Die sanfte Revolution:
Die Wurzeln der russischen und osteuropäischen
Demokratiebewegungen in der Kindheit
(1990) *
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Im Tagebuch eines französischen Rußlandreisenden des 18. Jahrhunderts findet sich folgende Beschreibung einer traditionellen Taufzeremonie:
Melissino und ich wohnten einer außerordentlichen Zeremonie [an der Newa]** bei, die mit gut eineinhalb Metern Eises bedeckt war. Nach der Segnung des Gewässers wurden die Kinder getauft, indem man sie in ein großes, ins Eis gehauenes Loch tauchte. Als ich dort zugegen war, geschah es dem Priester, daß ihm eines der Kinder aus den Händen glitt. "Drugoi!", rief er. Das heißt: "Gib mir das nächste!" - Man kann sich mein Erstaunen vorstellen, als ich sah, daß Vater und Mutter des Kindes sich im Zustand freudiger Erregung befanden; sie waren überzeugt, ihr Baby sei geradewegs in den Himmel befördert worden. 1)
Ein solcher Vorfall darf als typisch gelten für die Praktiken der Kindeserziehung in Rußland bis weit in unser Jahrhundert — durchaus mittelalterlich also, verglichen mit denen im Westen. So glaubten die meisten russischen Eltern etwa, daß es Säuglinge in tunlicher Weise "abhärte" und ihnen "das Untaugliche austreibe", wenn man sie extremen Temperaturen aussetze. Ein Reisender aus England berichtet zum Beispiel:
Die Moskowiter lassen ihre Kinder die Extreme von Hitze und Kälte, Hunger, Durst und Zwangsarbeit durchmachen. Sie waschen ihre neugeborenen Säuglinge in kaltem Wasser und rollen sie auf Eis und in Schnee, und wenn sie das nicht überleben, so erachten ihre Mütter sie für nicht einmal einer Träne würdig. 2)
* Aus: The Journal of Psychohistory 17 (1990), 341-352; dt. Erstübersetzung unter dem Titel Die Geburt der Perestroika in Psychologie Heute vom Juni 1990, 38-41.
** Wörter in eckigen Klammern sind, sofern nicht anders verzeichnet, Ergänzungen des Autors.1) The Memoirs of Jacques Casanova de Seingalt, übers, v. Arthur Machen, New York o.J., Bd.V, 511f.
2) Anonymus, The Common Errors in the Education of Children and Their Consequences, London 1744, 10.
Die Haustaufe in Eiswasser dauerte gewöhnlich über eine Stunde. Lomonossow beschreibt eine solche, wie er sie 1883 miterlebt hat:
...die große steinerne Halle des Elternhauses, in der die Taufe stattfinden sollte, wurde 24 Stunden lang nicht geheizt und das Wasser direkt aus dem Brunnen genommen ... Das Kind schrie entsetzt auf und hielt nicht ein, mit ganzer Kraft zu schreien, mit Ausnahme von kurzen Unterbrechungen zum Zwecke des Luftholens nach dem völligen Eintauchen ... Das Kind fiel in den Zustand der Bewußtlosigkeit und bekam Krämpfe und Fieber...3)
Es überrascht nicht, daß die Kinder-Sterblichkeitsrate in Rußland bis vor kurzem dreimal so hoch war wie jene der Länder Westeuropas, was bedeutet, daß mehr als die Hälfte aller Neugeborenen während ihrer Kindheit starben. 4)
In Westeuropa waren derart fehlgeleitete Erziehungsmethoden schon Jahrhunderte zuvor aus der Mode gekommen. So war etwa das Baden von Kindern in Eiswasser ein in ganz Europa üblicher Brauch, wurde aber bereits im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts in zunehmendem Maße kritisiert.
Während ältere Tagebucheintragungen häufig berichten, daß Neugeborene "an der Taufe [in Eiswasser] gestorben"5) seien, und Ärzte tägliche Bäder in Eiswasser für Kinder empfahlen,6) erachteten Eltern gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts solche Methoden der "Abhärtung" für unangebracht. 1797 schreibt man:
Zu sehen, wie ein kleiner Säugling im kalten Wasser gewaschen wird ..., er selbst in einem einzigen, unaufhörlichen Schreien begriffen, und die liebende Mutter, die ihre Ohren unter der Bettdecke verbirgt, um durch seine Schreie nicht gepeinigt zu werden, hat mich stets als unnotwendige Härte berührt ...7)
3) E. A. Pokrowski, Pervonacal'noje fiziceskoje vospitanije detej, Moskau 1888, 244.
4) Patrick P. Dünn, "That Enemy Is the Baby": Childhood in Imperial Russia, in: Lloyd deMause (Hg.), The History of Childhood, New York 1974, 385 (dt. "Der Feind ist das Kind": Kindheit im zaristischen Rußland, in: Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, hg. v. Lloyd deMause, Frankfurt am Main 1977, 535-564, hier 537); Nancy M. Frieden, Child Care: Medical Reform in a Traditionalist Culture, in: David L. Ransel (Hg.), The Family in Imperial Russia: New Lines of Historical Research, Urbana 1978, 236 f. Die Statistiken, die in diesen Quellen zusammengefaßt werden (z. B. 69% Kindersterblichkeit im Moskau des neunzehnten Jahrhunderts) gelten für fortgeschrittenere Gegenden; die Ziffer für Gesamtrußland ist mit Sicherheit viel höher, besonders wenn die Säuglingssterblichkeit berücksichtigt wird, was hier nicht der Fall ist.
5) Alice Morse Earle, Customs and Fashions in Old New England, Detroit 1968, 2.
6) John Floyer, The Ancient Psychroloysia Revived, or An essay to prove cold bathing both safe and useful, London 1702, und The History of Cold-Bathing, London 1732; John Jones, The arts and science of preserving bodie and soule in healthe (1579), Ann Arbor: University Microfilms 14724, 32.
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Dennoch beginnt eine wirksame Gegenbewegung gegen die althergebrachten, kinderschädigenden Erziehungsmethoden in Rußland nicht vor dem zwanzigsten Jahrhundert. Die Verzögerung einer Reform der Kindeserziehung um zweihundert Jahre ist, wie ich meine, die Wurzel der — verglichen mit den Ländern des Westens — gleichfalls zweihundertjährigen Verzögerung politischer Reformen in Rußland.
Darüber hinaus hat die umfassende Verbesserung der russischen Kindeserziehung in den letzten Jahrzehnten eine Veränderung der russischen Mentalität nach sich gezogen und die Grundlage geschaffen für die dramatischen politischen Veränderungen der jüngsten Vergangenheit.
Reform der Kindeserziehung und politische Reform
Das zentrale Thema meiner psychohistorischen Studien der letzten zwei Jahrzehnte ist die These gewesen, daß einer politischen Reform immer eine Reform der Kindeserziehung vorausgeht.
Rußland stellt einen besonders dramatischen Prüfstein bzw. Beweis dieser These dar. Die politischen Alpträume des zaristischen und stalinistischen Rußlands waren exakte Abbilder der Alpträume einer gewöhnlichen russischen Kindheit.8)
7) Scevole de St. Marthe, Paedotrophia: or, The Art of Nursing and Rearing Child-ren, London 1797, 63, in einer Fußnote des Übersetzers H. W. Tytler. Zum Beweis dafür, daß viele die Warnungen der Ärzte ignorierten und mit dem Baden in Eiswasser fortfuhren, vgl. Elizabeth Grant Smith, Memoirs of a Highland Lady, London 1898, 49; Mary Elizabeth Haidane, Mary Elizabeth Haidane: A Record of A Hundred Years (1825-1925), London 1925, 6 und 45; William Moss, An Essay on the Management, Nursing and Diseases of Children ..., London 1794, 137; Jean Paul Friedrich Richter, Levana; or, The Doctrine of Education, Boston 1863, 140 [engl. Übers, von Jean Pauls Schrift Levana oder Erziehlehre (1807), dt. Ausgabe Bad Heilbrunn 1963; A.d.Ü.]; The Maternal Physician, A Treatise on the Nurture and Management of Infants, from Birth Until Two Years Old, New York 1811, 23; Pey Henry Chavase, Advice to a Mother on the Management of her Children ..., Philadelphia n1871, 18; Bogna W. Lorence, Parents and Children in Eighteenth-Century Europe, in History of Childhood Quarterly: The Journal of Psychohistory 2 (1974), 17.
8) Dieses Prinzip ist, wiewohl es nicht expliziert wird, bei Dünn, Formation, 398-405, impliziert; Geoffrey Gorer und John Rickman, The People of Great Russia: A Psychological Study, London 1949; und Nathan Leites, A Study of Bolshevism, Glencoe 1953.
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Weitverbreiteter Kindsmord, heftige Schläge und andere Arten physischer Mißhandlung waren die Vorbilder für die physische Gewalt des Kremls, des KGB und des Gulag. Was Nathan Leites als traditionelle russische Charaktereigenschaften anführt — Furcht vor Unabhängigkeit, Wankelmut und Wunsch nach externer Kontrolle9) —, all das war Resultat der bis vor kurzem weitverbreiteten Praktiken des langen Wickelns der Kinder, der emotionalen Weglegung und der Gefühlskälte der Eltern gegenüber ihren Kindern.10)
Gerade so, wie Säuglinge, die gewickelt worden sind, nach ihren Windeln schreien, wenn sie ent-wickelt werden — so sehr gewöhnen sie sich an ihr Eingeschränktsein —, schreien auch Erwachsene, die als Kinder physisch und emotional gewickelt worden sind, nach totalitären Beschränkungen in ihren politischen Systemen.
Die Alpträume einer bis vor kurzem in Rußland üblichen Kindheit
Die russische Kindeserziehung ähnelte traditionellerweise in mancherlei Hinsicht mehr jener in Indien und anderen Staaten des Ostens als der im Westen. So waren etwa Kindsmord und Kinderhochzeit in Rußland bis ins neunzehnte Jahrhundert weitverbreitet.11) Nicht nur wurden die meisten Mädchen noch vor der Pubertät verheiratet und sexuell initiiert,12) die Väter hatten oft auch Geschlechtsverkehr mit den kindlichen Bräuten ihrer Söhne. Wie ein Reisender im neunzehnten Jahrhundert berichtet:
Väter verheiraten ihre Söhne in einem sehr frühen Alter mit einem heranreifenden Mädchen im Dorf und schicken die jungen Männer dann entweder nach Moskau oder St. Petersburg auf Arbeitssuche ... Nach einigen Jahren findet der Sohn, wenn er auf sein Landgut zurückkehrt, heraus, daß er nominell Vater mehrerer Kinder ist, des Nachwuchses seines eigenen Vaters nämlich, der es als seine Pflicht angesehen hat, auf diese Weise die Stelle eines Ehemanns für die junge Frau einzunehmen. So geschieht es in ganz Rußland...13)
9) Vgl. Leites, Bolshevism. Leites dokumentiert in bewundernswerter Weise russische Persönlichkeitszüge, kommt aber nicht auf deren Ursprünge in der Kindheit zu sprechen.
10) Zu den Formen der Kindeserziehung vgl. das Kapitel Die Evolution der Kindheit im vorliegenden Band.
11) Zur Beobachtung, daß die Kindstötung bei Mädchen in Rußland länger andauerte, vgl. die bei David L. Ransel, Mothers of Misery: Child Abandonment in Russia, Princeton 1988, ausgewiesenen Knaben-Mädchen-Verhältnisse mit denen des übrigen Westeuropa, die im Anhang: Zur Demographie des Tötens der Nachkommenschaft an das Kapitel Die Entstehung der amerikanischen Persönlichkeit durch psychische Artenbildung im vorliegenden Band angeführt werden.
12) Eve Levin, Sex and Society in the World of the Orthodox Slavs, 900-1700, Ithaca [Jahreszahl fehlt; A.d. Ü.\ 96 f., 126.
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Langwieriges und festes Wickeln (das Einschnüren der Säuglinge mit Bandagenschichten während ihres gesamten ersten Lebensjahres) wurde in Rußland ohne Unterbrechungen bis vor wenigen Jahrzehnten praktiziert. In Westeuropa fand diese Praxis im Laufe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ihr Ende.14) Russische Kinder dagegen wurden fest gebunden und verwandelten sich in exkrementgetränkte Würste, was sie davon abhalten sollte, "sich ihre Augen auszureißen". Die Babys wurden zudem am Schreien gehindert, indem ihre Münder ständig mit schmutzigen Schnullersäckchen "gestopft" wurden, die oft in ihre Kehlen hinuntergesogen wurden und die Kinder so erstickten.15)
Das Schlagen von kleinen Kindern mit Peitschen — "Austreiberinnen des Bösen und Kultivatorinnen der Tugend" genannt — war eine übliche Behandlung auch unter Gebildeten.16) Das traditionelle Familienhandbuch Domostroj riet, "du mußt ihm [dem (männlichen) Kleinkind; A.d.Ü.] mehr Wunden zufügen und wirst dich seiner hernach erfreuen ... Brich seine Rippen, solange er noch nicht erwachsen ist, oder er wird gefestigt und hört auf, dir zu gehorchen".
Sogar Töchter wurden oft erbarmungslos ausgepeitscht: "Bedingungsloser Gehorsam und knochenbrecherische Disziplin war das Motto unseres Vaters", so schrieb eine Revolutionärin.17) Die Peitsche wurde Kindern und Ehefrauen gegenüber dermaßen oft angewandt, daß sie dem Ehemann des öfteren als Teil der Hochzeitszeremonie überreicht wurde.18)
13) Robert Ker Porter, Travelling Sketches in Russia and Sweden, 1805-08, in: Peter Putnam (Hg.), Seven Britons in Imperial Russia, 1698-1812, Princeton 1952, 327. Vgl. weiters Peter Czap, Jr., Marriage and the Peasant Joint Family in the Era of Serfdom, in: Ransel, Family in Imperial Russia, 105.
14) Dunn, "That Enemy Is the Baby", 386 f.; Gorer und Rickman, People of Great Russia; deMause, Die Evolution der Kindheit.
15) Dunn, "That Enemy Is the Baby", 388; Gorer und Rickman, People of Great Russia, 50 und 97; Frieden, Child Care, 250.
16) Dunn, "That Enemy Is the Baby", 396 f.; Max J. Okenfuss, The Discovery of Childhood in Russia: The Evidence of the Slavic Primer, Newtonville, MA, 1980, 5.
17) Barbara Alpern Engel, Mothers and Daughters: Family Patterns and the Female Intelligentsia, in: Ransel, Family in Imperial Russia, 47.
18) Levin, Sex and Society, 237.
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Von Eltern, die ihren Kindern gegenüber Mitgefühl zeigten, wurde angenommen, daß sie damit eine Sünde begingen. Nahm eine besorgte Mutter ihren kranken Säugling von der Brust der Amme und wiegte ihn selbst in den Schlaf, so warnte ein Verwandter sie, daß "eine solche übertriebene Liebe ein Vergehen wider Gott sei und Er es gewiß ahnden würde".19)
Die ihre Kinder nicht auspeitschten, sondern sie lieber freundlich behandelten, wurden für seltsam und abartig gehalten. Ende des neunzehnten Jahrhunderts wird Grigori Belinskj, der seine Kinder nicht schlug, beschrieben als "der einzige Vater in der Stadt, der verstand, daß Erziehung von Kindern nicht notwendigerweise darin bestehen muß, sie wie Vieh zu behandeln".20)
Eltern waren für gewöhnlich kalt und unempfindlich, was die Bedürfnisse ihrer Kinder anlangte. Kinder des Adels wurden üblicherweise in ihren ersten Lebensjahren zum Stillen zu Bauernfamilien geschickt und Dienern übergeben, wenn sie nach Hause zurückkamen. "Am Morgen küßten die Kinder die Hände ihrer Eltern, dankten ihnen für Mittag- und Abendessen, und vor dem Zubettgehen verließen sie sie",21) erinnert sich eine Frau. Wurden sie auch nicht geschlagen, strikte Disziplin wurde ihnen doch eingebleut. "Wir fürchteten [Vater] mehr als Feuer", erinnert sich eine andere. "Ein kurzer Blick, kalt und durchdringend, reichte aus, uns zittern zu lassen."22) Kostomarov hat die traditionelle russische Kindeserziehung auf den Punkt gebracht: "Zwischen Eltern und Kindern herrschte ein Geist von Sklaverei..."23)
Jüngste Wandlungen in der sowjetischen Kindeserziehung
Obwohl nach der Revolution von 1917 einige Anstrengungen unternommen worden waren, die althergebrachten Methoden der Kindeserziehung zu verändern24) — vor allem durch die Errichtung von Horten, wo der körperliche Mißbrauch durch die Eltern verringert wurde —, ging der Fortschritt bis in die dreißiger Jahre nur schleppend voran; dann erst begann die Kindheit in Rußland, jener in der übrigen modernen Welt immer mehr zu ähneln.
19) Sergej T. Aksakow, Chronicles of a Russian Family, London 1924, 205.
20) D. P. Iwanow, zitiert bei Patrick P. Dünn, Fathers and Sons Revisited: The Childhood of Vissarion Belinskii, in History of Childhood Quarterly: The Journal of Psychohistory 1 (1974), 389.
21) Engel, Mothers and Daughters, 48.
22) A. a. O., 46.
23) Dünn, "ThatEnemy Is the Baby", 390.
24) H. Kent Geiger, The Family in Soviet Russia. Cambridge 1968; Ransel, Mothers of Misery.
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Abbildung: Eine slowenische Großmutter führt die traditionelle Technik des festen Wickelns vor
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Das feste Wickeln war für die Kinder der Gebildeten vorbei,25) das Auspeitschen wurde inakzepabel, und elterliche Wärme begann den "Geist der Sklaverei" zu vertreiben, der den Großteil der Kindheit bis dahin durchweht hatte. Auf Erziehung für alle wurde mehr Wert gelegt, auch für Mädchen — ein sicheres Zeichen für eine Verbesserung der Kindheit. Tatsächlich bilden Frauen unter den sowjetischen Arbeitern mit höherer Bildung heute die Mehrheit.26) In den vergangenen drei Jahrzehnten sind, wie im Westen im neunzehnten Jahrhundert, "Familienrunden" populär geworden, in denen diskutiert wird, wie man Kinder am besten erzieht und gleichzeitig ihre Freiheit und Individualität schützt.27) In jüngster Zeit haben sich sogar feministische Gruppen gebildet, die für die Rechte von Kindern kämpfen.28)
Die Wandlungen in der Kindeserziehung spiegeln sich in den ebenfalls im Wandel begriffenen Persönlichkeitszügen russischer Anführer wider. Lenins Mutter — die selbst den althergebrachten "Abhärtungsmethoden" (wie etwa der, regelmäßig in nasse und kalte Tücher eingewickelt zu Bett gebracht zu werden) ausgesetzt gewesen war — erzog ihren Sohn "auf spartanische Weise", samt dem üblichen Wickeln und Säugen. Berichten zufolge konnte er nicht laufen, bis er fast drei Jahre alt war, und wurde für ein "wildes, ungebärdiges Kind" gehalten, das "oft in Zorn ausbrach".29) Als Erwachsener zeigte er sich gefühlskalt, gegenüber Gegnern gewalttätig bis hin zum Mord, war möglicherweise impotent und insgesamt wenig besorgt um demokratische Freiheiten.30)
Stalin wiederum hatte einen Alkoholiker zum Vater, der seiner Frau und den Kindern häufig "angsteinflößende Schläge" verabreichte, sie mit Stiefeln trat und umzubringen versuchte. Seine [Stalins, A.d.Ü.] Mutter schlug ihn ebenfalls.31)
25) Urie Bronfenbrenner, The Worlds of Childhood: U.S. and U.S.S.R., New York 1970; Ruth Benedict, Child Rearing in Certain European Countries, in American Journal of Orthopsychiatry 19 (1949), 345.
26) N. Wischnjewa-Sarafanowa, Soviet Women - A Portrait, Moskau 1981, 116.
27) Sheila Cole, Soviet Family Clubs and the Russian Human Potential Movement, in Journal of Humanistic Psychology 26 (1986), 48-83.
28) "The Secret Police vs. Women's Lib", in Time vom 4. August 1980, 41.
29) Isaac Deutscher, Lenin's Childhood, London 1970, 10; Stefan T. Possony, Lenin: The Compulsive Revolutionary, Chicago 1964, 7; Robert Payne, The Life and Death of Lenin, New York 1964, 50.
30) Bruce Mazlish, The Revolutionary Ascetic: Evolution of a Political Type, New York 1968, 113-141.
31) Daniel Rancour-Laferriere, The Mind of Stalin: A Psychoanalytic Study, Ann Arbor 1988, 36 und 59; Robert C. Tucker, Stalin As Revolutionary: 1879-1929 - A Study in History and Personality, New York 1973, 72-74.
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Auch Stalin schlug seine eigenen Kinder. Es ist nur konsequent, daß er als Führer für den Tod von Millionen seiner Landsleute verantwortlich zeichnete. Gorbatschow dagegen, geboren 1931, hatte Eltern, die ihn mit Respekt behandelten, und eine Kindheit, die ein Gleichaltriger als "sehr freudvoll"32) in Erinnerung hat. Obwohl er kaum als ein Vorreiter der Demokratie bezeichnet werden kann, weist Gorbatschow dennoch Persönlichkeitszüge auf, die sich deutlich von jenen seiner Vorgänger unterscheiden. Bereits als Kind ruhig und ausgeglichen, zärtlicher Beziehungen zu Frauen, auch zu seiner Ehefrau, fähig, kann er als Repräsentant all jener in der Sowjetunion gelten, die nicht länger der politischen Einwicklung und Gewalt bedürfen und imstande sind, eine demokratische Reform zuzulassen.
Anführer sind schließlich bloß Delegierte der Wünsche des Volks, und letztere brauchen einige Jahrzehnte, um sich gleichfalls zu ändern, nachdem die Kindeserziehung sich geändert hat. Als Gorbatschow an die Macht kam, war es fünf Jahrzehnte her, daß der Alptraum der traditionellen russischen Kindheit zu verschwinden begonnen hatte, so daß in der Sowjetunion heute viele der Meinung sind, keiner totalitären Führer, gewaltsamen Kollektivierungen oder Gulags mehr zu bedürfen.
Nur wenige Beobachter waren in der Lage, das Timing der gegenwärtigen demokratischen Umwälzungen in der Sowjetunion und in Osteuropa zu erklären. Tatsächlich wurde das Ende des Kommunismus weder durch ökonomischen Niedergang (in Wirklichkeit hat es im vergangenen Jahrzehnt wirtschaftliche Fortschritte gegeben) noch durch die Billionen US-Dollar teure Aufrüstung der amerikanischen Armee ausgelöst (wie Ronald Reagan behauptet hat). Ebensowenig ist der Kommunismus "bloß alt geworden und gestorben"33), wie ein Schriftsteller es ausdrückte.
Anders als gewaltsame Revolutionen sind friedliche Revolutionen Resultate einer vorangegangenen Steigerung der Liebe gegenüber Kindern. Sie sind viel eher Revolutionen der Liebe als Revolutionen des Hasses. Sie sind eher Revolutionen von Psychoklassen als Revolutionen ökonomischer Klassen, sie sind Revolutionen neuer Arten von historischen Persönlichkeiten, Revolutionen, die — um Camus zu paraphrasieren — in die Welt kommen so sanft wie Möwen .... inmitten des Getöses, von Imperien und Nationen ein leises Flügelschlagen, der sanfte Aufruhr von Leben und Hoffnung.
32) David Remnick, The Cultivation of Young Gorbachev, in The Washington Post vom 1. Dezember 1989, Bl und B8; Gaily Sheehy, The Man Who Changed the World, in Vanity Fair vom Februar 1990, 118; Dev Murarka, Gorbachev. The Limits of Power, London 1988; Zhores Medvedev, Gorbachev, London 1986.
33) Lars-Erik Nelson in der New Yorker Daily News vom 12. November 1989, 1.
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Wird die Demokratie Bestand haben?
Wird die sowjetische Demokratie überleben, oder wird sie zusammenbrechen wie das demokratische Experiment der Duma 1906? Und werden die demokratischen Bewegungen in den osteuropäischen Ländern anhalten, oder werden auch sie dem Bedürfnis nach autoritärer Regelung zum Opfer fallen, das in der Vergangenheit so oft den Niedergang der Demokratie bedeutet hat?
Unglücklicherweise ist der Fortschritt in der Kindeserziehung in der Sowjetunion und in Osteuropa nicht flächendeckend verlaufen. Festes Wickeln, regelmäßiges Auspeitschen und elterlicher Mißbrauch sind auch heute noch gang und gäbe in vielen Sowjetrepubliken und Teilen Osteuropas.34) Sogar in Deutschland — wo noch 1964 die Hälfte aller Kinder regelmäßig von ihren Eltern mit Stöcken geschlagen wurden35) — gibt es viele Gebiete, in denen der Kindsmißbrauch alarmierend bleibt, was auch eine hohe Zahl von Fällen sexueller Belästigung von Kindern einschließt, wie eine neuere Studie zeigt, in deren Rahmen die Mehrheit der interviewten Berliner Schulkinder von solchen Vorfällen berichtet.36)
34) George A. Krimsky, The Russian Babushka: Absolute Arbiter of All Things Baby, in Worcester Sunday Telegram vom 18. Juli 1976, Dl; Alenka Puhar, Prvotno besedilo zivljenja, Zagreb 1982, und dies., Childhood in Nineteenth-Century Slovenia, in: The Journal of Psychobistory 12 (1985), 291-312; Michael Lewis und Peggy Bann, Variance and Invariance in the Mother-Infant Interaction: A Cross-Cultural Study, in: P. Herbert Leiderman, Steven R. Tolkin und Anne Rosenfeld (Hgg.), Culture and Infancy: Variations in the Human Experience, New York 1977, 329-356; Alice Hermann, Early Child Care in Hungary, London 1972; Au-rel Ende, Battering and Neglect: Children in Germany, 1860-1978, in: The Journal of Psychobistory 7 (1980), 249-279.
35) Walter Havernick, "Schläge" als Strafe: Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht, Hamburg 1964, 49; Gerd Biermann, Kinderzüchtigung und Kindesmißhandlung: Eine Dokumentation, München 1969; Ende, Battering and Neglect.
36) Persönliche Mitteilung von Detlef Berentzen, Leiter des Instituts für Kindheit [1990; A.d.Ü.].
Vgl. auch jüngere Ausgaben von enfant f. Zeitschrift für Kindheit; Dirk Bange, Jungen werden nicht mißbraucht - oder?, in: Psychologie heute vom Januar 1990; sowie Lloyd deMause, The Universality of Incest, in: The Journal of Psychohistory 19 (1991), 123-164.
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Dieses schwankende Bild des Kindsmißbrauchs zeigt, daß der Erfolg der Demokratie in der Sowjetunion und in Osteuropa weit davon entfernt ist, ein für allemal garantiert zu sein. Ein Weg festzustellen, welche Länder in dieser Hinsicht auf Dauer erfolgreich sein könnten, ist der, die jeweiligen Sterblichkeitsraten von Säuglingen zu untersuchen — als Maß für die unterschiedlichen Wertsetzungen, die jedes Land seinen Kindern entgegenbringt.37)
Von den neun Ländern, die jüngst politische Umwälzungen erfahren haben, sind die fünf mit der niedrigsten Säuglingssterblichkeit diejenigen, die die besten Chancen auf Durchsetzung einer friedlichen demokratischen Reform haben: die DDR (9,6 ‰), die Tschechoslowakei (15,3 ‰), Bulgarien (15,4 ‰), Ungarn (17,0 ‰) und Polen (18,5 ‰). Die beiden Länder mit mittlerer Sterblichkeitsrate bewegen sich auf eine demokratische Reform hin, was jedoch von mehr Gewalt begleitet ist: Rumänien (23,4 ‰) und die UdSSR (26,0 ‰). Und die beiden Länder mit der höchsten Sterblichkeitsrate waren bislang nicht in der Lage, erfolgreiche demokratische Bewegungen hervorzubringen: Jugoslawien (28,8 ‰) und Albanien (44,8 ‰). Der Stand der Kindeserziehung, gemessen an der Säuglingssterblichkeit, auf der einen Seite korreliert somit vollständig mit den jüngsten politischen Reformen auf der anderen.
Ein friedliches Europa?
Zuletzt: Kann ein demokratisches Europa ein friedliches Europa sein? Vor allem: Wird ein wiedervereinigtes Deutschland eine Bedrohung für den Frieden in Europa darstellen?
Wenn der Krieg — wie auch andere Formen politischer Gewalt — zugleich auch ein Spiegel der Kindeserziehung ist, dann sollten die weitgehenden Wandlungen der Kindheit für die Mehrheit der Menschen in Deutschland und Osteuropa seit dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit eines weiteren europäischen Kriegs unwahrscheinlich machen. Die deutsche Kindheit verändert sich heute so schnell, daß Deutschland in nächster Zeit viel eher als Bewahrer des Friedens in Europa betrachtet werden kann denn als Hauptinitiator europäischer Kriege.
Nationen, die vom körperlichen Mißbrauch ihrer Kinder zu Formen des psychologischen Mißbrauchs übergegangen sind, zetteln keinen Krieg in ihren eigenen Territorien an — sie finden die entlegenen Falkland-Inseln und Vietnam, um dort Menschen zu opfern. Ist dem so, dann könnte das Jahr 1990, "das Jahr der Demokratie", die Grundlage bilden für 2000, "das Jahrhundert des europäischen Friedens" — das heißt, Frieden auf dem europäischen Kontinent, während man sich, wie die USA, an militärischen Aktivitäten andernorts beteiligt.
37) Vgl. Robert B. McFarland, Infant Mortality Rates as a Guide to How Nations Treat Children, in: The Journal of Psychohistory 17 (1989), 417-424.
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Ich gebe zu, daß ein paneuropäischer Friede eine utopische Erwartung zu sein scheint, so kurz nach einem Jahrhundert, in dem 100 Millionen Menschen in europäischen Kriegen gestorben sind.
Je mehr ich aber als Psychohistoriker den Krieg studiere,38) desto mehr bin ich davon überzeugt, daß alle Kriege perverse sexuelle Rituale sind, deren Zweck es ist, unerträgliche Gefühle des Ungeliebt-Seins abzuschütteln oder sie zu erleichtern — Gefühle, die Resultate der vorangegangenen Methoden der Kindeserziehung sind.
Krieg — wie auch Lynchen und politische Folter — löst innere Spannungen bei denjenigen, die als Kinder emotional ausgehungert und dazu abgerichtet worden sind, sich für ihre Regungen schuldig zu fühlen. Die wirtschaftlichen Ziele eines Krieges sind meines Erachtens bloße Rationalisierungen.
Wenn der Alptraum des Krieges seinen Ursprung im Alptraum der Kindheit hat, dann ist es möglich, daß ein neuer Geist von Liebe und Freiheit in der Familie Europa von einem fortwährenden Schlachthaus in einen zwar streitbaren, aber friedlichen Kontinent — wie Nordamerika — verändert.
Sollte diese Vision sich bewahrheiten, dann wird die "sanfte Revolution" ihr Versprechen eingelöst haben.
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38) Vgl. neben den Aufsätzen im vorliegenden Band auch Lloyd deMause, Reagans Amerika. Eine psychohistorische Studie, Frankfurt am Main 1984, sowie ders., A Proposal for a Nuclear Tensions Monitoring Center, in: Kenneth Porter, De-borah Rinzler und Paul Olsen (Hgg.), Heal or Die: Psychotherapists Confront Nuclear Annihilation, New York 1987.