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Teil 3   Psychohistorische Evolution  

"Man kann vieles über über die Geschichte der Welt sagen; alles, was in die verrückteste Vorstellung Eingang findet. 
Das einzige, was man nicht behaupten kann, ist, daß sie vernünftig wäre;
denn dieses Wort bleibt einem im Halse stecken."  --Fjodor Dostojewski

 

 

7. Kindheit und kulturelle Evolution

"Das Kind spürt den Trieb der Lebenskraft... Man kann dies nicht für das Kind fühlen."  (George B. Shaw)

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Da sich fast die gesamte kulturelle Evolution des Homo sapiens sapiens während der letzten 100.000 Jahre abspielte — etwa 5.000 Generationen nur —, und da diese Zeitspanne zu kurz für eine starke Mutation der menschlichen Erbmasse ist, muss die epigenetische Evolution der Psyche — die Evolution der Architektur des Gehirns, die während der Entwicklung im Mutterleib und in der frühen Kindheit passiert —, mehr als eine rein genetische Evolution, nämlich die zentrale Ursache für kulturellen Wandel sein. 

Nach Jahrzehnten der Behauptungen von Soziobiologen, »soziale Strukturen und Kultur sind kunstvolle Gefäße oder Überlebensmechanismen zur Sicherstellung, dass Gene ihre Fähigkeiten maximieren können«,1) gibt es immer noch nicht den geringsten Hinweis darauf, jeglichem kulturellen Wandel läge ein natürlicher neodarwinistischer Selektionsmechanismus zugrunde. Die kleine Statur der Pygmäen mag durch genetische Evolution über Millionen von Jahren, als Anpassung an tropische Umgebung,2) motiviert sein, aber selbst die eifrigsten Soziobiologen haben nicht behauptet, beweisen zu können, der Glaube an Hexen oder göttliche Führer — die man in jedem Milieu finden konnte — wäre durch irgendwelche Umweltbedingungen entstanden.3) 

Eine kürzlich erstellte Studie über 100 bedeutende Eigenschaften menschlicher Gene schließt damit, dass es »keine bekannten absoluten Unterschiede zwischen primitiven und zivilisierten Bevölkerungen« gäbe.4) Leider bedeutet dies, dass die Ursachen der kulturellen Evolution unserer Spezies ein totales Rätsel bleiben.

Da die neodarwinistische Theorie der unterschiedlichen genetischen Nachbildung massives Aussterben für die Auswahl von Zufallsmutationen benötigt, bedeutet der Mangel an Hinweisen massive Ausrottungen während der letzten 100.000 Jahre; unterschiedliche Nachbildungsraten besitzen wenig Wert für die Erklärung der relativ raschen Evolution der Psyche und der Kultur des Homo sapiens sapiens. 

Dazu kommt, dass die Milliarden von neuronalen Verbindungen im Gehirn einfach viel zu zahlreich sind, um von der limitierten Anzahl von Genen in den geschlechtlichen Fortpflanzungszellen determiniert werden zu können. Mayr drückt dies folgendermaßen aus: »Das Gehirn von vor 100.000 Jahren ist dasselbe Gehirn, das heute in der Lage ist, Computer zu entwerfen. ... Alle Errungenschaften des menschlichen Intellekts wurden mit Gehirnen erreicht, die nicht speziell für diese Aufgaben durch den neodarwinistischen Prozess ausgewählt wurden.«5) 

Da nun die umweltbedingte Selektion von genetischen Zufalls­varianten nicht der zentrale Mechanismus für die Evolution moderner menschlicher neuronaler Netzwerke ist, stellt sich die Frage, welche nichtdarwinistischen Prozesse für die enorme Evolution der Gehirnnetzwerke und der Kulturen der modernen Menschen verantwortlich gewesen sind.

 

Der Fehlschlag des Umweltdeterminismus der kulturellen Evolution 

 

Dass so viele Sozialwissenschaftler Umweltdeterministen bleiben, ist erstaunlich. Das liegt sicher nicht daran, dass die Methode irgendeine empirische Verifikation hätte — von der Umwelt wird einfach angenommen, sie stünde in kausalem Zusammenhang mit kulturellem Wandel, weil man so oft a priori davon ausgeht, ein Fortschritt der menschlichen Natur wäre nicht möglich. Leslie White drückte dies, da man davon ausging, dass die menschliche Natur sich nicht verändern könne, folgendermaßen aus: »Wir sehen keinen Grund dafür, warum kulturelle Systeme 50.000 Jahre v.Chr. ... nicht genauso wie Systeme um 8.000 v.Chr. in der Lage hätten sein können, Landwirtschaften zu schaffen. ... Wir müssen also die Umweltfaktoren] betrachten, um Antworten auf diese Fragen zu erhalten.«6)

Zum Beispiel glauben die meisten Sozialwissenschaftler, der »primäre Motor für kulturelle Evolution ist Bevölkerungswachstum«, bestimmt durch Umweltbedingungen,7) und übersehen dabei die Tatsache, dass Bevölkerungswachstum von der Verringerung der Kindestötung und der Entwicklung der Fähigkeiten zur Herstellung größerer Nahrungsmengen abhängt — beides psychologische Eigenschaften. Empirische Studien haben vielmehr bloßes Bevölkerungswachstum als Haupttriebfeder von Evolution widerlegt und zeigen etwa auf, dass sich tatsächlich viele entwickelte Königreiche in Gebieten mit einer ziemlich geringen Bevölkerungsdichte gebildet haben.8)

Wie Hallpike es ausdrückte: »Es gibt viele Gesellschaften mit einer ausreichenden Bevölkerungsdichte, die nichtsdestotrotz keinen Staat entwickelten. ... Bevölkerungsdichte ist lediglich ein Index für den Überfluss von vitalem Rohmaterial — Menschen — und hat aus sich selbst heraus keine bestimmende Kraft dafür, wie dieses Rohmaterial verwendet wird.«9) Hayden fasst jüngere Studien, die den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Evolution überprüften, zusammen, indem er sagt: »Weder Bevölkerungsdruck noch Beschränkung schienen eine signifikante Rolle bei der Schaffung von Ungleichheit oder Komplexität gespielt zu haben.«10) Umwelten sind Möglichkeiten, nicht bloß Zwangsjacken.

Die psychogene Theorie sieht Umwelten als sowohl Zwänge als auch Chancen bietenden Umstand für kulturelle Evolution, während die Evolution der psychologischen Entwicklung, der »menschlichen Natur«, bestimmt, wie diesen Herausforderungen entsprochen wird.


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Das heißt natürlich nicht, dass die Umwelt nicht ins Gewicht fallen würde. Jared Diamond hat überzeugend gezeigt, wie umweltbedingte Unterschiede die Steilheit der Leiter der kulturellen Evolution erhöhten oder verringerten, und veranschaulicht, wie die Verfügbarkeit von einigen wenigen guten Pflanzen und die Domestizierung von Tieren die Evolutionsrate von Kulturen aus verschiedenen Weltgegenden entscheidend bestimmen können, wobei in Gebieten, die zuchtfähige Samenkörner und Vieh zu Verfügung hatten, auch die Fähigkeit, sich schneller zu entwickeln, eher anstieg als in solchen, die diese Voraussetzungen nicht hatten.11 

Beim evolutionären Problem geht es aber nicht nur um die Verfügbarkeit von Umweltressourcen. Es ist klar, dass man in der Arktis keine großartige Landwirtschaft entwickeln kann, und es leuchtet ein, dass in tropischen Regionen zu viele Parasiten und zu schwere Dürren vorkommen, die Entwicklung verhindern.12

Aber Umwelt ist nur ein Teil der Antwort auf evolutionäre Unterschiede. Umweltveränderungen können kulturelle Evolution nicht erklären, da Kultur sich oft entfaltet hat, während die Ökologie sich aufgrund von erschöpfter Erde und anderen Faktoren rückentwickelt hat. Die zentrale Frage der Evolution ist, wie effektiv jede Umwelt von sich entfaltenden Menschen entwickelt werden kann. Das Geheimnis, warum England und nicht Frankreich, Deutschland oder Polen die erste moderne Gesellschaft war13 und als erste Nation die Industrielle Revolution hervorbrachte, geht auf Englands fortschrittliche Kindererziehung in seinen mehr kernförmigen mittelalterlichen Haushalten zurück und nicht auf irgendeinen ökologischen Vorteil.14 Englische politische Freiheit, religiöse Toleranz, Industrie und Innovation waren allesamt Psychoklassen, Errungenschaften, abhängig von der Evolution der Kindererziehung. Die wichtigste ungelöste Frage der kulturellen Evolution besteht deshalb darin, die Innovationsrate und die Adaption neuer Techniken zur Ausbeutung existierender Ressourcen zu erklären — Faktoren, die in höchstem Maße von der lokalen Evolutionsrate der Kindererziehung abhängen.

 

Trotz ihrer Befürwortung des monokausalen Umweltdeterminismus haben Anthropologen regelmäßig bewiesen, dass ähnliche Umwelten ziemlich unterschiedliche Psychen und Kulturen hervorgebracht haben. Obwohl die meisten Whitings Paradigma folgen, wonach die Umwelt Kindheit, Persönlichkeit und Kultur prägt,15 beschreiben andere ziemlich unterschiedliche Persönlichkeiten und Kulturen in identischen Umwelten — ein Stamm freundlich, zugänglich und friedvoll, der andere aus grimmigen kopfjagenden Kannibalen zusammengesetzt —, lassen aber dann den Grund für die krassen Differenzen ungeklärt, als ob die beiden Gruppen von zwei verschiedenen Planeten auf die Erde gefallen wären.16

Andere wieder beschreiben einander ziemlich ähnelnde Kulturen, die sich in komplett unterschiedlichen Umwelten entwickelten. Jeglichen Beweis für ihre Theorie des Umweltdeterminismus schuldig bleibend, geben Anthropologen zu, die Ursachen für kulturelle Evolution wären schlicht unerklärlich.


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Archäologen sprechen oft von einer »neuen Art von Menschen«, die in der prähistorischen Geschichte auftaucht und sich mit Wettkämpfen beschäftigt, welche eine höhere Nahrungsmittelproduktion erfordern, die wiederum zur Evolution der Landwirtschaft führt.17) Sie sprechen über »eine neue Einstellung gegenüber Veränderung«, wie sie in der Geschichte manchmal vorkommt, »doch bleiben die Gründe dafür obskur«.18) Die Entdeckung dessen, was die Gründe für diese neuen Arten von Menschen und neuen Haltungen gegenüber Veränderungen sein könnten, die auf mysteriöse Weise in der Geschichte immer wieder auftauchen, ist deshalb die zentrale Aufgabe der psychogenen Theorie der Evolution.

 

Unterschiede zwischen historischer und neodarwinistischer Evolution

 

Die Probleme, Evolution zu erklären, sind für alle Wissenschaften zentral, die Sozialwissenschaften einge­schlossen. Wie in der Biologie nichts wirklich Sinn macht, was nicht im Lichte der genetischen Evolution betrachtet wird, macht auch in der menschlichen Geschichte nichts wirklich Sinn, wenn es nicht im Lichte der epigenetischen (psychogenen) Evolution gesehen wird. Die neodarwinistische Theorie der biologischen Evolution erklärt alle Verhaltensänderungen bei Tieren durch das Zusammenwachsen von Zufallsvariationen, hervorgerufen durch Mutationen, Neuverbindungen und genetische Verschiebungen, die als bessere Anpassungen an eine sich verändernde Umwelt ausgewählt werden. Was aber gemeinhin übersehen wird, ist, dass genetische Evolution nur die Kapazität für Variationen von Erwachsenenverhalten vorsieht, wenn sie von einer spezifischen Entwicklungsumgebung ausgeht.19)

Der Weg von Genotypus zum Phänotypus ist ein langer. Welche Eigenschaften beim reifen Individuum tatsächlich aufscheinen, hängt vom eigentlichen Verlauf der epigenetischen Entwicklung ab, die im Mutterleib anfängt und sich über die gesamte Kindheit fortsetzt — für jedes Individuum eine äußerst komplexe und variable Reise. Die wichtigsten Umwelten sind dabei der Körper und das Verhalten der Mutter, und die wichtigste Konkurrenz für das Überleben liegt nicht im Sperma oder im Ei, sondern auf dem neuronalen Niveau im Gehirn, mit der Mutter als derjenigen, die als »Agentin der natürlichen Selektion«20 handelt.

Wenig Beachtung finden die kürzlich gemachten revolutionären Entdeckungen in der Molekularbiologie von Gottlieb, Lipton u.a., die damit anfingen, tatsächliche Veränderungen genetischer Codes durch frühe Umgebungen zu zeigen.21 Gottlieb spricht davon, wie eine vor kurzem »stattgefundene virtuelle Revolution in unserem Wissen über Einflüsse der Umwelt auf die genetische Ausformung Eingang gefunden hat, die generell noch nicht in die Sozialwissenschaften und speziell in die Verhaltenswissenschaften eingesickert ist«.22 Gene aktivieren sich nicht selbst — ein beträchtlicher Bestand von Beweisen zeigt jetzt, dass externe Umwelteinflüsse ebenso wesentliche Ereignisse bei der Aktivierung von Genen sind. 


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Man geht jetzt also davon aus, dass Gene »am untersten Niveau der organischen Organisation operieren und nicht in sich oder aus sich selbst fertige Eigenschaften oder Merkmale des Organismus erzeugen«.23 Selbst vererbte Eigenschaften müssen aktiviert sein, um wirksam zu werden.24 Sie sind weniger eine Blaupause als »ein organisches Versprechen, völlig abhängig von umweltbedingter Anweisung, die genetische Ausprägung auszuwählen, zu kontrollieren und zu regulieren. ... Von frühesten Stadien der Entwicklung an wirkt die Außenwelt ein, selektiert und aktiviert relevante Gene, formt und webt den Teppich eines einzigartigen Nervensystems.«25 

Die mütterliche pränatale Umwelt und frühe elterliche Fürsorge können jedenfalls an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, indem sie genetische Ausprägungen und den Zugang zu Genen verändern, ziemlich konträr zum traditionellen biologischen Dogma. Da sich Gene nicht selbstständig ein- oder ausschalten können, brauchen sie Signale aus ihrer Umgebung. Die genetische Struktur scheint gegenüber Umweltveränderungen viel weiter offen und nicht, wie man bislang dachte, immun gegen Umweltinputs zu sein. Das ist kein Lamarckianismus; Lamarck wusste nichts vom Verhalten der Gene. Was sich geändert hat, ist die Entdeckung, dass Zellen Rezeptoren enthalten, die auf Umweltsignale antworten und sich adaptieren — mit der Mutter als Hauptkontrolleurin des genetischen Zugangs.26 

Weiters wurde entdeckt, dass nur 3 Prozent der Gene im Zellkern zur Codierung menschlichen Ausdrucks verwendet werden, während die verbleibenden 97 Prozent — von denen man zuvor dachte, sie seien unnötiges Gepäck und somit als »Abfall-DNA« bezeichnete — extra DNA enthalten, die neue genetische Ausprägungen und neue Verhaltensweisen bilden können.27 Selbst Gefühle der Mutter können an die nächste Generation weitergegeben werden. Studien haben gezeigt, dass gestresste Kinder »von Opfern zu Tätern werden«, weil ihre Noradrenalin- und Serotoninspiegel aus dem Gleichgewicht geraten, die, so glaubt Kotulak, sowohl durch genetische als auch epigenetische Veränderungen weitergegeben werden können.28)

Die Gesetze der historischen Evolution unterscheiden sich sehr von den Gesetzen des Neodarwinismus. Die zentrale Hypothese der psychogenen Theorie über historische Evolution lautet, dass epigenetische neuronale Variationen, die auf sich verändernde interpersonelle Beziehungen mit den Fürsorgenden zurückgehen, die primäre Ursache für die Evolution der Psyche und der Gesellschaft darstellen. »Je entwickelter die Spezies ... desto größer ist die Rolle der epigenetischen Mechanismen bei der Strukturierung des Nervensystems.«29 Die fundamentale evolutionäre Richtung des Homo sapiens sapiens geht hin zu besseren interpersonellen Beziehungen, nicht bloß zur Befriedigung von Instinkten. Während die Anpassung an die natürliche Umwelt den Schlüssel zur genetischen Evolution darstellt, ist die Beziehung zur menschlichen Umwelt der Schlüssel zur psychologischen Evolution, zur Evolution der »menschlichen Natur«. Jede Generation — jede neue Beziehung zwischen einem Elternteil und einem Kind — eröffnet eine epigenetische Chance, die Psyche neu zu vernetzen, die Kindeserziehung zu verbessern und so das Selbst, den Kern des Bewusstseins, zu erweitern.30)


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Psychogenese ist auch der Schlüssel zu kultureller Evolution, da die Bandbreite der Evolution in der Kinder­erziehung in jeder Gesellschaft dem unüberwindbare Grenzen setzt, was überhaupt erreicht werden kann — politisch, ökonomisch und sozial.

 

Es stimmt natürlich nicht, dass »Gene keinen Wert haben«. Doch die Geschichte verändert sich schnell, wohingegen die Erbmasse weitgehend gleich bleibt. Während der letzten 100.000 Jahre haben Entwicklungsveränderungen im drei Pfund schweren, aus Milliarden von Zellen bestehenden Gehirn rein genetische Veränderungen, die als Gründe für psychologische und kulturelle Evolution gelten könnten, völlig übertroffen. Die kausalen Mechanismen für die Evolution der menschlichen Psyche und Kultur haben sich mehr und mehr von den neodarwinistischen kausalen Mechanismen, die allein vom Fortpflanzungserfolg abhängen,31 abgekoppelt. Die psychogene Theorie der Evolution basiert deshalb nicht auf Spencers und Darwins »Überleben der Fittesten« — Kinder von den rücksichtslosesten Eltern —, sondern auf dem »Überleben der Innovativsten und Kooperativsten« — Kinder von den liebevollsten Eltern. Die Prozesse der psychogenen Evolution sind deshalb das genaue Gegenteil von denen der natürlichen Selektion, basierend auf Konflikt und Konkurrenz. Sie beinhalten das Folgende:

 

1.  Die Herstellung von Variationen durch Psychogenese geschieht durch innovative Mütter, die andere frühe epigenetische Umwelten schaffen, indem sie mehr Liebe und fortgeschrittenere fötale und frühkindliche Entwicklungswege bereitstellen.

2.  Das Medium der Übertragung schließt neuronale Gruppen in den Gehirnen individueller Elternteile und der Kinder mit ein, nicht allein Gene in den Sexualorganen der Eltern.

3.  Die Selektion der Variationen wird hauptsächlich durch Änderungen in einem sehr eingegrenzten Teil der menschlichen Umwelt erreicht — der Familie, dem hauptsächlichen Organisator emotionaler Symbole —, nicht nur durch Veränderungen der Ökologie.

4.  Die Erhaltung von auftauchenden Variationen in manchen Individuen kann durch Überschwemmung mit weniger entwickelten Praktiken vom Rest der Kultur, über psychogene Pumpeneffekte der Migration, verhindert werden.

5.  Die Grenzen für auftauchende Variationen kommen durch widrige Umstände für die Kindererziehung, wie etwa Kriege, Plagen und Dürren, zustande.

6.  Der Hauptort der epigenetischen Variationen ist die langsame Entwicklung des integrierten Selbstbewusstseins, das zuversichtlich in die Zukunft blickt und sich seine eigene erweiterte Gegenwart schafft.

7.  Die Innovationsrate kultureller Evolution wird in jeder Gesellschaft von den Bedingungen für elterliche Zuwendung gesetzt und der daraus erzielten Steigerung der individuellen Selbstbehauptung, sodass allen kulturellen Evolutionen solche der Kindererziehung vorausgehen.

8. Die psychogene Evolutionsrate ist in der Geschichte mehr vom mütterlichen als vom väterlichen Teil beeinflusst worden, wohingegen gemäß der neodarwinistischen Evolution männliche und weibliche Teile jeweils die Hälfte der genetischen Information beitragen.


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Der letzte Punkt wird im nächsten Kapitel voll ersichtlich, wo gezeigt wird, dass die Vaterrolle — die eine reale Rolle bei der Gestaltung der Psyche des Kindes hat — eine historisch sehr späte Erfindung ist. Die meisten Väter unter unseren nächsten verwandten Affen haben mit ihren Kindern nicht viel zu tun,32 und eine erziehende Rolle während der frühen Kindheit bei menschlichen Väter stellt sich als historisch wesentlich jüngere Innovation heraus, als man bisher angenommen hat. Die größten Fortschritte in den Strukturen des Gehirns sind deshalb hauptsächlich von Frauen, nicht von Männern, entwickelt worden; um also die Gesetze der kulturellen Evolution entdecken zu können, muss man in der Geschichte »den Müttern folgen«. Deshalb postuliert nur die psychogene Theorie, dass für den größten Teil der Geschichte Frauen die Ursache aller historischen Veränderungen sind.

 

Die »hoffnungsvolle Tochter« und der psychogene Cul-de-Sac

 

Da zum größten Teil in der Geschichte Frauen Jungen großgezogen haben, die dann eher weggehen und jagen, Land bewirtschaften, Sachen bauen und Kriege führen, als dass sie viel zur Erneuerung der Psyche der nächsten Generation beitragen, war der Kurs der Evolution der Psyche in überwältigender Weise von der Art, wie Mütter ihre Töchter, die nächste Generation von Müttern, behandelt haben, abhängig.

Da frühe emotionale Beziehungen das gesamte Spektrum des menschlichen Verhaltens organisieren, beeinflussen alle kulturellen Eigenschaften die Evolution der Psyche nicht gleich — diejenigen, welche die Psyche der Tochter beeinflussen, repräsentieren den wichtigsten Flaschenhals, den alle anderen kulturellen Eigenschaften passieren müssen.

Die Evolution der Psyche und Kulturen ist zutiefst von der Wende der schwachen Bindungen zwischen Mutter und Tochter bei Affen und frühen Menschen33) in eine aufrichtige Liebe abhängig. Das heißt, historische Gesellschaften, die optimale Bedingungen für die Verbesserung der so kritischen Mutter-Tochter-Beziehung schaffen, indem sie die Mutter mit Unterstützung und Liebe umringen, zeigen in den nächsten Generationen psychologische Innovationen und kulturelle Fortschritte. Im Gegensatz dazu erleben Gesellschaften, welche die emotionale Mutter-Tochter-Beziehung verkrüppeln, eine psychogene Stockung, wenn nicht psychogene Rückentwicklung.

Entsprechend dem Begriff hoffnungsvolles Monster, den Biologen verwenden, wenn sie biologische Variationen spezifizieren,34 kann die Idee, das emotionale Mutter-Tochter-Verhältnis sei der Mittelpunkt der epigenetischen Evolution und die Hauptursache für Neuerungen der Psyche, das »Hoffnungsvolle-Tochter«-Prinzip genannt werden.


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Wenn innovative Mütter ihre Töchter lieben und unterstützen, kann eine Serie von Generationen neue Kindeserziehungspraktiken entwickeln, die völlig neue neuronale Netzwerke und Verhaltenseigenschaften hervorbringen. Wenn Töchter stattdessen von einer Gesellschaft emotional verkrüppelt werden, schafft das einen psychogenen Cul-de-Sac — Generationen von Müttern können keine Neuerungen einführen und die kulturelle Entwicklung stagniert.35)

 

Zum Beispiel begannen Männer vor dem 10. Jahrhundert n. Chr. in China als sexuelle Perversion die Füße von kleinen Mädchen zu binden, machten diese zum sexuellen Fetisch, zum Penisersatz, an dem Männer während des Sexualspiels saugten und auf den sie onanierten.36 Die chinesische Literatur berichtet von dem schreienden Weinen eines 5 Jahre alten Mädchens, als es jahrelang, seine Aufgaben verrichtend ums Haus humpelte, während seine Füße gebunden waren, weil man ihr, um den Fuß zu verkleinern, die Fußknochen brach und das Fleisch verdarb. Sie verlor einige Zehen, als man ihr diese nach unten, unter den Fuß, bog, um den großen Zeh als eine Art weiblichen Penis hervorzuheben. Diese Praxis kam in der vielleicht weltgrößten Anti-Tochter-Kultur zu vielen anderen brutalen Praktiken hinzu, wobei über die Hälfte der Mädchen bei der Geburt gewissenlos umgebracht wurden und spezielle Mädchenertränkungsbecken legendär waren, das Blutigschlagen von kleinen Mädchen übliche elterliche Praxis war, Vergewaltigung und sexuelle Versklavung von Mädchen grassierten.37 

Diese brutale Anti-Tochter-Gefühlsatmosphäre — extrem selbst für eine Zeit, die allgemein grausam und gefühllos gegenüber Frauen war — war offen­sichtlich nicht förderlich dafür, dass kleine Mädchen Innovationen herbeiführten, wenn sie Mütter wurden. Deshalb war China, das in der Zeit der Einführung der Fußfesseln dem Westen kulturell in vieler Hinsicht voraus war, bis zur Aufhebung der Fußfesseln im 20. Jahrhundert kulturell und politisch »eingefroren«. Als Ergebnis davon bestrafte China über weite Strecken seiner Geschichte Neuerungen,38 wohingegen im 20. Jahrhundert eine rapide kulturelle, politische und ökonomische Evolution fortgesetzt werden konnte. 

Japan, das viele Elemente der chinesischen Kultur teilte, die Fußfesseln aber nicht übernahm, vermied die psychogene Stockung Chinas und konnte deshalb die industrielle Revolution, wie sie im Westen vollzogen wurde, mitmachen. Die gleiche Form von psychogener Stockung kann auch anhand des Schadens beobachtet werden, den die genitale Verstümmelung von Mädchen bei den Völkern rund ums Mittelmeer anrichtete, der vor Tausenden von Jahren anfing und bis heute anhält. Da »hoffnungsvolle Töchter« durch ein Abschneiden ihrer Klitoris und Schamlippen nicht gedeihen können, sind die gegenwärtigen kulturellen und politischen Probleme derjenigen Gruppen, die immer noch die Genitalien ihrer Töchter verstümmeln, zum Großteil ein Ergebnis dieses psychogenen Cul-de-Sac.39)

Die historische Evolution der Psyche ist ein Prozess, der hauptsächlich die Beseitigung von Entstellungen der Entwicklung betrifft, sodass sich jede Psyche auf ihre eigene Weise optimal entwickeln kann. 


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Die Evolution der Kindheit besteht hauptsächlich aus Eltern, die langsam damit aufhören, ihre Kinder zu töten, zu vernachlässigen, zu verstümmeln, zu verprügeln, einzuschüchtern, sexuell zu missbrauchen und für eigene emotionale Bedürfnisse zu benutzen, um stattdessen liebevolle Bedingungen für das Wachstum des Selbst zu schaffen. Die Evolution der Psyche wird, wie das nächste Kapitel dokumentieren wird, im Wesentlichen durch die Beseitigung der schrecklichen historischen Missbräuche von Kindern und der daraus resultierenden Entwicklungsentstellungen geleistet, und erlaubt so der Psyche historische Neuerungen zu erzeugen und den ihr inhärenten menschlichen Wachstumsweg einzuschlagen. Die »menschliche Natur« ist eine historische Errungenschaft. 

Zivilisation ist nicht, wie jeder, Freud eingeschlossen, angenommen hat, ein »Zähmen der Instinkte«. Noch »verläuft die Evolution der Menschheit vom Schlimmen zum Schlimmsten«, wie Roheim dachte,40 mit frühen Gesellschaften, die nachsichtig zu ihren Kindern waren und modernen, eher missbrauchenden. Die Beweise zeigen, dass das Gegenteil richtig ist — dass Kultur sich durch die Zunahme von Liebe und Freiheit für Kinder entfaltet, sodass diese, wenn sie aufwachsen, ihr Selbstbewusstsein erweitern und angepasstere und liebevollere Lebensformen erfinden können.

 

Empathie, Vertrauen und Freiheit — nicht Komplexität: die Maße für evolutionären Fortschritt

 

Das Maß für die Evolution der Psyche und der Kultur unterscheidet sich eigentlich ziemlich von dem, wovon die meisten Sozialtheorien ausgehen. Soziale Evolution wird gewöhnlich einfach mit dem Grad der Komplexität definiert, die etwa anhand der Population, der sozialen Hierarchie oder der Technologie41 gemessen wird — mit solchen Elementen, wie wahrscheinlich sich etwa die Zuwachsraten von Wissen auf die Erhöhung von Komplexität auswirken.42 Aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass das moderne Gehirn mehr Informationsposten besitzt als das des Jägers und Sammlers vor 100.000 Jahren. Das integrierte Selbst hat sich entfaltet.43 Zeitgenössische Sammler, zum Beispiel, besitzen ein enormes ökologisches Wissen; der Pflanzenkundler, der Hunderte von Pflanzen- und Tierspezies und ihre Eigenschaften benennen kann, hat wahrscheinlich genau so viele Neuronen in seinem Kortex, wie die meisten Westlichen. Ähnlich kann man von ihrem kulturellen System nicht behaupten, es wäre weniger komplex gewesen, da es gewöhnlich einige der kompliziertesten Verwandtschaften, Glaubenssysteme und Sprachen umfasste. Ihre Kindheiten jedoch waren weniger entwickelt, und Persönlichkeitssysteme hängen von dieser Kindererziehung ab. Gesellschaften mit schlechter Kindererziehung produzieren historische Persönlichkeiten — Psychoklassen —, die zuviel Angst und Konflikte haben, um gute Objektbeziehungen erhalten zu können und deshalb dazu tendieren, ihre wirklichen Bedürfnisse — nach Liebe, Freiheit, Leistung — zu verleugnen. Daher lehnen ihre Kulturen Veränderung ab und bleiben stehen.


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Die psychogene Theorie definiert evolutionären Fortschritt als Steigerung von Selbstintegration, Freiheit, Empathie, Liebe, Vertrauen und einem Übergewicht an bewussten Entscheidungen, als vielmehr als Ansteigen von sozialer Komplexität. Das bedeutet, Gesellschaften auf niedrigen technologischen Niveaus44 könnten jedenfalls nach menschlichen Kriterien weiter sein, als technologisch und politisch komplexere. Weil die psychogene Theorie die individuelle Psyche sowohl zu der Ursache von Variation als auch der Selektionseinheit macht, postuliert sie die Kindheit als zentralen Fokus für soziale Evolution. Die Zeit und die Mittel, die eine Gesellschaft den Bedürfnissen ihrer Kinder widmet, ist mit höchster Wahrscheinlichkeit ein akkuraterer Index für den Zivilisationsgrad als die anthropologischen Indizes von Komplexität oder Energieverbrauch.

 

Die zentrale Richtung des evolutionären Fortschritts geht deshalb von persönlicher Bedürftigkeit zu persön­licher Selbstständigkeit, von familiären Verstrickungen zu familiärem Umsorgen, von sozialer Abhängigkeit und Gewalt zu sozialer Verlässlichkeit und Empathie. Jede Stufe im evolutionären Prozess repräsentiert wichtige Änderungen der Gehirnstruktur — das Resultat ist eine andere historische Persönlichkeit, eine neue Psychoklasse. Obwohl dieser Fortschritt äußerst ungleichmäßig verläuft, ist die generelle Richtung evident. 

Die Evolution der Kindheit ist vom Inzest zu Liebe verlaufen, von Missbrauch zu Empathie. Zudem ist der Fortschritt der Kindererziehung regelmäßig sozialen, politischen und technologischen Fortschritten vorangegangen. Die Hauptstoßrichtung der psychogenen Theorie ist simpel: Die Evolution von Kultur ist letztendlich von der Menge an Zuneigung, Verstehen und Freiheit bestimmt, die ihre Kinder erfahren, weil nur Liebe die Selbst Integration und die Individuation erzeugt, die für kulturelle Innovation benötigt wird. Jede Vernachlässigung, jeder Verrat, jede hasserfüllte Handlung Kindern gegenüber kehrt ein paar Jahrzehnte später auf der historischen Bühne verzehnfacht wieder, während jede empathische Handlung, die einem Kind dazu verhilft, das zu werden, was sie oder er gerne werden möchte, jeder Ausdruck von Liebe gegenüber Kindern die Gesellschaft heilt und in eine unerwartete, wundersame neue Richtung lenkt.

 

Psychogenese — die Ursache für epigenetische Variation

Psychogenese ist der Prozess der Bildung historisch neuer Gehirnnetzwerke, die das Selbst weiterent­wickeln und psychische Innovation erzeugen. Es ist ein »ineinander verschlungener« Prozess,46 der sich in den interpersonellen Beziehungen zwischen den Generationen abspielt. Babys fangen mit dem Verlangen nach dem Aufbau intensiver Beziehungen zu ihren Bezugspersonen an und eröffnen so in jeder Generation einen neuen Start für menschliche Entwicklung — begierige Gesichter, bereit, sich den Anforderungen des Wachsens in einer Art zu stellen, die sich ihre Eltern niemals vorstellen konnten. 


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Die Eltern hingegen antworten mit ambivalenten Bedürfnissen, um (a) das Baby als Giftcontainer für ihre eigenen Projektionen zu verwenden, oder (b) um über ihre eigene Erziehung hinaus zu gehen, indem sie dem Kind geben, was es braucht, anstatt nur auf das zu reagieren, was auch immer man in es hineinprojiziert. Die Fähigkeit aufeinander folgender Generationen von Eltern, ihre eigenen Kindheitsängste ein zweites Mal durchzuarbeiten, ist einem psychotherapeutischen Prozess sehr ähnlich, der auch mit der Rückkehr zu Kindheitsängsten zu tun hat; die Neubearbeitung mit Hilfe des Therapeuten führt — so sie erfolgreich ist — zu einer veränderten Betrachtung von anderen und sich selbst. Man könnte in diesem Sinne vom psychogenen Prozess sagen, Geschichte ist eine Psychotherapie von Generationen, bringt neue Entwicklungsvariationen und anschließend kulturelle Evolution hervor.

 

Bei den aufziehenden Personen ist Psychogenese kein sehr robuster Prozess. Die meiste Zeit tun Eltern ihren Kindern das wieder an, was ihnen selbst widerfahren ist. Es benötigte sprichwörtlich Jahrtausende, zum Beispiel, bis Mütter lernten, keine Angst vor ihren neugeborenen Säuglingen haben zu müssen. Die Herstellung von Entwicklungsvariationen kann sich nur in den ruhigen, meist unaufgezeichneten Entscheidungen der Eltern, über die selbst erlittenen Traumata hinauszugehen, vollziehen. Das passiert jedes Mal, wenn die Mutter sich entscheidet, ihr Kind nicht als erotisches Objekt zu verwenden, es nicht so lange verschnürt zu lassen, es nicht zu schlagen, wenn es weint. Es passiert jedes Mal, wenn Eltern den Eroberungsdrang und den Wunsch nach Selbstständigkeit ihres Kindes ermutigen, jedes Mal, wenn sie ihre eigene Verzweiflung und Bedürftigkeit überwinden und ihrem Kind ein wenig mehr Liebe und Empathie zeigen. Diese privaten Momente werden selten für Historiker aufgezeichnet und Sozialwissenschaftler haben ihre Rolle bei der Herstellung von kultureller Variation völlig übersehen, sind aber nichtsdestotrotz die ultimative Quelle der Evolution der Psyche und Kultur. Jedes Mal, wenn eine Bezugsperson einem Kind ohne Angst aufzuwachsen erlaubt, kann eine Gesellschaft später ohne destruktive Einflüsse wachsen. Jedenfalls kann die ultimative Quelle jeder Errungenschaft der menschlichen Zivilisation — politisch, sozial, ökonomisch, individuell — in tagtäglichen Innovationen der Kindeserziehung gefunden werden, erfunden von eifrigen Eltern und Kindern in ihrem sich entwickelnden Verhältnis.

Der Generationendruck für die epigenetische Evolutionsentwicklung findet natürlich nicht in einem Vakuum statt. Viele Bedingungen wirken auf das Eltern-Kind-Verhältnis, und alle diese beeinflussen die Psychogenese. Die umfassende Erforschung der Bedingungen, die für Evolution, Stockung oder Rückentwicklung von Kindererziehung verantwortlich sind, hat gerade erst begonnen. Man kann nicht einfach aus komplexeren oder technologisch oder ökonomisch weiter fortgeschrittenen Gesellschaften schließen, sie böten für Elternschaft bessere Bedingungen. Im Besonderen sind die Bedingungen kritisch, welche das Überleben von entstehenden Variationen der Eltern-Kind-Beziehung über Generationen hinweg fördern, ohne dass sie weggeschwemmt werden, dem Problem in der neodarwinistischen Theorie entsprechend, wonach ein großer Genpool eine Überschwemmung mit Mutationen bedeute. 


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Das entscheidende Problem der menschlichen Evolution ist jedenfalls nicht das Erlernen neuer Kindeserziehungsmuster, sondern das Vergessen der älteren Muster, die tief in der Psyche der Eltern eingebettet sind.

Die Auswirkungen von anderen Bedingungen auf die Kindererziehung sind in keiner Weise offensichtlich, weil sich so wenige Historiker mit der Materie befasst haben. Davon sind materielle Bedingungen nicht die wichtigsten; entscheidender sind die Haltung der Gesellschaft gegenüber den Frauen und Hilfestellungen bei der Überwindung materieller Not. Besonders schädlich sind Vernachlässigungspraktiken wie der Verkauf von Kindern in der Antike oder das Opfern von Kindern im frühen Mittelalter, Kinderprostitution bis in die heutige Zeit, das routinemäßige Zerschlagen von Sklavenfamilien im amerikanischen Süden und all die anderen wenig beachteten Schrecken der Kindheit.

Weil die Evolution der Kindererziehung die Evolution der Psyche und der Gesellschaft determiniert, werden die kausalen Richtungspfeile aller anderen Sozialtheorien von der psychogenen Theorie umgedreht. Eher als man das persönliche und familiäre Leben als im Kielwasser von sozialen, kulturellen, technologischen und wirtschaftlichen Veränderungen weggeschleppt werden sieht, wird Gesellschaft als Ergebnis der evolutionären Veränderungen betrachtet, die zuerst in der Psyche auftreten. Weil sich die Strukturen der Psyche von Generation zu Generation innerhalb des schmalen Trichters der Kindheit verändern, sind Kindeserziehungs­praktiken nicht bloß ein Punkt auf der Liste von kulturellen Eigenschaften — sie sind die Grundbedingung für die Übertragung und Weiterentwicklung aller anderen kulturellen Elemente und setzen die Grenzen dessen, was in allen anderen sozialen Bereichen erreicht werden kann.

 

Die Evolution der Elternschaft

Die meisten Eltern haben sich im Laufe der Zeit ihren Kindern gegenüber so verhalten, als wären diese Giftcontainer gewesen, Behälter, in die sie die geleugneten Anteile ihrer Psychen projizierten. Bei einer guten Elternschaft verwenden die Kinder die Bezugsperson als Giftcontainer — so wie sie oder er die Plazenta der Mutter früher verwendeten, um ihr giftiges Blut zu reinigen; die gute Mutter reagiert auf das Schreien des Babys mit beruhigendem Verhalten und hilft dem Baby bei der »Entgiftung« von seinen Ängsten. 

Historisch betrachtet aber wurde das Kind normalerweise als lästiger Elternteil erlebt: »Wenn es schreit, klingt es genau wie meine Mutter«, oder als schuldiges Ich: »Es will dauernd irgendwelche Sachen.« In jedem Fall muss das Kind entweder strikt kontrolliert, geschlagen oder zurückgewiesen werden, normalerweise auf eine Art, mit der die Erziehungsmethoden der Großeltern wiederaufgeführt wurden. Da die Großmutter in der Geschichte so häufig im Heim anwesend war und die Kindeserziehung strikt kontrollierte, ist es doppelt schwer, die alten Muster zu durchbrechen.


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Psychogenese ist nicht unausweichlich, daher ist die psychogene Theorie nicht teleologisch. Nachdem es ein sehr unregelmäßiger Prozess ist, gibt es in allen modernen Nationen viele Eltern, deren Familien sich im Laufe der Zeit nicht übermäßig weiterentwickelt haben und daher immer noch extrem missbrauchend sind. Jedenfalls gibt es ganze Kulturen, die ihre Elternschaft aus Gründen, die hier untersucht werden, kaum entwickelt haben. Aber der Generationendruck der Psychogenese — die Fähigkeit von menschlichen Eltern, bessere Wege der Kindererziehung zu kreieren, für Kinder, die nach Beziehungen und Wachstum streben — ist überall präsent und stellt eine unabhängige Quelle der Veränderung von historischen Persönlichkeiten dar, die den Menschen die Entwicklung von neuen neuronalen Netzwerken erlaubt, die integrierender als die der Vorfahren sind.

Weil Psychogenese ein derart privater Prozess ist, wird er selten in historischen Dokumenten aufgezeichnet. Die meiste Dokumentation darüber, wie es sich anfühlt, über die eigene Erziehung hinauszugehen, findet sich in Aufzeichnungen wie etwa Mutters Briefen und Tagebüchern oder Ärzteberichten, die mit der frühen Moderne anfingen. Bis dahin übergaben die meisten Mütter, die es sich leisten konnten, ihr Kind einer Amme,46 bei der es für mehrere Jahre blieb. Es waren englische und amerikanische Mittelklassemütter, die mit dem Stillen und dem Aufbau einer Beziehung zu ihren Kindern anfingen, weil ihnen wohl bewusst war, dass die meisten Kinder bei Ammen aus Mangel an Fürsorge starben. Diese Mütter schrieben einander Briefe über die überraschende Freude, die das Stillen machte, wie Babys während dem Stillen »[die Mutter] küssten, ihre Haare, Nase, Ohren streichelten, und eine Zuneigung [hervorriefen]«, die zwischen Mutter und Säugling wuchs.47 

Wenn der Ehemann sich beschwerte — er sagte, die Brust seiner Frau gehöre ihm —, solle man ihn bitten, das Baby zu halten und er würde von diesem auch entzückt sein. Im Unterschied dazu wurden in Frankreich die meisten Neugeborenen an Ammen übergeben, genannt »professionelle Fütterer und professionelle Killer«.48 Schon im 17. Jahrhundert beobachtete ein Franzose: »In England haben sie eine außerordentliche Achtung vor kleinen Kindern, immer umschmeichelnd, immer streichelnd, immer dafür applaudierend, was sie tun; zumindest kommt es uns Franzosen so vor.«49 Da England den Rest von Europa dabei anführte, das Einwickeln und Abgeben an Ammen zu beenden, ist es kein Zufall, dass es bald danach die Welt bei der Einführung von Wissenschaft, politischer Demokratie und der Industrialisierung anführte.

 

Die sechs Kindererziehungsmodi

In The History of Childhood50) habe ich sechs Kindererziehungsmodi vorgeschlagen, welche Gesellschaften weiterentwickeln. Die Zeitkurve auf dem Diagramm gut für Westeuropa und zeigt die in meinen historischen Recherchen gefundenen ersten Anzeichen jedes Modus. 


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Das Fortschreiten der Kindererziehung ist, wie immer, nicht zwingend, da viele Gesellschaften rund um die Welt auf früheren Kindererziehungsmodi sitzen geblieben sind, und da alle sechs Modi in den entwickeltsten der heutigen Gesellschaften gefunden werden können. Wie untenstehende Grafik zeigt, besitzen die meisten modernen Nationen alle sechs Stadien in variierenden Verhältnissen.

Die Kindeserziehungsmodi sind überprüft und allgemein von fünf historischen Studien bzw. von über 100 wissenschaftlichen Artikeln der letzten drei Jahrzehnte über die Geschichte der Kindheit in The Journal of Psychohistory51 bestätigt worden.52 Die zeitlichen Perioden am Diagramm repräsentieren den frühesten Hinweis auf den jeweiligen Modus und stimmen nur für eine Minderheit der Bevölkerung in der angezeigten Periode.

1a. Früher Infantizidmodus (von Banden bis zu Stämmen): Dieser Modus wird durch sehr hohe Infantizidraten, Inzest, Körperverstümmelung, Kinder­vergewaltigung, Folterung und emotionaler Verstoßung durch die Eltern charakterisiert. Der Vater ist noch zu unreif, um als Fürsorger handeln zu können und ist in den ersten Jahren emotional abwesend. Die vorpubertäre Heirat von kleinen Mädchen ist üblich. Die dissoziative Persönlichkeitsstruktur des Infantizidmodus ist permanent zersplittert und von Alter Egos beherrscht, in welche die Erwachsenen regelmäßig kippen, die viel Zeit mit Ritualen und magischen Vorhaben verbringen, sodass sie nicht in der Lage sind, sich über Jagen und Sammeln und frühe Gartenbauformen hinaus zu entwickeln.

1b. Später Infantizidmodus (von Königtümern bis zu frühen Staaten): Obwohl Medea die Antike beherrscht — Infantizidraten bleiben immer noch hoch und Kindervergewaltigung ist immer noch Routine —, wird das junge Kind nicht so offen von der Mutter zurückgewiesen und der Vater fängt an, sich mehr mit Anleitungen des älteren Kindes zu beschäftigen. Kindsopfer kann man in frühen Staaten als schulreduzierende Maßnahme für zuviel Fortschritt finden, als der Gebrauch von Kindern als Giftcontainer sozial besser organisiert wird. Methoden, um das Kleinkind einzuengen, wie das Einwickeln mit Bändern oder Krippenbretter, finden Verbreitung und geschwisterliche Fürsorge ersetzt Kinderbanden. 

 

Fig. 7-1 
Die Evolution von 
Kindeserziehungsmodi im Westen

 


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Verschiedene institutionalisierte Schemata von Fürsorge durch andere, wie Adoption, Ammen, In-Pflege-Geben und die Verwendung von Kindern anderer als Sklaven und Diener, werden populär. Das Verprügeln von Kindern ist jetzt weniger impulsiv und wird mehr als Disziplinierung verwendet, und weil das Kind emotional ein wenig näher ist und mehr für Feldarbeiten eingesetzt wird, hat Disziplin mehr Kontrollierendes an sich, was zu komplexeren Gesellschaften führt, deren Innovationen von genozidartigem Abschlachten und der routinemäßigen Versklavung von Frauen und Kindern ausgeglichen werden.

 

2. Verstoßender Modus (beginnend mit dem ersten Jahrhundert): Wenn einmal vom Kind gedacht wird, es hätte von Geburt an eine Seele, wird routinemäßiger Infantizid emotional schwierig. Frühe Christen betrachtete man in der Antike als merkwürdig: »Sie heiraten wie alle anderen, sie haben Kinder, aber sie praktizieren nicht die Aussetzung der Neugeborenen.«53 Diese Christen fingen mit Europas Zweitausend Jahre langem Abmühen gegen den Infantizid an und ersetzten ihn durch Verstoßung — mit dem Opfern junger Kinder an Klöster, in einer verbreiteteren Form der Ammenaufzucht, wenn man sie sich leisten konnte, oder der Praxis, Kinder in Pflege zu geben und als Diener oder Lehrlinge wegzuschicken. Das Kindsopfer wurde von der gemeinsamen Gruppenfantasie des Opfers von Christus ersetzt, der von seinem Vater als Giftcontainer geschickt wurde, um für die Sünden der anderen umgebracht zu werden. Die routinemäßige Päderastie von Jungen ging weiter — auch in Klöstern —, und die Vergewaltigung von Mädchen blieb weit verbreitet. Vom Kind dachte man, es sei voll von Bösem auf die Welt gekommen — die Alter-Ego-Projektionen der Eltern — und so wurde früher und härter geschlagen. Missbrauchende Kinderfürsorge war nicht vornehmlich auf die wirtschaftliche Lage der Eltern zurückzuführen, da die Reichen wie die Armen im Mittelalter hohe Raten an Infantizid, Verstoßung, sexueller Belästigung und körperlichem Missbrauch hatten. Die masochistische Persönlichkeitsstruktur des Christentums erwartet mütterliche Vergebung als Gegenleistung für das Herzeigen sich selbst zugefügter Wunden und betont das Klammern an Autoritätsfiguren als Abwehr von emotionaler Verstoßung.

 

3.  Ambivalenter Modus (beginnend im 12. Jahrhundert): Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Ambivalenz — Liebe und Hass — gegenüber Kindern ist ein großer Schritt nach vorne, hinausgehend über simple Angst und Verstoßung. Im 12. Jahrhundert wurde die Opferung von Kindern an Klöster reduziert, wurden Handbücher für Kinder angelegt, die Illegalisierung der Kindsvergewaltigung in Erwägung gezogen und die Schulbildung und Kindermedizin erweitert, die ersten Kinderschutzgesetze erlassen und man fing an, Ambivalenz für das Kind zu tolerieren — Liebe und Hass — und erste Schritte in Richtung Unabhängigkeitsrechte für Kinder zu machen. 


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Obwohl die meisten Mütter ihre Kleinkinder immer noch zurückwiesen, sodass Ammenschaft und Breifüttern immer noch weit verbreitet waren, wurde das Kind immerhin weniger als von Geburt an sündiger Giftcontainer erlebt, sondern mehr als weiches Wachs, das, in welcher Form auch immer, von den Eltern geschlagen werden kann, sodass dem Kind seine Sünden vergeben werden konnten. Diese Verbesserung der Kindererziehung erzeugte eine weitere Reduktion von Dissoziation in der spätmittelalterlichen Borderlinepersönlichkeitsstruktur, was wiederum die Entdeckung des Individuums erlaubte, sowie technologische Fortschritte und den Aufstieg von Städten, und letztendlich auch die Anfänge des Aufstiegs des frühen modernen Staates. 

4. Aufdringlicher Modus (beginnend mit dem 16. Jahrhundert): Der aufdringliche Elternteil der frühen Moderne fing an, das Kind auszuwickeln und auch die Wohlhabenden begannen damit, ihre Kinder selbst aufzuziehen, anstatt diese irgendwohin zu schicken (oder holten die Amme zumindest zu sich nach Hause), und erlaubten so die Bildung engerer emotionaler Bindungen mit den Eltern. Das 16. Jahrhundert, speziell in England, repräsentiert eine Wasserscheide in der Reduktion elterlicher Projektionen, als sich Eltern vom Versuch, das Wachstum von Kindern zu verhindern, zum Versuch, sie zu kontrollieren und »gehorsam« zu machen, übergingen. Die Freiheit, herumkrabbeln zu dürfen, anstatt verschnürt zu sein und an einem Pflock zu hängen, plus der Individuation, separate Kinderbetten und Lebensweisen zu haben, bedeutete, dass die Eltern ihren Kindern näher kamen und ihnen Aufmerksamkeit schenken konnten — so lange sie ihren Kopf behielten, ihr Inneres, ihren Zorn, ihr Leben. Das von aufdringlichen Eltern erzogene Kind wurde von seiner Mutter gestillt, nicht verschnürt, nicht mit regelmäßigen Einlaufen beglückt, aber früh zur Sauberkeit erzogen, es wurde mit ihm gebetet, aber nicht gespielt, es wurde geschlagen, aber nicht verprügelt, für Masturbation bestraft, aber nicht vergewaltigt, es wurde belehrt und mit Drohungen und Schuld, genauso oft wie mit physischen Mitteln, sofort zum Gehorsam gezwungen. Aufdringliche Überkontrolle wurde speziell deshalb notwendig, weil die Verstoßung auf der Stelle endete und Mütter zu spüren begannen, dass sie die Freiheit der Kinder »verrückt« machte. Empathie setzte mit dem aufdringlichen Modus ein, erzeugte eine generelle Verbesserung des Grades der Fürsorge und verringerte die Kindersterblichkeit, was zu weniger Geburten und mehr Einsatz für jedes Kind führte. Als Ergebnis besserer Kindererziehung gingen vorbestimmte Hochzeiten zurück, gab es weniger Prügel für die Ehefrau und das Heiraten aufgrund wirklicher Liebe und Partnerschaft nahm seinen Anfang; dies trug zur Fähigkeit des Kindes bei, sich mit liebenden Eltern zu identifizieren, und erlaubte ihnen, ein Vorbild zu sein, damit ein fortgeschritteneres persönliches Wachstum erreicht werden konnte. Das darauf folgende Heilen von Dissoziation und die Zunahme von Individuation bei der depressiven Persönlichkeit der frühen Moderne brachte die religiösen, wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Revolutionen der Zeit hervor.


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5.  Sozialisierender Modus (beginnend mit dem 18. Jahrhundert): Etwas Neues trat in die Welt ein, als die Gesellschaft das erste Mal von sich behaupten konnte, »Gott hat diese tiefe, unstillbare Liebe für ihren Abkömmling ins Herz der Mutter gepflanzt«.54 Während dieser Periode sank die Anzahl von Kindern bei den meisten Frauen von sieben oder acht auf drei oder vier, lange bevor irgendwelche medizinischen Entdeckungen über die Begrenzung von Reproduktion gemacht worden waren, weil die Eltern jetzt in der Lage sein wollten, ihren Kindern mehr Pflege zuteil werden zu lassen. Ihre Absicht war aber nach wie vor, den Kindern ihre eigenen Ziele einzuträufeln, eher als Individuation zu fördern, was eine Mutter wie folgt ausdrückte: »Ist da nicht eine eigenartige Fülle von Freude, wenn man im eigenen Kind die Reproduktion der eigenen körperlichen, geistigen und moralischen Eigenschaften erkennt?«55 Der sozialisierende Modus wendet psychologische Manipulation an; zusammen mit dem Verhauen kleiner Kinder bleibt er das populärste Modell von Elternschaft in den westeuropäischen und amerikanischen Nationen heute, als Trainieren von Kindern, um ihnen ihre Rolle in der Gesellschaft der Eltern zuzuweisen.56 Das sozialisierte Kind besaß wesentlich mehr Freiheit und Respekt als das in jedem vorausgegangenen Modus — selbst jungen Frauen erlaubte man Bildung, Karrieren und ein Sexualleben.57 Mütter fingen jedenfalls an, die Fürsorge für die Kinder zu genießen — die mütterliche Liebe, von der man dachte, sie sei eine Gefahr, wurde zur Pflicht58 —, und selbst die Väter fingen mit ihren jungen Kindern zu spielen an und brachten ihnen Dinge bei. Der sozialisierende Modus hat die moderne industrialisierte Welt geschaffen und ihre neuen Werte des Nationalismus und der Demokratie repräsentieren die sozialen Modelle der meisten Menschen heute, weil das Ende des Kinderprügelns der sozialisierten Psychoklasse erlaubt, ihren Bedarf, sich an einen autoritären Führer zu klammern, zu reduzieren.

6.  Helfender Modus (beginnend Mitte des 20. Jahrhunderts): Der helfende Modus meint die Anerkennung, dass die hauptsächliche Rolle der Eltern in der Hilfestellung für das Kind in jeder Altersstufe besteht, seine oder ihre Lebensziele zu erreichen, als vielmehr in die Ziele der Erwachsenen hineinsozialisiert zu werden. Das erste Mal sind Kinder für die Eltern keine schwierige Aufgabe mehr, sondern eine Freude. Sowohl Mutter als auch Vater sind vom Säuglingsalter an gleichwertig mit dem Kind befasst und helfen diesem, eine autonome, selbstbestimmte Person zu werden. Kinder wachsen gebadet in bedingungsloser Liebe auf, werden nicht geschlagen, im Vertrauen, sie würden ihre eigenen Lebensziele entwickeln und man entschuldigt sich bei ihnen, so man sie unter Stress anbrüllt. Als Ergebnis dessen wachsen die Kinder in der Erwartung, geliebt zu werden, auf, weil sie versuchen, die bestmöglichen Individuen zu werden und nicht, weil sie gehorsam sind. Der helfende Modus bedeutet in den frühen Jahren einen beträchtlichen Aufwand an Zeit und Energie von Seiten der Eltern und anderen, indem die Fürsorgenden auf jeden Fingerzeig des Kindes reagieren, während dieses versucht, Individuation zu erreichen.


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Als Ergebnis dessen ist die helfende Psychoklasse wesentlich empathischer gegenüber anderen in der Gesellschaft als frühere Generationen. Obwohl Benjamin Spocks Buch über Kinderpflege eigentlich dem späten sozialisierenden Modus entstammt, waren einige Jugendliche der »Spock Generation« nach der Mitte des 20. Jahrhunderts Produkte von Eltern des helfenden Modus und fühlten sich bemächtigt, ihre eigenen einzigartigen sozialen Rollen zu erforschen und über Nationalismus, Krieg und ökonomische Ungleichheit hinauszugehen.

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Heute existieren in modernen Nationen Eltern aus allen sechs Kindererziehungsmodi nebeneinander. Politische Parteien unterscheiden sich eher nach Psychoklassen (Erwachsene mit ähnlichen Kindererziehungsmodi) als nach ökonomischen Klassen. Jedenfalls ereignen sich viele der politischen Konflikte wegen der gewaltigen Unterschiede zwischen den sechs Psychoklassen, zwischen den Wertesystemen und der Toleranz gegenüber Freiheit. Zyklische Schwünge zwischen liberalen und reaktionären Perioden sind ein Ergebnis eines Prozesses, bei dem entwickeltere Psychoklassen mehr Erneuerungen in die Welt bringen, als weniger entwickelte Psychoklassen tolerieren können. Dann kommt der letzte Versuch, die Uhr zurück zu drehen und weniger ängstigende soziale Zustände wieder einzurichten, um die eigene Wachstumsangst zu reduzieren; wenn das nicht gelingt, versucht die Nation durch Krieg oder Depression die Welt von ihrer »Sündhaftigkeit« zu reinigen, wie das vorherige Kapitel gezeigt hat.

 

Die psychogene Pumpe

Der psychogene Pumpeneffekt ist ein Weg, wie sich entwickelnde Eltern das Wegschwemmen von Variation in der Kindererziehung vermeiden können. Eltern wird kontinuierlich durch Verwandte und Nachbarn ihre Kindeserziehungspraxis diktiert, sodass sie nicht in der Lage sind, neue Wege der Beziehungsgestaltung zu ihren Kindern zu beschreiten. Deshalb besitzen Eltern, die auswandern, eine größere Chance, neue Kindererziehungsmodi für sich auszuarbeiten und innovativere Mütter und hoffnungsvollere Töchter zu fördern. Das habe ich den »psychogenen Pumpeneffekt« genannt — ein wichtiger Mechanismus der psychologischen Ausformung der Spezies.59 Er ist den Entdeckungen der Evolutionsbiologen ähnlich, wonach in isolierte geographische Gegenden ziehende Spezies eine weit höhere Wahrscheinlichkeit besitzen, neue genetische Variationen zu erhalten, weil sie nicht von der Erbmasse der Gegend, von der sie weggezogen sind, überschwemmt werden. So hat die psychologische Ausformung der Spezies eine starke Ähnlichkeit mit der genetischen Ausformung und zwar in der Weise, wie aufstrebende Variationen der Kindererziehung erhalten bleiben können.


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Wenn, zum Beispiel, eine Mutter versuchen möchte, ihr Kind schon nach ein paar Monaten, anstatt nach einem vollen Jahr, aus der Verschnürung zu nehmen, wird sie bemerken, dass ihre eigene und jede andere Mutter um sie herum energisch gegen ihre Innovation Stellung beziehen werden. Wenn sie nach Amerika übersiedelt, kann sie für einen kürzeren Zeitraum einwickeln, ohne Probleme zu bekommen. Manchmal können diese Widerstände der Gemeinschaft gegen neue Kindererziehungsmodi richtiggehend tödlich enden. Ich habe einmal Arthur Hippler, den Herausgeber des Journal of Psychological Anthropology gefragt, ob er bei seinen Studien in Alaska jemals eine entwickeltere athabaskische Mutter als die generell kindsmordenden getroffen habe. Er sagte, er hätte — sie wäre bei weitem empathischer als die anderen Mütter gewesen. Er sagte, die anderen Mütter hätten sie gemieden und von Aktivitäten ausgeschlossen, was in Vorkontaktzeiten in einer derart strengen Umwelt auf den Tod hinausgelaufen wäre. Aber, den Studien Hipplers nach, sind die entwickelteren Athabaskaner in den Süden ausgewandert, sodass diejenigen, welche sich entlang der nordostamerikanischen Küste ansiedelten, eine bessere Kindererziehung und eine fortgeschrittenere Kultur als die in Alaska zurückgebliebenen besaßen.60

Das gleiche Prinzip ist in Gesellschaften gegenwärtig, in denen bei Großfamilien in Stämmen oder Familienverbänden die Großmutter und andere Verwandte weiter mit den neuen Müttern leben und diese gnadenlos beherrschen. Puhar hat viele Beweise darüber zusammengetragen, wie die Kindererziehung in Jugoslawien von den Anordnungen der Zadruga-Familienverbände schwer im brutalen, fahrlässigen, mittelalterlichen Modus verhaftet, geblieben ist.61 Töchter, denen es gelang, sich aus der Großfamilie nach Norden abzusetzen und ihre Kindererziehungspraktiken zu erneuern, entwickelten unweigerlich weniger vernachlässigende Modi.62

 

Die Effekte der psychogenen Pumpe bei der Erhaltung auftauchender Variation kann man anhand verschiedener ähnlicher historischer Auswanderungsmuster von Eltern erkennen, die fortgeschrittenere Kindererziehungsmodi praktizierten:

1. Die Auswanderung der Kolonisten nach Neuengland betraf fortgeschrittenere Eltern und hoffnungsvollere Töchter als in den Familien, die zurückblieben, da die fortgeschrittenste Kindererziehung — der aufdringliche Modus — von den Puritanern praktiziert worden war, die man aus England jagte oder die emigrierten, um »unzumutbarer Autorität« zu entkommen.63 Das Ergebnis war, wie Condorcet es ausdrückte, dass Amerika »aus der Geschichte ausgetreten« zu sein schien, weil es weniger Infantizide, weniger Ammen, kürzere Verweildauer beim Wickeln und bessere Eltern-Kind-Beziehungen zu dieser Zeit hatte, wie man an den Beanstandungen europäischer Besucher über das Verwöhnen und der Nachsicht ablesen kann, die aus amerikanischen Kindern »häusliche Tyrannen«64 machte. Wie dem auch sei, traf die psychogene Pumpe mehr auf Eltern in Neuengland zu; diejenigen, die in den Süden auswanderten, taten dies normalerweise nicht als intakte Familien, bestanden aus weit mehr zweitgeborenen Junggesellensöhnen, Dienern, Lehrlingskindern und anderen, die nicht Mitglieder intakter, fortgeschrittener Familien, die vor religiöser Verfolgung flohen, waren.65 Deshalb hinkte der Süden hinsichtlich der Kindererziehungspraxis verglichen mit dem Norden hinterher, ein Zustand, der letztendlich zum amerikanischen Bürgerkrieg führte — ein typischer interner Krieg, der mit Unterschieden zwischen Psychokiassen zu tun hatte.

2.   Die Auswanderung fortgeschrittenerer Eltern in Europa verlief von Osten nach Westen, als sich asiatische Landbevölkerung nach Westeuropa bewegte,66 Jäger und Sammler ersetzten, und dann versuchte, die Lebensbedingungen, im Vergleich mit denen der zurückgebliebenen, zu verbessern. Darin liegt der letztendliche Grund dafür, dass bis heute Kindererziehung, Demokratie und Industrialisierung in Osteuropa weit hinter den Standards von Westeuropa und den Vereinigten Staaten liegen.

3.   Im Allgemeinen tendierten fortgeschrittenere Mütter dazu, in größere Städte zu ziehen und die Herrschaft durch ihre eigenen Mütter zu verlassen; deshalb sind Städte fast immer politisch liberaler als ländliche Gebiete.

4.   Wie wir gesehen haben, waren die nach Europa emigrierten Juden in ihrer Kindererziehung fortschrittlicher. Seit der Antike haben sich die Juden nicht einfach »verstreut« (Diaspora); sie sind verschiedentlich ausgewandert, wobei diejenigen mit entwickelteren Elternschaftsmodi sich in einem neuen Zuhause selbständig machten und somit ihr Erfolg sie zu Giftcontainer der Wachstumsangst anderer machte.

5.   Die psychogene Pumpe favorisiert extreme, periphere, isolierte Gebiete, die Spätankömmlinge einfingen — die innovativsten Eltern und hoffnungsvoUsten Töchter. Die fortgeschrittenste Kindererziehung in Asien hatte Japan, wie England eine große Insel am äußersten Ende der eurasischen Landmasse. Jedenfalls entwickelte sich Landwirtschaft in Japan sehr spät, erst vor 2.000 Jahren,67 als die psychogen fortgeschrittensten Familien Asiens aus Korea dort einwanderten. Die in China Zurückgebliebenen wurden von weniger entwickelten Kindererziehungsmodi überschwemmt und deshalb Gegenstand von psychogener Haft und sogar Rückentwicklung.

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