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Reinlichkeitserziehung,

Disziplin und Sexualität

 

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Obwohl seit der Antike Stühle mit unten angebrachten Nachttöpfen existieren, gibt es vor dem 18. Jahr­hundert keine Belege für Reinlichkeitserziehung in den ersten Lebensmonaten des Kindes. Wiewohl Eltern sich wie Luther häufig darüber beklagten, daß ihre Kinder "die Winkel besudeln", und wiewohl Ärzte Mittel gegen das "Bettnässen" verschrieben, darunter auch das Auspeitschen (Kinder schliefen generell zusammen mit Erwachsenen), ist der Kampf um die Kontrolle über Urin und Kot zwischen Eltern und Kindern im Säuglingsalter eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, das Produkt einer späten psychogenen Phase. 215

Kinder sind natürlich immer mit ihren Exkrementen identifiziert worden; neugeborene Kinder wurden ecreme genannt, und das lateinische merda, Exkrement, war Ursprung des französischen merdeux, Dreckspatz (ugs. für kleines Kind überhaupt).216 Doch waren vor dem 18. Jahrhundert Klistier und Abführmittel und nicht das Töpfchen die hauptsächlichen Gerätschaften, mit denen man Bezug zum Inneren des kindlichen Körpers aufnahm. Kranken wie gesunden Kindern wurden Zäpfchen, Einlaufe und orale Abführmittel verabreicht. Eine Autorität des 17. Jahrhunderts behauptete, Kinder sollten vor jedem Säugen zum Stuhlgang gebracht werden, damit die Milch nicht mit dem Kot vermischt würde. 217

215)  T. B. L. Webster, Everyday Life in Classical Athens, London 1969, 46; The Story of Abelard's Adversities: Historia Calamitatum, übers, v. J. T. Muckle, Toronto 1954, 30 (dt. Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, hg. u. übers, v. Eberhard Brost, Berlin 21954); Roland H. Bainston, Women of the Reformation in Germany and Italy, Minneapolis 1971, 36; Pierre Belon, Les Observations, de plusieurs singularitez et choses memorables trouvees en Grece, Judee, Egypte, Arabie, et autres pays estranges, Antwerpen 1555, 317 f.; Phaire, Boke, 53; Pemell, De Morhis, 55; Peckey, Treatise, 146; Elizabeth Wirth Mavick, Heroard and Louis XIII, in The Journal of Interdisciplinary History; Guillimeau, Nursing, 80; Ruhrah, Pediatrics, 61; James Benignus Bossuet, An Account of the Education of the Dauphine, In a Letter to Pope Innocent XI, Glasgow 1743, 34. 
216)  Thass-Thienemann, Suhconscious, 59. - So etwa noch heute im Österreichisch-Bayerischen "Scheißerl(e)" für kleines Kind (A.d.Ü).  
217)  Hunt, Parents and Children, 144. In dem Abschnitt über Säuberungsmaßnahmen ist Hunt am scharfsichtigsten.

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Abbildung 12 - Klistierszene

Typische deutsche Darstellung eines Babys, das seine regelmäßigen Einläufe bekommt, aus dem 18. Jahrhundert.

 

Héroards Tagebuch ist voll von minutiösen Beschreibungen dessen, was in Ludwigs Körper hinein- und was aus ihm herauskommt; ihm wurden in seiner Kindheit buchstäblich Tausende Abführmittel, Zäpfchen und Einlaufe verabreicht. Urin und Kot von Kindern wurden oft untersucht, um den inneren Zustand des Kindes zu bestimmen. David Hunts Beschreibung dieses Vorgangs legt deutlich den projektiven Ursprung dessen offen, was ich als das "Abort-Kind" bezeichnet habe:

Von den kindlichen Därmen glaubte man, daß sie Dinge enthielten, die auf die Welt der Erwachsenen anmaßend und drohend ansprachen, mit Bosheit und Ungehorsam. Die Tatsache, daß die Exkremente des Kindes unangenehm aussahen und rochen, bedeutete, daß das Kind irgendwo tief in seinem Inneren übel gesonnen war. Egal wie sanftmütig und hilfsbereit es erscheinen mochte, die Exkremente, die regelmäßig aus ihm herausgespült wurden, wurden als die beleidigende Botschaft eines inneren Dämons betrachtet, die die "bösen Launen" anzeigte, welche drinnen lauerten.218

Erst im 18. Jahrhundert verschob sich das Hauptaugenmerk vom Klistier auf das Töpfchen. Nicht nur wurde mit der Reinlichkeitserziehung schon in einem früheren Alter angefangen, zum Teil als Resultat des geringeren Einsatzes von Wickelbändern, vielmehr wurde der ganze Prozeß, das Kind die Hervor­bringungen seines eigenen Körpers kontrollieren zu lassen, mit einer zuvor ungekannten emotionalen Bedeutung ausgestattet. 

218)  A. a. O., 144 f.

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Mit dem Willen eines kleinen Kindes während seiner ersten Lebensmonate zu ringen, wurde nachgerade zum Maßstab für die Stärke des Engagements von Eltern für ihre Kinder und stellte gegenüber der Herrschaft des Klistiers einen psychologischen Fortschritt dar.219

Im 19. Jahrhundert begannen die Eltern allgemein bereits in den allerersten Lebensmonaten allen Ernstes mit der Reinlichkeitserziehung, und ihre Forderungen nach Sauberkeit wurden mit Ende des Jahrhunderts so streng, daß das ideale Kind beschrieben wurde als eines, "das nicht einmal für kürzeste Zeit irgendeinen Schmutz an seinem Körper oder seinem Kleid oder in seiner Umgebung aushalten kann".220

Auch heute noch beginnen die meisten Eltern in England und Deutschland die Reinlichkeitserziehung bereits vor dem sechsten Lebensmonat; in Amerika liegt der Durchschnitt eher bei neun Monaten, und das Spektrum ist insgesamt breiter.221

Das Belegmaterial, das ich zu den Methoden der Disziplinierung von Kindern gesammelt habe, bringt mich zu der Ansicht, daß ein sehr großer Prozentsatz der vor dem 18. Jahrhundert geborenen Kinder das gewesen ist, was man heute als ein "geschlagenes Kind" bezeichnen würde. Von über zweihundert Erziehungsratgebern der Zeit vor dem 18. Jahrhundert, die ich untersucht habe, billigten die meisten, daß Kinder heftig geschlagen werden, und überhaupt alle genehmigten das Schlagen von Kindern unter verschiedenen Umständen, mit Ausnahme von dreien, nämlich Plutarch, Palmieri und Sadoleto, und die richteten sich an Väter und Lehrer, ohne die Mütter zu erwähnen. Von den siebzig vor dem 18. Jahrhundert lebenden Kindern, über deren Leben ich Aufzeichnungen gefunden habe, sind bis auf ein Kind alle geschlagen worden: Montaignes Tochter. Leider sind Montaignes Essays über Kinder so voller Widersprüche, daß man sich unsicher darüber ist, ob man dieser einzelnen Aussage glauben darf. 

 

219)  Nelson, Essay, 107; Chapone, Improvement, 200; Ryerson, Medical Advice, 99. 
220)  Stephen Kern, Did Freud Discover Childhood Sexualhy?, in History of Childhood Quarterly: The Journal of Psychohistory 1 (1973), 130; Vreyer, Mental Development, 64; Sunley, Literature, 157.  
221)  Josephine Klein, Samples from English Cultures, Bd. 2: Child-rearing Practices, London 1965, 449-452; David Rodnick, Post War Germany: An Anthropologist's Account, New Haven 1948, 18; Robert R. Sears u. a., Patterns of Child Rearing, New York 1957, 109; Miller, Changing American Parent, 219 f.   
222)  Plutarch, The Education of Children, in: Plutarch: Selected Essays on Love, the Family, and the Good Life, übers, v. Moses Hadas, New York 1957, 113 (dt. Über die Liebe, Freiburg 31958); F. J. Furnivall (Hg.), Queen Elizabethes Achademy, London 1869 (=Early English Text Society Extra Series, Nr. 8), 1; William Harrison Woodward, Studies in Education During the Age of the Renaissance 1400-1600, Cambridge, Massachusetts, 1924, 171.

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Berühmt ist Montaignes Behauptung, sein Vater sei so lieb zu ihm gewesen, daß er einen Musiker anstellte, der jeden Morgen auf einem Instrument spielte, um ihn aufzuwecken, so daß sein empfindliches Gehirn nicht erschreckt würde. Mag das auch wahr sein, so könnte dieses ungewöhnliche Hausleben dennoch nur zwei oder drei Jahre gewährt haben, denn sofort nach der Geburt wurde Montaigne für mehrere Jahre in ein anderes Dorf zu einer Säugamme geschickt, und vom sechsten bis zum dreizehnten Lebensjahr wurde er zur Schule in eine andere Stadt geschickt, weil er seinem Vater "träge, langsam und unbeständig" erschien. Als er die Aussage tätigte, seine Tochter sei "nun mehr als sechs Jahre alt und niemals ... durch irgendetwas anderes als Worte ... wegen ihrer kindlichen Fehler belehrt oder bestraft worden", war sie tatsächlich bereits elf Jahre alt. An einer anderen Stelle gestand er mit Bezug auf seine Kinder: "Ich habe es nicht willentlich zugelassen, daß sie in meiner Nähe aufgezogen wurden."

Somit sollten wir uns vielleicht eines Urteils über dieses, unser einziges nicht geschlagenes Kind enthalten. (Peipers ausführlicher Überblick über die Literatur zum Schlagen gelangt zu ähnlichen Schlußfolgerungen.)224

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Zu den Prügelinstrumenten gehörten Peitschen aller Art, darunter die neun-schwänzige Katze, Schaufeln, Rohrstöcke, Stangen aus Eisen und Holz, Rutenbündel, die discipline (eine Peitsche aus kleinen Ketten) und spezielle Schulinstrumente wie das flapper, eine Klappe mit einem birnenförmigen Ende und einem runden Loch zur Erzeugung von Blasen. Ihr vergleichsweise häufiger Einsatz mag durch die Aufstellungen jenes deutschen Schulleiters verdeutlicht werden, der ausrechnete, daß er 911.527 Stockschläge, 124.000 Peitschenhiebe, 136.715 Schläge mit der Hand und 1.115.800 Ohrfeigen verabreicht hatte. Die in den Quellen beschriebenen Schläge waren im allgemeinen schwer, hinterließen am Körper Blutergüsse und Blutungen, begannen früh und waren regelmäßiger Bestandteil des Lebens eines Kindes.

Jahrhundert um Jahrhundert wuchsen geschlagene Kinder heran und schlugen wieder ihre eigenen Kinder. Öffentlicher Protest war selten. Selbst Humanisten und Lehrer, die wie Petrarca, Ascham, Comenius und Pestalozzi im Ruf großer Sanftmut standen, äußerten sich zustimmend über das Schlagen von Kindern.

 

223)  Michel de Montaigne, The Essays of Michel de Montaigne, übers, v. George B. Ives, New York 1946, 234, 516 (dt. Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung v. Hans Stilett, Frankfurt am Main 1998); Donald M. Frame, Montaigne: A Biography, New York 1965, 38-40, 95.  
224)  Peiper, Chronik, 302-345.  
225)  Preserved Smith, A History of Modern Culture, Bd. 2, New York 1934, 423.

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Miltons Frau klagte darüber, wie sie es haßte, die Schreie seiner Neffen zu hören, wenn Milton diese schlug, und Beethoven schnalzte seine Schüler mit einer Stricknadel und stach sie mitunter auch damit. Auch königliche Hoheiten waren nicht vor Prügeln verschont, wie die Kindheit Ludwigs XIII. bestätigt. Bei Tisch befand sich eine Peitsche an der Seite seines Vaters, und bereits mit siebzehn Monaten wußte der Dauphin genug, um nicht zu weinen, wenn ihm mit der Peitsche gedroht wurde. Als er fünfundzwanzig Monate alt war, begannen regelmäßige Auspeitschungen, oft auf die nackte Haut. Er hatte häufig Alpträume, die seine Auspeitschungen zum Inhalt hatten, welche ihm am Morgen, gleich wenn er erwachte, verabreicht wurden. Auch als er bereits König war, wachte er immer noch nachts voller Angst auf, in Erwartung seiner morgendlichen Auspeitschung. Am Tag seiner Krönung, als er acht Jahre alt war, wurde er ausgepeitscht: "Ich würde gern auf soviel Huldigung und Ehre gern verzichten, wenn sie mich dafür nicht gepeitscht hätten" , meinte er.

Nachdem Kinder, die nicht gewickelt wurden, in besonderem Maße Abhärtungspraktiken unterworfen wurden, bestand eine der Funktionen des Wickeins vielleicht darin, den Hang der Eltern zur Kindesmißhandlung zu vermindern. Ich habe noch keinen Erwachsenen gefunden, der ein gewickeltes Kind geschlagen hätte. Das Schlagen auch der kleinsten Kinder ohne Windeln kam dagegen ziemlich häufig vor, ein sicheres Anzeichen für das "Prügel"-Syndrom. Susannah Wesley sagte über ihre Babys: "Als sie ein Jahr alt wurden (bei manchen schon früher), wurde ihnen beigebracht, die Rute zu fürchten und nur leise zu weinen." Giovanni Dominici erteilte den Rat, Babys "häufige, aber nicht allzu schwere Peitschenhiebe zu verabreichen ...".

 

226)  Letters from Petrarch, übers, v. Morris Bishop, Bloomington, Indiana, 1966, 149 (dt. Petrarca, Dichtungen, Briefe, Schriften, hg. v. Hanns W. Eppelsheimer, Frankfurt am Main 1980); Charles Norris Cochrane, Christianity and Classical Culture, London 1940, 35; James Turner, The Visual Realism of Comenius, in History of Education 1 (Juni 1972), 132; Johann Arnos Comenius, The School of Infancy, Chapel Hill, North Carolina, 1956, 102 (dt. Ausgewählte Werke, 4/6 Bde., hg. v. K. Schaller und D. Tschizewskij, Hildesheim 1973-1983); Roger DeGuimps, Pestalozzi: His Life and Work, New York 1897, 161; Christian Bec, Les marchands ecrivains: affaires et humanisme a Florence 1375-1434, Paris 1967, 288-297; The Family in Renaissance Florence, übers, v. Renee Neu Watkins, Columbia, South Carolina, 1969, 66.  
227)  Christina Hole, The English Housewife in the Seventeenth Century, London 1953, 149; Editha und Richard Sterba, Beethoven and His Nephew, New York 1971, 89. 228   
228)   Soulie, Heroard, 44, 203, 284, 436; Hunt, Parents and Children, 133 ff.

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Rousseau zufolge wurden Babys in ihren ersten Tagen oft geschlagen, um sie ruhig zu halten. Eine Mutter schrieb über ihre erste Auseinandersetzung mit ihrem vier Monate alten Säugling: "Ich peitschte ihn, bis er ganz schwarz und blau war und ich ihn einfach nicht mehr schlagen konnte, und er gab die ganze Zeit über kein Stückbreit nach." Die Anzahl der Beispiele ließe sich leicht ausweiten.229

 

Abbildung 13 - Das "Zureiten" eines Schülers. 
Diese römischen (aus
Herculaneum) und mittelalterlichen (1140) Schulszenen illustrieren eine beliebte Stellung zum Schlagen von Schulkindern, die in den englischen Schulen des 19. Jahrhunderts "horsing" genannt wurde.

 

Eine seltsame Bestrafungsmethode, die auf den Mönch des frühen Mittelalters Alkuin angewandt wurde, als er noch ein Kleinkind war, bestand darin, die Fußsohlen mit einem Gerät, das einem Schustermesser ähnelte, aufzuritzen oder aufzustechen. Das erinnert an die Angewohnheit des Bischofs von Ely, seine jungen Diener mit einem Stachelstock zu stechen, den er stets in einer Hand hielt. 

 

229)  Giovanni Dominici, On the Education of Children, übers, v. Arthur B. Cote, Washington, D.C., 1927, 48; Rousseau, Emile, 15; Sangster, Pity, 77.

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Wenn Jane Grey darüber klagte, daß ihre Eltern ihr "Kniffe und Stiche" versetzt hätten, und Thomas Tusser über "zerzauste Ohren, wie die gehetzter Bären, / solch gefurchte Lippen, solche Rucks, solche Kniffe", dann ist möglicherweise der Stachelstock verwendet worden. 

Sollten weitere Forschungen zeigen, daß der Stachelstock für Kinder auch in der Antike verwendet wurde, dann würfe das ein anderes Licht auf Ödipus' Mord an Laios auf jenem einsamen Weg, wurde er doch buchstäblich dazu "angestachelt" — Laios fuhr "von dem Wagen mitten übers Haupt ... herab mir mit dem Doppelstachel".230)

Obwohl die frühesten Quellen im Hinblick auf die genaue Schwere der Züchtigung sehr dürftig sind, scheint es doch in jeder Periode im westlichen Abendland Belege für eine merkbare Verbesserung zu geben. Die Antike ist voll mit Gerätschaften und Praktiken, die späteren Zeiten unbekannt waren, darunter Fesseln für die Füße, Handschellen, Knebel, drei Monate "im Block" und die blutigen Auspeitschwettbewerbe in Sparta, bei denen oft auch Jugendliche zu Tode gepeitscht wurden. Ein angelsächsischer Brauch macht die Ebene deutlich, auf welcher in frühester Zeit Gedanken über Kinder angestellt wurden. Thrupp sagt: "Es war üblich, wenn ein Rechtszeugnis von irgendeiner Zeremonie zu erhalten gewünscht wurde, diese von Kindern bezeugen zu lassen, die an Ort und Stelle mit ungewöhnlicher Heftigkeit geprügelt wurden, was, so nahm man an, jedem Bericht von den Vorgängen zusätzlich Gewicht verleihen würde ..." 232)

Hinweise auf genau geschilderte Züchtigungsarten sind im Mittelalter sogar noch schwieriger zu finden. Ein Gesetz im 13. Jahrhundert hob das Schlagen von Kindern auf die Ebene der Öffentlichkeit: "Wenn man ein Kind schlägt, bis es blutet, wird es das nicht vergessen, doch wenn man es totschlägt, kommt das Gesetz zur Anwendung." Die meisten mittelalterlichen Beschreibungen berichten von einem sehr heftigen Schlagen, obwohl etwa der hl. Anselm, wie in so vielen Dingen, auch hier seiner Zeit weit voraus war, als er einem Abt befahl, Kinder sanft zu schlagen, denn: "Sind sie nicht Menschen? Sind sie nicht aus Fleisch und Blut wie du?" 

 

230)  Thrupp, Anglo-Saxon Home, 98; Furnivall, Meals and Manners, vi; Roger Ascham, The Scolemaster, New York 1967, 34; H. D. Traill und J. S. Mann, Social England, New York 1909, 239; Sophokles, Oedipus The King, 808 (dt. König Ödi-pus/Oidipus tyrannos. Gr./dt., übers, v. Wilhelm Willige, Düsseldorf 1999). 
231)  Herodas, Mimes, 117; Adolf Erman, The Literature of the Ancient Egyptians, London 1927, 189-191; Peiper, Chronik, 17; Plutarch, Moralia, 145; Plutarch, The Lives of the Noble Grecians and Romans, übers, v. John Dryden, New York o. J., 64 (dt. Griechische und römische Heldenleben, Wiesbaden 1966); Galen, On the Passions and Errors of the Soul, übers, v. Paul W. Harkins, Ohio State University Press, 56.  
232)  Thrupp, Anglo-Saxon Home, 100. 
233)  Peiper, Chronik, 309.

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Aber erst in der Renaissance kamen ernst gemeinte Ratschläge auf, das Schlagen von Kindern zu mäßigen, obwohl diese allgemein auch dann noch von Zustimmung zu wohlüberlegt angewandten Schlägen begleitet wurden. Wie Bartholomew Batty sagte, sollten Eltern "die goldene Mitte halten", was bedeutet, sie sollten "ihre Kinder nicht ins Gesicht und auf den Kopf schlagen und hauen und sie nicht wie Gerstensäcke mit Knütteln, Stöcken, Forken oder Schaufeln verprügeln", denn dann könnten sie infolge der Schläge sterben. Die richtige Weise war die, das Kind "mit der Rute ... auf die Seiten zu schlagen, davon wird es nicht sterben".

Einige Versuche, das Schlagen von Kindern einzuschränken, wurden im 17. Jahrhundert unternommen, doch erst im 18. Jahrhundert kam es zum stärksten Rückgang. Die frühesten Lebensläufe, die ich von Kindern entdeckt habe, die möglicherweise überhaupt nicht geschlagen wurden, stammen aus der Zeit zwischen 1690 und 1750. Erst im 19. Jahrhundert kam das Peitschen nach althergebrachter Art in den meisten Teilen Europas und Amerikas allmählich aus der Mode, wobei es in Deutschland am längsten fortdauerte, wo 80% der Eltern nach wie vor zum Schlagen ihrer Kinder stehen, ganze 35% davon zum Schlagen mit Rohrstöcken.

 

234)  The Life of St. Anselm - Archbishop of Canterbury, übers, v. R. W. Southern Eadmer, Oxford 1962, 38 (dt. Anselm von Canterbury, Leben, Lehre, Werke, übers., eingel. u. erl. v. Rudolf Allers, Wien 1936).  
235)  Batty, Christian, 14-26; Charron, Wisdom, 1334-1339; Powell, Domestk Relations, passim; John F. Benton (Hg.), Seif and Society in Medieval France: The Memoirs of Abbot Guibert of Nogent, New York 1970, 212-241; Luella Cole, A History of Education: Socrates to Montessori, New York 1950, 209: Comenius, Scbool, 102; Watkins, Family, 66.  
236)  Bossuet, Account, 56 f.; Henry H. Meyer, Child Nature and Nurture According to Nicolaus Ludwig von Zinzendorf, New York 1928, 105; Bedford, English
Children, 238; King-Hall, The Story ofthe Nursery, 83-111; John Witherspoon, The Works of John Witherspoon, D.D., Bd. 8, Edinburgh 1805, 178; Rev. Bishop Fleetwood, Six Useful Discourses on the Relative Duties of Parents and Children, London 1749.

237)  Zu den amerikanischen Zuständen vgl. Lyman Cobb, The Evil Tendencies of Corporal Punishment as a Means of Moral Discipline in Families and Schools, New York 1847, und Miller, Changing American Parent, 13 f.; zu den heutigen Zuständen in Deutschland vgl. Walter Havernick, Schläge als Strafe, Hamburg 1964.

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Mit dem allmählichen Rückgang des Schiagens mußten Ersatzmittel dafür gefunden werden. So wurde etwa das Einsperren von Kindern im Dunkeln im 18. und 19. Jahrhundert ziemlich beliebt. Die Kinder wurden in "dunkle Kammern (gesteckt) und manchmal stundenlang vergessen". Eine Mutter schloß ihren drei Jahre alten Knaben in einer Schublade ein. Das Haus einer Familie war "eine Art kleine Bastille, in der in jeder Kammer ein Missetäter zu finden war - einige schluchzten und wiederholten mechanisch Wörter, andere aßen ihr Brot und tranken Wasser ...". Die Kinder wurden mitunter tagelang eingesperrt. Ein fünf Jahre alter französischer Knabe sagte zu seiner Mutter, als er mit ihr eine neue Wohnung ansah: "Oh nein, Mama ... das geht nicht; es gibt keine dunkle Kammer! Wo könntest du mich denn hinstecken, wenn ich garstig bin."238) 

Die Geschichte der Sexualität im Kindesalter stellt einen vor noch größere Schwierigkeiten als sonst, wenn es um die Erhebung der Fakten geht, denn zu der in unseren Quellen üblichen Zurückhaltung und Verdrängung kommt noch die Unzugänglichkeit der meisten Bücher, Manuskripte und Artefakte, die die Grundlage unserer Forschung bilden. Viktorianische Einstellungen gegenüber der Sexualität herrschen bei den meisten Bibliothekaren immer noch vor, und der Großteil der Werke, die sich auf Sexualität in der Geschichte beziehen, bleibt in ganz Europa in Bibliotheksmagazinen und Museumskellern hinter Schloß und Riegel und ist sogar für den Historiker unzugänglich. Doch auch unter diesen Umständen gibt es in den uns soweit zugänglichen Quellen genug Belegmaterial, das darauf hindeutet, daß sexueller Mißbrauch von Kindern in der Vergangenheit bei weitem üblicher war als heute und daß die strenge Bestrafung von Kindern aufgrund ihrer sexuellen Begehren in den letzten zweihundert Jahren Produkt eines späten psychogenen Stadiums war, in dem der Erwachsene das Kind nicht dazu benutzte, seine eigenen sexuellen Phantasien auszuagieren, sondern dazu, sie zu zügeln. Beim sexuellen Mißbrauch wie bei der körperlichen Mißhandlung war das Kind nur ein Gelegenheitsopfer, ein Maßstab für die Rolle, die es im Abwehrsystem des Erwachsenen spielte.

 

238)  Smith, Memoirs, 49; Richard Heath, Edgar Quinet: His Early Life and Writings, London 1881, 3; Lord Lindsay, Lives of the Lindsays: or, a Memoir of the Houses of Crawford and Barcarros, Bd. 2, London 1849, 307; L. H. Butterfield (Hg.), Letters of Benjamin Rush, Bd. 1: 1761-1792, Princeton 1951, 511; Bentzon, French Children, 811; Margaret Blundell, Cavalier: Letters of William Blundell to his Fri-ends, 1620-1698, London 1933, 46.

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Abbildung 14 - 
Griechischer Mann, 
der mit dem Penis 
eines Knaben spielt.

Das Kind verlebte in der Antike seine ersten Jahre in einer Atmosphäre des sexuellen Mißbrauchs. Zum Aufwachsen in Griechenland und Rom gehörte oft, von älteren Männern sexuell mißbraucht zu werden. Die genaue Form und Häufigkeit des Mißbrauchs unterschieden sich nach Region und Zeit. Auf Kreta und in Böotien waren päderastische Heiraten und Flitterwochen üblich. Unter aristokratischen Knaben in Rom war der Mißbrauch weniger häufig, doch war der sexuelle Mißbrauch von Kindern in irgendeiner Form überall offenkundig.239)

Knabenbordelle florierten in jeder Stadt, und in Athen konnte man sogar einen Vertrag zur Inanspruchnahme eines Knaben-Leihservice schließen. Sogar dort, wo homosexueller Umgang mit freien Knaben von Gesetzes wegen verhindert wurde, hielten sich die Männer Sklavenjungen zum Mißbrauch, so daß auch freigeborene Kinder ihre Väter mit Knaben schlafen sahen. Manchmal wurden Kinder in ein Konkubinat verkauft; Musonius Rufus fragte sich, ob ein solcher Knabe berechtigt sei, sich dem Mißbrauch zu widersetzen: "Ich kannte einen Vater, der so verdorben war, daß er seinen Sohn, der durch seine jugendliche Schönheit

 

239)  Bibliographien finden sich bei Hans Licht, Sexual Life in Ancient Greece, New York 1963; Robert Flaceliere, Love in Ancient Greece, übers, v. James Cleugh, London 1960; Pierre Grimal, Love in Ancient Rome, übers, v. Arthur Train, Jr., New York 1967; J. Z. Eglinton, Greek Love, New York 1964; Otto Kiefer, Sexual Life in Ancient Rome, New York 1962; Arno Karlen, Sexuality and Homosexua-lity: A New View, New York 1971; Vanggaard, Phallos; Wainwright Churchill, Homosexual Behavior Among Males: A Cross-Cultural and Cross-Species Investigation, New York 1967.

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auffiel, in ein Leben der Schande verkaufte. Wenn nun dieser Bursche, der von seinem Vater verkauft und in einem solches Leben geschickt wurde, sich geweigert hätte und nicht gegangen wäre, dürften wir dann sagen, er sei ungehorsam gewesen ...?"240)

Aristoteles' Haupteinwand gegen Platons Vorstellung, daß Kinder gemeinsam aufgezogen werden sollten, bestand darin, daß dann Männer, wenn sie mit Knaben schliefen, nicht wüßten, ob diese Knaben womöglich ihre eigenen Söhne seien, was nach Aristoteles' Ansicht "höchst unschicklich" wäre. Plutarch berichtet, der Grund dafür, daß freigeborene römische Knaben, solange sie noch sehr jung waren, eine goldene Kugel um den Hals trugen, habe darin bestanden, daß Männer erkennen konnten, mit welchen Knaben sexueller Verkehr unziemlich war, wenn sie eine Gruppe von Nackten trafen.242)

Plutarchs Bemerkung ist nur eine unter vielen, die zeigen, daß der sexuelle Mißbrauch von Knaben sich nicht auf diejenigen beschränkte, die älter als elf oder zwölf Jahre waren, wie die meisten Forscher annehmen. Der sexuelle Mißbrauch kleinerer Kinder durch Pädagogen und Lehrer mag während der ganzen Antike verbreitet gewesen sein. Obgleich alle Arten von Gesetzen verabschiedet wurden, um sexuelle Übergriffe Erwachsener auf Schulkinder einzuschränken, wurden die langen schweren Stöcke, die Pädagogen und Lehrer bei sich trugen, oft dazu benutzt, die Kinder zu ängstigen. Quintilian warnte nach vielen Jahren der Lehrtätigkeit in Rom die Eltern vor der Häufigkeit des sexuellen Mißbrauchs durch Lehrer und machte dies zur Grundlage seiner Verurteilung des Schiagens in den Schulen:

Wenn Kinder geschlagen werden, haben Schmerz oder Angst häufig Resultate, über die zu sprechen nicht angenehm ist und die sehr leicht eine Quelle der Scham darstellen, einer Scham, die den Geist zermürbt und bedrückt und das Kind dazu führt, das Licht zu scheuen und zu hassen. Wenn zudem bei der Auswahl ehrbarer Erzieher und Lehrer unzureichend Sorge getragen wird, so erröte ich bei der Erwähnung des schändlichen Mißbrauchs, den manche Schurken mit ihrem Recht zur Verabreichung körperlicher Strafen treiben oder aufgrund der Gelegenheit, die durch die so bei den Opfern verursachte Furcht gegeben ist und anderen nicht oft geboten wird. Ich werde mich bei diesem Thema nicht aufhalten; es ist schon mehr als genug, wenn ich den Sinn meiner Worte deutlich gemacht habe.243)

 

240)  Lutz, Rufus, 103.
241)  Aristoteles, Politics, 81.  
242)  Grimal, Love, 106; Karlen, Sexuality, 33; Xenophon, Writings, 149.

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Aischines zitiert einige der athenischen Gesetze, die sexuelle Übergriffe auf Schulkinder einschränken sollten:

... betrachte den Fall der Lehrer ... es ist offenkundig, daß der Gesetzgeber ihnen mißtraut ... Er verbietet dem Lehrer, den Schulraum, dem Gymnastiklehrer, die Ringschule vor Sonnenaufgang zu öffnen, und er befiehlt ihnen, die Türen vor Sonnenuntergang zu verschließen; denn er ist höchst argwöhnisch im Hinblick darauf, daß sie mit einem Knaben allein sein könnten oder sich mit ihm im Dunkeln aufhielten.

Als er Timarchus anklagte, sich als Knaben-Prostituierter verkauft zu haben, brachte Aischines mehrere Männer in den Zeugenstand, die gestanden, für unzüchtigen Verkehr mit Timarchus bezahlt zu haben. Aischines räumte ein, daß viele als Kinder sexuell mißbraucht wurden, darunter auch er selbst, aber nicht gegen Bezahlung, was die Sache illegal gemacht hätte.245) 

Das Belegmaterial aus Literatur und Kunst bestätigt dieses Bild vom sexuellen Mißbrauch auch kleiner Kinder. Petronius stellt gern Erwachsene dar, die das "unreife kleine Werkzeug" der Knaben befühlen, und seine Beschreibung der Vergewaltigung eines sieben Jahre alten Mädchens, bei der Frauen in einer langen Reihe um das Bett herum Beifall klatschen, legt nahe, daß auch Frauen nicht davon ausgenommen waren, bei diesem Vorgang eine Rolle zu spielen. Aristoteles meinte, Homosexualität werde häufig zur Gewohnheit "bei denen, die von Kindheit an mißbraucht werden". Es wurde meist angenommen, daß die kleinen nackten Kinder, die man in erotischen Szenen auf Vasen Erwachsenen aufwarten sieht, Diener seien, doch sollten wir angesichts der üblichen Rolle adliger Kinder als Diener die Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß sie durchaus Kinder des Hauses sein könnten. 

 

243)  Quintilian, Institutio Oratoria, übers, v. H. E. Butler, London 1921, 61 (dt. Ausbildung des Redners/institutionis oratoriae libri XII. Lat./dt., 2 Bde., hg. u. übers, v. Helmut Rahn, Darmstadt 1995); Karlen, Sexuality, 34 f.; Lacey, Family, 157. 
244)  Aeschines, The Speeches of Aeschines, übers, v. Charles Darwin Adams, London 1919, 9 f. 
245)  A. a. O., 136.  
246)  Petronius, The Satyricon and The Fragments, Baltimore 1965, 43 (dt. Satiricon, übers, v. Fritz Tech, Berlin 1997).

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Denn, wie Quintilian über die adeligen römischen Kinder sagte: "Wir freuen uns, wenn sie etwas Loses sagen: Worte, die wir nicht einmal aus dem Munde alexandrinischer Zierbengel dulden dürfen, nehmen wir mit Lachen und einem Küßchen hin ... von uns hören sie es, unsere Freundinnen und unsere Schlafzimmerfreunde sehen sie, jede Abendgesellschaft dröhnt von unanständigen Liedern, was man auch nur zu nennen sich scheut, ist da zu sehen."247) 

 

Abbildung 15 - Kinder, die Erwachsenen bei einer Orgie aufwarten. Griechische Zeichnung eines festlichen Gelages.

 

Selbst die Juden, die die Homosexualität unter Erwachsenen mit schweren Strafen auszumerzen versuchten, waren im Falle jugendlicher Knaben nachsichtiger. Trotz Moses' ausdrücklichem Befehl, Kinder nicht zu verderben, lautete die Strafe für unzüchtigen Verkehr mit Kindern, die älter als 9 Jahre waren, auf Tod durch Steinigung, die Kopulation mit jüngeren Kindern hingegen wurde nicht als Sexualakt betrachtet und konnte lediglich durch eine Auspeitschung bestraft werden, "als eine Angelegenheit der öffentlichen Disziplin". Man muß sich in Erinnerung rufen, daß der weitverbreitete sexuelle Mißbrauch von Kindern nur unter der Voraussetzung einer zumindest unbewußten Komplizenschaft der Kindseltern vorkommen kann. 

 

247)  Aristoteles, The Nicomachean Ethics, Cambridge 1947, 403 (dt. Die Nikomachische Ethik, übers, v. Olof Gigon, München 1991); Quintilian, Institutio, 43; Ove Brusendorf und Paul Henningsen, A History of Eroticism, New York 1963, Tafel 4.
248)  Louis M. Epstein, Sex Laws and Customs in Judaism, New York 1948, 136.

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Kinder standen in der Vergangenheit unter der denkbar umfassendsten Kontrolle ihrer Eltern, die damit einverstanden sein mußten, sie denen zu übergeben, die sie mißbrauchten. Plutarch sinniert darüber, wie wichtig diese Entscheidung für Väter war:

Ich scheue mich, das Thema anzuführen, scheue mich aber zugleich, mich von ihm abzuwenden ... ob wir nämlich denen, die unseren Knaben nachstellen, erlauben sollen, sich mit ihnen zu verbinden und ihre Zeit mit ihnen zu verbringen, oder ob die entgegengesetzte Haltung, sie auszuschließen und von jeglicher Intimität mit unseren Knaben fernzuhalten, die richtige sei. Immer wenn ich schonungslos daherredende Väter von der strengen und harten Sorte sehe, die intimen Umgang mit Liebhabern als unerträglichen Frevel an ihren Söhnen betrachten, bin ich sehr vorsichtig, mich selbst als Förderer und Anwalt der Praxis zu erkennen zu geben. [Und doch] erklärt [Plato], daß Männern, die ihren Wert unter Beweis gestellt haben, erlaubt werden sollte, jeden hübschen Jüngling zu liebkosen, wie es ihnen gefällt. Liebhaber, die nur nach körperlicher Schönheit gieren, hinfortzutreiben, ist somit rechtens; freie Hand sollte jedoch den Liebhabern der Seele gewährt werden.

Wie die Erwachsenen, die wir zuvor um den kleinen Ludwig XIII. gesehen haben, konnten auch die Griechen und Römer ihre Hände nicht von Kindern lassen. Ich habe nur einen einzigen Beleg dafür aufgetrieben, daß sich diese Praxis, wie der Mißbrauch Ludwigs XIIL, bis zurück ins Säuglingsalter erstreckte. Sue-ton verurteilte Tiberius, weil er "Knaben vom zartesten Alter, die er seine ,Fischchen' nannte, angeleitet habe, ihm beim Baden an den Hüften herumzuschwimmen und zu -spielen, ihn zu lecken und zu beißen; ja sogar, daß er sich von halbwüchsigen, aber noch nicht der Brust entwöhnten Kindern am Schamglied oder an der Brustwarze habe saugen lassen". Sueton mag diese Geschichte erfunden haben oder nicht, jedenfalls hatte er offensichtlich Grund zu der Annahme, daß seine Leser ihm glauben würden. Das gilt auch für Tacitus, der dieselbe Geschichte erzählte.250)

Die beliebteste sexuelle Verwendung von Kindern war jedoch nicht die Fellatio, sondern der Analverkehr. Martial schrieb, man solle, während man es mit einem Knaben treibe, "davon absehen, die Leistengegend mit der tastenden Hand zu erregen ... Die Natur hat, was männlich, geteilt. Ein Teil ist für Mädchen, einer für Männer bestimmt. Nimm also, was dir gehört!" Das, sagte er, müsse deswegen so sein, weil das Masturbieren von Knaben "die Männlichkeit beschleunige", eine Beobachtung, die vor ihm schon Aristoteles gemacht hatte. 

 

249)  Plutarch, Education, 118.
250)  Sueton, Caesars, 148; Tacitus, Annais, 188.

101


Wann immer auf erotischen Vasen ein vorpubertärer Knabe dargestellt wurde, der sexuell gebraucht wurde, wurde der Penis niemals erigiert gezeigt. Denn die Männer der Antike waren nicht wirklich Homosexuelle, wie wir sie heute kennen, sondern befanden sich in einem viel niedrigeren psychischen Modus, der meiner Meinung nach "ambisexuell" genannt werden sollte (sie selber gebrauchten den Ausdruck "beidhändig").

Während der Homosexuelle bei Männern Zuflucht vor Frauen sucht, als Abwehr des ödipalen Konflikts, hat der Ambisexuelle die ödipale Ebene nie wirklich erreicht und gebraucht Knaben und Frauen fast unterschiedslos. Tatsächlich ist, wie die Psychoanalytikerin Joyce McDougall beobachtet hat, der Hauptzweck dieser Art von Perversion der Beweis, daß "es keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt". Die Perversion sei ein Versuch, die sexuellen Traumata der Kindheit durch Reversion unter Kontrolle zu bringen, wobei nun der Erwachsene ein anderes Kind in die Situation der Hilflosigkeit versetzt, und gleichzeitig die Kastrationsangst zu bewältigen, indem man beweist, daß "die Kastration nicht wehtut und im Gegenteil nachgerade die Bedingung erotischer Erregung ist". Das charakterisiert den Mann der Antike sehr gut. Der Geschlechtsverkehr mit kastrierten Kindern wurde oft als besonders erregend beschrieben, kastrierte Knaben waren die beliebtesten "voluptates" im kaiserlichen Rom, und Kinder wurden "in der Wiege" kastriert, um in Bordellen von Männern gebraucht zu werden, die es gern mit jungen kastrierten Knaben trieben. Als Domitian ein Gesetz erließ, das die Kastration von Kindern für Bordelle verbot, pries Martial ihn: "Immer schon liebten dich Knaben, ... nun lieben auch Kinder dich, Caesar." 

Paulus Aegineta beschrieb die Standardmethode, die zur Kastration kleiner Knaben angewandt wurde:

Wir werden manchmal von hochgestellten Personen gezwungen, diese Operation gegen unseren Willen durchzuführen ... Sie wird durch Zusammendrücken folgendermaßen vollzogen: die Kinder, die noch in einem Alter sind, wo sie zart sind, werden in einen Topf mit heißem Wasser gesetzt, und wenn die Teile im Bad weich geworden sind, werden die Hoden mit den Fingern zusammengedrückt, bis sie verschwinden.

 

251)  Martial, Epigrams, 255; Aristoteles, Historia Animalium, übers, v. R. Cresswell, London 1862, 180 [dt. Tierkunde, Paderborn 21958 (-Die Lehrschriften, Bd. VIII: Naturgeschichte, Teil 1)].  
252)  Vanggaard, Phallos, 25, 27, 43; Karlen, Sexuality, 33 f.; Eglinton, Greek Love, 287.  
253)  Joyce McDougall, Primal Scene and Sexual Perversion, in International Journal of Psycho-Analysis 53 (1972), 378.  
254)  Licht, Sexual Life, 497; Peter Tomkins, The Eunuch and the Virgin, New York 1962, 17-30; Vangaard, Phallos, 59; Martial, Epigrams, 75, 144.

102


Die Alternative, sagte er, bestand darin, die Kinder auf eine Bank zu legen und die Hoden herauszu­schneiden. Viele Ärzten in der Antike erwähnten diese Operation, und Juvenal sagte, sie seien oft dazu genötigt worden.255) 

Anzeichen für die Kastration umgaben das Kind in der Antike. Auf jedem Feld und in jedem Garten sah es einen Priapus mit einem großen erigierten Penis und einer Sichel, die die Kastration symbolisieren sollte. Sein Erzieher und sein Lehrer konnten kastriert sein, überall gab es kastrierte Gefangene, und auch die Bediensteten seiner Eltern waren häufig kastriert. Der heilige Hieronymus schrieb, daß manche Leute sich fragten, ob es klug sei, junge Mädchen mit Eunuchen zusammen baden zu lassen. Und obwohl Konstantin ein Gesetz gegen Kastratoren erließ, verbreitete sich die Praxis unter seinen Nachfolgern so schnell, daß bald selbst adlige Eltern ihre Söhne verstümmelten, um deren politisches Fortkommen zu befördern. Das Kastrieren von Knaben wurde auch als "Heilmittel" gegen verschiedene Krankheiten angewendet, und Ambroise Pare klagte darüber, daß soviele skrupellose "Abschneider" — begierig, an die Hoden von Kindern zu kommen, um sie für magische Zwecke zu verwenden — Eltern dazu überredeten, ihre Kinder kastrieren zu lassen.256) 

Das Christentum brachte einen neuen Begriff in die Diskussion ein — die kindliche Unschuld. Wenn Christus, so sagte Clemens von Alexandrien, den Menschen riet, "wie kleine Kinder zu werden", um ins Himmelreich zu kommen, sollte man "die Bedeutung dieser Worte nicht närrischerweise falsch verstehen. Wir sind keine kleinen Kinder in dem Sinne, daß wir uns auf dem Boden rollen oder wie Schlangen auf der Erde kriechen". Christus habe gemeint, daß die Menschen so "unbefleckt" werden sollten wie Kinder — rein, ohne sexuelles Wissen. Im ganzen Mittelalter betonten die Christen die Vorstellung, daß Kinder im Hinblick auf jegliche Vorstellung von Lust und Schmerz völlig unschuldig seien. Ein Kind "hat noch keine sinnlichen Freuden kennengelernt und hat keine Vorstellung von männlichen Begierden; ... man wird wie ein Kind, wenn man zornig wird; und wenn man Kummer hat, ist man wie ein Kind, das manchmal gerade dann lacht und spielt, wenn sein Vater, seine Mutter oder sein Bruder gestorben ist ...".258)

 

255)  Paulus Aegineta, Aegeneta, 379-381.
256)  Martial, Epigrams, 367; St. Hieronymus, Letters, 363; Tomkins, Eunuch, 28-30; Geoffrey Keenes (Hg.), The Apologie and Treatise of Ambroise Pare, London 1951, 102. 
257)  Clemens von Alexandria, Christ, 17.

103


Unglücklicherweise stellt die Vorstellung, daß Kinder unschuldig seien und nicht verdorben werden könnten, eine übliche Abwehr von Kindesmißhandlern dar, wenn es darum geht einzugestehen, daß ihr Mißbrauch dem Kind schadet, so daß die mittelalterliche Fiktion von der Unschuld der Kinder nur die Aussagekraft unserer Quellen mindert und nicht zum Beweis dafür taugt, was wirklich vor sich ging. 

Abt Guibert von Nogent sagte, die Kinder seien gesegnet, daß sie ohne sexuelle Gedanken und Fähigkeiten seien; man fragt sich, worauf er sich dann bezog, wenn er sich zu der "Gottlosigkeit, die ich in meiner Kindheit beging ...", bekannte. Meistens werden Diener des Mißbrauchs von Kindern beschuldigt; selbst eine Wäscherin konnte "Gottlosigkeit bewirken". Die Diener "zeigen (oft) unzüchtige Vorgänge in Gegenwart von Kindern [und] verderben die wichtigsten Teile von Säuglingen". Die Säugammen sollten keine jungen Mädchen sein, "denn von diesen haben viele vorzeitig das Feuer der Leidenschaft geweckt, wie wahre Berichte künden und wie, das wage ich zu sagen, die Erfahrung beweist.260)

 

Giovanni Dominici versuchte in einer Schrift aus dem Jahre 1405 der so zweckdienlichen "Unschuld" der Kindheit einige Grenzen zu setzen; ab einem Alter von drei Jahren sollte den Kindern nicht mehr erlaubt werden, nackte Erwachsene zu sehen. Denn selbst "wenn man annimmt, daß es bei einem Kind vor dem fünften Lebensjahr keine sexuellen Gedanken und keine natürliche Regung gibt, wird es sich doch, wenn man keine Vorsorge trifft und es im Angesicht von solchen Handlungen aufwächst, so daran gewöhnen, daß es später keine Scham dabei empfindet ...". Daß es oft die Eltern selbst sind, die das Kind belästigen, geht aus der folgenden Passage hervor:

Es sollte schlafen bedeckt mit einem Nachthemd, das bis unter das Knie reicht, wobei so viel Sorge wie möglich darauf verwendet werden sollte, daß es nicht unbedeckt bleibe. Laß weder die Mutter noch den Vater und noch viel weniger irgendeine andere Person es berühren. Um dabei, daß ich dies so ausführlich behandle, nicht langweilig zu wirken, erwähne ich nur die Geschichte der Alten, die diese Lehre zur vollen Anwendung brachten, um die Kinder gut aufzuziehen, nicht als Sklaven des Fleisches.261) 

 

258)  Origenes, Commentary on Matthew, in: Allan Menzies (Hg.), The Ante-Nicene Fathers, Bd. 9, New York 1925, 484 (dt. Origenes' Matthäuserklärung, hg. v. Erich Klostermann, Leipzig 1935). 
259)  Benton, Seif, 14, 35.  
260)  Craig, Vincent of Beauvais, 303; Cleaver, Godlie, 326 f.; Dominici, Education, 41.

104


Daß es in der Renaissance zu einem Wandel beim sexuellen Gebrauch von Kindern kam, läßt sich nicht nur an der wachsenden Zahl von Moralisten ersehen, die davor warnten (wie die Amme Ludwigs XIII., sagte auch Jean Gerson, es sei die Pflicht des Kindes, andere davon abzuhalten, es zu belästigen), sondern auch an der Kunst der Zeit. Nicht nur waren die Renaissance-Bilder voll mit nackten putti oder mit Cupidos, die ihre Augenbinden vor nackten Frauen abnehmen, darüber hinaus wurden auch immer häufiger wirkliche Kinder dargestellt, die das Kinn der Mutter liebkosen oder eines ihrer Beine über deren Beine legen — beides ikonographische Zeichen für die geschlechtliche Liebe —, und die Mutter wurde oft so gemalt, daß ihre Hand dem Genitalbereich des Kindes sehr nahe war.262) 

Die Kampagne gegen den sexuellen Gebrauch von Kindern zog sich durch das ganze 17. Jahrhundert, nahm jedoch im 18. Jahrhundert eine völlig neue Wendung: Es kam zur Bestrafung des kleinen Knaben oder Mädchens wegen der Berührung der eigenen Genitalien. Daß das wie die frühe Reinlichkeitserziehung eine späte bzw. jüngere psychogene Stufe anzeigte, wird durch die Tatsache bezeugt, daß Verbote der kindlichen Masturbation in keiner der von Whiting und Child beobachteten primitiven Gesellschaften zu finden sind. Die Einstellung der meisten Leute gegenüber der kindlichen Masturbation vor dem 18. Jahrhundert kommt in Fallopius' Rat an die Eltern zum Ausdruck, "während der Kindheit darauf bedacht zu sein, den Penis des Knaben zu vergrößern".264)

 

261)  Ebd.  
262)  Aries, Geschichte der Kindheit, 107 f.; Johannes Butzbach, The Autobiography of Johannes Butzbach: A Wandering Scholar of the Fifteenth Century, Ann Arbor 1933, 2 (dt. Odeporicon. Wanderbüchlein, übers, v. Andreas Beriger, Zürich 1993); Horkan, Educational Theories, 118; Jones, Arts and sciences, 59; James Cle-land, The Instruction of a Young Nobleman, Oxford 1612, 20; Sir Thomas Elyot, The Book Named the Governor, London 1962, 16; Erwin Panofsky, Studies in Iconology: Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1972, 95-166; Leo Steinberg, The Metaphors of Love and Birth in Michelangelo's Pietäs, in: Theodore Bowie und Cornelia V. Christenson (Hgg.), Studies in Erotic Art, New York 1970, 231-339; Josef Kunstmann, The Transformation of Eros, London 1964, 21-23.  
263)  Whiting, Child-Training, 79.  
264)  Gabriel Falloppius, De decoraturie trachtaties, cap. 9, in: Opera Omnia, 2 Bde., Frankfurt 1600, 336 f.; Soranus, Gynecology, 107.

105


Abbildung 16 - Die Großmutter Christi spielt mit seinem Penis. 
Wie Hans Baidung Griens Darstellung von
Anna selbdritt (1511) zeigt, masturbierten Gro
ßmütter üblicherweise ihre Enkelkinder.

 

Obwohl die Masturbation bei Erwachsenen als geringfügige Sünde galt, dehnten die mittelalterlichen Bußbücher das Verbot nur selten auf die Kindheit aus; Homosexualität unter Erwachsenen, nicht Masturbation war die hauptsächliche Obsession der vorneuzeitlichen sexuellen Regulierung. Noch im 15. Jahrhundert klagt Gerson darüber, daß Erwachsene ihm erzählten, sie hätten nie davon gehört, daß Masturbation eine Sünde sei, und er weist die Beichtväter an, Erwachsene direkt zu fragen: "Mein Freund, berührst oder reibst du deine Rute, wie es Kinder gewöhnlich tun?" 265)

Doch erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt der Bestrebungen, den Kindsmißbrauch unter Kontrolle zu bringen, begannen Eltern ihre Kinder für Masturbation nachhaltig zu bestrafen und Ärzte den Mythos zu verbreiten, daß diese Wahnsinn, Epilepsie, Blindheit und Tod verursache.

 

265)  Michael Edward Goodich, The Dimensions of Thirteenth Century Sainthood, Ph.D.-Dissertation, Columbia University 1972, 211 f.; Jean-Louis Flandrin, Ma-riage tardif et vie sexuelle: Discussions et hypotheses de recherche, in Annales: Economies Societes Civilisations 27 (1972), 1351-1378.

106


Im 19. Jahrhundert erreichte diese Kampagne einen unglaublichen Grad an Raserei. Ärzte und Eltern tauchten mitunter mit Messern und Scheren bewaffnet vor dem Kind auf und drohten, die Genitalien des Kindes abzuschneiden; Beschneidung, Klitoridektomie und Infibulation wurden manchmal als Strafe eingesetzt; und alle Arten von einschränkenden Vorrichtungen, unter anderem Gipsverbände und Käfige mit spitzen Nägeln, wurden verschrieben. Die Beschneidung erfuhr besonders weite Verbreitung; ein amerikanischer Kinderpsychologe etwa hielt fest: Wenn ein Kind von zwei Jahren sich die Nase reibt und keinen Augenblick ruhig sein kann, hilft nur die Beschneidung.

 

Abbildungen 17a und 17b - Anti-Masturbationsvorrichtungen aus Metall. 
Franzö
sisch (G. Jalade-Lafond, 1818) und deutsch (W. Scheinlein, 1831).

 

Ein anderer Arzt, dessen Buch die Bibel so manchen amerikanischen Haushalts des 19. Jahrhunderts war, empfahl, daß kleine Knaben auf Anzeichen für Masturbation hin scharf zu beobachten und zu ihm zur Beschneidung ohne Anästhesie zu bringen seien, was sie ausnahmslos kurierte. 

107


Spitz' graphische Darstellungen unterschiedlicher Empfehlungen bei Masturbation, die auf 559 ausgewerteten Büchern beruhen, weisen für chirurgische Eingriffe einen Höhepunkt zwischen 1850 und 1879 und für einschränkende Maßnahmen zwischen 1880 und 1904 aus. 1925 sind diese Methoden fast vollständig verschwunden, nach zwei Jahrhunderten brutaler und völlig überflüssiger Übergriffe auf die Genitalien von Kindern.

 

Abbildung 18 - Penisringe. 
Wurden Knaben nachts im Bett übergestreift, um Erektionen während des Schlafs zu verhindern.

 

Nach dem 18. Jahrhundert war der sexuelle Mißbrauch bei Dienern und anderen Erwachsenen und Jugendlichen weitaus stärker verbreitet als bei Eltern, obgleich es angesichts der Zahl von Eltern, die ihre Kinder weiterhin mit Bediensteten schlafen ließen, nachdem bereits bei früheren Dienern sexueller Mißbrauch vorgefallen war, offensichtlich ist, daß die Voraussetzungen für den Kindesmißbrauch immer noch unter der Kontrolle der Eltern standen.

 

266)  Hare, Masturbatory Insanity, 2-25; Spitz, Authority and Masturbation, 490-527; Onania, or the Heinous Sin of Self-Pollution, 4. Aufl. London o. J., 1-19; Simon Tissot, L'Onanisme: Dissertation sur les maladies produites par la masturbation, Lausanne 1764; G. Rattray Taylor, Sex in History, New York 1954, 223; Taylor, Angel-Makers, 327; Alex Comfort, The Anxiety Makers: Some Curious Preoccupa-tions of the Medical Profession, London 1967; Ryerson, Medical Advice, 305 ff.; Kern, Freud, 117-141; L. Deslander, M.D., A Treatise on the Diseases Produced by Onanism, masturbation, self-pollution, and other excesses, Übersetzung aus dem Französischen, Boston 1838; Mrs. S. M. I. Henry, Studies in Home and Child Life, Battle Creek, Michigan, 1897, 74; George B. Leonard, The Transformation, New York 1972, 106; John Duffy, Masturbation and Clitoridectomy: A Nine-teenth Century View, in Journal of the American Medical Association 186 (1963), 246; Dr. Yellowlees, Masturbation, in Journal of Mental Science 22 (1876), 337; J. H. Kellogg, Piain Facts for Old and Young, Burlington 1881, 186-497; P. C. Re-mondino, M.D., History of Circumcision from the Earliest Times to the Present, Philadelphia 1891, 272.

108


Kardinal Bernis, der sich daran erinnerte, als Kind belästigt worden zu sein, warnte die Eltern, daß "nichts für die Moral und vielleicht die Gesundheit so gefährlich ist, wie die Kinder zu lange in der Obhut von Zimmermädchen oder sogar von jungen Damen zu lassen, die in Schlössern aufgezogen worden sind. Ich möchte hinzufügen, daß die besten unter ihnen nicht immer die ungefährlichsten sind. Sie trauen sich bei einem Kind, was bei einem jungen Mann zu wagen sie sich schämen würden". Ein deutscher Arzt sagte, Kindermädchen und Bedienstete vollzögen "alle Arten von sexuellen Handlungen" an Kindern "zum Spaß". Sogar Freud berichtete, er sei von seinem Kindermädchen verführt worden, als er zwei Jahre alt war, und Ferenczi und andere Analytiker nach ihm betrachteten Freuds Entscheidung von 1897, die meisten Berichte von Patienten über frühe sexuelle Verführungen für bloße Phantasie zu halten, als falsch. Dem Psychoanalytiker Robert Fleiss zufolge "(wird) nie jemand allein durch seine Phantasien krank", und eine große Zahl von Patienten, die sich der Psychoanalyse unterziehen, berichtet auch heute, daß sie Kinder sexuell gebrauchen, obwohl nur Fleiss diese Tatsache in seine psychoanalytische Theorie einbaut. Wenn man hört, daß noch im Jahre 1900 manche glaubten, Geschlechtskrankheiten könnten "mittels Geschlechtsverkehrs mit Kindern" geheilt werden, gewinnt man einen angemessenen Eindruck von den Dimensionen des Problems.268) 

 

267)  Restif de la Bretonne, Monsieur Nicolas, 86, 88, 106; Common Errors, 22; Deslan-der, Treatise, 82; Andre Parreaux, Daily Life in England in the Reign of George III, übers, v. Carola Congreve, London 1969, 125 f.; Bernard Perez, The First Three Years of Childhood, London 1885, 58; My Secret Life, New York 1966, 13-15, 61; Gathorne-Hardy, Rise and Fall, 163; Henri E. Ellenberger, The Discovery of the Unconscious, New York 1970, 299; Joseph W. Howe, Excessive Venery, Masturbation and Continence, New York 1893, 63; C. Gasquoine Hartley, Mo-therhood and the Relationships of the Sexes, New York 1917, 312; Bernis, Memoirs, 90. 
268)  Dr. Albert Moll, The Sexual Life of Children, New York 1913, 219; Max Schur, Freud: Living and Dying, New York 1972, 120-132; Robert Fleiss, Symbol, Dre-am and Psychosis, New York 1973, 205-229.

109


Abbildung 19 - Mädchen, das exorziert wird. 
Die h
äufigen hysterischen Anfälle von Kindern konnten oft dadurch kuriert werden, ihnen den Teufel auszutreiben, wie in diesem Gemälde Grünewalds von 1520.

 

Es versteht sich von selbst, daß die Auswirkungen solch schweren körperlichen und sexuellen Mißbrauchs, wie ich ihn beschrieben habe, auf das Kind der Vergangenheit immens waren. Ich möchte hier nur zwei solche Auswirkungen auf das heranwachsende Kind andeuten, eine psychologische und eine physische. Die erste ist die enorme Zahl von kindlichen Alpträumen und Halluzinationen, die ich in den Quellen gefunden habe. Obgleich schriftliche Aufzeichnungen von Erwachsenen, die überhaupt etwas vom Gefühlsleben eines Kindes verraten, außerordentlich selten sind, so offenbaren sie doch, wann immer man sie entdeckt, in der Regel wiederkehrende Alpträume und sogar regelrechte Halluzinationen. Seit der Antike beinhaltet die pädiatrische Literatur regelmäßig Abschnitte darüber, wie die "furchtbaren Träume" von Kindern zu heilen seien, und manchmal wurden Kinder geschlagen, weil sie Alpträume hatten.

110


Kinder lagen nachts wach und wurden von imaginären Geistern, Dämonen, "einer Hexe auf dem Polster", "einem großen schwarzen Hund unter dem Bett" oder "einem gekrümmten Finger, der durch das Zimmer kriecht", erschreckt. Zudem ist die Geschichte der Hexerei in der westlichen Welt voll von Berichten über Kinder mit krampfartigen Anfällen, Gehör- oder Sprachverlust, Gedächtnisschwund, Teufelshalluzinationen, Beichtgeständnissen vom Verkehr mit Teufeln und Anklagen der Hexerei gegenüber Erwachsenen einschließlich der eigenen Eltern. Und schließlich, noch früher im Mittelalter, stoßen wir auf Kinder mit Tanzwut (Veitstanz; A.d.Ü.), auf Kinderkreuzzüge und Kinderwallfahrten — Themen, die schlichtweg zu weitreichend sind, um hier diskutiert zu werden.270) 

Einen letzten Punkt möchte ich nur kurz berühren: die Möglichkeit, daß Kinder in der Vergangenheit aufgrund der armseligen Pflege, die ihnen zuteil wurde, körperlich retardiert waren. Obwohl das feste Wickeln für sich genommen die körperliche Entwicklung von Kindern bei Primitiven in der Regel nicht beeinflußt, scheint die Kombination von festem Wickeln, Vernachlässigung und allgemeinem Mißbrauch in der Vergangenheit oft genau das hervorgebracht zu haben, was wir heute als retardierte Kinder bezeichnen. Ein Anzeichen für diese Retardation ist die Tatsache, daß die meisten Kinder heutzutage mit 10 bis 12 Monaten zu gehen beginnen, während sie in der Vergangenheit allgemein erst später damit anfingen. 

 

269  Mrs. Vernon D. Broughton (Hg.), Court and Private Life in the Time of Queen Charlotte: Being the Journals of Mrs. Papendiek, Assistant Keeper of the Wardrobe and Reader to Her Majesty, London 1887, 40; Morley, Cardan, 35; Origo, Leo-pardi, 24; Kemble, Records, 28; John Greenleaf Whittier (Hg.), Child Life in Pro-se, Boston 1873, 277; Walter E. Houghton, The Victorian Frame of Mind, 1830-1870, New Haven 1957, 63; Harriet Martineau, Autobiography, Bd. 1, Boston 1877, 11; John Geninges, The Life and Death of Mr. Emdung Geninges, Priest (1614), 18; Thompson, Religion, 471.

270  Chadwick Hansen, Witchcraft at Salem, New York 1970; Ronald Seth, Children Against Witches, London 1969; H. C. Erik Midelfort, Witch Hunting in Southwestern Germany, Stanford 1972, 109; Carl Holliday, Woman's Life in Co-lonial Days, Boston 1922, 60; Jeffrey Burton Russell, Witchcraft in the Middle Ages, Ithaca, New York, 1972, 136; George A. Gray, The Children's Crusade, New York 1972.

111


Die Altersangaben in bezug auf das erste Gehen in Tabelle 2 sind alle, die ich in den Quellen bislang gefunden habe.

TABELLE 2 

Alter (in Monaten) beim ersten Gehen

Quelle 271) 

Alter beim 
ersten Gehen

ungefähre Zeit

Nationalität

Macrobius

28

400

römisch

Federico d'Este

14

1501

italienisch

James VI.

60

1571

schottisch

Anne von Dänemark

108

1575

dänisch

Anne Cliffords Kind

34

1617

englisch

John Hamilton

14

1793

amerikanisch

Augustus Hare

17

1834

englisch

Marianne Gaskell

22

1836

englisch

H. Taines Sohn

16

1860

französisch

Tricksy du Maurier

12

1865

englisch

W. Preyers Sohn

15

1880

deutsch

Franklin Roosevelt

15

1884

amerikanisch

G. Dearborns Tochter

15

1900

amerikanisch

American Institute for Child Life
(Untersuchung)

12-17

1913

amerikanisch

University of Minnesota (23 Babys)

15

1931

amerikanisch

 

271)  Stahl, Macrobius, IIA; Julia Cartwright Ady, Isabelle d'Este: Marchioness of Man-tua, 1474-1539 - A Study of the Renaissance, London 1903, 186; Mary Ann Gibbs, The Years of the Nannies, London 1960, 23; Agnes Strickland, Lives of the Queens of England, 6 Bde., London 1864, 2; Lady Anne Clifford, The Diary of Lady Anne Clifford, London 1923, 66; Allan McLane Hamilton, The Intimate Life of Alexander Hamilton, London 1910, 224; Hare, Story, 54; Elizabeth Cleghorn Gaskell, "My Diary": the early years of my daughter Marianne, London 1923, 33; Mrs. Emily Talbot (Hg.), Papers on Infant Development, Boston 1882, 30; Du Maurier, Young Du Maurier, 250; Preyer, Mind, 275; James David Barber, The Presidential Character: Predicting Performance in the White House, Englewood Cliffs, New Jersey, 1972, 212; George V. N. Dearborn, Motor-Sensory Development: Observations on the First Three Years of a Child, Baltimore 1910, 160; William B. Forbush, The First Years in a Baby's Life, Philadelphia 1913, 11; Mary M. Shirley, The First Two Years: A Study of Twenty-Five Babies, Minneapolis 1931, 40. Vgl. auch Sylvia Brody, Patterns of Mothering: Maternal Influence Du-ring Infancy, New York 1956, 105; und Sidney Axelrad, Infant Care and Personality Reconsidered, in The Psychoanalytic Study of Society 2 (1962), 99-102, die auf ähnliche Retardierungsmuster bei albanischen Kindern, die fest gewickelt werden, hinweisen.

112


Periodisierung der Formen der Eltern-Kind-Beziehungen

Da manche Menschen nach wie vor Kinder töten, schlagen und sie sexuell mißbrauchen, muß man beim Versuch, die Formen der Kindererziehung nach Perioden einzuteilen, zuerst einräumen, daß die psychogene Evolution in verschiedenen Familienlinien mit verschiedenen Geschwindigkeiten voranschreitet und daß viele Eltern in früheren historischen Formen "steckengeblieben" zu sein scheinen. Es gibt zudem bedeutende Klassen- und Gebietsunterschiede, insbesondere seit der Neuzeit, als die oberen Klassen aufhörten, ihre Kinder zu Säugammen zu schicken, und sie selbst aufzuziehen begannen. 

Die nachstehende Periodisierung sollte als eine einstweilige Zuordnung jener Formen von Eltern-Kind-Beziehungen gelesen werden, die vom — aus psychogener Sicht — am meisten fortgeschrittenen Teil der Bevölkerung in den am meisten fortgeschrittenen Ländern geübt wurden, und die angegebenen Zeitpunkte sind jeweils die frühesten, zu denen ich in den Quellen Beispiele für die jeweilige Form gefunden habe. Die Reihe von sechs Formen repräsentiert eine kontinuierliche Abfolge von immer größeren Annäherungen zwischen Eltern und Kindern im Zuge einer Entwicklung, in deren Verlauf eine Elterngeneration nach der anderen langsam ihre Ängste überwand und die Fähigkeit herauszubilden begann, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und zu befriedigen. Ich bin außerdem davon überzeugt, daß die Reihe eine sinnvolle Hilfestellung zur Einschätzung gegenwärtiger Formen der Kindeserziehung leistet.

 

113


1. Kindsmord (Antike bis 4. Jahrhundert n. Chr.): Das Bild der Medea schwebt über der Kindheit in der Antike, denn hier spiegelt der Mythos nur die Wirklichkeit wider. Einige Tatsachen sind bedeutsamer als andere, und wenn Eltern ihre Ängste hinsichtlich der Pflege von Kindern in der Regel dadurch auflösten, letztere zu töten, so beeinflußte dies die überlebenden Kinder zutiefst. Für die, die heranwachsen durften, stand die projektive Reaktion an oberster Stelle, und die Reversionsreaktion trat im weitverbreiteten Unzuchttreiben mit dem Kind konkret und offen zutage.

2. Weglegung (4. bis 13. Jahrhundert n. Chr.): Hatten die Eltern das Kind einmal als ein Wesen mit Seele zu akzeptieren begonnen, war der einzige Weg, den Gefahren ihrer eigenen Projektionen zu entrinnen, die Weglegung, sei es zu einer Säugamme, ins Mönchs- oder Nonnenkloster, zu Pflegeeltern, als Diener oder Bürgschaften in die Häuser anderer Adeliger, sei es in Form schwerer emotionaler Weglegung im eigenen Heim. Symbol für diese Form könnte Griselda sein, die so bereitwillig ihre Kinder weggab, um die Liebe zu ihrem Gatten unter Beweis zu stellen. Es könnte freilich auch jede der bis ins 13. Jahrhundert so populären Darstellungen einer strengen Maria sein, die steif das Jesuskind hält. Die Projektion war nach wie vor sehr massiv, nachdem das Kind noch immer voll des Bösen war und stets geschlagen werden mußte, die Reversion aber verminderte sich, wie die Rückläufigkeit der Unzucht mit Kindern zeigt, in beträchtlichem Ausmaß.

3. Ambivalenz (14. bis 17. Jahrhundert): Weil das Kind immer noch ein Container für gefährliche Projektionen war, als es in das emotionale Leben der Eltern eintreten durfte, war es deren Aufgabe, es in die rechte Form zu gießen. Von Dominici bis Locke gab es kein populäreres Bild als das des körperlichen Modellierens von Kindern, die als weiches Wachs, als Gips oder Lehm betrachtet wurden, den man eben erst in die rechte Form zu schlagen habe. Enorme Ambivalenz kennzeichnet diese Erziehungsform. Ihren Anfang nimmt sie etwa im 14. Jahrhundert, das ein Ansteigen der Zahl von Handbüchern für die Unterweisung von Kindern, die Ausdehnung der Kulte um Maria und das Jesuskind sowie ein regelrechtes Wuchern von Bildern der "innigen Mutter" in der Kunst verzeichnet.

4. Einmischung (18. Jahrhundert): Ein ungeheurer Rückgang der Projektion und das faktische Verschwinden der Reversionsreaktion waren die Errungenschaften der großen Übergangszeit in den Eltern-Kind-Beziehungen, die das 18. Jahrhundert einleitete. Das Kind war nicht mehr so voll von gefährlichen Projektionen, und statt bloß sein Inneres mit einem Klistier zu untersuchen, näherten sich die Eltern ihm noch viel mehr und versuchten, seinen Geist zu erobern, um sein Inneres, seinen Zorn, seine Bedürfnisse, seine Masturbation, ja seinen Willen selbst zu kontrollieren. Das von intrusiven Eltern erzogene Kind wurde von der

Mutter gestillt, nicht fest gewickelt, erhielt keine regelmäßigen Einlaufe, erfuhr frühe Reinlichkeitserziehung, man betete, aber spielte nicht mit ihm, es wurde geschlagen, aber nicht regelmäßig ausgepeitscht, für Masturbation bestraft, und es wurde im selben Ausmaß mit Drohungen und Schuldzuweisungen wie mit anderen Methoden der Bestrafung dazu gebracht, auf der Stelle zu gehorchen. Das Kind erschien um so viel weniger bedrohlich, daß wahre Empathie möglich wurde, und es entstand die Pädiatrie, die zusammen mit der allgemeinen Verbesserung der elterlichen Pflege die Säuglingssterblichkeit reduzierte und den Grundstein für die demographische Entwicklung im 18. Jahrhundert legte.

 

5. Sozialisation (19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts): Nachdem die Projektionen weiter rückläufig waren, wurde die Erziehung eines Kindes ein Prozeß, in dem man weniger versuchte, seinen Willen zu erobern, als vielmehr, es zu formen, es in die richtigen Wege zu leiten, es zu lehren, sich anzupassen, es zu sozialisieren. Die Form der Sozialisation wird von den meisten nach wie vor für das einzige Modell gehalten, in dem die Diskussion der Kindspflege voranschreiten kann, und sie war Quelle aller psychologischen Modelle des 20. Jahrhunderts, von Freuds "Triebeinschränkung" bis zu Skinners Behaviorismus. Es ist im besonderen das Modell des soziologischen Funktionalismus. Zudem zeigt der Vater im 19. Jahrhundert zum ersten Mal mehr als nur ein gelegentliches Interesse am Kind, erzieht es mit und entlastet manchmal sogar die Mutter bei den die Pflege des Kindes betreffenden häuslichen Arbeiten.

 

6. Unterstützung (beginnt in der Mitte des 20. Jahrhunderts): Zur Form der Unterstützung gehört die Annahme, daß das Kind besser als seine Eltern weiß, was es in jeder Phase seines Lebens braucht; beide Eltern werden in das Leben des Kindes einbezogen, insofern sie daran arbeiten, mit ihm empathisch zu sein und seine wachsenden und besonderen Bedürfnisse zu befriedigen. Es fehlt jeder Versuch zu disziplinieren oder "Gewohnheiten" auszubilden. Die Kinder werden weder geschlagen noch gescholten, und man entschuldigt sich bei ihnen, wenn man sie im Streß angebrüllt hat. 

Die Form der Unterstützung erfordert ein enormes Ausmaß an Zeit, Energie und Diskussionsbereitschaft auf Seiten beider Elternteile, besonders während der ersten sechs Jahre, denn einem kleinen Kind zu helfen, seine täglichen Ziele zu erreichen, bedeutet, ständig auf es einzugehen, mit ihm zu spielen, seine Regressionen zu tolerieren, sein Diener zu sein statt umgekehrt, seine emotionalen Konflikte zu deuten und ihm die Objekte zur Verfügung zu stellen, die für seine sich entwickelnden Interessen geeignet sind. 

Noch haben wenige Eltern diese Art der Kindspflege konsequent verfolgt. Aus den Büchern, die Kinder beschreiben, welche in der Form der Unterstützung aufgewachsen sind,272) wird offenkundig, daß diese ein Kind hervorbringt, das freundlich und aufrichtig ist, niemals depressiv, andere nachahmend oder gruppenorientiert, das einen starken Willen hat und sich von Autoritäten nicht einschüchtern läßt.

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Die psychogene Theorie: 

ein neues Paradigma für die Geschichtswissenschaft 

Die psychogene Theorie könnte, glaube ich, ein radikal neues Paradigma für die Erforschung der Geschichte liefern. Sie kehrt die übliche Annahme vom "Geist als tabula rasa" um und betrachtet stattdessen die "Welt als tabula rasa", in dem Sinn, daß jede Generation in eine Welt bedeutungsloser Objekte hineingeboren wird, denen Bedeutung nur verliehen wird, wenn das Kind eine bestimmte Art von Pflege erhält. Jedesmal werden, sobald die Form der Pflege einer genügenden Anzahl von Kindern sich ändert, alle Bücher und Artefakte auf der Welt als irrelevant für die Ziele der neuen Generation hinweggefegt, und die Gesellschaft beginnt, sich in unvorhersehbare Richtungen zu bewegen. Wie der historische Wandel mit den sich ändernden Formen der Kindespflege zusammenhängt, bleibt noch genauer auszudifferenzieren.

Wenn das Maß der Lebenskraft einer Theorie in ihrer Fähigkeit besteht, interessante Probleme aufzuzeigen, dann sollten die Geschichte der Kindheit und die psychogene Theorie eine aufregende Zukunft haben. Es gibt noch viel darüber zu lernen, wie Erwachsenwerden in der Vergangenheit wirklich gewesen ist. Eine unserer vordringlichsten Aufgaben wird sein zu untersuchen, warum die Evolution der Kindheit in verschiedenen Ländern und verschiedenen Klassen und Familienlinien mit verschiedenen Geschwindigkeiten voranschreitet. Doch wissen wir bereits genug, um erstmals in der Lage zu sein, einige bedeutende Fragen zum Wandel von Wertvorstellungen und Verhaltensweisen in der Geschichte der westlichen Welt zu beantworten. 

Die Geschichte der Hexerei, der Magie, der religiösen Bewegungen und anderer irrationaler Massenphänomene wird als eine der ersten von der Theorie profitieren. Darüber hinaus sollte die psychogene Theorie uns schließlich verstehen helfen, warum soziale Organisation, politische Form und Technologie sich zu bestimmten Zeiten und in bestimmte Richtungen ändern und nicht zu anderen Zeiten und in andere Richtungen.

Vielleicht wird die Einführung des Parameters Kindheit in die Geschichtswissenschaft sogar die mehr als hundert Jahre andauernde Durkheimsche Flucht der Historiker vor der Psychologie beenden und uns ermutigen, die Arbeit an der Konstruktion einer wissenschaftlichen Geschichte der menschlichen Natur wieder aufzunehmen, die John Stuart Mill vor so langer Zeit schon als eine "Theorie der Ursachen, die den zu einem Volk oder einem Zeitalter gehörenden Charaktertyp bestimmen", umrissen hat.275

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272)  A. S. Neill, The Free Child, London 1952; Paul und John Ritter, The Free Family: A Creative Experiment in Self-Regulation for Children, London 1959; Michael Deakin, The Children on the Hill, London 1972.

273)  Ungeachtet der einzelnen Entwicklungslinie, die hier beschrieben wird, ist die psychogene Geschichtstheorie nicht unilinear, sondern multilinear, zumal auch Bedingungen außerhalb der Familie den Verlauf der Eltern-Kind-Entwicklung in jeder Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Hier wird nicht die Forderung aufgestellt, alle anderen Quellen des historischen Wandels auf die psychogene zu reduzieren.

Statt ein Beispiel für psychologischen Reduktionismus zu liefern, ist die psychogene Theorie in Wirklichkeit eine bewußte Anwendung des "methodologischen Individualismus", wie er beschrieben wird von

Friedrich A. von Hayek, The Counter-Revolution of Science: Studies in the Abuse of Reason, Glencoe, Illinois, 1952 (dt. Mißbrauch und Verfall der Vernunft, München 1979);

Karl R. Popper, The Open Society and Its Enemies, Princeton 1950 (dt. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bde., übers, v. Paul K. Feyerabend, 7. vollständig neubearb. Aufl., Stuttgart 1992);

J. W. N. Watkins, Methodological Individualism and Non-Hempelian Ideal Types, in: Leonard I. Krimerman (Hg.), The Nature and Scope of Social Science, New York 1969, 457-472.

Vgl. auch J. O. Wisdom, Situational Individualism and the Emergent Group Properties, in: Robert Borger und Frank Cioffi (Hgg.), Explanation in the Behavioral Sciences, Cambridge, Massachusetts, 1970, 271-296. 

274)  Die Zitate stammen aus Calvin S. Hall, Out of a Dream Came the Faucet, in Psychoanalysis and the Psychoanalytic Review 49 (1962).

275)  Vgl. Maurice Mandelbaum, History, Man and Reason: A Study in Nineteenth Century Thought, Baltimore 1971, Kapitel 11, zu Mills mißlungenem Versuch, eine historische Wissenschaft der menschlichen Natur zu erfinden.

 

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