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8. Die Evolution der Kindererziehung  

 

»Wer würde nicht schaudern, wenn er die Wahl zwischen ewigem Tod oder wieder als Kind zu leben hätte?
Wer würde nicht den Tod wählen?« 
--Augustinus--

 

211-239

Kinder sind die gesamte Geschichte hindurch nachweisbar lebendiger, liebenswürdiger, froher, vertrauens­würd­iger, neugieriger, mutiger und innovativer als Erwachsene gewesen. Doch Erwachsene haben kleine Kinder die gesamte Geschichte hindurch als »Biester«, »sündig«, »gierig«, »arrogant«, »Fleisch­klumpen«, »nieder­trächtig«, »verschmutzt«, »Feinde«, »Vipern« und »kleiner Satan« bezeichnet.1)

Obwohl es schwer zu glauben ist, hatten Eltern bis vor nicht allzu langer Zeit solche Furcht vor ihren Neuge­borenen und hassten sie so sehr, dass sie diese milliardenfach umbrachten, sie extrem vernachlässigenden Ammen übergaben und eng mit Bändern verschnürten, damit sie ruhig blieben. Sie verhungerten, wurden verstümmelt, vergewaltigt und derart heftig geschlagen, dass es mir nicht gelang, in vormodernen Zeiten einen einzigen Elternteil zu finden, der heute nicht für Kindesmissbrauch oder grobe Vernachlässigung ins Gefängnis wandern würde. Historiker haben angenommen, meine Beweise für beständig missbrauchende Elternschaft wären übertrieben, denn wäre es wahr, »würde das heißen, die Eltern hätten in direkter Opposition zu ihren Erben gehandelt«, und mit Sicherheit wäre die Evolution »nicht so nachlässig ... als uns zu unreif zu lassen, um ordentlich für unsere Nachkommenschaft zu sorgen«.2)

Es überrascht nicht, dass die Existenz von weit verbreitetem Kindesmissbrauch und Vernachlässigung über die ganze Geschichte hinweg ungläubig betrachtet wird.3) In diesem Kapitel wird die umfangreiche historische Evidenz für jede Praxis des Kindesmissbrauchs dargelegt, mit einem Schwerpunkt auf den tatsächlichen Aussagen von Fürsorgenden und Kindern, damit der dahinter liegende innerpsychische Prozess besser verstanden werden kann.


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Der fehlende Vater: Kindheit in der Gynarchie  

Das Problem mit der Konzeption eines Patriarchats, bei dem die Männer, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Familie, immer die Frauen dominieren, besteht darin, dass es, zumal auch noch keine rein matriarchale Gesellschaft gefunden wurde,4) wenig Hinweise darauf gibt, dass Männer bis zur Moderne in den Familien sehr präsent gewesen wären. Bei unseren promiskuitiven Schimpansenvorfahren waren die Männer bei der Kinderaufzucht abwesend; diese bildeten deshalb keine »Familien«,5) lediglich die Weibchen zogen mit ihren Kindern herum.6) 

Es ist auch wahrscheinlich, dass es »zunächst einmal keine Neandertalfamilien gab«,7) da Frauen und Kinder in separaten Gebieten von den Männern entfernt in Höhlen lebten. Heutige Familien in voralphabetischen Kulturen werden immer von den Frauen geführt, die oft an separaten Plätzen von ihren Ehemännern getrennt leben. In einigen gibt es einen »besuchenden Ehemann ... wo Mann und Frau mit der jeweiligen Mutter leben [und] der Mann in der Nacht seine Frau in ihrem Haus <besucht>.«8) In anderen verbringen Männer viel Zeit in ihren eigenen Kulthäusern und die Frauen in separaten Familien- oder Menstruationshütten und »trennen sich aus eigenen Stücken«.9) 

 

Auch wenn die Männer bei ihren Frauen leben, sind in einfachen Gesellschaften immer die Frauen für die Kinder zuständig und matrifokale Familien überwiegen. Obwohl man von einigen sehr einfachen jagenden Stämmen sagt, die Männer würden manchmal ihre Kinder hüten, stellt sich heraus, dass sie nur die Verschmelzung mit ihrer Mutter halluzinieren; sie »streicheln das Kind, wie seine Mutter es tut. Er nimmt es zur Brust und hält es da«,10) oder »saugt an seinem Gesicht« in der traditionell »volllippigen Manier«,11) und verwendet den Säugling als Brustersatz, kümmert sich aber nicht aus wirklicher Fürsorge um diesen. Selbst im Zuge des Aufwachsens der Kinder sind nicht die Väter diejenigen, die den Kindern etwas beibringen: »Unter den Hadza, als typisches Beispiel, erlernen die Jungen das Wissen und die Technik über das Jagen mit Pfeil und Bogen und die Fertigkeit des Spurenlesens hauptsächlich informell von anderen Jungen«12) und nicht von ihren Vätern.

Die historische Familie, so stellt sich heraus, kann bis zur Moderne nicht im Entferntesten als Patriarchat bezeichnet werden. Sie ist faktisch eine Gynarchie und setzt sich zusammen aus Großmutter, Mutter, Tanten, ledigen Töchtern, Ammen, weiblicher Dienerschaft, Hebammen, Nachbarn, die man »Schwätzer« nannte und die als Ersatzmütter fungierten, plus den Kindern.13) 

Väter in traditionellen Familien mögen manchmal innerhalb der Gynarchie essen und schlafen, aber sie bestimmen weder die emotionale Atmosphäre noch machen sie in irgendeiner Weise den Versuch, die Kinder zu erziehen. Um zu vermeiden, wie während der eigenen Kindheit durch Frauen dominiert, missbraucht und vernachlässigt zu werden, haben Männer stattdessen fast die gesamte Geschichte hindurch androzentrische politische und religiöse Sphären als reine Männeraktivitäten gebildet und trugen zur Familiengynarchie nur etwas Unterhalt, periodischen Stimmungskoller und gelegentliche sexuelle Dienste bei.


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Hinweise auf Väter, die bei dem Heranziehen der Kinder irgendeine Rolle gespielt hätten, fehlen bis zur Moderne völlig. Es war mir unmöglich, einen einzigen klassischen Gelehrten der Antike zu finden, der einen Fall zitieren konnte, worin ein Vater zu seinem Kind vor dem siebten Lebensjahr auch nur ein Wort sagte.14 Gelegentlich sind kleine Kinder gezeigt worden, die vom Vater als sinnliche Objekte verwendet wurden — so wie der Vater in Aristophanes' Die Wespen sagt, er »erfreut sich regelmäßig daran, wenn er von seiner Tochter mit ihrer Zunge kleine Münzen aus seinem Mund fischen lässt«15 — aber ansonsten schließen die Gelehrten: »In der Antike lebten die Frauen abgeschlossen [von den Männern]. Sie zeigten sich selten in der Öffentlichkeit, [aber] blieben in Apartments, die Männer nicht betraten; selten aßen sie zusammen mit ihren Ehemännern. ... Nie verbrachten sie einen Tag zusammen.«16 

 

In Griechenland hatten Frauen einen speziellen Ort. Größere Häuser besaßen einen Raum oder eine Suite, in denen die Frauen arbeiteten, ansonsten verbrachten sie den Großteil des Tages in Frauenquartieren, den Gynaikonitis, von denen Xenophon sagte, sie wären »von den Männerquartieren durch eine verriegelte Türe getrennt«17 gewesen. In zweistöckigen Häusern befand sich die Gynaikonitis normalerweise in der oberen Etage.18 Der Speisesaal der Männer, das Andron, lag ebenerdig in der Nähe des Eingangs. »Hier aßen die Männer der Familie und unterhielten männliche Gäste. ... Auf Vasenmalereien findet man kein griechisches Paar, das miteinander isst.«19 Diese hauptsächlich vertikale Organisation der meisten Häuser dauerte bis weit ins 18. Jahrhundert, als sich eine neue »Struktur der Intimität« bildete, mit miteinander verbundenen Familienräumen auf der gleichen Ebene.20

Das Areal der Frauen beherbergte die Großmutter, die Mutter, die Konkubinen, die Mätressen, die Sklavenkindermädchen, die Tanten und die Kinder. Insofern konnte Herodot annehmen, seine Leser würden Familien leicht wiedererkennen, wo »ein Junge seinen Vater nicht sieht, bevor er fünf Jahre alt ist, sondern mit den Frauen lebt«,21 und Aristoteles auf die Zustimmung seiner Leser dabei pochen konnte, dass »keine männliche Kreatur sich um die Jungen kümmert«.22 Die alten griechischen, römischen und jüdischen Männer hatten rein männliche Speiseclubs, in denen Frauen und Kinder nicht willkommen waren.23 Platon schlug utopische Heimarrangements vor, mit »Abendessen, bei denen die Bürger in Gesellschaft ihrer Kinder feiern. ... Im Allgemeinen jedoch essen die Kinder mit ihren Müttern, nicht mit den Vätern. ... Essen und Trinken, weit davon entfernt, der ganzen Familie eine Gelegenheit für kommunale Aktivität zu bieten, neigte eher dazu, ihre innere Aufspaltung auszudrücken und zu verstärken.«24 Jungen verblieben zumeist bis ins Jugendalter in ihrer eigenen oder einer anderen Gynarchie.25

Der Ehemann fehlt normalerweise in den Heimen der meisten antiken Gesellschaften, und das nicht nur während der häufigen militärischen Einsätze. Evelyn Reed beschreibt die typische frühe »Matrifamilie«, die wie überall von den Müttern beherrscht wird: 


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»Die Familie in Ägypten ... war matriarchalisch. ... Die wichtigste Person in der Familie war nicht der Vater, sondern die Mutter. Die ägyptische Ehefrau nannte man die <Herrscherin des Hauses>. ... Es gibt keinen entsprechenden Begriff für den Ehemann.«26 

Selbst heute besitzt in ländlichen Gegenden in Griechenland die Mutter das Haus, gibt es als Aussteuer an die Tochter weiter und setzt die Herrschaft im Haus fort, wenn die Tochter Kinder bekommt.27 Jedenfalls befand sich in der Antike der Vater selten in seiner Familie. Um einen Rückgang der Bevölkerung zu verhindern, schlugen Gesetzgeber manchmal vor, es wäre doch eine gute Idee, wenn Männer gelegentlich ihre Frauen besuchen würden, so wie in Solons Gesetz, »ein Mann sollte mit seiner Frau nicht weniger als dreimal im Monat verkehren — sicherlich nicht zum Vergnügen, sondern um als Bürger ihre Vereinbarungen von Zeit zu Zeit zu erneuern«.28 

In der Antike hatte Liebe nichts mit den Ehefrauen der Männer zu tun; sie war für päderastische Beziehungen zu Jungen reserviert. So wie Scroggs die griechisch-römische Praxis zusam-mengefasst hat: »Die >weiblichen Quartiere< auf der Suche nach Liebe zu betreten heißt, in das Weibliche einzutreten und ist deshalb für einen Mann weibisch.«29 Plutarch schrieb: »Echte Liebe steht in überhaupt keiner Verbindung zu den Frauenquartieren.«30 Als Sokrates fragte: »Gibt es irgendwelche Menschen, mit denen du weniger sprichst, als mit deiner Frau?«, war die Antwort: »Möglicherweise. Aber wenn, dann jedenfalls sehr wenige.«31 Männer blieben im Thiasos, dem Club der Männer, mit anderen Männern zusammen und hatten mit ihren Kindern wenig zu tun. Griechische Jungen verweilten bis zum Alter von etwa 10 in der Gynar-chie des eigenen Heims und wurden danach gezwungen Eromenos, Sexualobjekte im Andrem des Heims eines wesentlich älteren Mannes, zu werden.32 Griechische Mädchen blieben in der Gynarchie bis sie ungefähr 12 waren, bis auch sie von einem viel älteren Mann, einem von ihrer Familie ausgewählten fremden Ehemann, vergewaltigt wurden. Bräute gingen mit einer großen Mitgift in die Heirat, die für den Rest ihres Lebens in ihrem Besitz blieb.33 Der Ehemann mag versuchen, in der Gynarchie eine gelegentliche Dominanz zu zeigen, indem er Frauen und Kinder schlägt, aber in der Regel waren es die Frauen des Haushalts, welche die Familienpeitsche gegen ihre Kinder führten.

 

In frühen Familien war die Herrschaft der Gynarchie am größten. In Byzanz hatten Frauen separate Sphären unter striktem Ausschluss der Männer aus der Familie, wo »Männer in Glanz und Glorie, der Palaestra, lebten; Frauen hielten sich eingeschlossen und zurückgezogen im Gynaecaeum auf.«34 Das galt sogar für die angeblich patriarchalischen chinesischen Familien. Die chinesische Gynarchie wurde von Besuchern als separate »Frauenapartments hinter den hohen Mauern der Lager ihrer Männer« beschrieben, und wurde von Frauen beherrscht, die »den Ruf hatten, die Männer ihres Haushalts und ihre Nachbarn mit ihrem wilden Temperament, ihren scharfen Zungen und ihrem unbeugsamen Willen zu terrorisieren. ... Wenn der Vater mit dem Sohn zusammenarbeitete, hatten sie nichts zu reden und selbst zuhause sprachen sie nur, wenn es Geschäftliches zu diskutieren gab. [Ansonsten] mieden sie einander.«35 


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Ähnlich in indonesischen Familien, in denen »Väter einfach nicht oft anwesend sind. ... Die Frau hat mehr Autorität, Einfluss und Verantwortung als ihr Mann.«36 Die Beispiele können ebenso leicht auf die ganze Welt wie auf das Mittelalter ausgedehnt werden:

Die weibliche Welt war höchst strukturiert, wie eine kleine Monarchie — diese Monarchie übte die Frau des Herrn aus, die »Dame«, die alle anderen Frauen im Haus beherrschte. Die Monarchie war vielfach tyrannisch. Die Chroniken französischer Familien gegen Ende des 12. und Beginn des 13. Jahrhunderts zeichneten ein Bild von Zankteufeln, die brutal über ihre Dienerschaft herrschten und diese terrorisierten, und über die Frauen ihrer Söhne, die sie quälten. In der Tat, es existierte eine weibliche Macht, die es mit der der Männer aufnehmen konnte. ... Männer hatten Angst vor Frauen, speziell vor ihren eigenen Ehefrauen.37)

Feministische Historikerinnen leisteten Pionierarbeit bei der Enthüllung von Beweisen für Familien als Gynarchien, indem sie schlussfolgerten, »das Bedürfnis, Frauen bei der Stange zu halten, deckt den permanenten hohen Spannungszustand von Männern auf, die sich in der Nähe eines Wesens mit beunruhigender Macht aufhielten«.38 Männer werden als Ausgeschlossene vom traditionellen Gynaecaeum,39 der Küche und auch der Wäscherei dargestellt: »Kein Mann würde es wagen, sich der Wäscherei zu nähern, so gefürchtet ist diese Gruppe von Frauen.«40 Selbst in der Ritterklasse »sehen wir, wie die männlichen und weiblichen Sektionen des Haushalts einander in Faszination und Furcht anstarren, sich gelegentlich zusammentun, heimlich kommunizieren und sich wechselseitig durchdringen«.41 Frauen werden sowohl ihre Männer als auch ihre Kinder beherrschend dargestellt, diese selbst wiederum als sie fürchtend,42 und während den Männern in Anweisungsleitfäden von Moralisten hoffnungsvoll die Pflichten von Ehemännern, deren Frauen zu instruieren, mitgeteilt werden, findet man bis in die Moderne keine Sektionen darüber, welche Pflichten der Vater bezüglich der Beziehung zu seinen Kindern wahrnehmen sollte.43 Die meisten Väter stimmten Abelard zu, der, nachdem er Heloise schwängerte, sie fortschickte und sich eingestand: »Wer kann die Schreie von Kindern ertragen. ... Wer kann die unsauberen und dauernd Dreck machenden Babys tolerieren?«44 

Wie Buchan schrieb: »Männer halten sich generell von auch nur der geringsten Bekanntschaft mit den Angelegenheiten der Kinderpflege fern [und] schämen sich nicht dafür, Anweisungen betreffend des Umgangs mit ihren Hunden oder Pferden zu erteilen, und würden doch erröten, wenn sie damit überraschen würden, das gleiche Amt in Bezug auf ihre Erben auszuführen«.45 Da die Kinder der Oberschicht an Ammen übergeben wurden und danach zur Schule gingen, konnten die meisten Erwachsenen mit Talleyrand übereinstimmen, wenn er erklärte, er hätte »nie unter demselben Dach bei seinem Vater und seiner Mutter geschlafen«.46 Väter waren so weit weg, dass auch die meisten Alexis Vandermonde, einem französischen Essayisten des 18. Jahrhunderts, zustimmen konnten, der sagte: »Man errötet beim Gedanken an die Liebe für seine Kinder.«47 Wenn ihre Kinder starben, zeigten die meisten Väter, so auch William Byrd, keine Anzeichen von Kummer und schrieben in der Todesnacht in ihre Tagebücher lediglich, sie hätten »gute Gedanken und guten Humor« gehabt.48


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Sollte ein Vater einmal versuchen mit seinem Kind zu spielen, war es ihm unmöglich, die notwendige Empathie aufzubringen, um das Fassungsvermögen des Kindes zu verstehen, wie die folgende typische Interaktion zeigt:

Ein Gentleman spielte mit seinem einjährigen Kind, als es zu schreien begann. Er ordnete Ruhe an; das Kind folgte nicht; der Vater fing an es zu schlagen, aber dies machte dem Kind Angst und es schrie noch mehr. ... Der Vater dachte das Kind würde ruiniert werden, wenn es nicht zum Nachgeben gezwungen werden könnte und erneuerte die Züchtigung mit erhöhter Härte. ... Beim Ausziehen entdeckte man eine Nadel, die in seinem Rücken steckte.49

 

Schon in der Kolonialzeit waren amerikanische Väter Vorreiter der neuen Bewegung, ihren Kindern ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn diese Aufmerksamkeit eine strafende war.50 Im 19. Jahrhundert begannen einige Väter sich empathisch auf ihre Kinder zu beziehen, obwohl das noch als Seltenheit galt, so wie Grigorii Belinskii als »der einzige Vater in der Stadt, der verstand, dass beim Heranziehen der Kinder es nicht notwendig ist, sie wie Vieh zu behandeln«,51 beschrieben wurde. Selbst diejenigen, die zu dieser Zeit anfingen, die »väterliche Ignoranz« zu kritisieren, sagten, es wäre die alleinige Aufgabe des Vaters, »den Kindern beizubringen der Mutter zu gehorchen«.52 

Es dauerte eigentlich bis zum späten Sozialisierungsmodus, bevor Väter anfingen ein wenig Pflegearbeit zu übernehmen, Kinderwägen zu schieben und anderweitig versuchten, gemäß den Proklamationen der Neuen Vaterschaft des 20. Jahrhunderts zu leben.53 Obwohl heute einige Väter den Modus des helfenden Elternteils leben und genauso viel Zeit wie ihre Frauen für die Pflege ihres Kindes aufwenden,54 zeigen verschiedene Zeitstudien in Amerika immer noch, dass arbeitende Väter durchschnittlich nur etwa 12 bis 18 Minuten täglich mit ihren kleinen Kindern verbringen.55 Die Gynarchie, so scheint es, regiert immer noch zu oberst und Väter überall auf der Welt müssen noch ernsthafter die Gelegenheit der Aufgaben und Freuden der Vaterschaft ergreifen.

 

Mädchen hatten eine schlimmere Kindheit als Jungen

Das Problem, wenn nur Frauen die Kinder aufziehen, liegt darin, dass Elternschaft eine emotional fordernde Aufgabe darstellt, beträchtliche Reife erfordert und über die gesamte Geschichte hinweg Mädchen universeU in Verachtung und Missbrauch aufwuchsen. Wenn ein Mädchen geboren wurde, so sagten die Hebräer, »weinten die Mauern«.56 Japanische Wiegenlieder lauteten: »Wenn es ein Mädchen ist, trample sie nieder.«57 Bei mittelalterlichen muslimischen Kulturen »wurde gewöhnlich noch vor der Niederkunft neben der Ruhestätte der Mutter ein Grab vorbereitet [und] wenn das Neugeborene weiblich war, wurde es unmittelbar von der Mutter in das Grab geworfen«.58


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 »Gesegnet ist die Tür, durch die eine tote Tochter geht«, war ein populäres italienisches Sprichwort, das ziemlich wörtlich genommen wurde.59 Speziell Väter hassten es, Töchter zu bekommen: »Wenn ein Mädchen geboren wurde, war der Vater schrecklich enttäuscht. Er ist fast gedemütigt.«60 Überall erachtete man Mädchen von Geburt an als voll von gefährlicher Verschmutzung — der projizierte Hass auf Mütter von Erwachsenen — und deshalb wurden diese öfter als Jungen umgebracht, ausgesetzt, verstoßen, schlecht ernährt, vergewaltigt und vernachlässigt. Alle stimmten darüber ein, Mädchen sollten weniger gefüttert werden; wie Jerome es ausdrückt: »Ihre Mahlzeiten sollten sie immer hungrig belassen.«61 Mädchen verbrachten einige Zeit ihrer Kindheit mit Vermeidungsversuchen, von den Nachbarn oder Arbeitgebern vergewaltigt und dadurch in die Prostitution gezwungen zu werden. Zu erwarten, dass aus schrecklich missbrauchten Mädchen wie aus Zauberhand reife, liebende Fürsorgende werden, wenn diese als Teenager in fremden Familien praktisch versklavt wurden, widerspricht einfach den Schlussfolgerungen aller klinischen Studien, die wir haben, welche die verheerenden traumatischen Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Mutterschaft belegen.62

 

Früher in der Geschichte sahen Mütter in ihren Kindern vielfach ihre eigene schreiende, bedürftige, beherrschende Mütter — und bildeten, was Nancy Chodorow eine »hypersymbiotische Beziehung«63 nennt, in der vom Kind erwartet wird, die ganze fehlende Liebe im Leben der Mutter wettzumachen, ihre Depression zu heilen und ihre Vitalität wieder herzustellen. Ähnlich akut gestörten destruktiven Müttern in aktuellen klinischen Studien, die »gleichgültig ihren Wunsch nach Missbrauch, Vergewaltigung, Verstümmelung, oder dem Töten eines Kindes, jeden Kindes eingestehen«,64 fürchteten Mütter in der Vergangenheit das Schreien ihres Säuglings so sehr, dass sie sich entschlossen, »einem Kind niemals das zu geben, wonach es schreit. ... Ich denke es ist richtig, es dauernd zurückzuhalten, wie sehr die kleine Kreatur auch schreien mag ... und die Gewohnheit des Schreiens würde gebrochen werden.«65 

Das Bedürfnis, die zornige Stimme der Mutter im Baby zum Verstummen zu bringen, führte zu den Verschnürungen, der Vernachlässigung und dem Schlagen. Der winzige Säugling wurde derart destruktiv erlebt, dass, geht man nach Augustinus, »wenn man ihm alles lässt, was er will, es kein Verbrechen geben wird, in das er nicht hineinstürzt«.66 Jedenfalls fühlte man, die Kinder wären so voll von Bösem, dass man sie, wenn sie starben, unter Dachrinnen vergrub, damit das Wasser ihre sündige Verschmutzung wegwaschen würde.67 Eine durchschnittliche Mutter in der Vergangenheit war wie eine extrem gestörte heutige Mutter, deren »Todeswünsche, die sie unbewusst gegen ihre [eigene] Mutter hegte, sie jetzt in der Beziehung zum Kind erfährt, [sodass] der Tod die Beziehung zwischen Mutter und Kind durchdringt [wovon die Mutter oft berichtet]: >Ich erinnere mich, das Baby einmal auf die Kissen geschleudert zu haben und schrie nur, kümmerte mich gar nicht um das Baby. Ich wollte es wirklich umbringen. ... Ich hasste das Baby dafür, dass es andauernd da war.<«68 


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Viele Mütter heute geben zu, einen inneren Kampf gegen das Gefühl, »von ihren Babys beherrscht, ausgebeutet, gedemütigt, ausgesaugt und kritisiert zu werden«, zu führen und geben an, ihnen manchmal gerne »wehtun, sie los werden, sie wie einen Pfannkuchen flachdrücken oder sie bis zum Schweigen prügeln« zu wollen.69 Mütter in der Vergangenheit gewannen unglücklicherweise den maternalen Liebe/Hass-Kampf weniger oft, weil ihre eigenen Entwicklungsjahre so misshandelnd waren. Das Baby der Vergangenheit durfte nichts brauchen, sondern hatte einzig und allein der benachteiligten Mutter Liebe zu schenken:

Augustus Hares Bericht seiner Kindheit gibt einen Einblick in derartige Beziehungen. ... Er konnte seiner Mutter gegenüber nie einen Wunsch zum Ausdruck bringen, weil sie dachte, es wäre ihre Pflicht, diesen abzulehnen. »Der Wille ist das, was unterworfen werden muss«, sagte sie. ... [Einmal] als die Mutter bemerkte, dass er sehr an einer Hauskatze hing, hängte sie die Katze feierlich im Garten auf, damit er außer ihr kein anderes Liebesobjekt mehr hätte.70)

Mütter halluzinierten mit derartiger Intensität ihre Kinder als maternale Brüste, dass sie andauernd ihre Gesichter, Lippen, Brüste und Genitalien leckten und saugten,71 und sie fühlten sich durch ihre lieblosen Kindheiten so bedürftig, dass sie von ihren Kindern erwarteten, sie emotional zu nähren und zu umsorgen. Trotzdem erklärten Mütter: »Kinder fressen dich auf. ... Du wirst von ihnen ausgesaugt. ... Meine Kinder saugen mich leer; all meine Vitalität ist dahin.«72 

Selbst wenn die Mütter stillten, blickten sie ihre Babys selten an oder sprachen mit ihnen, weil sie fühlten, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Emotionen in sie zu investieren: »[Der Mutter] ist es gelungen, die Entwicklung einer engen persönlichen Bindung zu vermeiden. ... Sollte es sterben, würde sie einen Teil von sich verlieren — der jederzeit durch ein anderes Kind ersetzt werden könnte — und nicht ein Wesen, das sie liebt.«73 Nur wenn man die schwere Vernachlässigung und den Missbrauch der Mutter bedenkt und das Ausmaß, in dem ihre Babys Giftcontainer für ihre Gefühle sind, beginnt man zu verstehen, warum Mütter in der Vergangenheit ihre Kinder routinemäßig umgebracht, vernachlässigt und missbraucht haben. Was wie ein Wunder scheint — und was die Ursache für den meisten sozialen Fortschritt darstellt —, ist, dass Mütter über die gesamte Geschichte hindurch langsam und erfolgreich, ohne große Hilfe von anderen, gegen ihre Angst und ihren Hass ankämpften und es ihnen gelungen ist, die liebende und empathische Kindeserziehung zu entwickeln, welche wir heute bei vielen Familien rund um die Welt finden können.

 

Kindsopfer als Strafe für Erfolg

Ein Kind zu haben, sagt Rheingold, ist »der verbotenste Akt der Selbsterkennung, das höchste und am wenigsten verzeihliche Vergehen«, und bringt unvermeidliche Ängste maternaler Vergeltung für den eigenen Erfolg und der Individuation mit sich.74 


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Mütter in der Antike halluzinierten weibliche Dämonen — Lamia, Gorgo, Striga, Empusa —, die in den Köpfen der Mütter eigentlich Großmutter-Alter-Egos waren, die so eifersüchtig auf ihr Baby waren, dass sie ihnen das Blut aussaugten und andernfaUs umbrachten.75 Frauen in der Antike hatten solche Angst vor den rächenden Geistern (Alter Egos) der Mütter, dass diese Amulette trugen, die sie bei der Geburt ihres Kindes vor Lilith, der Kindsmörderin, schützen sollten und auf die Wand im Geburtsraum »Lilith raus!«76 schrieben. Selbst heutzutage fürchtet man in Bauerndörfern oftmals den Ausbruch von »zornigen, böswilligen, gefährlichen« Halluzinationen, die das Neugeborene umgeben und die Mutter bedrohen und schließt deshalb die Fensterbalken und verbarrikadiert die Türe, um Störungen durch Großmuttergeister zu verhindern.77 Alle frühen Gesellschaften erfanden Opferrituale, bei denen zu Ehren maternaler Göttinnen Babys gefoltert und getötet wurden, von Anit bis Kali, dies beschwörend, was eine zeitgenössische Mutter fühlte: »Obwohl mich Mami umbringen möchte, weil ich Sex gehabt und ein Baby gemacht habe, wenn ich stattdessen das Baby umbringe [normalerweise wurde das Erstgeborene geopfert], kann ich weiter Sex machen und andere Babys, mit weniger Angst vor Vergeltung, haben.«

 

Die höchst unreifen Eltern der Vergangenheit fühlten sich permanent von derart bösartigen Kräften bedroht - maternale Alter Egos -, sodass ihre eigenen Kinder immerzu als Giftcontainer für ihre geleugneten Gefühle verwendet wurden. Wie es ein Informant in einer zeitgenössischen ländlichen griechischen Gemeinde ausdrückte: »Wenn du zornig bist, befällt dich ein Dämon. Nur wenn ein reines Individuum vorbeikommt, ein Kind zum Beispiel, wird dich das Böse verlassen, den es wird das Unbefleckte befallen.«78 Die Dynamik ist klar: Der »Dämon in dir« ist das Alter Ego; das »unbefleckte Kind« ist der Giftcontainer. Ein typisches Kindsopfer für den elterlichen Erfolg kann man in Karthago sehen, wo Archäologen einen Kinderfriedhof, das Tophet genannt, fanden, der mit über 20.000 Urnen gefüllt war, die Gebeine von Kindern, die von ihren Eltern geopfert wurden, enthielten, weil diese einen Schwur abgelegt hatten, ihr nächstes Kind zu töten, wenn die Götter ihnen einen Gefallen tun würden - zum Beispiel, wenn beim Verschiffen ihrer Waren diese sicher im Zielhafen ankommen sollten.79 Sie platzierten ihre Kinder lebendig auf die Arme einer Bronzestatue »der Lady Tanit. ... Die Hände der Statue ragten über eine Feuerschüssel, in die das Kind fiel, sobald sich durch die Flammen die Gliedmaßen zusammenzogen und sich der Mund öffnete. ... Das Kind war lebendig und bei Bewusstsein, als es verbrannte. ... Philo spezifizierte, das geopferte Kind wäre das am meisten geliebte gewesen.«80

Kindsopfer war die Grundlage aller großen Religionen, geschildert in Mythen als absolut notwendig zur Rettung der Welt vor dem »Chaos«, was heißt, vor der schrecklichen inneren Angst vor Vernichtung als Strafe für Erfolg. Trotz des Anprangerns der Kindsopfer durch die hebräischen Propheten fuhren die alten Juden damit fort, »ihre Kinder durch das Feuer zu schicken«.81 


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Macobys Buch, The Sacred Executioner: Human Sacrifice and the Legacy of Guilt, porträtiert die gesamte Geschichte der Religion als Dramen, die rächende, blutrünstige heilige Henker zeigen, und demonstriert, dass die Rolle der Kinder, von Isaak bis zu Christus, darin bestanden hätte, Opfer für die Sünden der Eltern zu sein.82 Selbst hinter männlichen, nach Opfern verlangenden Göttern stünden rächende schreckliche Mütter des Todes, sagt Lederer - Belili, Inanna, Tiamat, Ishtar, Astarte, Lilith, Hathor-Sekhmet, Izanami, Chicomecoatl -, allesamt gefährliche Mutter-Alter-Egos in den Gehirnen der neuen Eltern, die nach Rache für die Hybris verlangen, es gewagt zu haben Eltern zu sein.83 Je vermögender und erfolgreicher die Familie, umso mehr Kinder mussten den Göttinnen geopfert werden, welche die zornige Großmutter des Säuglings repräsentierten.84

Kindsopfer hat es von den Anfängen der Menschheitsgeschichte an gegeben: Man hat enthauptete Skelette früher hominider Kinder mit Spuren von Kannibalismus gefunden, da ihre Eltern sie zugunsten des Geists ihrer lebensverzehrenden Großmütter aßen85; junge Kinder wurden in Woodhenge/Stonehenge mit von einer Axt gespaltenen Schädeln begraben86; enthauptete Säuglingsopfer an die Große Göttin sind in Jericho gefunden worden87; man hat in den meisten der Steinkreise in England die Gebeine von geopferten Kindern entdeckt88; frühe Araber opferten ihre Töchter »den Müttern«89; die Schlangengöttin der Azteken verlangte nach der Opferung kindlicher Schädel und Herzen, einschließlich dem Verzehr der Körper und dem Beschmieren mit ihrem Blut90; von den Mayas und Inkas geopferte Kinder werden in den südamerikanischen Bergen immer noch entdeckt, zusammen mit von Drogenhändlern umgebrachten Kindern, um Rache für ihre erfolgreichen Kokaingeschäfte abzuwenden.91 In Indien waren Kindsopfer weit verbreitet und noch bis ins 19. Jahrhundert wurden Kinder als Opfergabe an die Göttin den Haien zum Fraß vorgeworfen.92 Das Bedürfnis, Kinder zu opfern, um Ängste vor Erfolg abzuwenden, war so mächtig, dass das gesamte Mittelalter hindurch Kinder lebendig als »Fundamentopfer« eingemauert wurden, wenn neue Häuser, Mauern oder Brücken gebaut wurden, damit zornige, rächende Geister abgewehrt wurden.93

Wenn Kinder in der Vergangenheit eines natürlichen Todes starben, geben die Quellen vielfach den Blick auf die tiefe Befriedigung der Eltern frei. Manchmal erinnern sich Erwachsene in ihren Memoiren an die Todeswünsche ihrer Mütter - in einer typischen Passage erinnert sich Leo-pardi klar an seine Mutter, die, 

wenn sie den Tod eines ihrer Kinder herannahen sah, ein tiefes Glück empfand, das sie nur vor jenen zu verbergen versuchte, die sie wahrscheinlich tadeln würden. ... Wenn, was einige Male passierte, es ihr wahrscheinlich erschien, ein Säuglingskind zu verlieren, betete sie nicht zu Gott, dass es sterben solle, da die Religion dies verbat, jedenfalls war sie aber hoch erfreut.94

Immer und immer wieder zeigen historische Quellen Todeswünsche, die dann ausbrechen, wenn Erwachsene mit ihren Kindern interagieren. Epictetus gab zu: »Welcher Schaden ist es, wenn man sich selbst in dem Moment, da man sein Kind küsst, zuflüstert und sagt: >Morgen wirst du sterben<?«95 


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Ein Anderer erinnert sich an die abendlichen Worte der Mutter, wenn diese ihn ins Bett steckte: »Bald mein Sohn wirst du das Bett gegen das Grab tauschen und deine Kleider gegen ein Leichentuch.«96 Mütter waren wahrhaftig davon überzeugt, ihre Kinder wären hoffnungslos böse auf die Welt gekommen, wie die Mutter, von der Winthrop sagt, sie »ertränkte ihr Kind, damit es der Verdammnis entgeht«.97

Die Tode der Kinder wurden selten betrauert: Von Müttern wird gewöhnlich berichtet, sie hätten »den Tod mehrerer Töchter in der Schule mit großem Gleichmut betrachtet«, und ein Vater »äußerte sich fröhlich, wenn zwei seiner fünfzehn Kinder starben, er hätte ja immer noch dreizehn, die ihm blieben«.98 Oftmals zeichnen Erwachsene in ihren Tagebüchern ein Gelöbnis auf, sie würden »dem Herrn« (das Eltern-Alter-Ego der Eltern) sagen, er solle das Kind umbringen, wie es Cotton Mather tat, als eines seiner Kinder starb:

Ich übertrug das Kind dem Herrn; mein Wille war erloschen. Ich könnte sagen, mein Vater, töte mein Kind, wenn es dein Belieben ist. ... Es wäre mir lieber, es würde im Säuglingsalter sterben, als in verdammter und ekelhafter Gottlosigkeit leben. ... [Mein totes Kind ist] ein Familienopfer. ... Ich würde Gott durch das Opfern des reizenden Kindes mit äußerstem Bestreben huldigen."

 

Infantizid als Kindsopfer an die Großmutter

Müttern, denen heute danach ist, ihre neugeborenen Kinder umzubringen, befinden sich in tiefer Depression und Einsamkeit, denn, so Rheingolds Untersuchung von 350 filiziden Müttern:

Es ist nur die Angst, eine Frau zu sein, die einen infantiziden Impuls erzeugt. ... Ein Kind zu haben, ist der verbotenste Akt der Selbsterkenntnis. ... Bestrafung ist unabwendbar und Bestrafung heißt Vernichtung. ... Um die Mutter zu beschwichtigen, muss sie das Kind vernichten, aber das Kind ist auch ein Liebesobjekt. Um das Kind zu erhalten, muss sie der Mutter abschwören. ... Sie ist in einem verzweifelten Konflikt gefangen: die Mutter töten und das Baby erhalten, oder das Baby töten und die Mutter erhalten.100

Mütter in der Vergangenheit entschlossen sich milliardenfach, das Baby umzubringen.

In meiner Arbeit »The Demography of Filieide« habe ich gezeigt, dass die Jungen/Mädchen-Geschlechterraten aus dem Zensus und anderen Quellen der europäischen Geschichte im Mittelalter bei einer Höhe von 400:100 bis 140:100 lagen.101 Mit den indischen und chinesischen Raten im 19. Jahrhundert, die sich auf 300:100 und noch höher beliefen,102 und gegenwärtige asiatische Statistiken, die in den Zensuszahlen immer noch 200 Millionen »fehlende« Mädchen zeigen,103 habe ich darauf geschlossen, dass wahrscheinlich die gesamten Infantizidraten beider Geschlechter in der Antike 30 Prozent überstiegen und nur langsam auf die geringe Rate fortgeschrittener heutiger Gesellschaften zurückgingen.104 


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Erhöht man diese Infantizidraten mit den 80 Milliarden menschlichen Geburten in den letzten 100.000 Jahren105) — 80 Prozent davon ereigneten sich vor 1750, und noch mehr fanden in Gebieten mit den hohen Asieninfantizidraten statt —, ist eine durchschnittlich gewichtete Infantizidrate von mindestens 15 Prozent wahrscheinlich, oder Milliarden getöteter neugeborener Babys.

Auch diese erstaunliche Zahl zeigt nicht die ganze Geschichte des Infantizid. Jede Studie über Todesraten von Kindern, die an Ammen übergeben wurden oder in Findelhäusern landeten, weist noch viel höhere Todesraten auf, die sich auf über 70 Prozent belaufen, selbst in modernen Zeiten.106 Ärzte in der Geschichte stimmen darin überein, dass »die tiefste Ursache für die schreckliche Verschwendung von Säuglingsleben Vernachlässigung [ist] ... vernachlässigt von den eigenen Müttern oder den Kindermädchen, an die sie verstoßen wurden.«107 

Da Eltern, die ihre Kinder Ammen oder Findelhäusern überließen, ziemlich genau wussten, sie würden diese wahrscheinlich nicht mehr wiedersehen — jedenfalls wurden sie oftmals mit einer kleinen Summe Geld, unter der stillschweigenden Annahme, sie würden nicht zurückgegeben werden, zu sogenannten Killerammen geschickt108 —, müssen diese verzögerten Akte von Infantizid zu der geschätzten Kindsmordrate addiert werden, was diese um mindestens ein Drittel erhöht. Kein Wunder, Menschen in der Vergangenheit sagten so oft, überall in ihrer Gegend »konnte man vom Grund der Latrinen, Teiche und Flüssen das Stöhnen von Kindern hören, die jemand da hineingeworfen hat«.109

Obwohl die Armut bei diesem Holocaust von Kindern eine Rolle gespielt hat, ist es zweifelhaft, ob das der Hauptgrund für die Tode der Kinder war. Wenn, zum Beispiel, Araber gleich neben der Geburtsstelle jeder neuen Mutter ein Grab schaufelten, damit, »wenn das neugeborene Kind weiblich war, es die Mutter sofort in das Grab werfen konnte«,110 so war das Motiv der Hass auf Mädchen — und nicht Armut. 

 

Fig. 8-1 
Mutter verübt mithilfe 
ihres bösen Alter Egos Infantizid.

 


Die Evolution der Kindererziehung  223

Zweitens, wenn knappe Ressourcen der Hauptgrund waren, dann müssten reichere Eltern weniger töten als arme Eltern. Aber die historischen Aufzeichnungen zeigen genau das Gegenteil: Historische Jungen/Mädchen-Raten sind unter reichen Eltern höher,111) bei denen ökonomische Bedürftigkeit kein Problem darstellt. Selbst im frühen modernen England waren die Säuglingssterblichkeitsraten reicher Kinder höher als bei gewöhnlichen Bauern, Tagelöhnern und Handwerkern.112 

Drittens, viele reiche Hochzivilisationen wie etwa Griechenland, Rom, China, Indien, Hawaii und Tahiti sind sehr infantizidal, speziell unter den Eliteschichten. Wie ein Besucher auf Hawaii berichtete, gab es wahrscheinlich nicht eine einzige Mutter, die nicht eines oder mehrere Kinder den Haien vorgeworfen hatte.113 Es gab sogar Gesellschaften, wo praktisch alle Neugeborenen getötet wurden, um ihre überwältigenden Bedürfnisse nach Infantizid zu befriedigen, und Kinder müssten zur Erhaltung der Gesellschaft von benachbarten Gruppen importiert werden.114 

Schlussendlich, viele Nationen — wie bis vor kurzem Japan — töten ihre Kinder zur Ausbalancierung der Anzahl von Jungen und Mädchen selektiv, eine Praxis, genannt Mabiki, oder »Ausdünnen« der weniger Versprechenden,115 was erneut ein ganz anderes Motiv als ein ökonomisches zeigt. Selbst heutzutage ist mit ziemlicher Sicherheit nicht die Ökonomie der Grund für so viele depressive Frauen, am Entbindungstisch aufzuschreien und ihre Mütter anzuflehen, sie mögen sie nicht umbringen, weil sie geboren haben.116 Vom Beginn der Zeit an haben Frauen gefühlt, ihr Kind gehöre eigentlich Gott - ein Symbol für die Großmutter -und »das Kind war ein Geschenk, das Gott jederzeit rechtens zurückverlangen könne«.117 Wenn sie ihr Kind umbringt, dann handelte die Mutter schlicht als Rächerin ihrer eigenen Mutter.

 

Es bleibt uns unglücklicherweise das, was ein Psychoanalytiker unseren »universellen Widerstand [nennt], die filizidalen Triebe der Mutter anzuerkennen, unzweifelhaft die furchterregendste und unheimlichste Wahrheit, der wir gegenüberstehen«.118 Unsere einzigen Abwehrmechanismen sind Leugnung und Dissoziation, wie bei Menschen in der Vergangenheit, die regelmäßig von der emotionalen Auswirkung ihres Mordes an ihren unschuldigen Kindern dissoziieren und Sätze sagen wie: »Werfen wir nicht unsere eigene Spucke und Läuse und solche von uns, die aus unserem Selbst erzeugt worden sind«, oder: »Verrückten Hunden schlagen wir auf den Kopf [und] wir ertränken jedes Kind bei der Geburt«, oder: »Man braucht sich nicht aufzuregen, wenn Kinder sterben. ... Jedes Jahr wird eines geboren. ... Leben und Sterben lassen.«119 

Mütter wie auch Väter wussten, dass ihre eigenen Eltern nach einem Tod verlangten; beide kämpften gegen die grässliche Androhung der Großeltern, sie umzubringen, wenn sie es wagen würden, selbst Eltern zu werden. Was der Dissoziation half, waren solche Annahmen, wie das Bestreiten, die Babys wären Menschen; so nahm man lange Zeit, im Osten und im Westen, an, dass, wenn die Mutter das Neugeborene umbringen würde, bevor es jegliche Nahrung zu sich genommen hatte, es eigentlich nicht »wirklich geboren« war; man dachte einfach nicht, es wäre schon menschlich.120


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Normalerweise war es die Mutter oder eine der anderen Frauen der Gynarchie, welche das Töten übernahmen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart,121 meist gewalttätig, den Kopf des Babys zuschmetternd, es zwischen den Knien zerdrückend, an den Brüsten erstickend, auf ihm sitzend, oder es lebend in den Abort werfend, wobei die Mütter manchmal noch dazu Spitznamen wie »Kindererstecherin« oder »Kindererdrückerin« erhielten.122 Gynäkologische Schriften, wie Soranus »How to Recognize the Newborn that is Worth Rearing«, halfen, den Infantizid zu rationalisieren.123 Es half, die Schuld für den Mord mit seinen Kindern zu teilen, die oft gezwungen wurden, der Mutter beim Töten der neugeborenen Geschwister zu helfen.124 

Es half, dämonische Anschauungen zu haben, wie jene, die sich immer noch im ländlichen Griechenland halten, wonach böse Geister das Neugeborene in einen Wechselbalg verwandelt hätten, ein dämonisches Baby, eine Striga, die erdrosselt werden müsse.125 Der Kampf der Mutter gegen das Verlangen, ihr Kind umzubringen, war (und ist) gewöhnlich ein bewusster und die Rolle des dissoziierten elterlichen Alter Egos ist vielfach augenscheinlich — so auch, wenn Mütter heute Therapeuten erzählen, »jemand in meinem Kopf hört nicht auf mir zu sagen, ich solle meine Tochter erwürgen«, oder wenn Medea sich gegen das Umbringen ihrer Kinder wehrt und sagt: »Ich weiß, welche Niederträchtigkeit ich dabei bin zu begehen, doch der Thumos ist stärker als meine Vorsätze.«126

 

Die Opposition der Gesellschaft gegen Infantizid war bis in moderne Zeiten unbedeutend. Juden betrachteten jedes Kind, das innerhalb von dreißig Tagen, selbst durch Gewalt, nach der Geburt starb, als eine Fehlgeburt.127 Die meisten alten Gesellschaften billigten Infantizid, vor allem bei Mädchen, offen, indem man sagte: »Wenn es ein Mädchen ist, wirf es raus«.128 In Sparta hielt sich die Stadt eine spezielle Grube, das Apothetai genannt, in die Neugeborene geworfen wurden, wenn man diese als nicht lebenswert erachtete.129 

Wie schon vorher erwähnt, sprach man von den Christen so, als wären sie seltsam, weil »sie das Aussetzen neugeborener Babys nicht praktizierten.«130 Obwohl das römische Recht, als Reaktion auf das Christentum, Infantizid 374 n. Chr. zum Kapitalverbrechen machte, fand man keine Fälle der Bestrafung.131 Anglosachsen sahen im Infantizid jedenfalls eine Tugend, nicht ein Verbrechen, und sagten: »Ein Kind weint, wenn es auf die Welt kommt, weil es sein Elend vorwegnimmt. Es ist gut für es, wenn es sterben soll. ... Es wurde auf ein schräges Dach gelegt [und] wenn es lachte, wurde es großgezogen, aber wenn es Angst hatte und weinte, wurde es, um umzukommen, rausgestoßen.«132 Philo beschreibt, womit in der Antike jeder vertraut war - Plätze, auf denen ausgesetzte Kinder von »all den wilden Tieren, die sich von Menschenfleisch ernähren, [die] die Stelle besuchten und sich ungehindert an den [weggeworfenen] Säuglingen der Väter und Mütter gütlich tun«, gefressen werden.133 Vor der Moderne war die strafrechtliche Verfolgung von Infantizid selten134 Selbst mittelalterliche Bußbücher verzeihen Müttern, die ihr Neugeborenes umbrachten, wenn sie dies vor dem ersten Füttern taten.135 


Die Evolution der Kindererziehung  225

In puritanischen Zeiten begann man einige Mütter für Infantizid zu hängen.136 Aber auch noch im 19. Jahrhundert war es ein »nicht unübliches Spektakel, die Leichen von Säuglingen in den Straßen oder auf den Misthäufen von London oder anderen großen Städten zu sehen«.137 Die Engländer hatten gegen Ende des Jahrhunderts über 7 Millionen in Begräbnisversicherungen eingetragene Kinder; da die Säuglingssterblichkeitsraten bei über 50 Prozent lagen, konnten Eltern, die ihr Kind umbrachten, leicht die Versicherungssumme kassieren. Wie ein Arzt festhielt: »Plötzlicher Kindstod tritt zu häufig auf, ein Umstand, der die Aufmerksamkeit des Coroners wecken sollte. ... Kostenlose medizinische Hilfe wurde verweigert. ... >Nein danke, er ist in zwei Begräbnisclubs<, war eine typische Antwort auf Angebote zur medizinischen Unterstützung eines kranken Kindes. Arsen galt als beliebtes Gift.«138

Jahrhundert für Jahrhundert erinnerten sich die überlebenden Kinder in traditionellen Gesellschaften an die Schreie ihrer ermordeten Brüder und Schwestern, fürchteten ihre mörderischen Eltern, glaubten, sie wären des Lebens unwürdig und von Grund auf böse, und wuchsen auf, um das Töten auf ihre eigenen Kinder anzuwenden.

 

Das Verstümmeln von Kinderkörpern

Die Neigung von vorschriftlichen Stämmen, die Körper ihrer Kinder zu zerschneiden, zu versengen oder sonst wie zu verstümmeln, ist vielfach dokumentiert worden, speziell die Rolle der genitalen Verstümmelung, im Rahmen derer bei Initiationsriten die Penisse von Jungen aufgeschlitzt wurden in der Überzeugung, dies wäre notwendig, um das ihnen innewohnende »Blut der Mutter und schlechte Worte« auszutreiben. 

Die Beschneidung von Jungen und die Verstümmelung der Genitalien von Mädchen findet man in vielen Stammesgruppen, deshalb geht dieses Ritual wahrscheinlich bis in die paläolithische Ära zurück. Jedenfalls kommt das Bedürfnis, die Körper von Kindern zu verstümmeln, in fast allen Kulturen in irgendeiner Form vor und kann auch in paläolithischen Höhlen gesehen werden, in denen Wandmalereien139 zeigen, dass Finger von Kindern bei vielen Kulturen abgeschnitten wurden im weit verbreiteten Glauben, Tiergeister würden den Finger eines Kindes verlangen, um in ihrem Zorn besänftigt zu werden.140 

Diese Fingeropferrituale sind für viele Kulturen belegt; bis in die neolithische Ära zurückreichend hat man heilige Stätten, die Fingerknochen enthielten, gefunden und noch in der Antike wurden Fingeropferrituale zur Beschwichtigung verfolgender Dämonen ausgeübt.141

Aber öfter sind es die Genitalien, der Kopf oder die Füße von Kindern, die man vergewaltigte. Selbst heutzutage sind nur wenige Mütter frei von Träumen, in denen ihre Babys schwer verletzt werden, obwohl die meisten über die Impulse lachen können und ihren Kindern gegenüber vielleicht nur mit Überprotektion reagieren. 


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Aber Rheingolds klinische Studien zeigen, dass viele Mütter die maternale Vergeltung dafür, ein Kind zu haben, mit, wie er es nennt, einem »Verstümmelungsimpuls« abwehren, der sich, wie er findet, hauptsächlich gegen die Genitalien der Jungen und Mädchen richtet und gegen das »Innere« der Mädchenkörper, was bei Jungen zu extremen Kastrationsängsten und bei Mädchen zu »Angst vor Weiblichkeit« führe.142

Das Abschneiden eines Teils oder des ganzen Genitals der Mädchen ist in vielen Kulturen verbreitete Praxis gewesen143 und reicht möglicherweise bis in paläolithische Zeiten zurück, da oft Steinwerkzeuge benutzt wurden. Es wird immer noch bei Stämmen von Afrika bis Australien praktiziert, wo die Vagina des Mädchens mit einem Steinmesser aufgerissen wird und man das Kind dann massenvergewaltigt.144 Historische Hinweise datieren aus dem alten Ägypten, wo man Mumien mit klitorialer Exzisi-on und zusammengewachsenen Schamlippen gefunden hat,145 und griechische Ärzte wie Soranos und Aetius regelmäßig das Entfernen der Klitoris von Mädchen befürworteten, wenn sie »übermäßig groß« war, damit es nicht übermäßig lustvoll würde.146

Heute gibt es über 100 Millionen arabische Frauen, denen ihre Genitalien abgeschnitten wurden; man hat ihnen erzählt, dass, »wenn man die Klitoris in Ruhe ließe, sie wachsen und sie am Boden nachschleifen würde, und wen man sie unbeschnitten ließe, die würde machen, was sie will ... und in Geilheit aufwachsen«.147 Oft werden zusätzlich zur Klitoris auch die Schamlippen entfernt, das verbleibende Fleisch zusammengenäht und nur ein kleines Loch zum Urinieren offen gelassen. Vor dem Geschlechtsverkehr muss die Vagina deshalb wieder aufgeschnitten werden; die Frauen haben große Probleme zu gebären und müssen oft noch weiter aufgeschnitten werden, damit das Baby hindurch kann.

 

Während der Verstümmelungen — gewöhnlich werden sie so um das sechste Lebensjahr herum von den Frauen der Gynarchie mit rostigen Messern vollzogen — unterliegen die Mädchen qualvollen Schmerzen, sterben manchmal aufgrund von Komplikationen, gewöhnlich Blutstürzen, und verlieren vom Schock das Bewusstsein, da keine Anästhesie angewendet wird.148 

Das Ritual — das kein religiöser Ritus ist und auch an keiner Stelle im Koran erwähnt wird — wird von den fröhlichen Gesängen der Frauen begleitet, die schreien: »Jetzt bist du eine Frau!«; »Bringt ihr jetzt den Bräutigam!«; »Bringt ihr einen Penis, sie ist bereit für den Geschlechtsverkehr«.149) 

Sie agieren in manischen Ritualen Rheingolds Beobachtungen aus, wonach destruktive Mütter »scheinbar die Neigung haben, die Weiblichkeit [ihrer] Töchter zu zerstören: ihre äußeren Genitalien, ihr <Inneres> ... ihre gesamte Sexualität«.150) 

Fig. 8-2  

Ein Mädchen in Kairo 

wird von dessen Mutter verstümmelt 


Die Evolution der Kindererziehung  227

Es überrascht nicht, dass die überwältigende Mehrheit der beschnittenen Mädchen zur Frigidität heran­wachsen. Historisch betrachtet wurde die weibliche Beschneidung in verschiedenen Gruppen von Russland bis Lateinamerika praktiziert151); sie wurde selbst an Frauen, unter Verwendung eines rotglühenden Eisens, mit dem die Klitoris des Mädchens weggebrannt wurde, ausgeübt, die im Europa und Amerika des 19. Jahrhunderts »zuviel masturbierten«.152 Strabo gibt an, die weibliche Genitalverstümmelung wäre von den Juden durchgeführt worden, und die frühe christliche Volkskunde nahm an, dass selbst die Jungfrau Maria, wie auch die anderen jüdischen Mädchen der Zeit, beschnitten war.153)

 

Von der Beschneidung der Jungen kann man denken, sie wäre weniger traumatisch, da sie nur die Entfernung der Vorhaut, eine weniger schwere Verstümmelung, betrifft. Doch in vielen Kulturen ist die Beschneidung der Jungen ziemlich schmerzhaft, etwa wenn moslemische Jungen im Alter zwischen 3 und 7 in einer blutigen Zeremonie beschnitten werden, nach welcher »er auf den nackten Rücken seiner Mutter gelegt wird, [damit] er seinen blutenden Penis gegen sie presst«.154 Dass diese Zeremonie in Verbindung mit den inzestuösen Gefühlen der Mutter steht, geht offensichtlich aus der Tatsache hervor, dass genitale Verstümmelung mit weit höherer Wahrscheinlichkeit in Gesellschaften auftritt, in denen die kleinen Jungen bei ihrer Mutter schlafen, während der Vater woanders schläft.155 Die Beschneidung von Jungen - praktiziert von Ägypten über Afrika bis nach Peru und Polynesien156 - macht diese zu »kleinen Müttern«, indem durch das Abschälen der Vorhaut die Eichel enthüllt wird, sodass diese als maternale Brustwarze fungieren kann. Dass die Beschneidung von Jungen in Amerika immer noch so häufig praktiziert wird, macht eine Aussage über die anhaltende Allgegenwart elterlicher Vergewaltigung der Sexualität ihrer Kinder.157

Die schwerere genitale Verstümmelung von Jungen, die über die Geschichte hinweg im Osten wie im Westen vorkam, war jedoch Kastration. Eunuchen sind bei den meisten Kulturen gefunden worden, am Anfang als Opfer für frühe Göttinnen: »Häufen von frisch abgetrennten Genitalien lagen unter den Altären ägyptischer Tempel, wo täglich Hunderte Jugendliche in die männliche Prostitution eingeführt wurden.«158 Zusätzlich war Kastration für die Befriedigung von Männern, die es bevorzugten, haarlose, kastrierte Jungen zu vergewaltigen, und all jene, die als Haremswächter, Palastbeamte, Sänger, Schauspieler und in vielen anderen Rollen vorkamen, von denen man meinte, sie würden Kastrierte erfordern.159 Von Nero sagte man, er hätte den Gebrauch von Eunuchen bei seinen Orgien genossen und sogar einen von ihnen geheiratet.160 Wenn Eltern ihre Jungen aristokratischen Haushalten zur sexuellen Verwendung übergaben, schnitten diese, so erzählte man, ihnen ihre Genitalien ab und hob sie in einem Gefäß auf.161 In Byzanz waren Eunuchen besonders beliebt, während im Westen Verdun weithin als »die große Eunuchenfabrik« bekannt war. Säuglinge wurden »in der Krippe« kastriert, um in Bordellen von Männern missbraucht zu werden, die gerne kleine kastrierte Jungen vergewaltigten.162 


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In einigen italienischen Städten wurden Jungen, die für den Klerus bestimmt waren, in jungen Jahren kastriert; in Neapel hangen Schilder über Geschäften: »Hier Kastrieren von Jungen!«163 Peter Brown schlussfolgert, unter frühen Christen wäre »Kastration eine Routineoperation« gewesen.164 Viele Kulturen rund um die Welt kastrierten Jungen, wenn sie noch Säuglinge waren und behaupteten, diese »wollten eigentlich« Mädchen sein. Sie wurden dann, wenn sie heranwuchsen, als Frauen verwendet, sexuell und anderweitig, wie in den Hijras Indiens, oder den Berdaches amerikanischer Indianerstämme.165 Die Hoden der Jungen wurden normalerweise im Alter zwischen 3 und 7 entweder abgerissen, zerquetscht, oder mit rotglühenden Eisen weggebrannt; in China »wurden der Penis und der Hodensack mit einem Schnitt entfernt«.166 Die Kastration von Jungen wurde bis vor kurzem in Gegenden des mittleren Ostens fortgeführt, gefolgt vom Eingraben des verstümmelten Jungen für mehrere Tage in heißem Sand, um den Blutsturz zu reduzieren - nur einer von fünf überlebte die blutige Operation.167 Einige Gesellschaften hatten Variationen von Beschneidungen, die Kastration nahe kamen, etwa bei einigen arabischen Stämmen, die Salkh ausübten, das »aus dem Abhäuten und Entfernen der gesamten Haut des Penis bestand«.168

Die in der Antike üblichere Handlung an den Genitalien der Jungen -genannt Infibulation - war zumindest weniger schmerzhaft. Von mütterlicher Liebe so benachteiligt, betrachteten Menschen in der Antike die Eichel von Jungen als aufregende Brustwarze (»Sie löst Entsetzen und Verwunderung im Herzen eines Mannes aus.«) und meinten sie bei kleinen Jungen daher verstecken zu müssen, indem sie die Vorhaut nach vorne zogen, zwei Löcher hinein machten und sie mit einem Ring, einer Nadel, oder einer Klammer verschlossen.169 Infibulierte Penisse sieht man regelmäßig in Zeichnungen von griechischen und römischen Athleten; bis in moderne Zeiten waren sie beliebt.1™ Die gleiche Praxis wird im Osten Moh-ree genannt, das Vernähen oder Kauterisieren der Vorhaut über der Eichel zur Verhinderung einer Erektion. Bis zum heutigen Tag wenden einige japanische Athleten die Infibulation zur Verhinderung des Verlusts von Stärke an, von der sie glauben, sie würde sich durch die Eichel verflüchtigen.171 Aztekische Eltern schnitten regelmäßig während der gesamten Kindheit die Genitalien von Jungen als auch Mädchen und verwendeten das Blut als Opfer an ihre Göttin, ein Ritual, von dem man sagte, es würde »einem das Herz von der Schuld befreien, die eine Person verrückt machen kann«.172 Jedenfalls ist man dazu verleitet, den Azteken den Preis für die sadistischste Elternschaft zu verleihen, da ihre Kinder routinemäßig geopfert, geschnitten, auf Krippenbretter geschnallt, ihnen Löcher in die Lippen gebohrt, betäubt, über Feuer verbrannt, ausgehungert, mit Dornen gestochen, nackt in eiskaltes Wasser geworfen, gefoltert und verprügelt wurden.173 Aber zu glauben, dies sei ungewöhnlich gewesen, wäre ein Fehler. Die aztekische Kindheit wurde nur ausführlicher von Besuchern aus Europa beschrieben. 


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Ebenso anschaulich waren diejenigen, welche die chinesische Gewohnheit beschrieben, Kinder zu enthaupten oder zu strangulieren, die »sich schuldig gemacht hatten, ihre Eltern in einer beleidigenden Art und Weise anzusprechen«,174 oder die in Europa übliche Praxis, Säuglinge mit Exkrementen zu beschmieren und sie übers Feuer zu halten, in einen Brotbackofen zu stoßen, um ihre »Verhexung« auszutreiben, oder die übliche Praxis, das Baby über ein Feuer zu hängen, um zu sehen, ob es ein »Wechselbalg« sei.175

 

Eltern in traditionellen Gesellschaften konnten ihre Finger nicht von ihren Babys lassen; sie waren einfach dazu gezwungen, diesen die ganze Zeit weh zu tun und sie zu foltern. Das Erste, was die meisten westlichen Gesellschaften bis vor kurzem ihren Neugeborenen antaten, war, das Band unter der Zunge mit ihrem Daumennagel zu durchtrennen und diese so im Voraus dafür, was sie als maternale Zungenauspeitschung erlebten, zu behandeln.176 Dann wurden ihre Köpfe und Genitalien gewaltsam geformt: »Die Köpfe aller Babys sind umgeformt worden, damit sie die erwünschte Gestalt annahmen. Die Nase wurde [auch] korrigiert. ... Das Kindermädchen dehnte täglich sanft das Ende der Vorhaut.«177 Das schmerzvolle Formen des Kopfes dauerte das erste Lebensjahr des Säuglings an und endete manchmal fatal. Eine englische Mutter schrieb im Jahre 1596 über ihr 9 Monate altes Kind: »Das Kind starb. ... Das Kindermädchen hatte die Form auf den Kopf gesetzt und sie zu stark angezogen.«178 Schwere kraniale Deformationen kann man in den Zeichnungen von ägyptischen, mayanischen, aztekischen, hunnischen, indianischen und anderen Kindern sehen, da ihre Köpfe routinemäßig zwischen zwei Bretter, eines an der Stirn, das andere am Hinterkopf, geklemmt wurden, um so den Kopf in den Winkel der Bretter zu quetschen - eine Praxis, die bis zu den Neandertalern zurückreicht und sich »über weite Teile Europas, speziell in Holland und Frankreich, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts« fortsetzte.179

 

Besonders verbreitet war der Wunsch, Kinder zu verbrennen. Speziell die Körper traditioneller arabischer Kinder waren von den Verbrennungen durch deren Eltern mit rotglühenden Eisen oder Nadeln mit Brandspuren übersäht.180 Englische Zeitungen berichteten von Beispielen, wie etwa von einer Frau, die »das Feuer mit den Füßen [ihrer Kinder] schürte, sodass ihre Zehen abfielen. ... Aber wir haben nicht gehört, dass in dieser Hinsicht irgendein gerichtliches Verfahren stattfindet.«181 Der regelmäßige Gebrauch, brennendes Moxa auf den Körper des Kindes aufzutragen, ist in Japan heute noch üblich.182 Kochend heißes Wasser (»Eisenwasser«) über das Kind zu leeren hatte in Osteuropa angeblich heilende Wirkung.183 Ähnliche Resultate werden einer mittelalterlichen italienischen Praxis zugeschrieben, bei der »die Kinder sofort nach der Geburt kauterisiert oder im Nacken mit einem heißen Eisen verbrannt wurden, oder ansonsten an dieser Stelle heißes Kerzenwachs aufgetropft wurde. ... Sie glauben, dass das Hirn ausgetrocknet wäre und durch den Schmerz der Humor, der dort fließt, abgehalten würde, in Teile des Kopfes zu gelangen.«184 Es gab jede Art von Ausrede für diese Folterungen von Kindern. Eltern jeder Periode zwangen ihre Kinder, ihre eigenen Exkremente zu konsumieren, wenn sie ins Bett machten.185 Wesentlich verkrüppelnder waren Verstümmelungen wie das chinesische Fußbinden, das die Knochen der kleinen Mädchen bricht und ihr Fleisch sodann verdirbt, damit Männer darauf masturbieren konnten.186


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Mangel an Empathie gegenüber Kindern und Unterernährung in der Geschichte

Jede Kindeserziehungspraxis in traditionellen Gesellschaften verrät einen tiefen Mangel an Empathie gegenüber den eigenen Kindern. Das sollte man nicht einfach als Resultat von Armut oder gar der Brutalität der menschlichen Natur sehen. Diese Eltern sind ihren Mutter-Alter-Egos hörig, die das Foltern ihrer Enkelkinder fordern. Ein typisches Beispiel für diese Hörigkeit kann man in den folgenden Beobachtungen eines Italienbesuchers wahrnehmen, der ein populäres religiöses Fest beschreibt:

Das auffallendste Objekt der Feierlichkeiten ist eine Prozession, [bei der] ein riesiger Wagen von einer langen Gruppe von Büffeln durch die Straßen gezogen wird. Darauf wurde eine große Anzahl von Objekten, wie die Sonne, der Mond und die wichtigsten Planeten, errichtet und in rotierende Bewegung versetzt. ... Das Herz bleibt einem bei dem Anblick stehen, da an die Strahlen der Sonne und des Mondes, sowie an die Kreise, welche die Atmosphären der verschiedenen Planeten darstellen, noch nicht abgestillte Säuglinge angebunden waren, deren Mütter für ein paar Dukaten so ihre Nachkommenschaft exponierten, um das Geleit der Engel zu repräsentieren, welche die Jungfrau Maria auf ihrem Weg in den Himmel begleiten. Wenn die riesige Maschine ihre durchrüttelnde Runde gemacht hat, werden diese hilflosen Kreaturen, ... die über einen Zeitraum von sieben Stunden immer wieder herumgewirbelt wurden, von der fatalen Maschine abgenommen, bereits tot, oder im Sterben begriffen. Darauf folgt eine unmöglich zu beschreibende Szene - die Mütter kämpfen miteinander, schreien und trampeln sich gegenseitig nieder. Wegen der großen Anzahl ist es der einzelnen Mutter nicht möglich, ihr eigenes Kind unter den Überlebenden wiederzuerkennen, die eine streitet mit der anderen um die Identität ihres Säuglings. ... Wenn die weniger glücklichen Mütter die toten Körper ihrer Säuglinge, oftmals schon kalt, überreicht bekommen, durchdringen ihre Scheinlamenti die Luft, jedoch hinweggetröstet durch die Sicherheit, dass Maria, bezaubert von ihrem Kind, es mit ins Paradies genommen hat.187

Folglich wird die Mutter Maria - Symbol der Großmutter - als selbst bis in den Tod fordernde Besitzerin des Kindes dargestellt.

Dieses destruktive Großmutter-Alter-Ego im Kopf jeder Mutter ist der fehlende Faktor in den Begründungen der Historiker für allgegenwärtige Grausamkeit gegenüber Kindern in der Vergangenheit. Edward Shorter, zum Beispiel, wirkt dem Armutsargument für die »manifeste Abgestumpftheit«, mit der Kinder in der Vergangenheit behandelt wurden, effektiv entgegen, indem er aufzeigt, wie Ober- und Mittelschichtmütter »das Geld für große Hochzeiten, Mitgifte und Militäruniformen hatten ... doch ebenso wie Arbeiter das Stillen der Säuglinge, solange diese lebten, unterließen«.188 


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Jedenfalls übergab fast jede Mutter, die es sich leisten konnte, ihr Neugeborenes einer Amme, selbst dann, wenn die Ammen es mit Brei statt Brustmilch fütterten, und auch wenn sie wussten, ihre Kinder würden aufgrund der gefühllosen Behandlung durch Ammen eher sterben. Jedenfalls schienen Mütter in der Vergangenheit nicht in der Lage gewesen zu sein, genug Empathie für ihren Säugling aufzubringen, um zu bemerken, wann er hungrig ist. 

Über Jahrhunderte hinweg und in allen Teilen der Welt berichteten Ärzte regelmäßig, »Babys sollten nur zwei bis dreimal innerhalb von 24 Stunden gefüttert werden«.189 Heroards Tagebuch über den kleinen Louis XIII. zeigte, dass, obwohl über ein Dutzend Kindermädchen und Pflegepersonal mit seiner Obsorge beauftragt gewesen waren, er regelmäßig unterernährt, manchmal sogar dem Tod nahe, gewesen wäre.190 Selbst von kleinen Prinzessinnen wurde bis ins späte 18. Jahrhundert regelmäßig berichtet, sie wären »nackt und dem Hungertod nahe« gewesen.191 Mütter und Kindermädchen der Vergangenheit waren den Schimpansenmüttern, die im vorhergehenden Kapitel behandelt wurden, näher, als man sich eingestehen möchte, die sich nicht ausreichend in ihre abgestillten Babys einfühlen konnten, um ihnen Nahrung oder Wasser zu geben, oder ihnen zu zeigen, wie sie dazu kommen würden, sodass ein Drittel während der Entwöhnungskrise verstarb.192 Menschenmütter gingen weit über diesen Mangel an Empathie hinaus und ließen ihre Kinder im Rahmen der von vielen Gesellschaften der Vergangenheit so geliebten Fasten- und Bestrafungsrituale verhungern.193 

Buchans Schlussfolgerung, dass »fast die Hälfte der menschlichen Spezies durch falsche Behandlung und Vernachlässigung im Säuglings alter umkommt«,194 war ziemlich treffend, und auf keinen Fall auf die Armen beschränkt. Wenn Babys schrieen und Mütter die fordernden Stimmen ihrer eigenen Mütter hörten, wollten sie diese nur ruhig stellen und sehr wahrscheinlich mit Bier, Wein, oder Opium füttern - was in allen Geschäften als »Godfreys Cordial«, »Dalbys Carminative«, oder »Syrup of Poppies«195 erhältlich war, die sie entweder ausreichend narkotisierten, damit sie still waren, oder sie umbrachten.196 Die Anwendung von Opium bei Säuglingen geht auf das alte Ägypten zurück, wo die Eber-Papyrusrolle den Eltern erklärt: »Es wirkt sofort!«197 Ärzte beklagten die Tausenden jährlich umgebrachter Säuglinge, weil Kindermädchen »ständig Godfreys Cordial ihre kleinen Rachen hinunterschütteten, das ein starkes Opiat ist und letztendlich so fatal wie Arsen wirkt«.198 Um jeden Preis musste das Baby ruhig gestellt werden. Rheingold beschreibt Mütter in Behandlung, die »keine Milch mehr produzierten, sobald ihre Mutter auftauchte«, weil sie »ihre eigenen rachsüchtigen Mütter fürchten und Angst haben, sie könnten ihr Kind vernichten«.199

Es gibt kein bewusstes Schuldgefühl auf Seiten der Mütter, die ihre Kinder verhungern lassen, da sie den Kindern regelmäßig vorwerfen, »sterben zu wollen«.200) Viele Mütter und Ammen stülten überhaupt nicht, sondern gaben den Säuglingen lediglich Brei, Haferschleim (Bouillie), bestehend aus Wasser oder saurer Milch und Mehl,201 was einen sehr geringen Nährwert besaß und so dickflüssig war, dass »bald der ganze Bauch verstopft ist, Krämpfe auftreten, und die Kleineren sterben«.202


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In Bayern, zum Beispiel, sahen Mütter das Stillen ihrer Kinder als »ekelhaft« an, während die Väter jede Empathie vermissen ließen und ihren Frauen erzählten, »diese Brüste gehören mir« und mit Hungerstreik drohten, sollte die Mutter ihr Baby stillen.203 In Russland fütterten Mütter, die nicht stillen wollten, Säuglinge normalerweise mit der Zitze einer Kuh, was zu einer Kindersterblichkeitsrate von 70 Prozent führte.204 Nach der Geburt kehrten russische Bauern häufig zur ganztägigen Feldarbeit zurück und ließen die Babys mit nichts als einer Soska (ein Fetzen mit schimmligem Brot) im Mund verhungern.205 Alle möglichen Praktiken vergangener Kindeserziehung trugen zum Verhungern und der Unterernährung von Säuglingen bei. Neugeborene Babys wurden gewöhnlich in der ersten Woche oder noch länger gar nicht gefüttert, da man vom natürlichen mütterlichen Kolostrum annahm, es wäre giftig für das Baby. Verschnürte Babys wurden an einen Nagel gehängt, oder in eine Wiege in einen anderen Raum gelegt, wo man ihre hungrigen Schreie nicht hören konnte. Zusätzlich bewirkte das enge Verschnüren ein In-sich-Kehren der Säuglinge, weshalb sie das Schreien unterließen, wenn sie hungrig waren. Kinder, die zu Ammen gebracht wurden, kamen, nachdem sie während der Reise nicht gefüttert worden waren, zu Frauen, die oft versuchten, fünf Babys oder mehr auf einmal zu stillen und gleichzeitig auf den Feldern arbeiteten, während »das Kind sich selbst überlassen war, in seinen eigenen Exkrementen ertrinkend und gefesselt wie ein Verbrecher«.206 Speziell unterernährt waren solche Babys, die von Ammen mit Brei gefüttert wurden, welche manchmal bis zu 40 Kinder auf einmal annahmen, wovon die meisten starben, während die Mütter ihnen kontinuierlich auch ihre späteren Babys überbrachten.207 Diese Praktiken des Verhungernlassens machten Unterernährung für die meisten Babys bis in moderne Zeiten nahezu zur Gewissheit.

 

Das Übergeben an Ammen als 
Delegierte der destruktiven Großmutter

Die meisten Historiker waren genauso wenig wie die Mütter selbst in der Lage, Empathie für Kinder aufzubringen, die an Ammen übergeben wurden und behaupten, dies »spiegelt weniger fehlende Liebe für sie, als eine tiefe Angst davor, sie zu lieben wider«,208 oder sie bleiben dabei, es sei lediglich »eine harmlose Konvention und nicht eine Ablehnung des Kindes« gewesen.209 Die Mütter, die sich leisten konnten, ihre Babys wegzuschicken, taten dies auch; vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert etwa wurden weniger als 5 Prozent der in Paris geborenen Babys von ihren eigenen, reichen wie armen, Müttern gestillt.210 Sechs Prozent der Pariser Eltern im 18. Jahrhundert, die ihre Kinder Ammen übergaben, waren Noble, 44 Prozent Meisterhandwerker und Händler, und 24 Prozent Gesellen oder andere Arbeiter. 


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Über ein Drittel der Kinder verstarben bei den Ammen, eine mindestens doppelt so hohe Sterblichkeitsrate wie beim maternalen Stillen; daneben lag die Sterblichkeitsrate bei Findlingen, die an Ammen übergeben wurden, bei tödlichen 92 Prozent.211 Eltern wussten natürlich von den hohen Sterblichkeitszahlen, wenn sie ihre unschuldigen Kinder dazu verurteilten, von Ammen aufgezogen zu werden. Zumindest war das weniger schlimm als der unumwundene Verkauf der Kinder .als Sklaven, wie es in der Antike so oft vorkam.212

Die Mütter wussten, ihre eigenen Mütter würden eifersüchtig sein, wenn sie sich mehr dem Neugeborenen als den Großmüttern widmen würden, und fragten deshalb selten bei der Amme nach dem Befinden des Babys. Eine unübliche Mutter, die tatsächlich ihr Baby bei der Amme besuchte, wurde von Verwandten gewarnt, »solch übertriebene Liebe ist ein Verbrechen gegen Gott und der wird sie sicher bestrafen«.213 »Viele junge Mütter sagen: >Wenn ich zu Stillen beginne, würde ich das Leben meines Mannes und auch das Meinige zerstören^«214 Oberschichtmütter stillten ihre Babys fast nie und sagten: »Ernähre einen Säugling! Freilich, freilich! ... Ich brauche meinen nächtlichen Schlaf. ... Und ein neues Kleid für die Oper. ... Was! Muss der Balg auch meinen Brei haben?«215 Defoe nannte von hohen Damen gestillte Babys »eine so unnatürliche Sache, die Gott niemals beabsichtigt hätte«.216 Man erlebte neugeborene Babys oft als Dämonen - Drachen-Schlangen (drdkoi) -, bis diese bei der Taufe exorziert wurden.217 Muttermilch wäre angeblich aus dem Blut der Mutter entstanden und Mütter stellten sich vor, dass, »jedes Mal, wenn das Baby an ihren Brüsten saugt, sie fühlten, wie das Blut von ihrem Herzen kommend es nährt«218; sie fühlten daher, das Baby würde ihr Lebensblut entleeren. Ärzte, beginnend mit Soranus, stimmten darin überein, dass Mütter, die ihr Baby stillen, »vorzeitig altern [würden], verausgabt vom täglichen Saugen«.219 Dazu kommt, da geglaubt wurde, »Sperma würde die Milch verderben und sie sauer machen«,220 dass über die meiste Zeit in der Geschichte maternales Stillen für die Mütter bedeutete, in dieser Zeit keinen Geschlechtsverkehr zu haben.

Seit der Antike beklagen Ärzte Eltern, die ihre Neugeborenen routinemäßig vernachlässigenden und missbrauchenden Ammen übergaben. »Bei der Geburt werden unsere Kinder irgendeinem dummen griechischen Dienstmädchen übergeben«, so Tacitus.221 Soranus warnt vor »Ammen, die ihren Säuglingen gegenüber so wenig Verständnis aufbringen, dass sie ihnen nicht nur keine Beachtung schenken, wenn sie lange Zeit schreien, sondern auch zornige Frauen [sind], die wie Verrückte manchmal, wenn das Neugeborene aus Angst schreit und es ihnen nicht gelingt, es daran zu hindern, dieses aus ihren Händen fallen lassen und gefährlich herumwerfen«.222 Aulus Gellius sagte, Ammen wären zufällig aus den unbrauchbarsten Sklaven ausgewählt worden: »Sie nehmen die erstbeste Frau, die Milch hat.«223 In der ganzen Geschichte waren Eltern ziemlich salopp dabei, ihre 2- bis 7-Jährigen Ammen anzuvertrauen. Ein Vertreter würde »die erste vorbeikommende Bäuerin aufhalten, ohne ihre Gesundheit oder ihre Müch zu prüfen und ohne eine Vermittlungsstelle [zu bemühen, die] es ihm günstig abnehmen oder der ersten Person, die vorbeikam, übergeben würde«.224 


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Von den Kinderhändlern, welche ihre Dienst auf der Straße oder durch Zeitungsanzeigen anboten, erwartete man nicht, dass sie etwas über die Amme wussten, sondern nur, dass sie der Mutter den Säugling aus der Hand nahmen. Badinter beschreibt den Vorgang wie folgt:

Von den 21.000 im Stichprobenjahr 1780 in Paris geborenen Kindern ... wurden 19.000 in entlegene Teile des Landes mit entsetzlichen Zuständen deportiert, weil sie, oftmals aufs Geratewohl, ungebildeten Kinderhändlern ausgehändigt wurden, die sich an Straßenkreuzungen und/äuf den Marktplätzen der Hauptstadt drängelten. Einmal bei den Pflegeplätzen niedergelassen ... starben über die Hälfte von ihnen vor Erreichen des zweiten Lebensjahres. Und sie starben aus offensichtlicher Gleichgültigkeit ihrer Eltern. ...225

Weil die Amme immer ärmlich war und auch noch andere Babys zu füttern hatte, wurden die wenigen Eltern, die eine gute Amme zu finden versuchten, normalerweise enttäuscht; ein Tagebuchverfasser schreibt aus seinem Leben: »Vier verschiedene Ammen wurden meinetwegen nacheinander der Türe verwiesen. ... Die Erste ... hat mich im Bett fast erstickt. ... Die Zweite ließ mich aus ihren Armen auf den Steinboden fallen, bis mir fast der Schädel brach. ... Die Dritte trug mich unter einer alten Ziegelmauer, die [auf mich] drauf fiel ... während die Vierte sich als Diebin herausstellte und mich sogar meiner eigenen Babykleidung beraubte.«226

Mit der Reise zur Amme begannen die traumatischen Lebenserfahrung des Säuglings: »In Gruppen zu viert oder zu fünft wurden die Säuglinge in Tragkörben aufrecht gebündelt auf Esel gebunden. Die während der Reise verstarben, wurden einfach en route hinausgeworfen.«227 Sobald angekommen, haben ihre Eltern sich »selten nach dem Überleben ihrer Säuglinge erkundigt und waren zumeist über ihren Verbleib uninformiert«.228 Mütter brachten jedes Neugeborene zu einer Amme, »trotz der Vernichtung eines nach dem anderen ihrer Kinder. ... Weder Armut noch Unwissenheit erklären einen derartigen Infantizid - nur Gleichgültigkeit. ... Mütter, die vom Tod ihres Kindes bei der Amme erfahren, trösten sich, ohne auch nur nach dem Grund zu fragen, indem sie sagen: >Na gut, noch ein Engel im Him-mel!<«229

Die Amme selbst war gewöhnlich eine infantizidale Mutter. Die übliche Praxis bestand darin, von ihr zu verlangen, dass sie ihr eigenes Kind umbringt, um das fremde Kind zu stillen - von den früheren Eltern »ein Leben für ein Leben« genannt.230 Montaigne beklagte: »Jeden Tag entreißen wir Kinder den Armen ihrer Mütter und legen unsere eigenen für eine geringe Bezahlung in deren Verantwortung.«231 Die Gesellschaft sah dies als faires System an, da »durch das Opfern des Kindes der armen Mutter der Nachkomme der Reichen erhalten blieb«.232

Ammen wurden allgemein als »brutal, faul und der Trunkenheit verfallen«,233 »verdorben, trag, abergläubisch«,234 schuldig der »groben Fahrlässigkeit ... Babys ... unbeaufsichtigt zu lassen, wenn sie bei der Ernte halfen ... die ins Feuer krabbeln oder fallen und von Tieren attackiert wurden, speziell von Schweinen«,235 beschrieben; ihre Zöglinge waren »wie ein Bün-


Die Evolution der Kindererziehung 235

del Kleider an einem Nagel hängend ... das Unglückliche bleibt so [mit] einem blau verfärbten Gesicht und einem gewaltsam zusammengedrückten Brustkorb gekreuzigt«.236 Der Aberglaube der Ammen schloss den Glauben »zugunsten der Wiegenkappe und menschlicher Abfälle, von denen man glaubte, sie hätten therapeutischen Wert«237 mit ein, weshalb die Säuglinge selten gewaschen wurden und über die gesamte Zeit bei der Amme in ihrem eigenen Kot und Urin lebten: »Säuglinge saßen in tierischem und menschlichem Dreck, wurden an einen Haken in ungewechselten Schnürbändern gehängt, oder wurden in einer improvisierten Hängematte an den Dachsparren gebunden, ... ihre Münder mit verrotteten Fetzen gestopft.«238 Selbst mitbewohnende Ammen wurden als gefühllos beschrieben: »Wenn er schrie, schüttelte sie ihn gewöhnlich - wenn sie ihn wusch, stopfte sie den Schwamm in seinen kleinen Mund - stieß ihren Finger (Biest!) in seine kleine Kehle - und sagte, sie würde das Kind hassen, sie würde sich wünschen, er wäre tot - ließ ihn gewöhnlich am Boden schreiend liegen, saß ruhig daneben und sagte, Schreie würden sie nicht stören.«239

Beschwerden von Ärzten über Ammen, die Säuglinge aus bloßer Fahrlässigkeit sterben ließen, waren legendär: »Wenn die Frauen sich um den Weingarten kümmerten, blieb der Säugling alleine ... an ein Brett gebunden und an einem Haken in der Wand aufgehängt ... schreiend und hungrig in verfaulten Windeln. Oftmals schreit das Kind so stark, dass es einen Eingeweidebruch erleidet. ... Truthähne picken einem Kind die Augen aus ... oder sie fallen in ein Feuer, oder ertrinken in Eimern, die achtlos auf Türschwellen stehen gelassen wurden.«240 Kinder wurden beschrieben als »zerlumpt und nackt gehalten, kränklich und hungernd ... in panischer Angst vor ihrer Amme, die freizügig Schläge und Beschimpfungen verteilte«, oder die »sie an den Schultern und Handgelenken mit zerlumpten Lakenenden fesselten ... Gesicht am Boden. ... um sie während ihrer Abwesenheit davor zu schützen, sich zu verletzen. ... Mit ihnen wurde nie gespielt oder gekuschelt. ... Es ist ein Feiertag, wenn sie von ihrer Amme im Raum spazieren geführt werden.«241 Von Säuglingen bei »Killerammen« wird berichtet, dass, während sie gefüttert wurden, die Amme summte, »Weine nicht mehr! Bald wirst du gehen, dete drago, bald. S'ist wahrlich besser, dass du gehst, liebes Kind ... auf den Schoß der Jungfrau Maria, der Mutter von Jesus.«242 Es ist kein Wunder, dass bis weit ins 19. Jahrhundert in vielen Gebieten eine Sterblichkeitsrate von zwei Drittel unter Kindern bei Ammen herrschte.243

Da ihre Eltern sie selten besuchten, waren die Kinder bei ihrer Rückkehr Jahre später völlig Fremde. »Wenn sie lebend nach Hause kamen, waren sie oftmals in einem erbärmlichen Zustand: abgemagert, klein, deformiert, vom Fieber beansprucht, zu Krämpfen neigend.«244 Bis dahin hatte die Mutter ihr Baby beinahe vergessen, weil, wie Ärzte seit der Antike bemängelten: »Wenn ein Kind einer anderen gegeben und dem Anblick der eigenen Mutter entzogen wird, erlischt die Kraft der maternalen Begeisterung Stück für Stück, bis es fast vergessen ist, als ob man es durch den Tod verloren hätte.«245 


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Ein typischer Bericht kam von einer Frau, welche die Worte ihrer Mutter beschreibt, nachdem sie mit zwei Jahren von der Amme zurückgegeben wurde: »Mein Gott! Was hast du mir hier gebracht! Dieser glotzende, im Gesicht verschmierte, schwätzende Wicht ist nicht mein Kind! Nimm sie weg!«246 Eine andere wird von Locke dafür gelobt, ihr Kind beim ersten Wiedersehen geschlagen zu haben, so sagt dieser, sie wäre »dazu gezwungen, ihre kleine Tochter vom ersten Tag an nach der Rückkehr von der Amme achtmal hintereinander jeden Morgen auszupeitschen, bevor sie ihre Sturheit beherrschen und sich eine Willfährigkeit in leichter und gleichgültiger Manier verschaffen konnte«.247

Die Verwendung von Ammen ist, von Europa bis nach Asien, solange Berichte zurückreichen, von allen Gesellschaften überall auf der Welt praktiziert worden.248 Das Gesetz des Hammurabi erlaubt der Amme sogar, das Baby zu verkaufen, sollten die Eltern ihr den vereinbarten Betrag nicht auszahlen.249 Die erste wirkliche Verbesserung kam erst im 17. Jahrhundert, als Ammen, speziell in England, Holland und Amerika, zunehmend im Elternhaus untergebracht wurden.250 Der nächste Schritt war, dass die Mutter selbst stillte. Die Entscheidung, auf Ammen zu verzichten, wurde aus rein psychogenen Gründen getroffen - weder neue Erfindungen noch soziale Umstände verursachten den Wandel; noch angeregt durch eine Änderung von Expertenmeinungen - die Pro-Ammen-Traktate Rousseaus und anderer hatten zum Beispiel nur wenig Einfluss auf die beinah universelle Ammenpraxis in Frankreich, während in Amerika sogar im Süden, wo Sklavenammen zu Verfügung standen, Mütter seit dem 18. Jahrhundert normalerweise selbst stillten.251 Fortgeschrittene Mütter fingen an, einander zu erzählen, welche neuen Freuden sie am Stillen ihres Säuglings erlebten. Vielmehr als das Dahinschwinden von vitalem Blut, konnte das Stillen wirklich ein Vergnügen für die Mutter sein! Die neue Mittelschicht führte das maternale Stillen an. Alle diese Veränderungen fanden vor der Ankunft des Fütterns aus sterilisierten Flaschen im 20. Jahrhundert statt. Die Kindersterblichkeit in diesen Gebieten sank sofort,252 und Mütter fingen mit dem Ausarbeiten von Wegen an, wie man den neuen emotionalen Herausforderungen, sich vielmehr auf ihre Babys zu beziehen, begegnen könne.

 

Das Einwickeln des bösen Säuglings

Da »Säuglinge in ihren Herzen zu Ehebruch, Unzucht, unsauberen Begierden, Lüsternheit... Zorn, Streit, Unersättlichkeit, Hass und mehr neigen«,253 mussten sie eng eingewickelt werden, damit sie »nicht betrügerisch oder böse geformt werden«.254 Man fürchtete, das Kind würde ansonsten »seine Ohren abreißen, sich die Augen auskratzen, sich das Bein brechen oder seine Genitalien berühren«,255 es würde unzweifelhaft »in Stücke zerfallen«,256 und mit Sicherheit »auf allen Vieren gehen, wie es die meisten anderen Tiere tun«.257 Schlimmer noch, Säuglinge wären immer kurz davor, sich in unsere zornige Mutter zu verwandeln; da sei soviel »Brutalität in allen Kindern [und wenn man] sie auch nur ein bisschen verhätschelt, beherrschen sie sofort ihre Eltern«.258


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Von Säuglingen dachte man, sie wären derartig gewalttätig, sodass ihre Köpfe »fest nach unten gebunden [werden mussten], damit sie ihre Köpfe nicht von ihren Schultern werfen würden«.259 Ärzte klagten, Mütter und Kindermädchen würden »so festbinden, dass mir die Tränen kamen, [als sie] das Kind hinter den heißen Ofen legten, wodurch das Kind bald ersticken oder sich erwürgen würde«.260 Der Prozess des Bindens war über Jahrtausende hindurch ziemlich gleich geblieben:

[Die Mutter] streckt das Baby auf einem Brett oder einer Strohmatte aus und kleidet es in ein kleines Hemd oder in eine grobe, zerknitterte Windel und beginnt nun darüber Bänder anzulegen. Sie befestigt die Arme des Säuglings an seinen Oberköper, zieht dann das Band unter die Achselhöhlen, was die Arme fest an ihren Platz drückt. Herum und herum wickelt sie das Band bis hinunter zu den Pobacken, fester und fester ... bis ganz hinunter zu den Füßen und ... bedeckt den Kopf des Babys mit einer Haube, [wobei alles] mit Nadeln festgemacht wird.261

In der Antike und im Mittelalter wurde das Einwickeln vollzogen, indem man den Säugling fest auf ein reales Brett band, damit er oder sie sich nicht bewegen konnte. Ärzte beklagten, der Säugling wäre »glücklich, wenn er nicht so festgedrückt wird, dass er nicht mehr atmen kann, und wenn er auf die Seite gelegt wird, damit das Wasser aus dem Mund laufen kann«, oder er würde zu Tode ersticken.262 Gewickelte albanische Säuglinge wurden in einer Studie von 1938 wie folgt beschrieben:

Das Kind begann sofort leidenschaftlich zu weinen und versuchte sich zu befreien. ... Das schien für die Mutter das Zeichen zu sein, die Wiege heftig zu schaukeln; gleichzeitig bedeckte sie den Kopf des Babys mit einem weißen Tuch. Während auf uns das jämmerliche Schreien einen großen Eindruck machte, schien dies für die Mutter eine alltägliche Sache zu sein, auf die sie nicht reagierte, außer die Wiege so heftig wie möglich zu schaukeln.263

Das traditionelle »gefühllose Schütteln« des Babys und das »heftige Schaukeln« der Wiege - wie unsere Quellen immer und immer wieder beschreiben264 - »versetzt das Baby in einen benommenen Zustand damit es jenen, die nach ihm sorgen, keine Probleme machen würde«,265 und wird manchmal ergänzt von »einem Stück Leinenfetzen in seinem Mund«266, um das Schreien zu beenden. Weü nur einfache Nadeln zum Festhalten der Wickelbänder verwendet wurden,267 zögerten Kindermädchen, verblendet vor Wut und Voreingenommenheit, nicht damit, das hilflose Baby zu schlagen ohne nachzusehen, ob das Schreien nicht von einer Nadel herrührt.«268 Weil jeder Besucher die eifersüchtige Großmutter repräsentiert, ließ man die Säuglinge normalerweise in dunklen Zimmern liegen und bedeckte ihre Gesichter mit Tüchern, zur Abwehr von dieser »Welt, voll von zornigen, böswilligen, glühenden und funkelnden Blicken, eine Welt beherrscht vom Bösen und der Angst ... gewöhnlich repräsentiert durch eine ältere Frau. ... Spitze Gegenstände werden in die Wiege gelegt, oder zwischen die Wickelbänder gesteckt — Messer, Nadeln, Gabeln, Nägel —, um vor Inkubi zu schützen.«269 Salz wurde in die Haut des Babys gerieben und irritierte diese fürchterlich270; manchmal wurden seine Brustwarzen mit Exkrementen


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beschmiert; Säuglinge wurden gezwungen, ihren eigenen Urin zu trinken; und Nachbarn würden es oft anspucken und dabei sagen: »Wää, was bist du nur hässlich«, alles bloß zur Abwehr von »Böse Augen«-Geistern.271 Da die Säuglinge gewickelt gestillt wurden, schmorten sie jedes Mal über Tage in ihren eigenen Exkrementen neben Müttern, die ihre »so stark sie konnten« schreienden Babys in der Wiege liegen ließen, oder sie »in ein Eck warfen«, oder »sie an einen Nagel an der Wand hingen«, während sie untertags »Stunden außerhalb ihres Cottage« verbrachten.272

Wenige traditionelle Mütter schenkten dem Flehen von Ärzten, »sie nicht in ihrem Dreck liegen zu lassen«,273 Beachtung, weshalb sie in ihrem ersten Lebensjahr274 normalerweise »mit Exkrementen überzogen einen pestialischen Geruch verbreiteten, [ihre] Haut überall entzündet [und] übersäht mit Geschwüren, [dass, wenn] man sie berührt ... sie gellende Schreie ausstoßen«.275

 

Wickeln ist weltweit praktiziert worden und reicht unzweifelhaft bis in Zeiten stammesgeschichtlicher Kulturen zurück, da so viele von ihnen Wiegenbretter aufweisen, auf denen die Säuglinge bis zu drei Jahre lang gebunden wurden, um deren angebliche aggressive Tendenzen zu kontrollieren.276 

Asiatische Eltern bevorzugten Techniken wie das Einschlagen des Kindes in eine Decke und es so in einen Korb aus Stroh oder Bambus (ejiko) zu binden, bis es 3 oder 4 Jahre alt war.277 

Angelsächsische Ärzte begannen im 18. Jahrhundert das völlige Unterlassen des Wickeins, zumindest tagsüber, zu empfehlen und betonten, was Mütter bis dahin nicht zu bemerken vermochten: »diese besondere Glückseligkeit, die ein Kind mit all seiner Ausdruckskraft zeigt, wenn es neuerlich ausgezogen wird. Wie erfreut! Wie entzückt! es über seine neue Freiheit ist.«278 

Bald entdeckten Mütter immer mehr und mehr »die extreme Freude, die alle Kinder haben, wenn sie von ihren einengenden Windeln befreit werden, die Zufriedenheit und Befriedigung, mit der sie sich ausstrecken, sich der Freiheit und der freien Bewegung erfreuend«;279 und bis zum 19. Jahrhundert hatte man in Frankreich, England und Amerika vom Wickeln »noch nie etwas gehört«, während es jedoch in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert weiter betrieben wurde, und sich in einigen Teilen Osteuropas bis heute hält.280)

 

Fig. 8-3 

Mutter wickelt ein Kind.

 

Die Auswirkungen des Wickelns auf jeden des in den letzten zehntausend Jahren geborenen Menschen waren katastrophal. Neben »dem Druck, der das Blut in ihre Köpfe trieb und ihre kleinen Gesichter blau anlaufen ließ«, neben »dem Brechen von Brustkorb und Rippen« und »dem Verdichten des Fleisches bis zur Gangräne, was die Blutzirkulation fast zum Erliegen brachte«,281 benahmen sich gewickelte Kleinkinder schwerstens zurückgezogen, lustlos und waren zu Beginn des Laufens, was vielfach erst im Alter zwischen 2 und 5 war, physisch behindert.282 

Noch schwerwiegender waren die Auswirkungen auf das emotionale Leben aller Erwachsenen. Wegen dem Mangel an Wärme und Haltens herrscht ein lebenslanges Defizit an Oxytocin und eine Überversorgung mit Kortison, dem Stresshormon, was in lebenslange Zustände von Wut und Angst resultiert.283)  

Sogar Ratten verlieren Neuronen im Hippocampus und in den orbitalen frontalen Lappen, wickelt man sie, wie man es mit den menschlichen Säuglingen machte, und entwickeln einen Rückgang an Serotonin, Norepinephrin und Dopamin sowie verschärftes aggressives Verhalten und erleiden eine schwere Verminderung ihrer sozialen Fähigkeiten.284)

Das Kapitel 9 behandelt die enormen Transformationen, die das Ende von Ammen und des Wickeins und die Evolution der elterlichen Liebe während der Moderne in der westlichen Wissenschaft, Politik und Kultur hervorgebracht haben. 

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