört es und beginnt ebenfalls laut zu schreien; er hat seinen Spaß daran und schüttelt vergnügt seine Füße und seinen ganzen Körper ... Sie lassen seine Frauen kommen; er läßt sie tanzen, spielt mit der kleinen Marguerite, küßt sie und umarmt sie; er wirft sie nieder, wirft sich mit zitterndem Körper und knirschenden Zähnen auf sie ... neun Uhr ... Er müht sich ab, ihr mit einer Rute auf das Hinterteil zu schlagen. Mlle. Belier fragt ihn: »Monsieur, was hat M. de Montglat mit der Mercier gemacht?« Er beginnt plötzlich die Hände mit einem süßen Lächeln zusammenzuschlagen und gerät dabei so sehr in Fahrt, daß er außer sich vor Freude ist, eine gute Viertelstunde lacht und in die Hände klatscht und sich ungestüm auf sie stürzt wie jemand, der den Witz verstanden hat".97
Nur selten schildert Heroard einmal, daß der Dauphin der passive Teil bei diesen sexuellen Manipulationen war: »Die Marquise steckt oft die Hand unter sein Kleid; er läßt sich auf das Bett seiner Amme legen, wo sie mit ihm schäkert, wobei sie häufig ihre Hand unter sein Kleid steckt.«98
Häufiger wird einfach geschildert, wie er ausgezogen vom König oder von der Königin oder von beiden oder von verschiedenen Dienern mit ins Bett genommen wurde und bei sexuellen Spielen mitmachte — vom Säuglingsalter bis mindestens zum Alter von sieben Jahren.
Ein anderes Beispiel für die Doppelvorstellung ist die Beschneidung. Wie wir wissen, wurde bei Juden, Ägyptern, Arabern und anderen die Vorhaut der Knaben beschnitten, wofür man zahlreiche Gründe angeführt hat, die indes alle unter die Doppelvorstellung von Projektion und Umkehrung subsumiert werden können. Zunächst spielen bei solchen Verstümmelungen von Kindern durch Erwachsene immer Projektion und Bestrafung eine Rolle, wobei die Bestrafung der Kontrolle der projizierten Leidenschaften gilt.
Gemäß einer Feststellung Philons im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt diente die Beschneidung....
»der Ausrottung von Leidenschaften, die den Geist fesseln. Denn weil unter allen Leidenschaften, die des Geschlechtsverkehrs zwischen Mann und Frau die größte ist, haben die Gesetzgeber empfohlen, jenes Instrument, mit dem der Geschlechtsverkehr vollzogen wird, zu verstümmeln, wobei sie darauf hinwiesen, daß diese mächtigen Leidenschaften gezügelt werden müssen, und glauben, daß auf diese Weise nicht nur die genannten, sondern auch alle anderen Leidenschaften kontrolliert würden.«99)
43
Moses Maimonides ist der gleichen Ansicht:
"Ich glaube, einer der Gründe für die Beschneidung bestand in der Einschränkung des Geschlechtsverkehrs und der Schwächung der Geschlechtsorgane; sie hatte den Zweck, die Aktivitäten dieses Organs zu beschränken und es soweit wie möglich in Ruhe zu halten. Der wahre Zweck der Beschneidung bestand darin, mit dem Geschlechtsorgan ein solches Maß an physischem Schmerz zu verbinden, daß die natürliche Funktion oder die Potenz des Individuums nicht beeinträchtigt, die Macht der Leidenschaft und eines allzu großen Verlangens aber möglichst weit verringert war."100
Das Element der Umkehrung in der Beschneidung zeigt sich in dem bei einer bestimmten Version des Rituals zutage tretenden Aspekt der Eichel-als-Brustwarze. Der Penis des Kindes wird gerieben, damit er erigiert, dann spaltet der die Beschneidung ausführende Mohel die Vorhaut mit dem Fingernagel oder einem Messer und reißt sie anschließend um die Eichel herum ab. Danach saugt der Mohel das Blut von der Eichel ab.101 Der Grund dafür ist der gleiche, aus dem jedermann den Penis des kleinen Ludwig küßte: der Penis und besonders die Eichel verkörpert die mütterliche Brustwarze und das Blut entspricht der Muttermilch.102
Die Vorstellung, daß das Blut des Kindes eine Milch mit magischen Eigenschaften darstellt, ist alt und die Grundlage zahlreicher Opferhandlungen. Statt auf dieses komplexe Problem einzugehen, möchte ich mich hier auf die entscheidende Vorstellung der Beschneidung als des Zutagetretens der Eichel-als-Brustwarze konzentrieren. Es ist längst nicht allgemein bekannt, daß das Entblößen der Eichel nicht nur bei den Nationen, bei denen die Beschneidung Brauch war, eine wichtige Rolle spielte. Bei den Griechen und Römern galt die Eichel als heilig; ihr Anblick »rief Schrecken und Verwunderung im Herzen des Mannes hervor«,103 weshalb die Vorhaut entweder mit einer Schnur zusammengebunden wurde, wobei man von kynodesme sprach, oder mit einer fibula, einer Spange, zusammengedrückt wurde, was als Infibulation bezeichnet wurde.104 Hinweise auf die Infibulation, sowohl zum Zweck der »Sittsamkeit« als auch zum Zweck der »Einschränkung der Begierde«, finden sich auch in der Renaissance und in der Neuzeit.105
44
Wenn die Vorhaut nicht lang genug war, um die Eichel zu bedecken, wurde manchmal eine Operation vorgenommen, bei der die Haut um die Basis des Penis herum losgeschnitten und nach vorne gezogen wurde.106 In der antiken Kunst wird die Eichel gewöhnlich bedeckt gezeigt, wobei der Penis entweder klein ist oder die Vorhaut selbst bei erigiertem Penis deutlich erkennbar zugebunden ist. Ich habe nur zwei Fälle entdeckt, bei denen die Eichel sichtbar ist: im einen Fall sollte dadurch Ehrfurcht hervorgerufen werden — so bei den Phallusdarstellungen, die man in Toreingängen hängen hatte —, im andern Fall ging es um den Gebrauch des Penis bei der Fellatio.107 Sowohl bei den Juden als auch bei den Römern war also die Umkehr-Vorstellung in ihrem Bild von der Eichel-als-Brustwarze enthalten.
Kindesmord und
Todeswünsche gegenüber KindernIn zwei Büchern, die sich durch einen Reichtum an klinischer Dokumentation auszeichnen, hat der Psychoanalytiker Joseph Rheingold die Todeswünsche von Müttern108 gegenüber ihren Kindern untersucht und festgestellt, daß solche Todeswünsche nicht nur viel stärker verbreitet sind, als allgemein angenommen wird, sondern auch in einem starken Bestreben begründet sind, die Mutterschaft »ungeschehen« zu machen, um der Bestrafung von seiten der eigenen Mutter zu entgehen.
Rheingold schildert Mütter, die bei der Geburt ihre eigenen Mütter bitten, sie nicht zu töten. Die Quelle sowohl der Todeswünsche gegenüber den Kindern als auch der Wochenbettdepression sieht er nicht in einer Feindseligkeit gegenüber dem Kind selbst, sondern in dem Bedürfnis, das Kind zu opfern, um die eigene Mutter zu versöhnen.
Dem Krankenhauspersonal sind diese weitverbreiteten Todeswünsche gegenüber Kindern durchaus vertraut, weshalb der Kontakt zwischen Mutter und Kind häufig für einen gewissen Zeitraum verboten wird. Rheingolds Erkenntnisse, die von Block, Zilboorg und anderen bestätigt werden,109 sind komplex und haben weitreichende Implikationen. Wir wollen hier nur festhalten, daß kindesmörderische Impulse bei den heutigen Müttern sehr verbreitet sind und Phantasien, die sich auf das Erstechen, die Verstümmelung, den Mißbrauch, die Enthauptung und die Strangulierung von Kindern beziehen, bei in psychoanalytischer Behandlung befindlichen Müttern nichts Ungewöhnliches sind.
Ich glaube, je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto mehr werden gegen Kinder gerichtete Todeswünsche von den Eltern ausagiert.
45
Die Geschichte des Kindesmordes im Westen muß erst noch geschrieben werden; das will ich hier nicht versuchen. Was bereits bekannt ist, genügt aber, um — im Gegensatz zu der allgemein verbreiteten Auffassung, daß es sich hierbei eher um ein Problem des Ostens als des Westens handele — festzustellen, daß die Ermordung sowohl legitimer als auch illegitimer Kinder im Altertum eine verbreitete Praxis war, daß die Tötung legitimer Kinder im Mittelalter nur langsam zurückging und daß die Tötung illegitimer Kinder bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein für normal gehalten wurde.110
Der Kindesmord in der Antike wird gewöhnlich heruntergespielt, obgleich es bei antiken Autoren Hunderte von eindeutigen Hinweisen darauf gibt, daß das Umbringen von Kindern eine allgemein akzeptierte alltägliche Erscheinung war. Kinder wurden in Flüsse geworfen, in Misthaufen und Jauchegräben geschleudert, in Gefäßen »eingemacht«, um sie darin verhungern zu lassen, auf Bergen und an Wegrändern ausgesetzt als »Beute für Vögel, Futter für wilde Tiere, die sie zerreißen würden« (Euripides, Ion). Im allgemeinen wurde ein in Gestalt und Größe nicht vollkommenes Kind oder ein Kind, das zu leise oder zu laut schrie oder irgendwie von dem abwich, was in gynäkologischen Schriften über die Frage »Wie man erkennt, welches neugeborene Kind würdig ist, erzogen zu werden«111 als normal beschrieben wurde.
Das Erstgeborene durfte allerdings in der Regel am Leben bleiben,112 insbesondere, wenn es sich um einen Jungen handelte. Mädchen zählten natürlich wenig, und die Anweisungen, die Hilarion seiner Frau Alis (1.Jh. v.Chr.) gab, sind typisch dafür, wie offen diese Dinge diskutiert wurden: »Wenn du, was ja gut möglich ist, ein Kind gebären solltest, und es ist ein Junge, so laß es am Leben; wenn es aber ein Mädchen ist, so setze es aus.«113
Das Resultat war ein großes zahlenmäßiges Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen, das für den Westen bis ins Mittelalter hinein typisch war. Danach ging das Töten legitimer Kinder offenbar stark zurück. (Das Töten illegitimer Kinder hat keinen Einfluß auf das zahlenmäßige Verhältnis der Geschlechter zueinander, da im allgemeinen Jungen und Mädchen umgebracht wurden.)
46
Die verfügbaren Statistiken für das Altertum zeigen einen großen Überschuß an Jungen gegenüber Mädchen; zum Beispiel gab es in 79 Familien, die um 228 bis 220 v. Chr. die Miletische Staatsbürgerschaft erlangten, 118 Söhne und 28 Töchter; 32 Familien hatten ein Kind, 31 hatten zwei. Bei Jack Lindsay heißt es:
Zwei Söhne waren nichts Ungewöhnliches, hin und wieder gab es auch drei Söhne, aber daß mehr als eine Tochter großgezogen wurde, kam praktisch nie vor. Poseidippos meinte, »selbst ein reicher Mann setzt seine Tochter immer aus« ... Von 600 Familien, die im zweiten Jahrhundert in Delphi registriert wurden, hatte nur 1 Prozent zwei Töchter.114
Das Töten legitimer Kinder auch durch reiche Eltern war so verbreitet, daß Polybius darin die Ursache für die Entvölkerung Griechenlands sah:
Heute ist Griechenland gekennzeichnet durch eine niedrige Geburtenrate und eine allgemeine Abnahme der Bevölkerung, die dazu geführt haben, daß Städte verlassen liegen und das Land aufgehört hat, Frucht zu tragen, obgleich es weder fortgesetzte Kriege noch Epidemien gab. Die Menschen sind in einen solchen Zustand von Anmaßung, Habsucht und Trägheit verfallen, daß sie keine Lust mehr zum Heiraten haben, oder, wenn sie geheiratet haben, keine Lust zum Großziehen der von ihnen geborenen Kinder haben, und wenn doch, dann höchstens bei ein oder zwei Kindern ...115
Bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. galt in Griechenland wie Rom der Kindesmord weder vor dem Gesetz noch in der öffentlichen Meinung als etwas Unrechtes. Die großen Philosophen waren der gleichen Meinung. Die wenigen Passagen, die von Kennern der Antike als Verurteilung des Kindesmords angesehen wurden, scheinen mir das Gegenteil zu beweisen — so Aristoteles' Äußerung: »Was das Aussetzen oder Großziehen von Kindern betrifft, so sollte gelten, daß kein deformiertes Kind großgezogen werden sollte; wo aber die herrschenden Sitten das Aussetzen Neugeborener verbieten, sollte eine Grenze für die Erzeugung von Nachkommen gesetzt werden.«
Ähnlich verhält es sich bei dem mitunter als »römischer Sokrates« bezeichneten Musomus Rufus, der häufig als ein Autor angeführt wird, der sich gegen den Kindesmord ausgesprochen habe. Der von ihm stammende Text »Sollte jedes neugeborene Kind großgezogen werden?« sagt jedoch eindeutig nichts weiter, als daß Brüder, da sie sehr nützlich seien, nicht getötet werden sollten.116
47
Ältere Autoren bejahen offen den Kindesmord und meinen, wie zum Beispiel Aristippus, daß ein Mann mit seinen Kindern tun könne, was er wolle, denn »werfen wir nicht auch unsere Spucke, unsere Läuse und dergleichen unnütze Dinge von uns, obgleich sie von uns selbst erzeugt worden sind«.117)
Andere, wie zum Beispiel Seneca, behaupten, es würden nur kranke Kinder umgebracht:
"Tolle Hunde bringen wir um; einen wilden und unbändigen Ochsen hauen wir nieder, und an krankhaftes Vieh, damit es die Herde nicht anstecke, legen wir das Messer, ungestalte Geburten schaffen wir aus der Welt, auch Kinder, wenn sie gebrechlich und mißgestaltet zur Welt kommen, ersäufen wir. Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare von dem Gesunden abzusondern."118
In Mythos, Tragödie und der Neuen Komödie, deren Hauptgegenstand häufig darin besteht, wie lustig ein Kindesmord ist, spielt das Thema der Aussetzung eine große Rolle. So ist in Menanders »Mädchen von Samos« mit viel Komik von einem Mann die Rede, der ein Baby kleinzuhacken und zu rösten versucht. In seiner Komödie »Die Schiedsrichter« findet ein Schäfer ein ausgesetztes Kind, erwägt, es aufzuziehen, ändert dann aber seinen Sinn und sagt: »Was habe ich mit dem Aufziehen von Kindern und all dem Ärger zu tun.« Er gibt es einem anderen Mann, mit dem er jedoch in Streit darüber gerät, wer die Halskette des Kindes bekommt.119
Man muß jedoch festhalten, daß der Kindesmord wahrscheinlich seit vorgeschichtlichen Zeiten verbreitet war. Henri Vallois, der alle ausgegrabenen prähistorischen Fossilien vom Pithekanthropus bis zu den mesolithischen Stämmen tabellarisch erfaßt hat, fand hinsichtlich der Verteilung der Geschlechter ein Verhältnis von 148 zu 100 zugunsten der Männer.120 Griechenland und Rom waren in Wirklichkeit noch eine Insel der Aufklärung in einem Meer von Völkern, die sich noch auf einer früheren Stufe befanden, auf der Kinder den Göttern geopfert wurden — eine Praxis, der die Römer vergeblich ein Ende zu machen versuchten.
Am besten dokumentiert ist das Kindesopfer in Karthago, worüber es bei Plutarch heißt:
"... in völliger Kenntnis der Umstände opferten sie ihre eigenen Kinder, und diejenigen, die keine Kinder hatten, pflegten solche von armen Leuten zu kaufen und schnitten ihnen die Kehlen durch, als ob es Lämmer oder junge Vögel wären, während die Mutter — ohne eine Träne oder einen Seufzer — dabeistand. Falls sie aber auch nur einen einzigen Seufzer hören oder eine einzige Träne fallen ließ, mußte sie das Geld zurückzahlen, und ihr Kind wurde trotzdem geopfert. Der ganze Bezirk vor der Statue war von dem lauten Geräusch von Flöten und Trommeln erfüllt, so daß die Klagerufe die Ohren der Leute nicht erreichen konnten."121
48
Rheingolds oben erwähnte These, der Kindesmord bedeute ein Opfer für die Mütter der Eltern, findet ihre konkreteste Bestätigung natürlich im Kindesopfer. Es wurde von den irischen Kelten, den Galliern, den Skandinaviern, den Ägyptern, den Phöniziern, den Moabitern, den Ammonitern und in manchen Perioden auch von den Israeliten praktiziert.122 Archäologen haben Tausende von Gebeinen geopferter Kinder ausgegraben, die oft Inschriften tragen, die die Opfer als die erstgeborenen Söhne angesehener Familien ausweisen und zeitlich bis ins Jericho des Jahres 7000 v. Chr. zurückreichen.123
Häufig wurden Kinder auch in Mauern, Gebäudefundamente oder Brücken eingemauert, um diesen Bauwerken einen größeren Halt zu verleihen; die Beispiele dafür reichen von der Errichtung der Mauer von Jericho bis zum Jahre 1843 in Deutschland.124 Noch heute agieren Kinder, wenn sie »London Bridge is Falling Down« spielen und am Ende des Spiels das Kind fangen, als Opfer für eine Flußgottheit.125
Selbst in Rom führte das Opfern von Kindern ein Untergrunddasein. Bei Dio heißt es, daß Julian »im Rahmen eines magischen Ritus viele Knaben tötete«; Sueton berichtet, daß der Senat angesichts eines bösen Vorzeichens »beschloß, daß in jenem Jahr keine männlichen Neugeborenen aufgezogen werden sollten«; und Plinius der Ältere berichtet von Personen, die »sich das Beinknochenmark und das Gehirn von Kindern zu beschaffen suchten«.126) Verbreiteter war die Praxis, die Kinder persönlicher Feinde zu töten, und zwar oft in großer Zahl,127) so daß die Nachkommen angesehener Leute nicht nur den Kindesmord auf den Straßen miterleben mußten, sondern auch selber je nach dem politischen Schicksal ihrer Väter ständig vom Tod bedroht waren.
Philo war meines Wissens der erste, der sich deutlich gegen den Kindesmord aussprach:
Als Totschläger und Kindermörder aber geben sich durch die klarsten Beweise die zu erkennen, die selbst Hand an sie anlegen und schon den ersten Lebenshauch der Kinder in Roheit und gräßlicher Gefühllosigkeit ersticken und unterdrücken, sowie die, welche sie in einen Fluß oder in die Meerestiefe werfen, nachdem sie sie mit einem schweren Gegenstande belastet, damit sie durch dessen Gewicht schneller untersinken.
49
Andere aber bringen sie in die Wildnis, um sie auszusetzen, — wie sie selbst sagen, in der Hoffnung auf deren Erhaltung, in Wirklichkeit aber zum gräßlichsten Verderben; denn alle menschenfressenden Tiere kommen ungehindert an sie heran und tuen sich gütlich an den Kindern, an dem herrlichen Mahle, das die einzigen Pfleger, die vor allen zur Erhaltung (der Kinder) Verpflichteten, Vater und Mutter, ihnen vorgesetzt haben; und die Überreste benagen die Raubvögel, die dann herabfliegen.128
Obgleich in den beiden Jahrhunderten nach Augustus einige Versuche unternommen wurden, Eltern dafür zu bezahlen, daß sie ihre Kinder am Leben ließen, damit die abnehmende römische Bevölkerung wieder zunähme,129 kam es erst im vierten Jahrhundert zu einem wirklichen Wandel. Erst im Jahre 374 n.Chr. wurde die Tötung eines Kindes vom Gesetz als Mord betrachtet.130
Doch selbst die von den Kirchenvätern geübte Kritik am Kindesmord schien oftmals mehr ihrem Interesse an der Seele der Eltern zu entspringen als dem am Leben des Kindes. Diese Einstellung zeigt sich zum Beispiel bei dem Märtyrer und Heiligen Justinus, der sagte, ein Christ solle keine Kinder aussetzen, damit er sie später nicht im Bordell wiederfindet. »Damit wir niemandem zur Last fallen oder nicht selber eine Sünde begehen, ist uns beigebracht worden, daß es sündhaft ist, Kinder, auch neugeborene, auszusetzen, und zwar vorwiegend, weil wir erleben, daß fast alle, die ausgesetzt wurden (nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen), zur Prostitution erzogen wurden.«131
Als aber die Christen selber angeklagt wurden, bei geheimen rituellen Handlungen kleine Kinder getötet zu haben, antworteten sie prompt: »Wieviele, glaubt ihr, von jenen, die hier anwesend sind und nach dem Blut der Christen verlangen — wieviele selbst von euch Richtern, die ihr euch uns gegenüber so rechtschaffen gebt —, wünschen, daß ich an ihr Gewissen rühre, weil sie ihre eigenen Abkömmlinge getötet haben?«132
Nach dem Konzil von Vaison (442 n.Chr.) verlangte man, das Auffinden ausgesetzter Kinder öffentlich in der Kirche zu verkünden, und 787 n.Chr. gründete Dateo von Mailand das erste Asyl, das ausschließlich für ausgesetzte Kinder da war.133) In anderen Ländern fand die gleiche Entwicklung statt.134) In der Literatur gibt es zahlreiche Beweise dafür, daß der Kindesmord auch im Mittelalter weit verbreitet war; dennoch leugnen viele Historiker diese Tatsache unter Hinweis darauf, daß in Kirchenberichten und anderen Quellen keine Rede davon sei.
50
Geht man aber davon aus, daß das Zahlenverhältnis zwischen den Geschlechtern von 156 zu 100 (etwa im Jahre 801 n.Chr.) und 172 zu 100 (1391 n.Chr.) ein Indikator für das Ausmaß der Tötung legitimer Töchter ist135 und daß illegitime Kinder gewöhnlich ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht getötet wurden, dann muß der tatsächliche Umfang des Kindesmordes im Mittelalter sehr hoch gewesen sein.
Als Innozenz III. Ende des 12. Jahrhunderts das Heilig-Geist-Hospital in Rom eröffnete, wußte er sehr genau, daß viele Frauen ihre Babys in den Tiber warfen. Noch 1527 gab ein Priester zu, daß »die Latrinen von den Schreien der Kinder widerhallten, die man hineinwarf.«136
Mit detaillierten Studien ist zwar eben erst begonnen worden, aber es ist wahrscheinlich, daß der Kindesmord vor dem 16. Jahrhundert nur sporadisch bestraft worden ist.137 Wenn Vincent von Beauvais im 13. Jahrhundert schreibt, ein Vater gräme sich stets, wenn seine Tochter »ihre Nachkommenschaft ersticken ließ«; wenn Ärzte über all die Kinder jammern, die, »von verruchten Müttern weggeworfen, in der Kälte oder auf der Straße gefunden werden«; und wenn wir erfahren, daß im angelsächsischen England vom Gericht unterstellt wurde, daß gestorbene Kinder ermordet worden waren, sofern nicht etwas anderes nachgewiesen werden konnte, dann sollte das Anlaß genug für eine gründliche Erforschung des mittelalterlichen Kindesmords sein.138
Gerade weil in offiziellen Dokumenten nur eine geringe Zahl von illegitimen Geburten verzeichnet ist, sollten wir uns nicht mit der Annahme zufriedengeben, daß »die Menschen in der traditionalen Gesellschaft bis zur Heirat keusch blieben«, denn viele Mädchen verstanden es, eine Schwangerschaft vor der eigenen Mutter, die neben ihnen schlief, zu verbergen,139) und sicherlich gelang es ihnen auch, sie vor der Kirche zu verheimlichen.
Im Hinblick auf das achtzehnte Jahrhundert, für das ein reicheres Material zur Verfügung steht,140) kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Kindesmord in allen Ländern Europas häufig vorkam. In dem Maße, in dem mehr Findelheime eröffnet wurden, wurden auch von allen Seiten mehr Kinder eingeliefert, so daß die Heime schnell zu eng wurden. Obgleich Thomas Coram 1741 sein Findelhaus eröffnete, weil er es nicht ertragen konnte, die in den Gossen und auf den Misthaufen Londons liegenden Babys sterben zu sehen, waren tote Babys in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf den Straßen in London noch immer kein ungewöhnlicher Anblick.141
51
Ende des 19. Jahrhunderts wurde Louis Adamic, wie er selbst schreibt, in einem osteuropäischen Dorf von »tötenden Ammen« großgezogen, zu denen Mütter ihre Kinder schickten, die sie loswerden wollten. Die Kinder wurden dadurch umgebracht,
»daß man sie nach einem heißen Bad der kalten Luft aussetzte; daß man ihnen zu essen gab, was Magen- und Darmkrämpfe verursachte; daß man Gips in ihre Milch mischte oder sie plötzlich mit Nahrung vollstopfte, nachdem sie zwei Tage lang überhaupt nichts bekommen hatten...«
Auch Adamic sollte getötet werden, wurde aber aus irgendeinem Grunde von seiner Amme verschont. Sein Bericht darüber, wie sie unter seinen Augen die anderen zu ihr geschickten Babys beseitigte, vermittelt einen Eindruck von der emotionalen Realität hinter der so viele Jahrhunderte lang geübten Praxis des Kindesmords.
In der ihr eigentümlichen seltsamen, hilflosen Art liebte sie sie alle ... aber wenn die Eltern der unglücklichen Kinder oder deren Verwandte die übliche geringe Summe für den Unterhalt der Kinder nicht zahlen konnten oder einfach nicht zahlten ... schaffte sie sie beiseite ... Eines Tages kam sie mit einem länglichen kleinen Bündel aus der Stadt zurück ... ein schrecklicher Verdacht stieg in mir hoch. Das Baby in der Wiege sollte sterben! ... Als das Baby schrie, hörte ich, wie sie es hochnahm und im Dunkeln stillte, wobei sie murmelte: »Armes, armes Kleines!«
Ich habe seitdem oft versucht, mir vorzustellen, was sie empfunden haben mag, wenn sie ein Kind an ihre Brust hielt, von dem sie wußte, daß es dazu verurteilt war, durch ihre Hand zu sterben ... <Du armes, armes Kleines> — sie sprach absichtlich deutlich, so daß ich es mit Sicherheit hören konnte — <Frucht der Sünde, du selbst hast keinen Fehltritt begangen, sondern bist unschuldig ... bald wirst du fortgehen, bald, bald, mein Armes ... und wenn du jetzt fortgehst, wirst du nicht in die Hölle kommen, was geschähe, wenn du leben und erwachsen und zu einem Sünder werden würdest.> ... Am nächsten Morgen war das Kind tot ... 142
Normalerweise war ein Kind in der Vergangenheit schon unmittelbar nach seiner Geburt von einer Aura des Todes und von Gegenmaßnahmen gegen den Tod umgeben. Von altersher wurden Exorzismus, Reinigungen und magische Amulette für notwendig gehalten, um all die todbringenden Mächte auszutreiben, die vermeintlich in dem Kind hausten; das Baby und seine Umgebung wurden mit kaltem Wasser, Feuer, Blut, Wein, Salz und Urin behandelt.143
52
In einsamen griechischen Dörfern findet man solche Abwehrmaßnahmen gegen den Tod noch heute:
Das neugeborene Kind schläft fest eingewickelt in einer hölzernen Wiege, die von dem einen Ende bis zum anderen von einer Decke umhüllt ist, so daß es in einer Art dunklem und luftlosem Zelt liegt. Die Mütter haben Angst vor den Auswirkungen kalter Luft und böser Geister ... Die Hütte oder das Haus gleichen nach Einbruch der Dunkelheit einer Stadt im Belagerungszustand: die Fenster sind mit Brettern abgesichert, die Tür ist verriegelt und an strategischen Punkten wie der Schwelle sind Salz und Weihrauch ausgestreut, um jedes Eindringen des Teufels zu verhindern.144
Von alten Frauen — nach Rheingolds Auffassung Symbole der Großmütter, deren Todeswünsche abgewehrt werden — glaubte man, sie hätten einen »bösen Blick«, unter dem das Kind sterben würde. Dem Kind wurden deshalb Amulette gegeben — im allgemeinen in Form eines Penis oder einer phallusförmigen Koralle —, die jene Todeswünsche abwehren sollten.145
Wenn das Kind größer wurde, brachen die Todeswünsche ihm gegenüber durch. Bei Epiktet heißt es: »Welch ein Schmerz ist das, wenn du in dem Augenblick, in dem du dein Kind küßt, vor dich hin flüsterst >und morgen wirst du sterben?«146 Ein Italiener zur Zeit der Renaissance pflegte, wenn ein Kind etwas Kluges tat, zu sagen:
»Das Kind ist nicht dazu bestimmt zu leben«.147 Die Väter aller Zeiten sagen ihren Söhnen in Übereinstimmung mit Luther, ein toter Sohn sei ihnen lieber als ein ungehorsamer.148 Fenelon rät, man solle einem Kind Fragen stellen wie diese: »Würdest du dir den Kopf abschlagen lassen, um in den Himmel zu kommen?«149 Walter Scott berichtet, seine Mutter habe bekannt, sie sei »stark vom Teufel versucht worden, mir mit ihrer Schere die Kehle durchzuschneiden und mich im Moor zu versenken«.150
Leopardi erzählt von seiner Mutter: »Als sie den Tod eines ihrer Kinder nahen sah, verspürte sie ein tiefes Glücksgefühl, das sie nur vor denen zu verbergen suchte, die ihr deswegen wahrscheinlich Vorwürfe gemacht hätten.«151 In der Literatur findet sich eine Vielzahl ähnlicher Beispiele.
Der Drang, den Säugling zu verstümmeln, zu verbrennen, erfrieren zu lassen, zu ertränken, zu schütteln und heftig herumzuschleudern, wurde in der Vergangenheit fortwährend ausagiert. Die Hunnen hatten den Brauch, neugeborenen Knaben Schnitte in die Wangen zu machen. Robert Pemell berichtet, wie in Italien und anderen Ländern während der Renaissance Eltern ihre neugeborenen Babys »mit einem heißen Eisen in den Nacken brannten oder das Wachs einer brennenden Kerze auf sie tropfen ließen«, um zu verhüten, daß sie von »Krankheit befallen« würden.152
53
Zu Beginn der Neuzeit wurde oft die Sehne unter der Zunge des Neugeborenen zerschnitten, häufig mit dem Fingernagel der Hebamme — eine Art Beschneidung im kleinen.153 Die über die Jahrhunderte hinweg an Kindern vorgenommenen Verstümmelungen riefen bei Erwachsenen Mitleid und Gelächter hervor und waren die Basis für die zu allen Zeiten weitverbreitete Praxis, Kinder zum Zwecke des Bettelns zu verstümmeln.154
Schon in Senecas »Kontroverse« wird der Schluß gezogen, die Verstümmelung ausgesetzter Kinder sei kein Unrecht:
Seht die Blinden, wie sie über die Straße gehen und sich auf ihre Stöcke stützen, und jene mit den zerquetschten Füßen, und immer wieder jene, deren Glieder gebrochen sind. Dieser hat keine Arme, jenem hängen die Schultern formlos herunter, um durch sein groteskes Aussehen Gelächter hervorrufen zu können ... Laßt uns den Ursprung all dieser Krankheiten ergründen — ein Laboratorium für die Erzeugung menschlicher Ruinen — eine Höhle, angefüllt mit Gliedern, die man lebendigen Kindern abgerissen hat ... Welchen Schaden hat man der Republik damit zugefügt? Aber andererseits: ist diesen Kindern nicht ein Dienst erwiesen worden, da ihre Eltern sie ja vertrieben haben?155
Manchmal wurde der in Windeln gewickelte Säugling als Wurfball benutzt. So wurde ein Bruder Heinrichs IV., als man ihn zum Vergnügen zwischen zwei Fenstern hin- und herwarf, fallen gelassen und dadurch getötet.156 Dasselbe widerfuhr dem kleinen Comte von Marie: »Einer der Kämmerer und das Kindermädchen, in deren Obhut er war, vergnügten sich damit, daß sie ihn über die Fensterbank eines offenen Fensters hinweg einander zuwarfen ... Manchmal taten sie so, als wollten sie ihn nicht auffangen ... der kleine Comte de Marie fiel hin und schlug auf einer Steinstufe auf.«157
Ärzte klagten über Eltern, die ihren Kindern durch das gebräuchliche Hochwerfen die Knochen brachen.158 Und Ammen sagten oft, die Korsetts, in die die Kinder gesteckt wurden, seien notwendig, denn sonst könnte man »sie nicht herumwerfen. Ich erinnere mich an einen ausgezeichneten Chirurgen, der erzählte, daß ihm ein Kind gebracht worden sei, dem mehrere Rippen durch die Hand einer Person gebrochen worden seien, die es ohne Korsett herumgeworfen hatte.«159
54
Eine andere von Ärzten angeprangerte Sitte war das heftige Schaukeln von Kindern, »durch das das Baby in einen Zustand der Benommenheit versetzt wird, damit es diejenigen, in deren Obhut es ist, nicht stört«.160 Hier liegt der Grund für die im achtzehnten Jahrhundert beginnende Kritik an den Wiegen; Buchan meinte, er sei gegen Wiegen wegen der im allgemeinen »mürrischen Amme, die, statt das gelegentliche Unbehagen und die gelegentliche Unruhe, die das Baby nicht einschlafen lassen, zu besänftigen, sich oft in die äußerste Wut hineinsteigert und in ihrer Torheit und Brutalität versucht, durch laute und schroffe Drohungen und das heftige Klappern der Rassel die Schreie des Babys zu ersticken und es in den Schlaf zu zwingen.«161
Es gab ferner eine ganze Reihe von Bräuchen, bei denen Kinder zuweilen fast erfroren. Dazu gehört die Taufe, die durch langes Eintauchen in Eiswasser und Rollen im Schnee vollzogen wurde, ebenso wie die Praxis des Tauchbads, bei dem das Kind immer wieder bis über den Kopf in eiskaltes Wasser getaucht wurde - »mit offenem Mund und nach Luft schnappend«.162
Elizabeth Grant erinnert sich Anfang des 19. Jahrhunderts daran, daß »im Küchenhof eine große, lange Wanne stand; vor dem schrecklichen Eintauchen in das kalte Wasser mußte oft erst das Eis obenauf zerbrochen werden ... Wie schrie, bat, bebte und flehte ich um Rettung. Fast besinnungslos wurde ich dann in den Raum der Haushälterin gebracht ...«163) Ursprünglich von den Germanen, Skythen, Kelten und Spartanern verwendet (nicht von den Athenern, die sich anderer Abhärtungsmethoden bedienten),164) wurde das Eintauchen in kalte Flüsse zu einer allgemein verbreiteten Sitte, die seit den Zeiten der Römer als heilsam für Kinder galt.165)
Zuweilen wurden die Kinder sogar beim Zubettgehen in kalte, nasse Handtücher gewickelt, was der Abhärtung und manchmal auch als Heilmittel dienen sollte.166 Kein Wunder, daß der große Kinderarzt des 18. Jahrhunderts, William Buchan, meinte, »fast die Hälfte der menschlichen Gattung kommt in der Kindheit durch falsche Behandlung oder Nachlässigkeit um«.167
55
Weggeben, Säugen
und Wickeln
Ungeachtet zahlreicher Ausnahmen war es bis ungefähr zum achtzehnten Jahrhundert allgemein üblich, daß die Kinder wohlhabender Eltern ihre ersten Jahre im Haus einer Säugamme
verbrachten, dann nach Hause in die Obhut anderer Bediensteter zurückkehrten, um schließlich im Alter von etwa sieben Jahren als Diener in andere Häuser, in die Lehre oder in die Schule geschickt zu werden, so daß die von den Eltern für die Erziehung ihrer Kinder aufgewendete Zeit minimal war. Die Wirkungen, die diese und andere institutionalisierte Formen des Weggebens der Kinder durch die Eltern auf die Kinder selbst hatten, sind kaum je erörtert worden.
Die extremste und älteste Form des Weggebens ist der regelrechte Verkauf von Kindern. Der Kinderverkauf war in Babylon legal und während des Altertums wahrscheinlich in vielen Nationen eine allgemein verbreitete Sitte.168) Solon versuchte zwar, das Recht der Eltern zum Kinderverkauf einzuschränken; es ist jedoch unklar, wie wirksam das Gesetz war.169) Bei Herodas gibt es eine bezeichnende Szene, in der einem Jungen gesagt wird: »Du bist ein unbrauchbarer Junge, Kattalos, so unbrauchbar, daß niemand etwas Gutes über dich sagen könnte, selbst wenn er dich verkaufen wollte.«170
Die Kirche versuchte jahrhundertelang, den Verkauf von Kindern abzuschaffen. Theodor, der im siebten Jahrhundert Erzbischof von Canterbury war, ordnete an, daß ein Mann seinen Sohn nach dessen siebtem Lebensjahr nicht mehr in die Sklaverei verkaufen dürfe. Will man Giraldus Cambrensis Glauben schenken, so verkauften die Engländer im zwölften Jahrhundert ihre Kinder als Sklaven an die Iren; und die normannische Invasion war eine Strafe Gottes für diesen Sklavenhandel.171) In vielen Gebieten wurde der Verkauf von Kindern bis in die Neuzeit fortgesetzt. In Rußland wurde er zum Beispiel erst im neunzehnten Jahrhundert verboten.172
Eine andere Form des Weggebens besteht darin, Kinder als politische Geiseln oder als Sicherheit bei Schulden zu gebrauchen — eine Praxis, die ebenfalls bis in babylonische Zeiten zurückreicht.173 Sidney Painter beschreibt die mittelalterliche Version davon, bei der es »durchaus üblich war, kleine Kinder als Geiseln zur Garantie für ein Abkommen wegzugeben, wobei sie dann oft für die Arglist ihrer Eltern zu leiden hatten. Als Eustace de Breteuil, der Gatte einer natürlichen Tochter Heinrichs I., dem Sohn eines seiner Vasallen die Augen ausstach, erlaubte der König dem erzürnten Vater, die gleiche Verstümmelung Eustaces Tochter zuzufügen, die Heinrich als Geisel bei sich hatte.«174
56
Ähnlich übergab John Marshall seinen Sohn William dem König Stephan mit den Worten, es »kümmere ihn wenig, wenn William gehängt würde, denn er habe Ambosse und Hämmer, mit denen er noch bessere Söhne schmieden könne«. Als Franz I. in Gefangenschaft Karls V. geriet, tauschte er seine kleinen Söhne gegen seine Freiheit ein, um dann das Abkommen sogleich zu brechen, woraufhin sie ins Gefängnis geworfen wurden.175 Es war oft schwer festzustellen, ob ein Kind als Diener oder Page oder als Geisel in einen anderen adligen Haushalt geschickt wurde.
Ähnliche Motive lagen auch der Sitte zugrunde, die Kinder Pflegemüttern zu überlassen. Dieser Brauch war bei den Walisern, Angelsachsen und Skandinaviern in allen Schichten verbreitet. Das Kind wurde zu einer anderen Familie geschickt, damit es dort bis zum Alter von siebzehn Jahren aufgezogen würde. Danach kehrte es wieder zu den Eltern zurück. In Irland herrschte diese Sitte bis zum siebzehnten Jahrhundert; im Mittelalter schickten viele Engländer ihre Kinder nach Irland und ließen sie dort aufziehen.
Dabei handelte es sich nur um eine besonders extreme Form der mittelalterlichen Praxis, adelige Kinder im Alter von sieben Jahren — manchmal auch noch früher — als Diener, Hofdamen, Laienbrüder oder -schwestern in andere Häuser oder in Klöster zu schicken — Praktiken, die noch in der frühen Neuzeit verbreitet waren.177 Bei den unteren Schichten entsprach dieser Praxis das Lehrverhältnis,178 doch ist das ganze Thema der Arbeit von Kindern in fremden Haushalten so weitläufig und wenig erforscht, daß es trotz seiner großen Bedeutung für das Leben der Kinder in der Vergangenheit hier leider nicht eingehender untersucht werden kann.
Neben den institutionalisierten Formen der Weggabe von kleinen Kindern an andere Leute gab es auch informelle Formen, die bis ins neunzehnte Jahrhundert praktiziert wurden. Die Eltern führten alle möglichen Rechtfertigungen für die Weggabe ihrer Kinder an: »sie sollen sprechen lernen« (Disraeli); »sie sollen ihre Schüchternheit verlieren« (Clara Barton); der »Gesundheit« wegen (Edmund Burke, Mrs. Sherwoods Tochter) oder als Bezahlung für ärztliche Dienstleistungen (Patienten von Jerome Cardan und William Douglas). Manchmal gaben sie auch zu, man gebe die Kinder einfach deshalb weg, weil sie unerwünscht seien (Richard Baxter, Johannes Butzbach, Richard Savage, Swift, Yeats, August Hare u.a.).
57
Mrs. Hares Mutter brachte die allgemeine Gleichgültigkeit, die hinter dem Weggeben der Kinder steckt, zum Ausdruck, als sie sagte: »Ja sicher, das Baby wird weggeschickt, sobald es entwöhnt ist; und wenn noch jemand eins haben möchte, erinnere ihn bitte daran, daß wir noch mehr haben.«179 Natürlich wurden Jungen bevorzugt; im achtzehnten Jahrhundert schrieb eine Frau an ihren Bruder, der nach dem nächsten Kind gefragt hatte: »Wenn es ein Junge ist, behalte ich es, wenn ein Mädchen, warte ich auf das nächste.«180
Die häufigste Form der institutionalisierten Weggabe in der Vergangenheit bestand jedoch darin, daß man die Kinder einer Säugamme übergab. Die Säugamme ist eine uns aus der Bibel, dem Codex Hammurabi, den ägyptischen Papyrustexten, der griechischen und römischen Literatur vertraute Gestalt. Seit der Zeit, da sich die römischen Säugammen in der Colonna Lactaria versammelten, um ihre Dienste zu verkaufen, waren sie gut organisiert.181 Ärzte und Moralisten haben seit Galenus und Plutarch Müttern vorgeworfen, daß sie ihre Kinder zum Säugen weggaben, statt sie selbst zu stillen. Ihr Rat wurde kaum gehört;
denn bis zum achtzehnten Jahrhundert schickten die meisten Eltern, die es sich leisten konnten, und viele, die es nicht konnten, ihre Kinder sofort nach der Geburt zum Stillen außer Haus. Selbst arme Mütter, die sich das nicht leisten konnten, weigerten sich oft, selbst zu stillen, und gaben den Säuglingen statt dessen Brei. Im Gegensatz zu den Annahmen der meisten Historiker geht der Brauch, die Kinder überhaupt nicht mit Muttermilch zu nähren, in vielen Gebieten Europas zumindest bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurück. Eine Mutter, die aus Norddeutschland, wo das Stillen der Kinder eher üblich war, nach Bayern gezogen war, wurde, weil sie ihr Kind selber säugte, von bayrischen Frauen für »schweinisch und schmutzig« gehalten, und ihr Mann drohte ihr, er würde nicht essen, wenn sie diesen »abscheulichen Brauch« nicht aufgäbe.182
In der Praxis der Reichen, ihre Kinder für eine Reihe von Jahren wegzugeben, sahen selbst jene Autoren, die diese Praxis für schlecht hielten, kein Problem mangelnder Empathie. Vielmehr hielten sie das Ammenwesen darum für schlecht, »weil die Würde .eines neugeborenen Menschenlebens durch die fremde und degenerierte Ernährung mit der Milch einer anderen Frau zugrunde gerichtet wird.«183 Das heißt, das Blut der Säugamme aus der unteren Klasse geriet in den Körper des Babys aus der oberen Klasse, wobei man sich die Milch als weißschäumendes Blut vorstellte.184
Gelegentlich trat bei den Moralisten — natürlich alles Männer — ihr unterdrücktes Ressentiment gegenüber ihren Müttern zutage, weil diese sie zu Säugammen fortgegeben hatten.
58
Aulus Gellius klagte: »Wenn das Kind jemand anderem gegeben wird und aus den Augen der Mutter verschwindet, wird die Kraft mütterlicher Begeisterung nach und nach erlöschen ... und es wird fast genauso vollständig vergessen sein, wie wenn es gestorben wäre.«185 Gewöhnlich aber siegte die Verdrängung, und die Mutter wurde gepriesen. Und was noch wichtiger war: es wurde gewährleistet, daß sich das Verhalten wiederholte.
Es war sehr wohl bekannt, daß sehr viel mehr Kinder bei der Säugamme starben als zu Hause; die Eltern beklagten zwar den Tod der Kinder, übergaben aber ihr nächstes Kind wieder der Säugamme, so als sei diese eine moderne Rachegöttin, die noch ein weiteres Opfer forderte.186 Obwohl z.B. Sir Simonds D'Ewes bereits mehrere Söhne bei einer Säugamme verloren hatte, schickte er sein nächstes Baby wieder für zwei Jahre zu »einer armen Frau, deren schlimmer Ehemann sie arg mißhandelte und fast verhungern ließ und die selbst ebenfalls hochmütig, mürrisch und launisch war; dies alles führte in der Folge zur endgültigen Ruinierung und Zerstörung unseres süßesten und zartesten Kindes ...«187
Ausgenommen die Fälle, in denen die Säugamme ins Haus geholt wurde und dort lebte, blieben die Kinder, die man einer Säugamme übergab, im allgemeinen zwei bis fünf Jahre dort. Die Bedingungen waren in den verschiedenen Ländern ähnlich. Jacques Guillimeau schilderte, wie leicht ein Kind bei einer Amme »erstickt, erdrückt oder fallen gelassen wird und auf diese Weise früh zu Tode kommt; oder es wird von einem wilden Tier, einem Wolf oder einem Hund, gefressen, verstümmelt oder verunstaltet, so daß die Amme aus Furcht, ihrer Nachlässigkeit wegen bestraft zu werden, das Kind gegen ein anderes austauscht.«188
Robert Pemell berichtete, der Pfarrer seines Bezirks habe ihm erzählt, bei Antritt seines Dienstes sei der Bezirk »voll gewesen von Säuglingen aus London; im Verlauf eines Jahres habe er jedoch alle bis auf zwei begraben«.189 Diese Praxis wurde unerbittlich fortgesetzt — in England und Amerika bis ins 18., in Frankreich bis ins 19. und in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert.190 England war dem Kontinent in der Frage des Säugens so weit voraus, daß sehr reiche Mütter ihre Kinder bereits im 17. Jahrhundert oft schon selbst stillten.191
59
Das Verhalten in dieser Frage ist auch nicht einfach eine Sache der Amoralität der Reichen gewesen. So beklagte Robert Pemell 1655 die Praxis »von reichen wie von armen Frauen, ihre Babys zu verantwortungslosen Frauen auf dem Land in Pflege zu geben«, und noch 1780 schätzte der Polizeichef von Paris, daß von 21.000 Babys, die jedes Jahr in dieser Stadt geboren wurden, 17.000 zur Säugamme auf das Land geschickt würden, 2000 oder 3000 in Kinderheime kämen, 700 zu Hause von Säugammen versorgt würden und nur 700 von ihren eigenen Müttern gestillt und großgezogen würden.192
Die tatsächliche Stillzeit hat je nach Epoche und Gegend stark variiert. Tabelle I faßt die Angaben zusammen, die ich bisher ermitteln konnte.
Falls diese Tabelle als ein Indikator für allgemeine Tendenzen gelten kann, so kann man aus ihr vielleicht schließen, daß seit dem Beginn der Neuzeit, möglicherweise als Resultat eines Rückgangs projektiver Fürsorge, das sehr lange Stillen unüblicher wurde. Ferner wurden die Angaben über den Zeitpunkt der Entwöhnung in dem Maße genauer, in dem die Kinder weniger häufig zu Säugammen geschickt wurden. So finden wir bei Roesslin den Satz: »Avicenna rät, das Kind zwei Jahre lang zu stillen, wie bei uns; jedoch wird es meist nur ein Jahr lang gestillt ...«194
Alice Ryersons Bemerkung, »in der Periode kurz vor 1750 ist das Entwöhnungsalter in der Praxis drastisch herabgesetzt worden«, ist sicherlich übertrieben.195 Obgleich von den Säugammen erwartet wurde, daß sie sich während der Stillzeit des Geschlechtsverkehrs enthielten, entsprachen sie selten dieser Erwartung; gewöhnlich wurde ein Kind kurz vor der Geburt des nächsten entwöhnt. Deshalb dürfte eine Stillzeit von zwei Jahren in Westeuropa die Ausnahme gewesen sein.
Seit 2000 v. Chr. gibt es Gefäße der verschiedensten Art zum Füttern von Babys; wo sie vorhanden waren, wurden Kuh- oder Ziegenmilch als Babynahrung benutzt, und oft wurden dem Kind einfach die Zitzen des Tieres zum Säugen in den Mund geschoben.196 Brei, der im allgemeinen aus Brot oder Mehl, vermischt mit Wasser oder Milch, gemacht wurde, ergänzte oder ersetzte das Säugen von den ersten Wochen an; manchmal wurde dem Kind der Mund so vollgestopft, daß es alles wieder erbrach.197 Andere Speisen wurden von der Säugamme erst vorgekaut und dann dem Kind zum Essen gegeben.198
60
Tabelle 1
Alter des Kindes bei der vollständigen Entwöhnung
Quelle 193) |
Alter bei der Entwöhnung |
ungefähres |
Nationalität |
Säugammen-Kontrakt |
24 |
367 v. Chr. |
griechisch |
Soranus |
12-24 |
100 n. Chr. |
römisch |
Macrobius |
35 |
400 |
römisch |
Barberino |
24 |
1314 |
italienisch |
Medinger |
10-24 |
1497 |
deutsch |
Jane Grey |
18 |
1538 |
englisch |
John Greene |
9 |
1540 |
englisch |
E. Roesslin |
12 |
1540 |
deutsch |
Sabine Johnson |
34 |
1540 |
englisch |
John Dee |
8-14 |
1550 |
englisch |
H. Mercurialis |
15 |
1552 |
italienisch |
John Jones |
7-36 |
1579 |
englisch |
Ludwig XIII. |
25 |
1603 |
französisch |
John Evelyn |
14 |
1620 |
englisch |
Ralph Joesslin |
12-19 |
1643-79 |
englisch |
John Pechey |
10-12 |
1697 |
englisch |
James Nelson |
3-4 |
1753 |
englisch |
Nicholas Culpepper |
12-48 |
1762 |
englisch |
William Cadogan |
4 |
1770 |
englisch |
H. W. Tytier |
6 |
1797 |
englisch |
S.T. Coleridge |
15 |
1807 |
englisch |
Eliza Warren |
12 |
1810 |
englisch |
Caleb Tickner |
10-12 |
1839 |
englisch |
Mary Mallard |
15 |
1859 |
amerikanisch |
Deutsche
statistische |
1-6 |
1878-82 |
deutsch |
Zu allen Zeiten gab man Kindern Opium und Likör, um sie ruhig zu halten. Der Papyrus Ebers berichtet von der Wirksamkeit einer Mixtur aus Mohnsamen und Fliegenkot: »Sie wirkt sofort!« Dr. Hume beklagte 1799, Tausende von Kleinkindern würden jährlich von ihren Ammen dadurch getötet, daß diese....
»ihnen ständig Godfreys Herztropfen in die kleinen Kehlen schütten, ein Mittel, das ein sehr starkes Opiat ist und die gleiche tödliche Wirkung hat wie Arsen. Sie geben an, mit diesem Mittel wollten sie das Kind nur beruhigen; in der Tat sind viele Kinder dann für immer ruhig ...«
Oft wurden einem Kleinkind täglich Alkoholportionen »in den Hals geschüttet, ohne daß es in der Lage wäre, sich dagegen zu wehren; aber es zeigt seinen Abscheu durch Zappeln und ein verzerrtes Gesicht ...«199
61
Das Quellenmaterial enthält zahlreiche Hinweise darauf, daß Kinder im allgemeinen unzureichend ernährt wurden. Die Kinder der Armen waren natürlich oft hungrig, aber auch die Kinder der Reichen, besonders die Mädchen, wurden beim Essen sehr kurz gehalten und bekamen nur wenig oder gar kein Fleisch. Plutarchs Beschreibung der »Hunger-Diät« der spartanischen Jugendlichen ist allgemein bekannt, aber aufgrund der zahlreichen Hinweise auf die karge Nahrung, auf das nur zwei- bis dreimal pro Tag stattfindende Stillen, auf Fastenzeiten für Kinder und auf Nahrungsentzug als Bestrafung muß man vermuten, daß genauso, wie es heute Eltern gibt, die ihre Kinder mißhandeln, es in der Vergangenheit Eltern gab, die es für zu anstrengend hielten, ihre Kinder mit ausreichender Nahrung zu versorgen.200
In zahlreichen Autobiographien von Augustinus bis Baxter gestehen die Autoren die Sünde der Völlerei, weil sie als Kind Obst gestohlen hatten; niemand ist je auf die Idee gekommen, zu fragen, ob sie das vielleicht taten, weil sie hungrig waren.201
Das Einschnüren des Kindes mit den verschiedensten Mitteln war eine allgemein verbreitete Praxis. Das Gewickeltwerden bildete den zentralen Bestandteil der ersten Jahre eines Kindes. Wie bereits erwähnt, wurden solche Freiheitsbeschränkungen für notwendig gehalten, weil die Erwachsenen so viele gefährliche Verhaltensweisen auf das Kind projiziert hatten, daß sie glaubten, es würde sich, sobald es sich frei bewegen dürfe, die Augen auskratzen, die Ohren abreißen, die Beine brechen, die Knochen verrenken, vor dem Anblick seiner eigenen Gliedmaßen erschrecken oder gar wie ein Tier auf allen Vieren auf dem Boden herumkrabbeln.202
Das traditionelle Wickeln wurde in den verschiedenen Ländern und Zeiten im wesentlichen auf die gleiche Weise gehandhabt; es....
»besteht darin, das Kind durch Umwickeln mit einem endlos langen Band am Gebrauch seiner Gliedmaßen vollständig zu hindern, so daß es am Ende einem Holzblock gleicht; dadurch wird manchmal die Haut wund gerieben, das Fleisch fast bis zum Brand zusammengepreßt, der Blutkreislauf nahezu gestoppt und dem Kind auch die geringste Fähigkeit zur Bewegung genommen. Seine kleine Taille ist von einem Korsett umgeben ... Sein Kopf ist in die Form gepreßt, die der Phantasie der Hebamme vielleicht gerade in den Sinn kam; und seine Gestalt wird durch entsprechendes Zusammenpressen erhalten ...«203
62
Das Wickeln war oft so kompliziert, daß es zwei Stunden dauerte, bis ein Kind angezogen war.204 Der Vorteil dabei war für die Erwachsenen enorm: waren die Kinder erst einmal eingeschnürt, brauchten die Erwachsenen ihnen kaum noch Aufmerksamkeit zu widmen. Wie eine neuere medizinische Untersuchung über das Wickeln gezeigt hat, sind gewickelte Kinder extrem passiv; ihre Herzen schlagen langsamer, sie schreien weniger, sie schlafen weitaus mehr und sind im allgemeinen so in sich gekehrt und träge, daß die Ärzte, die die Untersuchung durchführten, sich fragten, ob man es nicht wieder mit dem Wickeln versuchen sollte.205
Die historischen Quellen bestätigen dieses Bild. Seit dem Altertum haben Ärzte die Ansicht vertreten, daß »das Wachsein bei Kindern weder natürlich noch durch Gewohnheit herbeigeführt ist, denn sie schlafen immer«; und es wird beschrieben, wie die Kinder für ganze Stunden hinter den heißen Ofen gelegt, an Haken an die Wand gehängt, in Fässer plaziert und allgemein »wie ein Paket in jedem geeigneten Winkel abgelegt« wurden.206
Bei fast allen Völkern war das Wickeln üblich. Selbst im alten Ägypten dürfte das Wickeln üblich gewesen sein — obwohl manche behaupten, daß die Kinder dort nicht gewickelt worden . seien, da sie auf Bildern nackt dargestellt wurden —; jedenfalls spricht Hippokrates davon, daß die Ägypter wickeln, und an einigen Figurinen sind Windeln erkennbar.207
Die wenigen Gebiete, in denen das Wickeln nicht üblich war, wie zum Beispiel das antike Sparta und das schottische Hochland, waren gleichzeitig die Gebiete mit den strengsten Abhärtungspraktiken — als ob es nur die Wahl gegeben hätte zwischen strammem Wickeln und der Sitte, die Kleinkinder nackt herumzutragen und nackt im Schnee herumlaufen zu lassen.208 Das Wickeln wurde für etwas so Selbstverständliches gehalten, daß das Quellenmaterial im Hinblick auf die Dauer des Wickelns vor der frühen Neuzeit uneinheitlich ist. Soranus spricht davon, daß die Römer das Kind nach 40 bis 60 Tagen aus den Windeln nahmen; das ist wohl zutreffender als die von Platon angegebenen »zwei Jahre«.209
63
Das stramme Wickeln, zu dem oft auch das Festbinden an ein Tragebrett gehörte, ist durch das ganze Mittelalter hindurch fortgesetzt worden; allerdings habe ich nicht herausfinden können, wie lange ein Kind im Mittelalter gewickelt wurde.210 Die wenigen Hinweise in den Quellen aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert sowie das Studium der Kunstwerke aus dieser Zeit lassen vermuten, daß in jenen Jahrhunderten die Kinder in der Regel ein bis vier Monate lang vollständig gewickelt wurden; danach wurden die Arme frei gelassen, Körper und Beine blieben jedoch noch weitere sechs bis neun Monate gewickelt.211 Die Engländer hörten als erste mit dem Wickeln auf, wie sie auch als erste mit dem Weggeben der Kinder an Säugammen aufgehört hatten. In England und Amerika hörte man mit dem Wickeln gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf, in Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert.212
Nach der Befreiung der Kinder aus den Wickelbändern wurden jedoch körperliche Fesselungen der verschiedensten Art — nach Land und Zeit variierend — fortgesetzt. Kinder wurden zuweilen an Stühle gebunden, um sie am Herumkrabbeln zu hindern. Bis ins neunzehnte Jahrhundert wurden Gängelbänder an der Kleidung des Kindes befestigt, um es kontrollieren und herumschwenken zu können. Jungen wie Mädchen wurden häufig in Korsette aus Knochen, Holz oder Eisen gezwängt. Manchmal wurden die Kinder an Rückenbretter gebunden und ihre Füße in Fußblöcke gesteckt, wenn sie lernten.
Eisenkragen und andere Vorrichtungen sollten ihre »Haltung verbessern« — so zum Beispiel jenes Gerät, das Francis Kemble beschrieb: »Eine schreckliche Martermaschine von der Art der Rückenbretter, ein mit rotem Ziegenleder überzogenes flaches Stück Eisen, das auf meinem Rücken angebracht und unten mit einem Gürtel an der Taille, oben durch zwei Achselstücke an den Schultern befestigt war. In der Mitte ragte eine Stahlstange oder ein Stahlstachel mit einem Stahlkragen heraus, der meine Kehle umspannte.«213)
Solche Mittel scheinen in der Zeit vom sechzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert verbreiteter gewesen zu sein als im Mittelalter; dieser Eindruck könnte freilich in der geringen Zahl früherer Quellen begründet sein. Zwei Praktiken waren allerdings seit dem Altertum wahrscheinlich in jedem Land üblich. Die erste ist die allgemeine Unzulänglichkeit der Kleidung; die Kinder sollten »abgehärtet« werden. Die zweite ist die Verwendung stuhlähnlicher Geräte, die angeblich beim Gehen helfen sollten, in Wirklichkeit aber dazu dienten, das Herumkrabbeln zu verhindern, das für tierisch gehalten wurde.
Felix Würtz (1563) beschreibt eine der üblichen Varianten:
Es gibt Stühle für Kinder, in denen sie stehen und sich beliebig herumdrehen können. Sie erlauben es den Müttern oder Ammen, sich nicht länger um das Kind zu kümmern, es allein zu lassen, ihren eigenen Angelegenheiten nachzugehen, wobei sie unterstellen, das Kind sei gut versorgt, und kaum an die Pein und Not des Kindes denken ... Das arme Kind ... muß vielleicht viele Stunden stehen, während bereits eine halbe Stunde Stehen zu lange ist... Ich wünschte, alle diese Steh-Stühle würden verbrannt ...214)
64-65
#