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6. Krieg als gerechte Vergewaltigung und Läuterung  

"Krieg! Es war die Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, 
und eine ungeheure Hoffnung."  Thomas Mann

 

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Glückliche Menschen fangen keine Kriege an. Sie benötigen keine Läuterung oder Befreiung, und ihr Alltagsleben ist bereits voll von Hoffnung und Sinn, also brauchen sie keine Kriege, um sich vor irgendetwas zu schützen. Welcher Gestalt ist diese emotionale Störung, von der Krieg die Menschen reinigt und befreit? Und wie können das Töten, Vergewaltigen und Foltern von Menschen Akte sein, die reinigen und dem Leben wieder Hoffnung geben? Krieg ist offensichtlich ein ernster psychopathologischer Zustand, ein wiederkehrendes menschliches Verhaltensmuster, dessen Motive und Gründe noch auf allen — nur nicht den oberflächlichsten — Analyseebenen zu untersuchen sind.

Standardtheorien über Kriegsursachen  

Standardtheorien über Krieg bestreiten, dass ihm eine wie auch immer geartete emotionale Störung zugrunde liegt.1) Im Gegensatz zu individueller Gewalt sieht man Krieg normalerweise ausschließlich als Antwort auf Ereignisse außerhalb des Individuums. Von Nationen, die Kriege anfachen, nimmt man nicht an, dass sie emotional gestört wären — man sieht sie entweder als rational an oder als böse, im Sinn einer religiösen Kategorie. Obwohl Morde und Suizide zur Zeit als klinische Störungen2) untersucht werden, ist dies bei Kriegen leider nicht der Fall.

Die meisten Kriegshistoriker haben jeden Versuch aufgegeben, Gründe für einen Krieg zu verstehen, und behaupten, »es ist ganz einfach nicht die Aufgabe von Historikern, Erklärungen abzugeben«.3) Vor allem Genozide scheinen außerhalb der Beforschung von Motiven zu stehen, und wenn man die Täter des Holocaust verstehen will, wird einem gesagt, »das Recht sie zu beschuldigen müsse aufgegeben werden«. Bestenfalls vermeiden Historiker die Psycho­dynamik von Tätern zur Gänze, indem sie sagen: »Überlassen wir Motivforschung den Psychologen.«4) 

Sozialwissenschaftler schreiben die Ursachen von Krieg drei allgemeinen Kategorien zu:

1. Instinkte und andere Tautologien:  

Der am häufigsten zitierte Grund für Krieg ist, dass er das Resultat des menschlichen Zerstörungsinstinktes sei. Von Clausewitz' »instinktiver Feindseligkeit«5) über Freuds »Instinkt von Hass und Aggression«6) bis hin zu den Erklärungen von Biologen, Krieg wäre eine »sexuelle Selektion von Machomännern«, welche die »kulturelle Evolution beschleunigt«,7) bemerkt jedoch keiner von ihnen, dass schon die simple Annahme eines Instinktes für Krieg ohne jegliche genetische Evidenz völlig tautologisch ist und nicht mehr aussagt, als dass »das Bedürfnis von Gruppen nach Krieg in den Bedürfnissen des Einzelnen nach Krieg begründet« liegt. 

Nachdem Stämme und Staaten mehr Zeit im Frieden als im Krieg verbringen, müsste man auch einen »Instinkt für Frieden« postulieren, welcher durch die Kooperation von Gruppen ein Überleben umso mehr begünstigen würde. Man kann tautologische Instinkte beliebig vermehren, aber nur der Beweis zählt. Alle Überprüfungen der Vererbbarkeit von Gewalt schlugen leider fehl.8 Die beste Studie über Instinkttheorien fasst zusammen: »Menschliches Kriegführen und freilich das Töten sind zu selten, als dass sie als das Produkt eines Triebs, der befriedigt werden müsse, gesehen werden können. Es gibt keinen Trieb oder Instinkt, der sich aufbaut, Aggressionen verursacht, sich über Freiwerdung sättigt und sich dann erneut aufbaut.«9

Im Bereich der Kriegsstudien nehmen tautologische Erklärungen stark zu. Speziell Historiker neigen dazu zu behaupten, der Grund dafür, dass viele Menschen etwas tun, läge darin, dass sie einander einfach folgen, was eine perfekte Tautologie darstellt. Krieg, so wird zum Beispiel oft gesagt, wird durch Ideologie oder »die Kultur des Militarismus« des einen oder anderen Staates verursacht10 oder durch »eine ausgeprägte Tendenz des Militärs, offensive militärische Pläne vorzubereiten«.11

Aber zu verlauten, Krieg entstehe aus einem Wettrüsten, ist ungefähr so nützlich, als wenn man sagen würde, ein Mord würde von jemandem begangen, der eine Waffe kauft. Was man herausfinden sollte, wenn man nach der Motivation für Gewalt fragt, ist nicht, wie der Täter die Waffe bekam, sondern die interne Entwicklung seiner Psyche in Verbindung mit den Ereignissen, die zum Gewaltakt führten. Man darf Gruppen nicht reifizieren; nur Individuen haben Motive.

2. Gier als Motiv für Krieg: 

Sozialwissenschaftler behaupten vielfach, Krieg sei pure Plünderung: »Krieg ist definiert als Massendiebstahl dessen, was anderen gehört.«12 Bei einem Mann, der seine Familie umbringt, nachdem er eine Lebensversicherung für sie abgeschlossen hat, würden wir dennoch nicht Gier als das wirkliche Motiv akzeptieren, auch dann nicht, wenn ein Mann Frauen vergewaltigt und tötet und dann ein paar ihrer Juwelen mitnimmt. 


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James Gilligan, ein Gefängnispsychiater, der sein Leben damit verbrachte, das Leben von Kriminellen zu analysieren, drückt es folgendermaßen aus: »Manche Leute glauben, bewaffnete Räuber begehen ihre kriminellen Handlungen, um zu Geld zu kommen. Aber wenn du dich hinsetzt und mit den Leuten redest, die wiederholt solche Verbrechen begehen, ist die Antwort, die du hörst: <Noch nie in meinem Leben wurde mir so viel Respekt erwiesen, als zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal die Waffe auf jemanden richtete.>«13)

Allein die Vorstellung, dass sich hunderte Millionen von Menschen enthusiastisch an gegenseitiger Massen­abschlachtung wegen kleinerer Stücke Land zu utilitaristischen Zwecken beteiligen könnten, ist so offenkundig absurd, dass es an ein Wunder grenzt, wenn irgendjemand dies jemals ernst nehmen sollte. Aber immer noch wollen Historiker und Politikwissenschaftler uns das glauben machen. 

Die gesamte Lehrmeinung der rationalen Entscheidungen der Kriegstheoretiker, alle, die behaupten, Nutzen sei das ultimative Motiv für Krieg, scheitern an den extensiven empirischen Forschungsarbeiten der letzten Jahre über Hunderte von Kriegen, die übereinstimmend zeigen, dass Kriege destruktiv und nicht etwa nützlich sind; dass Kriege die Gewinner mehr kosten, als sie bekommen; dass diejenigen, die einen Krieg beginnen, diesen normalerweise verlieren; und dass Führer, die Kriege ausrufen, sich nie darüber Gedanken machen, ob die Gewinne die Kosten übersteigen.14 

Otterbein demonstriert, dass es kulturübergreifend »keine ökonomischen oder ökologischen Einflussfaktoren gibt«; sogar die Kriegsführung von Stämmen zerstört mehr, als sie erreicht, und auch Stämme geben nur selten an, in den Krieg zu ziehen, weil sie Territorien dazugewinnen wollen.15 Rummel pflichtet dem bei, nachdem er herausgefunden hat, dass sein riesiges historisches Datenmaterial keine Hinweise darauf gibt, dass Kriege mit ökonomischen Faktoren, ihren technologischen Fähigkeiten oder gar ihren militärischen Möglichkeiten in Verbindung stehen würden.16)

 

Die Kosten von Kriegen stehen, wiederholt demonstriert, weit über den Gewinnen, die man zu erwarten hat.17 In Vietnam kostete Amerika die Tötung jedes feindlichen Soldaten mehrere hunderttausend Dollar; auch die heutige Welt gibt für Kriegszwecke und zur Erhaltung der militärischen Kräfte jedes Jahr Milliarden von Dollar aus, weit mehr, als durch einen Krieg eingenommen werden könnte. Kriege sind so selbstdestruktiv, dass Führer, wenn sie in den Krieg ziehen, üblicherweise explizite suizidale Bilder verwenden. 

Führer versprechen ihren Nationen, man brauche Krieg zur Schaffung von Reichtümern, aber auch zur Zerstörung von Reichtümern, welche ein Volk ruinieren, weil es dadurch schwach wird. Meine jahrzehntelange Untersuchung von Führeransprachen, die Nationen mitteilten, sie würden in den Krieg ziehen, weist nicht eine auf, wo durch diese Aktion materielle Vorteile versprochen worden wären. Führer versprechen »Opfer«, und nicht Gewinn. 

Als John Adams Thomas Jefferson vor der Amerikanischen Revolution fragte: »Kannst du mir sagen, wie man verhindert, dass Luxus eine Vergiftung durch Verweichlichung, Extravaganz, Laster und Torheit bewirkt?«18, war die Antwort, nur »harter, maskuliner Krieg« würde eine Verjüngung bewirken. 


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3. Stresstheorien von Krieg: 

Auch die Theorien von Krieg, die irrationale Gründe zulassen, enden vielfach in der Erklärung der Irrationalität mit einer Schuldzuweisung an eine wirtschaftliche Notlage. »Schwere Zeiten geben den Menschen das Gefühl, unter Druck zu geraten und frustriert zu sein«, behaupten sie, deshalb würden Menschen wegen des emotionalen Stresses aufgrund ökonomischen Rückgangs in den Krieg ziehen. Summer Hüll beschreibt dies so: »Durch die Eliminierung ökonomischer Unzufriedenheit, die Krieg hervorruft, hätten wir vielleicht eine Chance auf dauerhaften Frieden.«19 Vor allem marxistische Theoretiker glauben, Kriege würden wegen kapitalistischer ökonomischer Rückgänge ausbrechen. So glauben etwa die meisten Menschen, der Zweite Weltkrieg wurde durch den Druck der ökonomischen Depression verursacht.

Das Problem dieser Stresstheorien besteht darin, dass Kriege erfahrungsgemäß während ökonomischer Aufschwünge auftraten und nicht während Depressionen. Goldstein fand heraus, dass große Kriege gegen Ende der ökonomischen Aufschwungphase des Kondratieff-Zyklus vorkommen.20 Nicht nur ereigneten sich Kriege bei weitem häufiger nach Zeiten des Wohlstandes, sondern sie dauerten dann auch länger und waren heftiger, »sechs bis zwanzig Mal heftiger, was uns die Zahlen der im Kampf Getöteten zeigen«.21

Macfie fand heraus, dass »durch den Ausbruch von Krieg Jahre schwerster Arbeitslosigkeit vermieden wurden. ... Exzessive Expansionen sind nötig, um die Samen des Krieges zum Keimen zu bringen.«22 Seit 1815 wurden in Europa keine Kriege von Großmächten in Zeiten der Depression geführt.23 Der Erste Weltkrieg brach nach 40 Jahren Wachstums der Realeinkommen der Arbeiter aus, und selbst der Zweite Weltkrieg brach einige Jahre, nachdem Deutschland das Produktionsniveau vor der Depression nicht nur wieder erreicht, sondern überholt hatte, aus - die vermeintliche Ursache, ökonomische Not, war schon 1939 überwunden. Vielmehr sind Kriege Wohlstandsreduzierungs-rituale. Sie sind Antworten auf die bereits benannte Wachstumspanik -Antworten auf Fortschritt und Wohlstand, nicht auf Rückgang. Was tat sächlich schwindet, wenn Nationen entscheiden, in den Krieg zu ziehen, sind nicht ökonomische, sondern emotionale Ressourcen.

Aufgrund der Untersuchung von lediglich soziogenen und nicht psychogenen Quellen von Krieg erlitten bedeutende Theoretiker bis heute eine Enttäuschung durch den totalen Mangel an Ergebnissen ihrer Forschungstätigkeit. Singer kommt zum Schluss, dass es Studien über den Krieg nicht gelungen sei, »irgendeinen signifikanten theoretischen Durchbruch zu erzielen«.24 Bueno de Mesquita muss zugeben: »Wir wissen heute kaum mehr über die generellen Ursachen von internationalen Konflikten, als zu Zeiten von Thucydides bekannt war ... [Vielleicht] sind wissenschaftliche Erklärungen für derartige Konflikte nicht möglich.«25 


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Aber das Scheitern, irgendwelche stichhaltigen Motive für Kriege zu finden, trifft nur auf soziogene Theorien zu, solche, die psychologische Studien über menschliche Gewalt tunlichst vermeiden, welche doch bewiesen haben, so erfolgreich bei der Suche nach Gründen für Mord und Suizid zu sein. Wir wollen uns erst den Resultaten jüngster klinischer Studien über individuelle Gewalt zuwenden, bevor wir eine psychogene Theorie des Krieges aufstellen.

 

Klinische Studien über menschliche Gewalt

Da Gesellschaften mit den strengsten Erziehungspraktiken gezeigt haben, dass sie Erwachsene, die wenig Achtung vor anderen Menschen zeigen, mit den häufigsten Vorkommen von Mord, Selbstmord und Krieg, hervorbringen,26 kann die Erforschung der menschlichen Gewalt am fruchtbarsten mit der Betrachtung der Erkenntnisse von Klinikern beginnen, die Mörder eindringlich befragt und ihre Motive ermittelt haben.

Sowohl von statistischer als auch von klinischer Seite her fanden Forscher heraus, dass gewalttätige Erwachsene nur eines gemeinsam haben: ein bedauernswertes Aufwachsen.27 Studien über jugendliche Mörder ergaben zum Beispiel, dass 90 Prozent nachweislich aus Familien mit gravierender emotionaler, physischer oder sexueller Missbrauchsvergangenheit stammen.28 James Gilligan fasst seine jahrzehntelangen Befragungen von Mördern zusammen:

Im Laufe meiner Arbeit mit höchst gewaltbereiten Männern unter Hochsicherheitsbedingungen ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich keine Berichte darüber hörte — vielfach bestätigt durch unabhängige Quellen —, wie sehr diese Männer in ihrer Kindheit zu Sündenböcken gemacht wurden. Physische Gewalt, Vernachlässigung, Verstoßung, Ablehnung, sexuelle Ausbeutung und Vergewaltigung ereigneten sich, auf einer Skala gesehen, so extrem, bizarr und so häufig, dass es nicht schwer fällt zu erkennen, dass diejenigen Männer, die das eine extreme Ende des Kontinuums von gewalttätigem Verhalten besetzen, auch am extremen Ende von gewalttätigem Kindesmissbrauch in ihrem früheren Leben zu finden sind. ... Als Kinder wurden diese Männer angeschossen, mit Beüen verletzt, verbrüht, geschlagen, gewürgt, gefoltert, unter Drogen gesetzt, ausgehungert, erstickt, in Flammen gesetzt, aus dem Fenster geworfen, vergewaltigt oder von ihren Müttern, die ihre »Zuhälter« waren, prostituiert.29

Die Ursache für die Gewalttätigkeit von Erwachsenen, so sagt Gilligan, liege im »Zusammenbruch von Selbstachtung«, ausgelöst durch einen Vorfall, bei dem der Mörder sich vorstellt, erniedrigt und beschämt zu werden; er flüchtet sich in etwas, was er »eine Logik von Schande« nennt, »eine Form von magischem Denken, das sagt: <Wenn ich diese Person in dieser Weise töte, töte ich Schande — ich werde in der Lage sein, mich selbst davor zu schützen, dem Gefühl von Schande ausgesetzt, anfällig zu sein und potentiell davon überwältigt zu werden.>«30 


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Gilligan unterstreicht, dass Schande an der Wurzel von Massengewalt liegt, und auch, dass »Hitler mit seinem Wahlversprechen, die <Schande von Versailles> zu tilgen, an die Macht kam und genau dieses Versprechen, und die Empfindlichkeit gegenüber Schande, von der dessen Macht kam, fanden beim gesamten deutschen Volk Erwiderung«.31 

Obwohl Kriminologen von Morden berichten, »die meisten heftigen Auseinandersetzungen sind relativ trivialen Ursprungs: Beleidigung, Fluch, Rempeleien etc.«,32 so verwandeln diese Ereignisse Kindheits­traumata in gegenwärtige Wut, was Katz ein »gerechtfertigtes wütendes Schlachten«33 nennt, das für die Mörder einen »gewaltigen Affekt, [der] fast orgastisch« für die Mörder ist, darstellte,34 während sie sich für vergangene Schmerzen und Demütigungen rächen. »Jede Gewalt«, sagt Gilligan, »ist ein Versuch, Gerechtigkeit zu erlangen.«36 Wie wir bald sehen werden, gilt das auch für Massengewalt, die auch mit Vorstellungen zu tun hat, dass man Gerechtigkeit durch Gewalt erreichen könne, gerechte Rache für frühere Fehler — indem Feinde »da draußen« attackiert werden, um die fortgesetzten Demütigungen durch elterliche Alter Egos in uns zu sühnen.

Menschen beginnen Kriege, wenn sich etwas in ihren Gehirnen verändert — Neurotransmitter, Hormone und zelluläre Neuropeptidsysteme.36 Dieses »Etwas« ist das Ende eines Entwicklungsprozesses, der vor der Geburt beginnt und sich während der Kindheit in die Fähigkeit zu Gewalt wandelt. Von Geburt an sind Kinder eigentlich ziemlich empathisch anderen gegenüber; Neugeborene weinen als Reaktion auf das Weinen eines anderen Babies: »Selbst sechs Monate alte Kinder ... reagierten auf unglückliche Gleichaltrige mit Handlungen wie Vorlehnen, Gestikulieren, Berührungen oder auf andere Weise Kontakt aufnehmend.«37 Babys können ziemlich großzügig mit ihrer Liebe sein, sie berühren andere Babys zärtlich und tätscheln sie, auch ihre Mütter, wenn sie bemerken, dass diese traurig blickt.

Aber die meisten Kinder fühlen sich im Lauf der Geschichte — Buben werden physisch und emotionell mehr missbraucht als Mädchen — aufgrund ihrer Erziehung so hilflos und ängstlich, dass sie in etwas, das »Kultur der Grausamkeit«38 genannt wurde, hineinwachsen, wobei sie aus gewalttätigen Familien stammen und andere dominieren und verletzen, um Täter anstatt Opfer zu sein, und sich dadurch auf die Kooperation zur Gewaltausübung in Kriegen vorbereiten. 

Studien berichten, »eine unverhältnismäßig signifikante Anzahl von sehr gewalttätigen Kindern zeigten ... paranoide Symptome [und] glaubten, jemand würde ihnen wehtun wollen ... sie haben andauernd das Gefühl, sie müssten Waffen wie Gewehre und metallische Röhren zu ihrer eigenen Verteidigung tragen.«39 Die verstärkt gewaltbereiten Kinder »wurden körperlich missbraucht von Müttern, Vätern, Stiefeltern, oder anderen Verwandten und <Freunden> der Familie. Der Grad des Missbrauchs, dem sie ausgesetzt waren, war außerordentlich. Ein Elternteil brach das Bein seines Sohnes mit einem Besen; der andere brach dessen Finger und den Arm der Schwester; und wieder ein anderer stieß seinen Sohn die Stiege hinunter.«40 Es hat sich gezeigt, dass starke Vernachlässigung und emotionaler Missbrauch in der Hervorbringung von bleibenden traumatischen Effekten bei Kindern körperlichem Missbrauch gegenüber äquivalent und oft noch schlimmer sind.41


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Die Auswirkungen von Missbrauch auf Kinder ist ausführlich untersucht worden. Wie schon früher festgehalten wurde, reduziert Trauma den Serotoninspiegel, und reduzierte Werte findet man auch bei asozialen erwachsenen Persönlichkeiten, weil eine niedrigere Hemmschwelle weniger Kontrolle über Impulsivität erlaubt und daher höhere Raten von Gewalt verursacht.42 Äußerer Stress erhöht auch die Produktion von Corticosteron und vermindert die Effektivität des hippocampalen Systems, das die emotionale Bedeutung von einlangenden Stimuli bewertet.43 

Besonders sehr frühe Vernachlässigung durch die Mutter ruft einen unterdimensionierten orbitofrontalen Kortex hervor, was zu verringertem Selbstwert und einer derart geringen Fähigkeit zu Empathie führt, dass das Kind ohne Schuldgefühle, wenn es anderen wehtut, aufwächst.44 So sind auch bei in Tüchern gewickelte, in dunklen Räumen in Krippen abgelegte Babys — wie es mit den meisten Babys in vergangenen Zeiten gemacht wurde —, die den Blickkontakt und die liebevolle Interaktion mit der Mutter in ihren frühen Jahren vermissen, spätere Impulsstörungen, psychopathische Persönlichkeiten und ein Bedürfnis nach Krieg und Tötung vorprogrammiert, weil sie einfach nie durch anhaltenden Blickkontakt und gemeinsames Spielen mit der Mutter einen, wie wir es heute nennen würden, normal dimensionierten orbifrontalen Kortex entwickeln konnten. 

Allen Schore legt es folgendermaßen dar:

In seiner Funktion vermittelt der orbitofrontale Kortex die Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer hinein zu versetzen und interne emotionale Stimmungen zu reflektieren, die eigenen und die der anderen. ... Die auf das Gesicht der Mutter zurückzuführende sozioaffektive Stimulation entlastet das erfahrungsabhängige Aufwachsen. ... Kinder mit früher Benachteiligung visuell sensorischer Stimulation ... zeigen häufig Beeinträchtigungen in gegenständlichen und affektiven Funktionen, die für schwere emotionale Probleme verantwortlich sind.45)

Verletzungen des orbitofrontalen Kortex erzeugen, sowohl bei Menschen als auch bei anderen Tieren unregulierte Aggression und dramatische Stimmungsschwankungen, denn »unmodulierte Wut stellt eine Hyperaktivität des ... dopaminergen Systems dar [und] impulsives Ausagieren [von] Episoden narzisstischer Wut«.46 In den ersten Monaten vernachlässigte und missbrauchte Kinder »manifestieren einen pathologischen Selbstwert, oder Narzissmus, an den Tag gelegt als ... Grandiosität und Rücksichtslosigkeit ... Unsicherheit und emotionale Seichte [sowie] die Unfähigkeit, ganz normale menschliche Mitgefühle und Affekte für andere zu entwickeln, und die wiederholte Ausübung asozialer Handlungen.«47)

 

Frühe Mutter-Kind-Interaktionen als Ursache für menschliche Gewalt

Die primäre Quelle für gewalttätiges politisches Verhalten liegt in den konkreten Mutter-Kind-Interaktionen einer Generation davor: im Wesentlichen, wie die Mutter auf ihren Fötus, ihr Kleinkind und ihr junges Kind reagiert, umsorgt und ihre Gefühle und Ängste vermittelt. 


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Bereits in Kapitel 4 wurde beschrieben, wie Kriegen Rückblenden intrauteriner, perinataler Traumata und Gruppenfantasien der Notwendigkeit für nationale Wiedergeburt vorausgehen. In diesem Abschnitt untersuchen wir die Ursachen von menschlicher Gewalt in frühen Mutter-Kind-Interaktionen.

Videoaufzeichnungen von Beziehungen der Kinder mit ihren Müttern in der präverbalen Phase »haben gezeigt, dass diese im Verlauf der Zeit im Grunde gleich bleiben und bei anderen »Ersatzmutterfiguren« dupliziert werden. Ein Kind mit einer warmen und liebevollen Beziehung zur Mutter wird sich auf andere in einer warmen und liebevollen Weise beziehen, wohingegen ein Kind mit einer zurückhaltenden und distanzierten Beziehung sich auch anderen gegenüber zurückhaltend und distanziert verhält.«48 Diese Mutterbeziehung wird schließlich bei internationalen Beziehungen in einer konkreten Manier wiederaufgeführt, ausagiert im »Sandkasten der Geschichte«, wo die Nationen die emotionale Rolle der Mütter und Kinder in ihrem frühen Leben übernehmen.

Mütter, die wegen ihrer eigenen Lebenserfahrung ihre Kinder als schädlich und aggressiv betrachten, behandelten diese, geschichtlich betrachtet, hauptsächlich so, dass aus ihnen gewalttätige Erwachsene wurden; sie bedrohten sie routinemäßig mit Mord, Verstoßung, Vernachlässigung, Fesselung, Einlaufen, Herrschaft, Schlägen, sexuellen Übergriffen und emotionalem Missbrauch,49 die später in Krieg und politischem Verhalten wiederaufgeführt wurden. Notwendigkeit war nicht die hauptsächliche Ursache für diese Grausamkeiten gegenüber Kindern — wohlhabende Eltern wiesen ihre Kinder geschichtlich gesehen sogar mehr ab, indem sie nach der Geburt diese über Jahre hindurch anderen übergaben, von denen erwartet werden konnte, sie würden die Kinder missbrauchend aufziehen. Bis vor Kurzem verschlimmerten Väter diese frühe traumatisierende Erziehungsform, da historisch der Vater fast immer in den frühen Jahren des Kindes abwesend war — die meisten Väter in der Geschichte verbrachten ihre Tage auf den Feldern oder in Fabriken und die Nächte in Tavernen (siehe auch Kapitel 8). Wenn sie zuhause waren, gewährten die Väter den Müttern wenig Unterstützung bei der Erziehung oder der emotionalen Pflege, sondern verlangten vielmehr, selbst von ihren Ehefrauen »bemuttert« zu werden.

Das Aufwachsen, so fand Mahler, dreht sich um grundsätzliche mütterliche Pflege, da »Differenzierung von der Mutter stattfindet, nicht vom Vater«.50 Psychotherapeuten haben im vergangenen Jahrhundert eine überzeugende Datenmenge gesammelt, die zeigt, dass die Traumata der frühesten Jahre am schwierigsten zu bewältigen sind. Deshalb waren bis vor Kurzem Frauen, nicht Männer, ob zum Guten oder Schlechten, über die Geschichte hinweg die hauptsächlich Verantwortlichen für Pflege, Vernachlässigung und Missbrauch. Was bereits Augustinus weiß: »Gebt mir andere Mütter und ich gebe euch eine andere Welt.« Was Erikson über Mädchen sagte, stellte sich als zutreffend für alle Kinder heraus: »Bis sich ein Mädchen entwicklungsmäßig dem Vater zuwendet, hat es normalerweise, ein für alle Mal, das Wesen einer Objektbeziehung von der Mutter gelernt.«51 


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Kurz gesagt, Mütter sind die bedeutendsten Akteure in der Geschichte der Kindheit; sie sind die Täter und nicht nur die Opfer. Das heißt nicht, Müttern wäre alles, was in der Geschichte passiert, vorzuwerfen. Psychohistoriker wie Psychotherapeuten sind keine Moralisten, die Menschen Schuld zuweisen; sie suchen nur nach Ursachen und spüren Psychodynamiken auf.

 

Die meisten der extrem missbrauchenden historischen Erziehungspraktiken, welche in den nächsten beiden Kapiteln ausgeführt werden, sind Routinereaktionen auf die täglichen Bedürfnisse und den Wachstumsprozess des Kindes, bei denen unreife Mütter und Väter von ihrem Kind die Zuneigung erwarten, die sie selbst in ihrer Kindheit vermissten, und die deshalb die Unabhängigkeit des Kindes als Ablehnung empfinden. Speziell Mütter hatten im Verlauf der Geschichte extrem traumatische Entwicklungsgeschichten; man kann kleine Mädchen nicht schwerstens vernachlässigen und missbrauchen und dann von ihnen erwarten, sich wie durch ein Wunder, während sie heranwachsen, in gute Mütter zu verwandeln. 

Dafür spricht, was eine misshandelnde Mutter sagte: »Ich fühlte mich in meinem ganzen Leben nie wirklich geliebt. Als das Kind auf die Welt kam, dachte ich, es würde mich lieben, aber als es die ganze Zeit nur schrie, bedeutete das, es würde mich nicht mögen, also schlug ich es.«52 

Geburten lösen vielfach anschließende Depressionen und Gefühle der Leere aus,53 weil die Mutter ihre eigenen Hoffnungen aufgeben muss, die Zuneigung zu bekommen, die ihr die eigene Mutter nicht gab.54 In dem Moment, in dem der Säugling etwas braucht, oder sich von ihr abwendet, um die Welt zu erkunden, löst das ihre eigenen Erinnerungen an mütterliche Ablehnung aus. Wenn der Säugling schreit, hört die unreife Mutter ihre Mutter, ihren Vater, ihre Geschwister und ihren Gatten, die auf sie einbrüllen. Alsdann »beschuldigt sie das Kind, unnatürlich, undankbar und selbstsüchtig zu sein ... und nicht an ihr interessiert«.55 

Das Kind erlebt so Wachsen und Individuation als Ablehnung. »Wenn die Mutter das Kind nicht als separate Person mit ihrer eigenen Persönlichkeit und Bedürfnissen tolerieren kann, sondern im Kind den Spiegel für sich selbst sieht, erhält Trennung den Anflug von grundlegendem Terror für das Kind.«56 Kinder erleben ihre ersten Wachstumspanikängste, weil ihre Mütter sie ablehnen, erniedrigen, oder sie für ihre Bedürfnisse und ihre Individuation bestrafen. Als Erwachsene neigen sie daher in Phasen des Wachstums und der Individuation zu paranoidem und gewalttätigem politischen Verhalten, weü die Gesellschaft droht, diese nicht tolerierbare frühe maternale Zurückweisung, Schande und Bestrafung wiederherzustellen. Und weü diese maternalen Interaktionen so früh sind, sind sie primär nonverbal, was bedeutet, Politik hat vornehmlich nonverbale Qualität, die nur durch die Beforschung von Illustrationen in Medien, nicht durch Worte erkannt werden kann - Gruppenfantasien, die in Cartoons, Titelseiten von Magazinen und Fernsehbildern aufscheinen.

Es ist wahrscheinlich, dass die Zentralität von Müttern beim Heranziehen der Kinder auch für die Tatsache verantwortlich ist, dass Männer gewalttätiger sind als Frauen. Nicht Testosteron ist die vermeintliche Ursache, da (1) die Testosteronwerte bei den aggressivsten Jungen vielmehr


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niedriger sind;57 (2) ist vor dem zehnten Lebensjahr bei Jungen und Mädchen die Menge an Testosteron in etwa gleich; und obwohl (3) »alle normalen Jungen in ihrer frühen Adoleszenz eine enorme Aufwallung durch Testosteron erleben, zeigen [sie] nicht alle erhöhte Aggression ... [deshalb] verursacht Testosteron nicht Aggression«.68 Es häufen sich die Beweise dafür, dass es die unterschiedliche Behandlung von Jungen ist, speziell durch Mütter, die für die höhere Gewaltbereitschaft bei Männern verantwortlich ist. Jungen werden öfter und härter als Mädchen bestraft;59 Jungen werden in ihren frühen Jahren öfter von Müttern sexuell missbraucht;60 Jungen werden weniger gepflegt, öfter ignoriert, oder es wird weniger mit ihnen gesprochen und sie werden dazu trainiert, gewalttätiger zu sein;61 Jungen sind das Subjekt übermäßiger Kontrolle durch Erniedrigung und Scham;62 und Jungen werden für dieselben Taten von Eltern wie Lehrern strenger diszipliniert.63

 

Auch wenn sich die Schlachtfelder ändern mögen, Kriege wecken unvermeidlich grundlegende Gefühle der Kindheit: Vertrauen, Sicherheit, Akzeptanz, Herrschaft, Neid, Wut, Bedrohungen, Scham und Unabhängigkeit.64 Nachdem bei Müttern das Kind lange schlummernde Wünsche nach Nähe, die diese selbst von ihren Müttern nicht bekamen, wieder ins Leben ruft, neiden sie dem Kind jedes seiner nach Befriedigung bittenden Bedürfnisse und denken: »Ich hab das nie gekriegt; warum sollte mein Kind?« Noch vor dem neunzehnten Jahrhundert dachten Mütter, ihre Kinder wären so voller Gewalt, dass sie »ihre Augen auskratzen, die Ohren abreißen, oder ihre Beine brechen« würden, wenn man sie nicht mit endlosen Bandagen einwickeln würde, »Holzscheiten ähnlich«.66 Deshalb, wie meistens in der Geschichte, fehlten in frühen Mutter-Kind-Interaktionen Dinge, welche die meisten durchschnittlichen Mütter heute beherrschen -wechselseitiges Anblicken, Plappern und Lächeln66 -, weil Mütter ihre Ba-bies von Geburt an eng einbanden und sie in einen anderen Raum steckten, und diese somit in ihren ersten Lebensjahren schwerst vernachlässigten.67 Internationale Angelegenheiten sind in der Regel nicht in einer friedvollen und sicheren Manier verhandelt worden, weil die Kindheit weder friedvoll noch sicher war.

 

Soziologen und Historiker haben es vermieden, auf die familiären Gründe für Krieg und soziale Gewalt zu blicken. Wann immer eine Gruppe Mörder hervorbringt, muss das frühe Verhältnis zu den Eltern missbrauchend und vernachlässigend gewesen sein. Doch hat diese elementare Wahrheit in der Geschichtsforschung noch immer nicht Einzug gefunden; nur zu sagen, dass mangelhafte Bemutterung hinter Kriegen liegt, erscheint blasphemisch. Stattdessen vermehren sich die absurdesten Idealisierungsformen historischer Mutterschaft. Wenn sich zum Beispiel Untersuchungen über die extreme Gewalt der Mafia Darstellungen der sizilianischen Familienbeziehungen zuwenden, geben sie unvermeidlich die glücklichen Familien direkt aus Der Pate wieder. Doch in der Studie der italienischen Psychoanalytikerin Silvia di Lorenzo, La Grande Madre Mafia, wird eine wirkliche sizilianische Mutter-Kind-Interaktion beschrieben, was uns ein genaueres Bild der maternalen Ursprünge der Mafia-Gewalt gibt:


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Wenn einer ihrer Jungen einen kleinen Fehler macht, greifen [Mütter] nicht zu simplen Schlägen, sondern verfolgen ihn auf offener Straße und beißen ihm ins Gesicht, die Ohren und in die Arme, bis sie bluten. In solchen Momenten verwandeln sogar schöne Frauen ihre Physiognomie, laufen dunkelrot an, mit blutunterlaufenen Augen, knirschenden Zähnen und zitternden Zuckungen und nur der eilende Eingriff von anderen, die mit Schwierigkeiten das Opfer wegzerren, kann solch brutalen Szenen ein Ende bereiten.68)

 

Auf diese Weise hat die frühe Mutterbeziehung großen Einfluss auf die Gewaltbereitschaft von erwachsenen Menschen. Jede Kindeserziehungspraxis in der Geschichte wird im erwachsenen politischen Verhalten wiederaufgeführt. Kinder, deren Mütter sie eingewickelt haben und emotional »nicht da« waren, können als Erwachsene keine Objektkonsistenz erhalten; sie werden paranoid und sehen überall Feinde. Kinder, deren Mütter sie regelmäßig nur recht und schlecht ernährten, erleben die Welt vor-enthaltend-bösartig. Kinder, deren Mütter sie mit depressiver Stille zurückwiesen, erleben Zeiten internationalen Friedens als Bedrohung. Kinder, die von ihren Müttern beherrscht und verschlungen wurden, wählen später totalitäre Führer. 

Kinder, deren Mütter so bedürftig waren, dass sie ihre Kinder »selbstsüchtig und fordernd« fanden, oder sie »seit der Geburt zornig« sahen, erleben andere Nationen als zu fordernd oder als zornige »böse Buben«. Kinder, die von ihren Müttern als Antidepressiva benutzt wurden, opfern sich später, um die Depressionen der Mutter zu bewältigen; wie es ein Soldat über die Aufopferung im Krieg ausdrückte: »Wir haben uns über den Körper des Mutterlandes gelegt, um sie wieder zu beleben«.69 Und Kinder, deren Mütter sich über sie lustig gemacht haben und sie erniedrigten, erleben die internationale Sphäre als Container für nicht tolerablen Spott und Schande. Es überrascht nicht, dass gewalttätiges, autoritäres politisches Verhalten statistisch mit zurückweisenden, bestrafenden Erziehungsmethoden korreliert.70) Wie Godwin festhält, hat Gesellschaft eine »exopsychische Struktur«, in der Erwachsene das »elterliche Läuterungssystem« der Kindheit wiederaufführen, indem sie in der politischen Arena »schlechte, frustrierende und missbrauchende Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung reinigen«.71)

 

Die psychogene Kriegstheorie 

Krieg ist somit ein Ritual der Wiederaufführung früher Traumata zum Zweck der Rache und Selbstläuterung. Kriege sind klinische emotionale Störungen, kollektiv psychotische Episoden von wahnhaft erzeugter Schlächterei, mit der Absicht, einen schweren Kollaps der Selbstachtung zur Erreichung von Gerechtigkeit in Rache zu verwandeln. Kriege sind sowohl mörderisch als auch selbstmörderisch; die Deutschen, welche Hitler zujubelten, als er einen nicht zu gewinnenden Krieg gegen eine überwältigende Macht gegnerischer Nationen begann, wussten tief im Inneren, dass sie Selbstmord begehen würden. 


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Wie alle Morde und Selbstmorde sind Kriege das Resultat unserer gescheiterten Suche nach Liebe, magische Gesten, dazu gemacht, uns der Liebe durch Projektion auf Feinde zu versichern, durch den Sturz der schrecklichen Mutter von ihrem Podest und durch die Vernichtung des Böses-Kind-Ichs:

1. Krieg als gerechte Vergewaltigung — Rache an der schrecklichen Mutter: Feindliche Nationen werden in Kriegen oft als Frauen, Hexen, ja sogar als plazentare Biester dargestellt. Als Mütter wahrgenommene Feinde sind dazu da, herumgeschubst und sogar vergewaltigt zu werden, aber nicht vernichtet, weil auch bei der Rache an einer bösen Mutter das verletzte Kind weiß, wie dringend es sie braucht. Ungeliebte Kinder hoffen weiterhin, von ihren Müttern akzeptiert zu werden, so wütend sie auf diese auch immer sein mögen. Deshalb gab Hitler die Hoffnung nicht auf, Mutter England dazu zu bringen, freundlich zu sein. Und deswegen zerstörte er beim Einmarsch in La Belle France auch Paris nicht. Westlich von Deutschland gelegene Nationen wurden hauptsächlich als Mütter gesehen, die man zwar von ihrem Podest stoßen, aber nicht eliminieren durfte. »Frankreich ... war nicht zur Unterwerfung bestimmt, sondern spielte im Programm der Nazis eine sekundäre Rolle [und] Hitler war immer scharf darauf, irgendeine Einigung mit den Briten zu erreichen. ... [Deshalb] wurde den im Westen kämpfenden deutschen Truppen strenge Anweisungen gegeben, sich an die Kriegsrechte zu halten.«72 Die selbe Gruppenfantasie von Krieg als gerechter Vergewaltigung wurde 1914 von den Deutschen verlautbart, als diese sich vorstellten, dass »nur wenn wir in der Lage sind, England schwer zu treffen, sie uns in Ruhe lassen, vielleicht sogar eine >Freundin< werden wird«.73

2. Krieg als Läuterung das Abtöten des Böses-Kind-Ichs: Feindliche Nationen werden auch als schlimme Kinder dargestellt, ungehorsam, widerlich, gewalttätig, sexbesessen — alles wofür man von den Erziehenden als Kind beschuldigt wurde. Wenn das Böses-Kind-Ich vollständig abgetötet werden kann, »wird Mami mich endlich gern haben«. Deshalb schwor Hitler, die Nationen des »Teufels« im Osten auszulöschen und statt ihrer »gute Deutsche« anzusiedeln. Polen, Russen, Slawen, Juden - auf jede Nationalität östlich von Deutschland wurde das Bild des »bösen Kindes« projiziert: »Slawen sah man als Untermenschen, die entweder umgebracht ... oder ausgehungert werden mussten.«74 Moskau, versprach Hitler, würde dem Erdboden gleichgemacht und in ein Reservoir verwandelt werden, und die Juden würden total ausgerottet. Zusätzlich würde der Zweite Weltkrieg zu einem Massenselbstmord für Millionen von Deutschen werden und so den Anteil des »bösen Kindes« dieser selbst opfern - deren lebendigstes, wachsendes, unabhängiges Selbst. Somit würde das verbleibende Selbst des »guten Deutschen« gereinigt und letztendlich vom Mutterland geliebt werden.


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Es überrascht nicht, dass bei frühen Gesellschaften blutrünstige Kriegsgöttinnen über die Schlachtfelder herrschten — von der »blutrünstigen Innana« und »der Dame der Schlachten Ishtar« bis zur »manischen Athene« — zumal Kriege ein Abbild dessen sind, wie schreckliche Mütter böse Kinder in Opferschlachten, genannt »Innanas Tanz«,75 opfern. Auch die Französische Revolution wurde in Zeichnungen als gewalttätiger Triumph der Marianne oder als Freiheitsgöttin gegen böse Franzosenbuben dargestellt.76 Den Führern wurde die Aufgabe zugeteilt, Priester eines reinigenden Opfers zu sein, moderne Schamanen, die den Kampf gegen projizierte maternale und Teufel-Ich-Alter-Egos zu organisieren hatten. Selbst einfache Gesellschaften ziehen in den Krieg, um die Liebe der Mutter zu gewinnen. Im Kriegsritualmythos der Yanomamo, zum Beispiel, zieht der kulturelle Geisterheld »Kind des Wassers« in den Krieg und schlachtet Feinde ab, um das »Chaos zu beenden« und um »zu tun, was seine Mutter begehrt und damit ihre Anerkennung zu bekommen«.77 

Die Rolle des Vaters im Krieg ist eine völlig andere: Sie besteht in der Bereitstellung der Gewalt, die man zur Vergewaltigung und zur Rache an der schrecklichen Mutter braucht und in der Bestrafung und Opferung des bösen Babies. Hitler trug immer eine Hundepeitsche bei sich, die gleiche Peitsche, mit der er und viele andere deutsche Kinder von ihren Vätern geschlagen wurden.78 Merkwürdigerweise ziehen Nationen nicht aus Rache gegen böse Väter in den Krieg - das entscheidende Drama basiert auf früheren Beziehungen. Obwohl sich Kinder vor ihren gewalttätigen Vätern in ihren Familien schrecklich fürchten, besteht das Ziel beim Beginn von Kriegen letztlich nicht in der Rache gegen den Vater, sondern im Töten der Schande, in der Läuterung des Selbst und darin, die Mutter dazu zu zwingen, ihr Kind zu lieben — Männer in Vaterländern so zu organisieren, dass sie Mutterländer erobern können.

 

Nationen wechseln nach Perioden des Friedens und des Wohlstands in ihre dissoziierte traumatisierte Hemisphäre, weil die Individuationsherausforderungen des historischen Fortschrittes die Trennung von der Mutter bedeuten, eine gefährliche Handlung im Erwachsenenleben, wenn sie während der Kindheit nicht erlaubt war. Nehmen Freiheit und Wohlstand zu, führen sie bei Menschen, die als Kinder missbraucht wurden, zuerst zu Trennungsängsten und dann zu einem Klammern, bis hin zur Verschmelzung mit der frühen missbrauchenden Mutter. Mit der Mutter zu verschmelzen bedeutet aber auch den Verlust der Männlichkeit - man wird zur Frau. Deshalb bedeuten lange Friedensperioden Kastration. Folglich geht Kants Aussage, dass Kriege notwendig wären, da »anhaltender Friede ... Verweichlichung begünstigt« mit Machiavellis Behauptung einher, dass Kriege existierten, um Nationen von effeminato zu säubern, denn der »tägliche Zuwachs an giftigen Angelegenheiten ist eine [von den Frauen verursachte] Verschwörung zur >Vergiftung< von ... Männlichkeit.«79 Jedenfalls laufen in Gruppen, die keine effektiven Kriegsrituale zu Verfügung haben, wenn die Menschen schwere Egodesintegrationen erfahren, Menschen vielfach Amok - ein dissoziativer Zustand, in dem Menschen andere wie wild geworden umbringen, unkontrolliert einen draufmachen, wie die ansonsten friedlichen Balinesen.80) 


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Auch Schimpansen laufen Amok, wenn sie von Menschen mit Futter versorgt werden und »lassen sich auf Episoden grundlosen explosiven ... Verhaltens ein ... als ob sie sich in einen ASC [alternate state of consciousness] begeben haben ... um eine innere Spannung zu entladen ... ähnlich den menschlichen dissozia-tiven Verhaltensweisen«.81)

Am häufigsten führt Wohlstand zum Beginn eines Krieges in Gesellschaften, in denen die ökonomischen Vorteile einer Minorität — eine entwickeltere Psychoklasse — der Evolution der Kindeserziehung der Mehrheit davonlaufen und damit bei der weniger entwickelten Psychokiasse extreme Ängste über Veränderung, die Individuation erfordern, auslösen. Deshalb traten einige der destruktivsten Kriege vergangener Jahrhunderte während eines »Sprungs in die Moderne«82 bei solchen Nationen auf, deren durchschnittliche Kindeserziehung weit hinter ihrem sozialen und ökonomischen Fortschritt lagen, und die versuchten, ein modernes kapitalistisches System mit einem verkrüppelten Humankapital zu steuern. Die friedvollsten Perioden andererseits — zum Beispiel Europas Jahrhundert des Friedens von 1815 bis 191483 — haben stattgefunden, als die Kindeserziehung der meisten europäischen Nationen sich am schnellsten weiterentwickelte und mit den Individuationsherausforderungen der Moderne mithalten konnte.84

 

Krieg und Gruppenfantasiezyklen

In den vorhergehenden Kapiteln wurden Beweise dafür erbracht, dass Kriege am häufigsten dann auftreten, wenn Führer schon einige Zeit im Amt sind und in ihrer Fähigkeit, die nationalen Gruppenfantasien unter Kontrolle zu halten, schwächer werden. Je länger ein Führer deshalb im Amt ist, umso wahrscheinlicher führt er die Nation in den Krieg. Das wird im Falle der Vereinigten Staaten bestätigt, wo kein Präsident während seines ersten Amtsjahres, in seiner »starken« Phase also, in den Krieg zog; kleinere Kriege beginnen manchmal im zweiten oder dritten Jahr einer Amtsperiode, während der Präsident schwächer wird; und als die drei destruktivsten Kriege begannen, 45, 48 und 103 Monate nach Amtsantritt von Buchanan, Wilson und Franklin Roosevelt, war deren Gruppenfantasiestärke bereits kollabiert.

Im Rahmen historischer Forschungen wurde über die Zyklen von Kriegen ausführlich empirisch gearbeitet.85 Belegt sind für die meisten Nationen in den vergangenen Jahrhunderten Phasen von 25 Jahren ihres Gewalttätigkeitsniveaus86 — als ob jede Generation in das Maul des Molochs geworfen werden muss, als Reinigungsopfer an die Kriegsgöttinnen. Beachtliche Arbeit wurde auch über ökonomische Zyklen und deren Affinität zu Kriegszyklen geleistet,87 mit dem Resultat, dass »Kriege zwischen größeren Mächten während ökonomischer Expansionsphasen auftreten, während Stagnation deren Ausbruch verhindert«.88)


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Obwohl Kriege nachweislich mit Wohlstandsphasen korrelieren, müssen Experten, da noch nie eine psychologische Analyse versucht wurde, gestehen: »Wir verstehen die kausale Dynamik der langen Welle nicht ... ihre umfassenden politischen und ökonomischen Elemente.«89 Der Rest dieses Kapitels stellt eine psychogene Theorie von Gruppenfantasiezyklen vor, die den periodischen Wechsel zwischen ökonomischen Depressionen und Krieg erklärt.

In der unten abgebildeten Grafik sind vier amerikanische Gruppenfantasiezyklen der letzten beiden Jahrhunderte dargestellt, wobei jeder aus vier Phasen besteht: (1) innovativ, (2) depressiv, (3) manisch und (4) Krieg. Am unteren Ende der Grafik sind die wichtigsten Depressionen und Kriege eingezeichnet, die mit der zweiten und vierten Phase der Gruppenfantasie zusammentreffen. In der Mitte ist Klingbergs extrovertiert-introvertierte Außenpolitikstimmungskurve zu sehen, die er mit Aufzählungen außenpolitischer Indizes kompilierte, wie etwa das Verhältnis von Präsidentenansprachen, die positive Handlungen in weltpolitischen Angelegenheiten forderten.90 Wie man sehen kann, gibt es eine enge Korrelation zwischen Klingbergs Stimmungsindexstufen und meinen, unabhängig davon hergeleiteten Gruppenfantasiephasen.

Hier ein Umriss der vier Gruppenfantasiephasen, die amerikanische und andere nationale Emotionen und ihre Auswirkungen auf politische und ökonomische Verhaltensweisen betonen:

 

1. Innovative Phase: Nach dem vorhergegangenen Krieg wird eine neue Psychoklasse mündig, eine Minderheit aus der Schar der zwei bis drei Jahrzehnte vorher Geborenen, die in einem entwickelteren Kindeserziehungsmodus aufwuchsen. Diese neue Psychoklasse stellt neue Erfindungen vor, neue soziale und ökonomische Arrangements und neue Freiheiten für Frauen und Minderheiten; sie löst eine Ära der Guten Gefühle oder ein Goldenes Zeitalter aus, das für einige Jahre von den älteren Psychoklassen toleriert wird.


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Allerdings beginnen gegen Ende der innovativen Phase die Herausforderungen des Fortschritts und der Individuation scheinbar alles außer Kontrolle geraten zu lassen, wenn Wünsche auftauchen; die frühe maternale Zurückweisung und Bestrafung damit drohen, wieder ins Leben gerufen zu werden. Zudem, da Frauen, Kinder und Minderheiten neue Freiheiten bekommen, bemerken ältere Psychoklassen, dass diese nicht genauso wie vorher als Giftcontainer zur Bestrafung der eigenen Sünden herhalten. Läuterungskreuzzüge beginnen und antimoderne Bewegungen fordern ein Ende der neuen sexuellen und anderer Freiheiten, damit die Ängste der nationalen Wachstumspanik reduziert und die Uhren in eine kontrolliertere Zeit der sozialen Arrangements zurückgedreht werden können.

 

2.  Depressive Phase: Die ältere Psychoklasse wird wegen der neuen Individuationsherausforderungen depressiv, erwartet ihre Bestrafung und verursacht eine ökonomische Depression, indem sie die Geldzirkulation bremst, Zinsraten erhöht, den Konsum reduziert, den Handel limitiert und alle anderen durch Überschussreduzierung motivierten Fehler fiskalischer Politik begeht, die uns aus der Geschichte so bekannt sind. Wirtschaftsdepressionen sind herbeigeführte innere Opfer, die manchmal genauso viele Menschen töten, wie Kriege es tun.91 Vor und während der Depressionen zeigen Cartoons gehäuft sündige, gierige Menschen, die auf Altären geopfert werden,92 und die depressive Nation wirkt politisch gelähmt, unfähig, Handlungen zu setzen, die den ökonomischen Abschwung rückgängig machen. Genauso wie depressive Individuen wenig bewussten Zorn verspüren — sie fühlen sich, als ob sie eine Bestrafung verdienten —, können auch Nationen in Depressionen durch ihre introvertierten Außenpolitikstimmungen charakterisiert werden, starten weniger militärische Expeditionen und kümmern sich weniger um außenpolitische Angelegenheiten. Das Gefühl in der Depression ist mehr: »Ich sollte getötet werden (für meine Wünsche)«, als: »Ich will andere töten.« Die Nation sieht sich nach einem phallischen Führer um, mit dem sie verschmelzen kann und so seine schwindende Stärke wiedergewinnt, und der sie gegen die wachsenden wahnhaften Ängste vor einer verfolgenden Mami schützen kann.

 

3.  Manische Phase: Während eine mögliche ökonomische Erholung neue Ängste entfacht, entwickeln sich als Abwehr depressiver Ängste manische ökonomische, soziale und militärische Aktivitäten. Die Nation betreibt spekulative Investitionen, Kredite explodieren, auswärtige Streitlust, militärische Aufrüstung und andere grandiose Anstalten zur Demonstration omnipotenter Kontrolle über symbolische Liebesbedürfnisse zeigen sich. Die Stimmung ist normalerweise eine des furchtlosen Riskierens, durchsetzt mit kurzen finanziellen Paniken. 


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Apokalyptische Gruppenfantasien von einer Welt voll des Bösen und einem zornigen Gott, der alles beenden möchte, nehmen zu und rufen schwere Paniken, wie das Great Awakening, hervor. Anhaltender Wohlstand führt zu einer Suche nach Feinden, sowohl im Inneren (Minderheiten, Kriminelle, Kinder), als auch nach außen hin (Ausländer), die in nationalen Läuterungskreuzzügen als böse Kinder, die die sündhafte Gier der Nation verkörpern, bestraft werden können. Die Angst vor maternalem Verschlingen steigt im selben Grad wie grandiose Abwehrversuche und Erinnerungen an das Gefühl, ein hilfloses Baby zu sein; die Menschen sehen ihre Nationen als »jämmerliche, hilflose Giganten« mit gigantischen Bedürfnissen, aber hilflos, diese zu befriedigen. Während paranoide wahnhafte Feinde die Nation zu umgeben scheinen, treten opferungsähnliche Wiedergeburtsgruppenfantasien auf, mit verschlingenden Seemonstern, die Gewalt als das einzige Gegengift gegen die anwachsenden Ängste vor der Desintegration des Selbst abbilden.93 

 

4. Kriegsphase: Wenn eine Nation gefunden wurde, die damit einverstanden ist, die benötigte Demütigungsepisode als casus belli zu liefern, spürt man eine gewaltige Erleichterung: »Aha! Ich wusste, der Feind war real und nicht in meinem Kopf.« Die gruppenpsychotische Erkenntnis, dass diabolische Feinde die Nation strangulieren und vergiften, forciert den letzten Wechsel in die soziale Trance, worin die Gruppenfantasie zur Realität und eine Gewalthandlung unwiderstehlich wird.94 Die Neurotransmitter, Hormone und Neuropeptide der Nation verändern sich dramatisch, genauso wie die Neurochemie von Individuen am Weg zu Gewalthandlungen.95 Krieg liefert sowohl für gerechte Vergewaltigung, als auch für Läuterung die Gelegenheit. Die gerechte Vergewaltigung kann man als maternale (die Vergewaltigung von Mutter England), aber auch homosexuelle (die Penetration von Soldaten) beschreiben. Die Läuterung leistet das Opfer des Böses-Kind-Ichs, durch den suizidalen Teil (das Töten der Jugendlichen der Nation) und den Mord (das Töten des Feindes).

Deshalb können Kriege und Depressionen ähnlich wie das Auftreten von individuellen manisch-depressiven Zyklen von Gewalt betrachtet werden -sie dehnen sich nur über eine Periode von etwa einer vollen Generation aus. Jede der ersten drei amerikanischen Gruppenfantasien in der oben gezeigten Grafik ist ungefähr 50 Jahre lang und endet mit zwei Kriegen, erst mit einem »netten kleinen Krieg«, als eine Art Versuchsballon, und dann mit einem voll flügge gewordenen Krieg zur Herstellung der Wiedergeburt nationaler Potenz. Dieses Muster ist nach dem Zweiten Weltkrieg modifiziert worden, als die verbesserte Kindeserziehung die Größe von wirtschaftlichen Abschwüngen und Kriegen reduzierte. Obwohl die meisten westlichen Nationen in den letzten drei Jahrhunderten dasselbe Vier-Kriege-pro-Jahrhundert-Muster wie die Vereinigten Staaten besaßen, muss noch untersucht werden, inwieweit sie auch dem gleichen Vier-Stufen-Zyklus folgten.98


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Die innovative Phase: Fortschritt und Läuterungskreuzzüge

Die zentrale Kraft für den Wandel des ökonomischen Lebens ist das Resultat von Veränderungen der Kindeserziehung bei einer Minderheit der Gesellschaft. Die übliche kausale Kette der Modernisierungstheorie — mehr Wohlstand bedeutet mehr Geld zur Verbesserung der Kindererziehung - ist schlicht rückständig, weil empirisch betrachtet Veränderungen der Kindeserziehung immer vor ökonomischem Wandel stattfinden97 und weil reichere Familien sich nicht unbedingt besser um ihre Kinder kümmerten — sie übergaben diese nach der Geburt missbrauchenden Zieheltern. Kinder, deren Eltern sie tatsächlich selbst großgezogen und versucht haben, traditionelle Erziehungspraktiken hinter sich zu lassen, wachsen als neue, innovative Psychoklasse auf, die neue soziale und ökonomische Unternehmungen ausprobieren, welche früheren Psychoklassen gefährlich erscheinen.

Die in der Grafik dargestellten innovativen Phasen amerikanischer Gruppenfantasien sind jedem amerikanischen Geschichtestudenten als Perioden beispiellosen Wachstums und Innovation geläufig. Sie beinhalten die frühe Zunahme von Dampfschiffen, Eisenbahnen und Telegraphen; die zwei Phasen der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert mit ihrer rapiden Industrialisierung; die zweite Industrialisierung nach dem Ersten Weltkrieg; und auch die Computerrevolution der Benjamin Spock Generation.98 In jeder Periode zahlte sich die Investition in Kinder als Steigerung der Produktivität aus.

Während dieser innovativen Phasen gelingt es den Regierungen verschiedene formale und informelle Regelungen zur Beilegung internationaler Meinungsverschiedenheiten auszuarbeiten. Zumal Friede nicht nur die Absenz von Krieg bedeutet, und dies mit der Einrichtung regierungsübergreifender Organisationen und Konferenzen zur Lösung von Streitigkeiten zu tun hat, haben Nationen, die sich nicht im emotionellen Status eines kollabierenden Selbstwerts befinden, regelmäßig einen Weg aus Sackgassen herausgefunden und ihre Unstimmigkeiten ohne Gewalt gelöst.99) Ob durch bilaterale Abkommen oder durch das Beherrschen von Friedenskonferenzen: Innovative Psychoklassen haben demonstriert, dass es viele Wege gibt, Angelegenheiten jenseits von Machtpolitik, die zu Krieg führt, beizulegen.

Alle dieser friedvollen innovativen Phasen waren auch Perioden der Frauenrechte, von denen am bekanntesten die Gruppen im frühen 19. Jahrhundert in Amerika waren, die für Frauenbildung, Arbeit, neue Scheidungsrechte und Besitzrechte eintraten; die Frauenstimmrechtsbewegung nach dem Bürgerkrieg; die Frauenrechtsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg; die Feminismusbewegung nach dem Vietnamkrieg. Die nicht mehr mitkommenden Psychoklassen — Männer wie Frauen — reagierten auf diese Perioden der Befreiung für die »neuen Frauen« mit extremem Entsetzen.100 Gerade als die ökonomischen Fortschritte im frühen Europa der Neuzeit in die Ermordung von einer Million Frauen als Hexen mündete,


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riefen die Verbesserungen der modernen innovativen Perioden Ängste vor der femme fatale101) hervor, die »stark leidenschaftlich ... mit einem starken animalischen Naturell ausgestattet«102 war und »sexuelle Anarchie« erzeugte, bei der »Männer zu Frauen werden [und] Frauen zu Männern«.103 Seitdem Cato 195 v. Chr. jammerte — nachdem ein paar römische Frauen die Aufhebung eines Gesetzes anstrebten, das ihnen das Tragen von bunten Kleidern verbieten sollte —, »Frauen sind so mächtig geworden, dass wir unsere Unabhängigkeit im eigenen Hause verloren haben und diese nun in der Öffentlichkeit mit Füssen getreten wird«,104 haben innovative Perioden in der Geschichte frauenfeindliche Läuterungskreuzzüge nach sich gezogen, dazu bestimmt, sozialen Fortschritt rückgängig zu machen und in vertraute repressivere Zeiten zurückzukehren.105

 

Läuterungskreuzzüge haben sich auf sexuelle Moral konzentriert, ob sie nun Noyes Debatte zur »freien Liebe« vor dem Bürgerkrieg bekämpften, oder die Ideen von Margaret Sanger zur Geburtenkontrolle in den 1920ern.106 Sie beinhalten moralreformerische Kreuzzüge gegen Prostitution, gegen Pornographie, gegen Alkohol - gegen alles, was unerfüllte Wünsche repräsentiert, inklusive Fahrradsättel, die »den moralischen Verfall von Frauen verursachen könnten«.107 Auch die Verkürzung der Arbeitswoche — der Halber-Freier-Samstag-Akt von 1887 — wurde abgelehnt, weil dies wahrscheinlich die Massen dazu anhalten hätte können, zu »tanzen, Karussell zu fahren, sich schlecht zu benehmen, Krawall zu machen, herum zu schießen und zu morden«.108 

Rechte für Kinder wurden abgelehnt, weil jede Lockerung der strafenden Kindeserziehung unweigerlich zu »Verwilderung, eklatantem Ungehorsam ... Masturbation und Wahnsinn«109 führen würde. Autos für Frauen wurden bekämpft, weil sie in »Bordelle auf Rädern«110 hätten umfunktioniert werden können. Und nach dem Beginn eines Läuterungskreuzzuges wurde dieser normalerweise bis zum Beginn des nächsten Krieges fortgeführt, der sich seiner Sprache und moralischen Inbrunst bediente, sodass es den Anschein hatte, der Krieg selbst wäre die Reinigung der Moral der Nation. 

Deshalb begannen Moralreformer in den 1850ern, die auf den Feminismus dieser Zeit reagierten, gegen Geschlechtsverkehr zwischen weißen Männern aus dem Süden und schwarzen Frauen ins Feld zu ziehen; ihre Ablehnung der Sklaverei beruhte dabei nicht auf die Forderung nach Zivilrechten für die Sklaven, sondern auf den Wunsch, »die sexuelle Reinheit von Amerika zu schützen«. Mit den Worten der Kämpfer für die Reinheit: »Die Südstaaten sind ein Großes Sodom ... ein gewaltiges Bordell«, mit dem nur ein Krieg zwischen dem Norden und dem Süden aufräumen würde können.111 

Deshalb glaubte man auch, der Erste Weltkrieg müsse ausgefochten werden »um Männer vor dem sexuellen Verfall [vor Homosexualität] zu bewahren«,112 und dem Vietnamkrieg ging, laut Spezialausgabe von Time's über »Sex in the U.S.«, eine Fantasie voraus, wonach wegen der Freudschen Psychologie, die aus »Amerika ein einziges großes Organon [der] Pornographie«113 gemacht hätte, ein gefährliches Ableben des amerikanischen Puritanismus festgestellt wurde.


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Die depressive Phase: die Drachenmutter und der phallische Führer

Im Wesentlichen wurde in modernen Zeiten die Aufgabe der Kontrolle von Wachstumspanik durch das Herbeiführen von Depressionen den Zentralbanken übertragen, welche die Nation zuerst mit Niedrigzins­liquidität überfluten und damit zu Überinvestition, exzessiver Kreditfinanzierung, Inflation und Blasenbildungen an den Börsen ermutigen, um dann, wenn die Expansion zu sündenvoll für die nationale Psyche wird, die monetäre Expansion mit steigenden Zinsraten und einer Verringerung der Liquidität umzukehren (»Wenn die Party so richtig anfängt, wird die Punschschüssel weggenommen«).114

Depressionen treten auf, weil die Menschen wirklich depressiv werden, ihre Ausgaben und Investitionen reduzieren und sich hoffnungslos fühlen. Depressionen sind, wie Keynes sagte, »eine Krise der Gefühle ... ein Kollabieren der Zuversicht«.115 Die Aufgabe der Regierung, sagte er, läge darin, zur Kenntnis zu nehmen, dass Nachfrage (Begehren) zu irrationalen Kontraktionen neigt, die durch fiskalische und monetäre Manipulationen ausgeglichen werden müssten — mehr wie ein Psychiater, der zur Wiederherstellung eines dezimierten Serotoninspiegels Medikamente verschreibt. Aber weder Keynes noch irgendein anderer Ökonom haben sich je gefragt, warum Menschen periodisch depressiv werden und ihre ökonomischen Aktivitäten reduzieren.

Nationen treten in Depressionen ein, weil sie sich von ihrem Wohlstand und der Individuation verfolgt fühlen, durch das, was Jungianer die »Drachenmutter« — die bedürftige, »verschlingende Mutter des Säuglingsalters ... die ihre Kinder nicht gehen lassen kann, weil sie diese für ihr eigenes seelisches Überleben braucht«116 — genannt haben. Weston hat herausgefunden, dass speziell Anorexien beherrscht werden von Fantasien über das Verschlungenwerden durch eine schreckliche Drachenmutter, die »ihrem Kind die unmögliche Aufgabe erteilt, ihre >grenzenlose Leere< zu füllen« und somit das Kind »bei lebendigem Leibe verschlungen zu werden« befürchtet.111 

Um dies zu verhindern, verweigern diese Kinder, wenn sie aufwachsen und sich individualisieren, zu essen, damit an ihnen kein Fleisch ist, das die Drachenmutter verschlingen könnte. Ökonomische Depressionen zeugen von ähnlichen Gruppenfantasien verschlingender Mütter; sie sind »ökonomische Anorexien«, durch welche sich Nationen selbst ökonomische Wunden zufügen und den Konsum reduzieren, um »nur Haut und Knochen« zu sein, so als ob man die verschlingende Drachenmutter nicht in Versuchung führen wollte. Speziell Banken werden oft als gierige Drachen dargestellt. 

Zum Beispiel stellte sich Präsident Andrew Jackson die Bank of the United States, wie er sagte, als »Mutterbank« vor, die durch Ausgabe von Geldscheinen »eine böse, ihre Kinder beherrschende Mutter« wäre, die aufgehalten werden müsse, bevor die Nation aufgegessen würde, und er so die »Tötet das Große Monster«-Kampagne lostrat, welche die »vielköpfige Hydra strangulieren« und töten würde.118 Es ist überflüssig zu sagen, dass sein Erfolg bei der »Vernichtung des Mutter-Bank-Drachens« zu einer schweren Depression führte.


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Selten wird zugegeben, dass Depressionen Familien direkt bestrafen. Bei der Depression, die 1873 begann, hervorgerufen durch »ein Jahrzehnt spekulativer Exzesse und Überinvestition«,119 waren zum Beispiel »20 Prozent arbeitslos, 40 Prozent arbeiteten nur sechs oder sieben Monate im Jahr und nur 20 Prozent hatten eine regelmäßige Arbeit«.120 

Ganz im Stillen haben Depressionen hunderttausende Frauen und Kinder umgebracht, ein Opfer von »bösen Kindern«, größer als das vieler Kriege. Aber noch immer werden Depressionen als vorteilhafte Säuberungen des ökonomischen Blutkreislaufes gesehen, was der Finanzminister 1929, als die Nationalbank mithalf, die Welt in eine Depression zu stürzen, wie folgt formulierte: »Es wird das System von der Fäulnis säubern.«121 Depressionen sind eigentlich Blutsäuberungen, nur in Opferform, ähnlich der Praxis der Azteken, die Menschen opferten und ihnen regelmäßig Blut aus ihren Hüften und Genitalien entnahmen, um die Göttin zu füttern, damit diese wegen des sündhaften Wohlstandes nicht wütend werde.122 So fand auch William K. Joseph in seinen Untersuchungen von Cartoons und Zeitschriftenanzeigen von 1929 heraus, dass diese »voll von starken, reichen Frauen [waren], währenddessen die Männer als schwächlich, neurotisch und unbedeutend dargestellt wurden«.123

 

Dass Depressionen — wie alle Blutopfer — selbst zugefügte Wunden und nicht nur das Ergebnis »mysteriöser verschrobener Geldpolitik«124 sind, wird von den meisten Ökonomen noch immer nicht zugegeben. Das Ende des Wohlstands kommt »mit einem Gefühl der Erleichterung«.125 Auch die Fehler der Behörden, die zum Abschwung führen, sind unbewusst motiviert. Zum Beispiel 1925 der Fehler der Nationalbank, die Zinsraten zu senken und so die Blase an der Börse zu entzünden, gefolgt von dem Fehler überrestriktiver Geldpolitik nach 1929, der den Geldwert der Aktien um ein Drittel reduzierte und den Abschwung in eine Depression verwandelte, plus dem Fehler, höhere Schutzzölle der Hoover Regierung zu verabschieden und die Einkommenssteuer zu verdoppeln — allesamt waren dies motivierte Fehler.126

Eine der besten Verteidigungen gegen Ängste vor maternaler Umschlingung ist die Wiederherstellung von Stärke durch Verschmelzung mit dem phallischen Führer. Anzieu fand bei Kleingruppen, diese würden regelmäßig nach narzisstischen, aggressiven Führern suchen, wenn sie von der Gruppenmutter verschlungen wurden und fühlten, dass in der Gruppe »alles zerbröckelt«.127 Parin fand, dass der Stamm der Anyi, bei dem die maternale Pflege vernachlässigend und inzestuös war, Männer hervorbrachte, die fürchteten, »von Frauen vergiftet, verschlungen und kastriert« zu werden und die deshalb außerordentlich gewalttätige Führer wählten, weil sie meinten, die Verschmelzung mit einem »starken und strengen Vater« würde sie vor Kastration schützen.128 Und Blum hielt fest, dass, wenn Nationen »sich wie hypnotisiert dem Führer ausliefern«, sie »infantile Hilflosigkeit und Schwäche, Kindheitstraumata, Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und Gefühle, ungeliebt zu sein, überwinden, [indem sie] einen Krieg eskalieren lassen, [wobei] das Opfern der Söhne in der Schlacht durch ihre ödipalen Väter und eine >Macho<-Abwehr von Feminität eine starke Dynamik darstellen«.129


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Die erste Aufgabe des phallischen Führers besteht im Auffinden eines Feindes, damit die wachsende Paranoia der Nation auch real wird:

Es ist, als ob ein Therapeut seinem paranoid-schizoiden Patienten sagen würde: »Du wirst wirklich verfolgt. Lass mich dir helfen und die Verfolger benennen ... Du und deine wahren Freunde können die Verfolger bekämpfen und eure Gerechtigkeit loben, was dir helfen wird, die Quelle der Aggression und des Bösen da draußen zu sehen, in der realen Welt. Und du dachtest, es wäre alles in deinem Kopf!«130

Die effektivsten phallischen Führer, so fand man heraus, sind »narzissti-sche Persönlichkeiten, charakterisiert durch eine intensive Ich-Beziehung und [deren] interpersonelle Beziehungen oftmals durch ein Fehlen von Empathie gekennzeichnet sind, [die] zwischen Gefühlen von Grandiosität und Omnipotenz ... und Gefühlen von Minderwertigkeit und geringem Selbstwert oszillieren [und die] besonders empfänglich für Gefühle der Schande und der Erniedrigung sind.«131 Nur narzisstische Führer, die sich von ihrer frühen Kindheit an geschämt und erniedrigt gefühlt haben, so wie etwa Richard Nixon, führen Kriege, die keinen anderen Grund hatten, als die Akzeptanz »einer nationalen Erniedrigung, [die] das Vertrauen unseres Landes in sich selbst zerstören [würde]«132, zu vermeiden. Die tiefe Quelle ihrer Einsamkeit, verursacht durch die emotionale Distanzierung von ihren Müttern, wird normalerweise durch die Abwesenheit ihrer Väter verschlimmert, so Broude, und mündet in Hypermaskulinität und Gewalt.133 

Die Eroberung von Frauen und von Nationen ist dieselbe Aufgabe für viele phallische Führer.134 Es ist kein Zufall, dass so viele der amerikanischen Kriegszeitpräsidenten Ehebrecher und zwanghafte Schürzenjäger waren.135 Eroberung ist die zentrale politische Funktion des phallischen Führers. Alternativ können messianische Helden, die Gruppen aus schwerer Wachstumspanik retten, manchmal persönlich asketisch sein - sie erobern nur Nationen, keine realen Frauen.136 Wie Hitler es ausdrückte: »Das Volk ist eine Frau ... Nach einer Rede fühle ich mich, als hätte ich eine sexuelle Befreiung gehabt.«137 Dominanz und Gewalt reinigen das Selbst und stellen es wieder her, so sprach Hitler nach dem Röhm-Massaker: »So! Jetzt habe ich ein Bad genommen und fühle mich wieder sauber wie ein Neugeborener.«138

Ein phallischer Führer wehrt die Erniedrigungen des maternalen Missbrauchs und der Vernachlässigung durch politische Gewalt ab. Lyndon Johnson zum Beispiel erinnert sich an den Entzug von Zuneigung durch seine verschlingende Mutter, wann immer er nicht das tat, was sie wünschte: »Sie spazierte im Haus herum und tat so als wäre ich tot [und] verweigerte mit mir zu sprechen, oder [mich] auch nur anzusehen.«139 Er hatte einen wiederkehrenden Traum, eine Stampede von Rindern — ein Symbol für maternale Verschlingung140 — kam auf ihn zu, während er gelähmt in einem Stuhl saß; im Traum rief er nach seiner Mutter, aber niemand kam.141 

Seine Angst vor Hilflosigkeit und Erniedrigung kehrte unmittelbar vor Vietnam wieder, so er sagte: »Mir kam es vor, als würde ich von allen Seiten von einer gigantischen Stampede gejagt werden ... Das amerikanische Volk bestürmte mich, etwas wegen Vietnam zu tun ... Ich habe etwas Besseres verdient, als mitten in der Ebene allein gelassen zu werden, von allen Seiten von einem wilden Ansturm gejagt.«142


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Seinem Biographen nach »vermied [er] unter allen Umständen die Bedrohung seiner Selbstachtung, die ... öffentliche Erniedrigung nach sich ziehen könnte«143 und begann den Krieg. Der Krieg stellte seine und die Männlichkeit der Nation wieder her: »Nachdem er seine Hosentüre aufgemacht hatte, zog er [Johnson] seinen Penis heraus und fragte die Reporter (laut einem Anwesenden): >Hat Ho Chi Minh irgendetwas Vergleichbares?«144 Der Krieg kastrierte den Feind: »Ich habe Ho Chi Minh nicht nur gefickt. Ich habe seinen Schwanz abgeschnitten.«145 Man wird an die Tatsache erinnert, dass bis vor kurzem Krieger ihre Feinde am Schlachtfeld wirklich kastrierten, nachdem sie sie besiegten.146 Diejenigen, die gegen den Krieg waren, sagte Johnson, wären Frauen: »[Sie müssen sich] zum Pissen hinhocken.«147 In den Krieg zu ziehen war gleichbedeutend mit »keine Frau zu sein«, nicht überwältigt und verschmolzen mit Mami.

 

Weil Nationen, wenn sie in den Krieg ziehen, in beiden Hemisphären verbleiben, müssen sie sich insofern auf den Krieg vorbereiten, als sie den Feind in eine Lage manövrieren müssen, in der er gerecht attackiert werden kann, und diese muss gleichzeitig gewährleisten, dass die Verantwortung für den Krieg nicht bei der eigenen Nation liegt. Führer dürften das erkennen, wie Theodore Roosevelt, der einem Freund 1897 schrieb: »In strenger Vertraulichkeit ... Ich sollte fast jeden Krieg willkommen heißen, weil ich denke, dieses Land brauchte einen.«148 Phänische Führer finden jedoch meist Wege nichtprovozierte Angriffe zu erfinden, von Wilsons Lüge über den Untergang der Lusitania und Lyndon Johnsons Lüge über den Angriff im Golf von Tonkin, bis hin zu Hitlers Lüge über den Angriff der polnischen Streitkräfte. Eine der komplexesten Lügen, die einen Angriff provozierte, der dann für eine Überraschung gehalten wurde, waren die jahrelangen Aktivitäten von Präsident Franklin Roosevelt, Japan zu einem Angriff auf die Vereinigten Staaten zu bewegen. Stinnetts umfangreich dokumentiertes Buch, Day of Deceit [Tag der Täuschung], zeigt auf, dass Roosevelt im Oktober 1940 im Geheimen eine Serie von acht Handlungen setzte, die die Falken in der japanischen Regierung dazu zwang, einen Krieg mit den U.S. einzugehen - Handelsembargos, »die Schlinge« um deren Ökonomie »enger ziehen« und das plötzliche Aufkreuzen von amerikanischen Kriegsschiffen in japanischen Gewässern, dann das ungeschützte Zurücklassen der U.S.-Flotte in Hawaii und das Verschweigen der Tatsache, dass die japanischen Codes geknackt wurden, damit der Angriff als »Überraschung« erscheinen würde.149

 

Einen weiteren Fall von Provokation eines Feindes kann man anhand der Handlungen von John F. Kennedy in der Kubakrise sehen. Kennedys Kindheit war typisch missbrauchend, beherrscht von der emotionalen Distanzierung seiner Mutter — »Sie war da, wenn wir sie wirklich brauchten ... [Sie] hat mich nie wirklich gehalten und umarmt. Nie.« — und ihrer Brutalität: Sie verdrosch ihn mit »Haarbürsten, Kleiderbügel, Gürtel und Schuhen, [und] einmal hat sie dem kleinen Bobby so brutal ins Gesicht geschlagen, dass sein Trommelfell und seine Lippen platzten«.150


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Das Ergebnis war eine phallisch-narzisstische Persönlichkeit, fokussiert auf die Eroberung von Frauen durch »tägliche Stelldicheins und lebenslange Geschlechtskrankheit [plus] ständiges Einnehmen von stimmungsverändernden Medikamenten«.151 Nach seiner Behauptung eines erdichteten Raketenungleich­gewichts gegenüber den Russen wurde John Kennedy zum Präsidenten gewählt, um Amerika nach der zu friedlichen Eisenhower Ära »wieder in Bewegung zu bringen«, und bald darauf gab er entgegen der Einwände der meisten Experten, die einen Fehlschlag prophezeiten, den Befehl zur Schweinebuchtinvasion gegen Kuba, und seinen Unterstützern teilte er mit, er »werde kein Feigling sein«.152 Den anschließenden Fehlschlag erfuhr er als persönliche Demütigung, für die er Rache brauchte. Er autorisierte eine Reihe von Attentaten auf Castro, aber der Erfolg blieb aus.153

 

1962 entschied Kennedy seine Kraft wiederzuerlangen und bereitete eine Invasion von Kuba durch U.S.-Streitkräfte vor. Er bat seinen Stab einen Vorwand zu formulieren, der den Anschein eines kubanischen Angriffs auf eine U.S.-Fluggesellschaft vermitteln und so seine Invasion rechtfertigen würde.154 Aber Krieg mit einem kleineren Nachbarn wäre nicht genug gewesen — eigentlich versuchte Kennedy dafür zu sorgen, dass die Russen in den Krieg verwickelt würden. 

Am 31.01.1962 bat er Chruschtschows Sohn Aleksei Adzhubei um ein Treffen, um die Russen zu demütigen, so wie er sich gedemütigt fühlte, und teilte ihm mit, dass er vorhabe Kuba anzugreifen, wie seinerzeit Russland Ungarn angegriffen hatte: »Wenn ich für die Wiederwahl kandidiere und die Kubafrage bleibt, wie sie ist«, sagte er, »dann werden wir etwas tun müssen«

Kennedy sagte einem bestürzten Adzhubei: »Ich rief Allen Dulles [Direktor der Central Intelligence Agency] in mein Büro [nach der Schweinebucht] und hielt ihm eine Standpauke. Ich sagte ihm: >Du solltest dir ein Beispiel an den Russen nehmen. Als sie Probleme mit Ungarn hatten, beseitigten sie den Konflikt in drei Tagen [indem sie Truppen entsandten.]<« Adzhubei wiederholte die Invasionsdrohung bei Chruschtschow, der sowjetischen Diplomaten mitteilte: »Ein Angriff auf Kuba wird vorbereitet. Und der einzige Weg, Kuba zu schützen, besteht darin, dort Raketen zu stationieren.«

 

Im April 1962 fingen 40.000 amerikanische Truppen in North Carolina mit der Erprobung einer Invasion Kubas an.155) Bis zum 6. Oktober 1962 waren Tausende von amerikanischen Truppen, mit fertigen Plänen und Ausrüstung, in Stellung gegangen und auf eine Invasion, unter Verwendung der Bahamas als Basisstation, am 20. Oktober 1962, vorbereitet. Am 16. Oktober 1962 machte jedoch der CIA klare U-2-Aufnahmen, die ihnen Auskunft über die Stationierung von russischen Raketen in Kuba gaben. Kennedy erzählte niemandem etwas über seine eigenen kriegerischen Aktionen und Drohungen, stattdessen erklärte er, der russische Zug wäre zur Gänze unprovoziert gewesen. 


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Trotz der Tatsache, dass 100 Millionen Amerikaner in der Reichweite der russischen Raketen lebten — und trotz der Meinung seines Stabes, dies würde keinen militärischen Unterschied machen, da schon länger nukleare Raketen einige Meilen vor der kubanischen Küste auf russischen U-Booten stationiert waren —, rief er ein Seeembargo ins Leben, und bereitete einen Großangriff auf Kuba vor, und riskierte somit einen nuklearen Dritten Weltkrieg. 

Indem er sagte: »Wenn Chruschtschow meine Nase in den Dreck steckt, ist alles aus«,156) und: »Wir dürfen vor der Welt nicht so aussehen, als würden wir zurückweichen«,157) erwartete Kennedy den Krieg ganz und gar. Als sein Stab ihm sagte, es gäbe diplomatische Mittel, die angewandt werden könnten, um die Raketen zu beseitigen, antwortete er: »Das Ziel besteht nicht im Aufhalten von offensiven Waffen, denn die offensiven Waffen sind schon da, vielmehr geht es darum, auf die eine oder andere Art eine Machtprobe mit den Russen zu veranstalten.«158) Seinen Gefährten gegenüber prahlte er damit, er würde Chruschtschow »die Eier abschneiden«.159) 

Nachdem Kennedy bereits öffentlich erklärt hatte, die U. S. wären darauf vorbereitet, in jeglichem Krieg den »nuklearen Erstschlag« zu führen,160 hätte Kennedys Embargo einen nuklearen Krieg bedeutet, falls die Russen die Demütigung nicht annehmen und nachgeben. Als amerikanische Demonstranten mit Plakaten aufmarschierten, auf denen »Einmarsch ins rote Kuba« stand, gab Kennedy zu, »möglicherweise wird es 200 Millionen Tote geben« in Amerika, wenn Chruschtschow seine Raketen nicht entfernt.161 Es war »ein fürchterliches Hasardspiel«, wie er es ausdrückte.162 Nicht eine Person in Kennedys Kabinett - von Adlai Stevenson, seinem U. N. Botschafter abgesehen - empfahl Verhandlungen mit Chruschtschow zu führen.163 Kennedy erwartete, die Russen würden seine Forderungen ablehnen und brachte amerikanische Bomber in Defcon-2-Status (bereit für den Krieg) und übersiedelte den Stab in den Schutzbunker des Weißen Hauses, während die Bomber, bestückt mit Atombomben, aufstiegen, bereit ihre Reise nach Russland anzutreten.164 Zum Glück für die Menschheit gab Chruschtschow nach, entfernte im Austausch für Kennedys Versprechen, nicht in Kuba einzumarschieren, die kubanischen Raketen, und ein nuklearer Dritter Weltkrieg konnte vermieden werden.

 

Die manische Phase: Ich-Desintegration und Paranoia

Nationen lassen sich aus dem gleichen Grund auf manische ökonomische und politische Projekte ein, der auch neue erfolgreiche Rockstars auf nächtelange Parties gehen und Drogen nehmen lässt — um einen Dopamin-»Schub« zu bekommen, der ihrer Depression und den Schuldgefühlen ihres Erfolgs wegen entgegenwirkt. 

Politische Paranoia und Ich-Desintegration erkennt man an konspirativen Gruppenfantasien, Angst vor Weiblichkeit und phantasierten Erniedrigungen durch andere Nationen. Parallel dazu treten in der ökonomischen Sphäre manische Überinvestition, gewagte Unternehmungen, exzessiver Zuwachs an Geldmitteln, in die Höhe schnellende Schulden und Börsenspekulationen auf, und in der politischen


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Sphäre chauvinistischer Nationalismus, expansive Unternehmungen, Aufrüstung des Militärs und streitlustige außenpolitische Provokationen. Wie auch bei Drogenabhängigkeit hinterlässt jeder Dopaminschub einen Dopaminkater, der nach noch größeren manischen Aktivitäten verlangt, damit die folgende Depression überwunden werden kann. Die Suche nach äußeren Feinden stammt von der wachsenden Ich-Desintegration, wenn die Grandiosität scheitert und Vergiftungsalarme sowie opfernde Gruppenfantasien stark zunehmen - was Therapiepatienten, die versuchen, sich zu ändern, auch angeben: »Wenn ich über das hinaus gehe, was meine Mutter von mir zu sein verlangte, bekomme ich das Gefühl auseinander zu fallen, desintegriert zu sein, und dies löst ein Minenfeld von Angriff, Destruktion und Töten aus.«165

In Amerika nahmen diese paranoiden Ängste vor einer apokalyptischen Bestrafung wegen Erfolgs die Form wiederbelebter Großer Erwachen an, die immer gegen Ende einer langen Periode des Friedens auftraten: das erste nach 24 Jahren Friede (1714-38) unter König George I. und II., das zweite nach 30 Jahren Friede (1815-45) unter Madison und Monroe und das dritte nach 31 Jahren Friede (1866-97) nach dem Bürgerkrieg. Diese apokalyptischen Fantasien münden ein in die darauf folgenden Kriegen. Von der Amerikanischen Revolution ist gesagt worden, dass sie »von einer allgemeinen Verbreitung von Verfolgungswahn« verursacht wurde, mit den Merkmalen »einer Angst vor Verweichlichung«166 und der Fantasie: »Mutter England verfolgt ihre Kinder.«167 Ähnlich, beginnend mit dem Annus Mirabilis 1858, fanden täglich Versammlungen von Tausenden von Leuten zu spontanen Gebetstreffen statt, bei denen sich Menschen auf den Boden warfen, Visionen sahen und ihr Hab und Gut in Vorbereitung auf das Ende der Welt vernichteten.168 Diese apokalyptische Stimmung verschmolz mit den »reinigenden Feuern des Krieges«, die »den Virus [der Nation]« durch den Blutzoll des Bürgerkrieges beseitigen würde, der »sakramental, erotisch, mystisch und seltsam erfreulich«169 war.

 

Vielleicht ist die klassische Ära paranoider Ängste, die zu apokalyptischer Bestrafung für Wohlstand führt, die Periode vor dem Ersten Weltkrieg, als die Wachstumsrate der Welt auf über 5 Prozent anstieg und Europa klinisch paranoid zu werden schien, genannt »die Dekadenz der Zeit, [als] keine Rangordnungen, Titel oder Rasse mehr etwas bedeuteten, alles vermischt ist, verwirrt, verschwommen [und] das Ende der Welt nahe schien«.1™ Wohlstand und liberale Reformen erzeugten eine Wachstumspanik, die »den Verfall von Religiosität, die Desintegration der patriarchalischen Familie und den Verfall des Respekts von Autorität«171 beklagte. Ängste, »feminin« zu werden, häuften sich gemeinsam mit Kampagnen gegen Homosexuelle. Bücher wie The World's End Soon zeigten die Degeneration und das apokalyptische Ableben Europas und weibliche blutsaugende Vampire, hergeleitet von Darstellungen der Neuen Frau, überfluteten als »sexhungrige Ehefrauen, die das Leben ihrer Männer mit unersättlichen erotischen Forderungen bedrohten«172, die populäre Literatur.


Krieg als gerechte Vergewaltigung und Läuterung  135

Künstler zeichneten Vampire, die hilflose Männer verschlangen173 und erfanden moderne Kunst als »durchdringende Vision der Fragmentation«, die zeigte, dass »alles in Teile desintegriert ist ... Strudel, [die] ins Nichts führen«.174 Journalisten fragten sich, ob »Europa dabei ist, ein gigantisches Irrenhaus zu werden«.175 Die Nationen fühlten, sie müssten sich gegen ihre anwachsenden paranoiden Wahnvorstellungen wehren. »Es ist klar, dass die Engländer nur darauf warten, über uns herzufallen«, verlautete der deutsche Kanzler.176 Nur ein »Präventivkrieg« könnte die Nation retten.177 »Ich glaube ein Krieg ist unvermeidlich und je früher, desto besser«, so der deutsche Staatschef.178 Europa wurde von einer »fürchterlichen Bereitschaft, einem wahren Durst nach dem, was Jesus die >blutverdunkelte Flut< nannte, ... fasziniert von der Aussicht eines reinigenden Feuers«179, hochgerissen. Krieg zu führen würde das Verschlungenwerden durch die schreckliche Mutter verhindern, Demütigung rächen, Verweichlichung vermeiden, Stärke wiederherstellen und die nationalen Arterien mit einem Aderlass reinigen, der den verunreinigenden Wohlstand180 rein waschen und das sündige böse Kind opfern würde.

 

Kriegsphase: die gerechte Vergewaltigung von Muttersubstituten

Obwohl Kriege angeblich zwischen Männern ausgetragen werden, haben diese Frauen und Kinder gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen. In den meisten Kriegen sterben mehr Zivilisten als Soldaten und, laut UNICEF, »in den Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg waren 90 Prozent der Opfer in der Zivilbevölkerung zu finden, ein großer Anteil davon Frauen und Kinder«.181 In unseren Vorstellungen finden Kriege hauptsächlich wegen Frauen und Kindern statt. Göttliche Kriege wurden immer für eine Göttin geführt, von Ishtar bis Teshub, fast immer waren sie Mütter der Kriegshelden,182 »danach schreiend, mit ... menschlichem Blut gefüttert zu werden«.183 Der prototypische Krieg ist der im mesopotamischen Mythos von Marduk gegen die giftige, verschlingende Drachengöttin Tiamat aus-gefochtene.184 Im Innersten kombinieren alle Stämme und Nationen Krieg und Vergewaltigung, um »ihr eine Lehre zu erteilen«. Socarides beschreibt die Funktion von Vergewaltigung folgendermaßen:

[Sie] erzwingt und entlockt Liebe; vernichtet den bedrohlichen Körper der Mutter, um nicht von ihr vernichtet zu werden, entlädt aggressive Impulse, die die Vernichtung des Selbst bedrohen, bis hin zum sexuellen Mord; erzielt vorübergehende Freiheit von der Angst vor der verschlingenden Mutter ... versichert gegen und vermindert Kastrationsangst.185

Klinische Studien über Vergewaltiger befinden ihr Verbrechen als Ergebnis extremer Vernachlässigung und Missbrauch in der Kindheit, kontinuierlicher Beschämung und Demütigung — und oftmals von tatsächlichem sexuellem Missbrauch in der Kindheit.186


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Die Fantasien des Vergewaltigers drehen sich um Kontrolle und Herrschaft und die eigentliche Vergewaltigung wird oft durch Rückblenden früherer Demütigungen ausgelöst, die in sexueller Gewalt wieder aufgeführt werden, wobei »mir mein Leben in den Kopf schießt ... also sah ich mich um nach einem Opfer«.187 Vergewaltigung ist ein pseudosexueller Akt, primär ausgeführt aufgrund von Gewalt und Rache, und dann sexualisiert. Vielfach kann der Vergewaltiger nicht einmal einen Orgasmus bekommen, aber das macht nichts, zumal er die Frau geschändet, erniedrigt und gedemütigt hat. Sex mag die Waffe sein, aber Rache ist das Motiv.

 

Vergewaltigungsfantasien sind extrem verbreitet. In Amerika fantasieren ein Drittel aller Männer, während sie masturbieren oder Geschlechtsverkehr haben, sie würden eine Frau vergewaltigen,188 während in einem Land wie Jugoslawien — wo historisch ältere Erziehungspraktiken auch noch im 20. Jahrhundert vorherrschten und die Vergewaltigung von Kindern Routine war — Vergewaltigung ein üblicher, täglicher Bestandteil des Lebens auch in Friedenszeiten war.189 

Vor Kriegen häufen sich Gruppenfantasien über Demütigung, während Nationen mehr und mehr Zeit damit verbringen, grundlose Beleidigungen auszutauschen und sich darüber beklagen, gedemütigt und von anderen herumgeschubst zu werden.190 Die unerwiderte Liebe des Kindes zur Mutter wird in zurückgewiesenen Anträgen anderer Nationen wiedererlebt. Hitler, zum Beispiel, begründete den Beginn des Zweiten Weltkrieges mit einer Zurückweisung mütterlicher Liebe: »Ich habe England wiederholt unsere Freundschaft angeboten und, falls nötig, engste Zusammenarbeit. Wie dem auch sei, Liebe ist keine einseitige Angelegenheit, sondern muss von der anderen Seite erwidert werden ... Ich möchte sie nicht erobern. Ich möchte mich mit ihr einigen. Ich möchte sie dazu zwingen, meine Freundschaft zu akzeptieren.«191 

Der Krieg begann als Eroberung, um Liebe zu bekommen, und endete als Vergewaltigung, um Liebe zu bekommen. Als der Krieg fast zuende war, rechtfertigte Hitler, in seinem Bunker sitzend, die gerechte Vergewaltigung von Europa als notwendig, denn: »Es konnte nicht mit Charme und Überzeugung erobert werden. Ich musste es vergewaltigen, um es zu haben.«192)

 

    

Fig. 6-2
Ein Mann entzieht sich dem Verschlingen durch eine Frau, 
indem er in den Krieg zieht.

 


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In einer Welt voll von demütigenden, zurückweisenden, provokativen Mutterländern scheinen Nachbarländer »geradezu nach Vergewaltigung zu bitten«. Gruppenfantasien, »in ihr explodieren« zu wollen, ihr »Leben zu penetrieren« und sich für »unsere abgelehnten Anträge« zu rächen, um sie »vom Thron zu stoßen« und »ihr eine Lektion zu erteilen, die sie nicht vergessen wird«, fangen an, in Diplomatie, politischen Cartoons und in den Medien ausgedrückt zu werden.193) 

Übermännlichkeit, mit dem Bedürfnis »stramm zu stehen« und »unsere Festigkeit herzuzeigen«, mit einer »Versteifung des nationalen Willens« fängt an, die Stimmung der Nation zu infizieren. Zeitungsschlagzeilen titeln mit Vergewaltigungsfantasien, um die Führer zum Krieg anzustacheln — wie britische Boulevardblätter vor der Falklandinvasion schrieen: »SCHIEBS DIR IN DIE JUNTA.« Cartoons zeigen barbarische Männer in Nachbarländern, die Anstalten machen, die Ehefrauen der Männer zu vergewaltigen.194)

Führer drücken in Besprechungen nun Vergewaltigungsprojektionen aus, so wie Lyndon Johnson vor der Ausweitung des Vietnamkrieges aufgeregt fragte: »Wie viele Male lasse ich einen Freund meine Frau vergewaltigen?«195 Letztendlich, wenn die Gruppenfantasie ihren Höhepunkt erreicht hat und Taten, um »respektiert zu werden«, unwiderstehlich erscheinen, beginnt der Krieg als gerechte Vergewaltigung von jedem Feind, der als passende demütigende Mami herhalten kann. Krieg, Gruppenvergewaltigungsfantasien und die Erniedrigung von Frauen verschmelzen miteinander.

 

Kriegsphase: Läuterung des Selbst als »böses Kind«

Während Krieg als Weg, sich für mütterliche Falschbehandlung zu rächen, gesehen wird, bedeutet er auch eine Verschmelzung mit der schrecklichen Mutter, um das Böses-Kind-Selbst auszulöschen, dessen Schuld es sein muss, dass Mami nicht liebevoll war. Deswegen ist Krieg eine Opferlösung unserer Suche nach Liebe.

Fig. 6-3 
Offene Ängste vor Vergewaltigung 
in Slowenien vor dem Balkankrieg 1991.


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Jede Nation wählt Führer, von denen erwartet wird, sie arrangieren irgendwie die Versorgung mit Feinden als »böses Kind«, um so einen Krieg bereitzustellen, wenn er emotional benötigt wird. Die Läuterung der Menschheit durch das Opfern von Kindern an eine Rachegöttin war Praxis in antiken Gesellschaften wie Karthago, wo Zehntausende von Gefäßen mit verkohlten Gebeinen von geopferten Kindern, gemeinsam mit Inschriften, auf denen steht, sie wären von ihren Eltern getötet worden, um deren Sündhaftigkeit zu beseitigen, gefunden worden.196 

In jeden Krieg marschieren junge Männer, die in heroischen Akten des Opfers Selbstmord begehen, »wir verlieren uns [in] Ekstase, denn wir sind uns einer außerhalb von uns liegenden Macht bewusst, mit der wir verschmelzen können«.197 Ein Soldat im Ersten Weltkrieg schrieb: »Sich selbst zu opfern ist ein Vergnügen, das größte Vergnügen ... Nie zuvor hat ein so mächtiges Sehnen nach dem Tod und Leidenschaft zur Aufopferung die Menschheit ergriffen.«198 

Es ist kein Zufall, dass das Wort Infanterie vom lateinische Wort infans, »kleines Kind«, stammt. Damit das Selbst als »gutes Kind« geliebt werden kann, muss das Selbst als »böses Kind« sterben. Der Mensch muss leiden und Blut muss fließen, um die Nation zu erneuern/wiederzugebären: »Die Seelen von Nationen stillen ihren Durst nach Erneuerung mit dem Blut der gefallenen Soldaten.«199 Die Soldaten mögen tot an ihre Mütter zurückgegeben werden, umhüllt sind sie aber mit »lebenden Flaggen«, maternalen Symbolen, als ob sie in neuen gewickelten Gewändern wieder geboren wurden, mit einer neuen Chance, geliebt zu werden.200 Ein Soldat »stirbt friedvoll. Er, der ein Mutterland hat, stirbt im Trost ... bei ihr, wie ein Baby beim Einschlafen.«201

 

Wenn der Krieg begonnen hat, spürt  man ein ekstatisches Gefühl der Erleichterung, weil es die revanche supreme für frühen Missbrauch ist und die Läuterung des Selbst von Sündhaftigkeit verspricht. Auch wenn die Menschen, wenn sie Kriege beginnen, davon überzeugt sind, der Feind sei außerhalb von ihnen zu suchen, bekämpfen sie vielmehr Alter Egos in sich selbst.

Krieg ist »das größte Glück, das normale Menschen finden können«,202 ein »reinigendes Gewitter«,203 das einem die Chance eröffnet »wiedergeboren zu werden«,204 ein »Triumph der Gerechtigkeit«205 und eine »magische Wiederherstellung der Stärke«206. »Es ist eine Freude zu leben«, jubelte eine deutsche Zeitung 1914.207)

 

   

Fig. 6-4 
Mutter England vernichtet böse Kinder

 


Krieg als gerechte Vergewaltigung und Läuterung  139

»Die Heide steht in Flammen. Ich wusste vorher nicht, was eine Volkserregung sein kann«, schrieb ein Amerikaner, als der Bürgerkrieg begann und berichtet von jubelnden Massen »mit erröteten Gesichtern, wilden Blicken, schreienden Mündern«.208 Endlich kann man simultan Rache an dem schrecklichen Mutter-Alter Ego üben, das Böses-Kind-Alter-Ego beseitigen, neugeboren, pur und liebenswert werden — all das in einem prächtigen Akt von Massenabschlachtung.

 

Die Ursachen des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust 

 

Historiker und Politikwissenschaftler haben eine Anzahl von Ursachen für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust vorgeschlagen.209) Leider haben detaillierte Recherchen jede einzelne Annahme widerlegt. Goldhagens Behauptung, Durchschnittsdeutsche hätten schon länger »vernichtende« antisemitische Ansichten210 gehabt, wurde von gründlichen historischen Studien widerlegt, die gezeigt haben, dass Deutschland »im Europa des späten 19. Jahrhundert ein sicherer Hafen war, [von dem aus] die deutschen Juden nach Frankreich blickten und einen, durch die Dreyfusaffäre entfesselten, bestürzenden Antisemitismus sahen, und wenn sie nach Osten schauten, sahen sie Pogrome und Tausende Juden, die in Richtung Deutschlands sicherem politischen Klima flüchteten«.211 

Der Grund, »warum so viele Juden unterlassen haben, Deutschland zu verlassen [lag daran], weil sie einfach nicht glauben konnten, dass dieses Deutschland, das sie liebten [und] dem sie Dankbarkeit zollten« ihnen jemals etwas antun könnte.212 Vielmehr waren frühere antisemitische Bewegungen in Deutschland klein gewesen und »die meisten Historiker glauben, die Nazis waren mit der Geschichte Deutschlands nie tief verwurzelt gewesen und Antisemitismus in Deutschland hätte sich im Wesentlichen nicht von dem in einigen anderen Nationen unterschieden«.213 

Genaue Studien über die Parteimitglieder der NSDAP belegen, dass die meisten bei ihrem Beitritt nicht antisemitisch waren: »Die meisten Leute wurden in den Antisemitismus hineingezogen, weil sie in den Nazismus gezogen wurden und nicht umgekehrt.«214 Kershaws genaue Arbeiten bestätigen, dass Antisemitismus kein Hauptfaktor für die Verlockung, Hitler zu unterstützen, war.215 Wie in weiterer Folge detailliert ausgeführt wird, waren es die Ängste der manischen Periode nach dem Ende der Großen Depression, nach Hitlers Machtzuwachs in den 1939ern, die Deutsche zu Antisemiten gemacht haben und dies somit nicht auf irgendein mysteriöses deutsches, antisemitisches Gen zurückzuführen ist.

Alle anderen Erklärungen für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust wurden in ähnlicher Weise durch jüngere historische Forschungen widerlegt. Klaus Fischers »kein Hitler, kein Holocaust«216 wurde gemeinsam mit allen anderen Studien, welche die Gewalttätigkeit der Deutschen dem Gehorsam gegenüber Hitlers »hypnotischen Augen«217 die Schuld geben, durch Dutzende von Studien über die spontane, freiwillige Gewaltausübung durchschnittlicher Deutscher, obwohl sie sich dagegen hätten entscheiden können, fallen gelassen.

»Nur Befehlen zu folgen« wird nicht länger als seriöse Motivation für den Krieg und den Genozid in Erwägung gezogen. Was dahingegen weithin akzeptiert wird, ist, dass die Deutschen unter Stress standen, den Nazismus gewählt haben und sich dann, wegen der Großen Depression, der Gewalt zuwandten.

 

Zahlreiche detaillierte Studien über die Mitgliedschaft bei der NSDAP widerlegen diese ökonomische Stresstheorie. Das Musterparteimitglied trat vor der Depression ein: »Seine wirtschaftliche Situation war sicher, es musste nicht einmal seine Beschäftigung, Job oder den Wohnsitz wechseln, noch war es je arbeitslos.«218 »Die einzigen [von der Depression] Betroffenen waren die Arbeiter. ... Dennoch blieben paradoxerweise die Arbeiter der Unterstützung der Aufrechterhaltung des [demokratischen] Status Quo treu, während die nur marginal von der ökonomischen Beengtheit betroffene Mittelklasse sich der Revolution zuwandte.«219 

Die meisten Arbeiter haben die Nazis nicht gewählt und von denen, die es taten, die »an Hitler, den Zauberer, glaubten«, waren bald enttäuscht.220 Hitler gab zu, dass »Ökonomie ihm nicht sehr wichtig war [und] wenige Deutsche hatten Informationen darüber, worin sein Wirtschaftsprogramm überhaupt bestand«.221

Deutsche, die zu gewalttätigen Nazis wurden, kamen primär aus autoritären Mittelklassemilieus, nicht aus der Armut. Tatsächlich, »diejenigen, die in Armut aufwuchsen, zeigten die geringsten Vorurteile«, ist in Merkls Studie über Nazisturmtruppen zu lesen.222 

Der Stress, der den Krieg und den Genozid ausgelöst hat, hing mit Ökonomie zusammen, kam jedoch von dem erneuerten Wohlstand in den späten 1930ern, nicht vom Wirtschaftszusammenbruch von 1929.

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