Vorwort
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»Wenn ein Narr einen Stein ins Wasser wirft«, sagt ein altes Sprichwort, »dann können ihn hundert Gescheite nicht herausholen.« Darin spiegelt sich die Verzweiflung des Gescheiten angesichts der Dummheit. Aber ein unbefangenes Kind, das noch nicht verlernt hat, in Bildern zu denken, könnte vielleicht fragen: Warum müssen sich denn die hundert Gescheiten so anstrengen, um diesen einen Stein herauszuholen, wenn doch die Welt voller Steine ist? Warum schauen sie sich nicht um? Vielleicht fänden sie dann neue Schätze, die ihnen entgehen, während sie so eifrig und vergeblich im Wasser suchen?
Ähnlich scheint es uns mit dem Wort <Narzißmus> zu gehen. Wie kaum ein anderes als wissenschaftlicher Begriff gebrauchtes Wort hat es Eingang in die Alltagssprache gefunden, aus der es nun für die Wissenschaft schwer zu retten ist. Und wir geraten immer deutlicher in einen seltsamen Teufelskreis: je mehr und je redlicher sich die Psychoanalytiker bemühen, den Begriff »Narzißmus« zu vertiefen, zu erhellen und zu differenzieren, um ihn in ihrer Wissenschaft verwenden zu können, um so anziehender wird er – auch für die Alltagssprache –, wodurch er ein so hohes Maß an Vieldeutigkeit gewonnen hat, daß er für eine präzise psychoanalytische Begriffsbildung kaum mehr zu gebrauchen ist.
Mit dem Wort »Narzißmus« in der Substantivform kann nach Belieben sowohl ein Zustand, ein Entwicklungsstadium, ein Charakterzug, als auch eine Krankheit bezeichnet werden. Am ehesten eignet sich deshalb das Wort noch als Adverb oder Adjektiv, dann läßt sich durch Ergänzungen einigermaßen präzisieren, was damit gemeint ist. Neben der Vieldeutigkeit, die das Wort bereits in der Fachliteratur kennzeichnet, erhält es von der Alltagssprache eine zusätzliche emotionale Färbung. So haften an ihm die Bedeutungen von: »in sich verliebt«, »ständig mit sich beschäftigt«, »egozentrisch«, »zur Objektliebe nicht fähig«, »egoistisch«. Sogar Psychoanalytiker sind von dieser negativen emotionalen Wertung nicht immer frei, auch wenn sie versuchen, dem Wort »Narzißmus« Neutralität zu verschaffen.
Bleiben wir aber eine Weile bei der negativen Bewertung. Was ist eigentlich Egoismus? Der fünfzehnjährige Gymnasialschüler Freud schrieb in sein Aphorismenheft, der schlimmste Egoist sei der Mensch, dem es noch nie in den Sinn gekommen ist, daß er ein Egoist sei. Viele Menschen erreichen diese Weisheit des fünfzehnjährigen Freud nicht einmal im hohen Alter und glauben wirklich, daß sie ohne eigene Bedürfnisse sind, nur weil sie sie nicht kennen.
Unsere Verachtung für den »Egoisten« beginnt sehr früh. Ein Kind, das die bewußten oder unbewußten Wünsche der Eltern erfüllt, ist ein »gutes« Kind; wenn es sich aber weigert, dies immer zu tun und eigene Wünsche hat, die den elterlichen zuwiderlaufen, wird es als egoistisch und rücksichtslos bezeichnet. Den Eltern fällt es meistens nicht ein, daß sie das Kind brauchen, damit es ihre (egoistischen?) Wünsche erfülle, sondern sie sind des festen Glaubens, daß sie es erziehen müssen, weil es ihre Pflicht sei, ihm bei der »Sozialisation« zu helfen.
Will ein so erzogenes Kind die Liebe der Eltern nicht verlieren (und welches Kind kann sich das leisten?), so wird es sehr früh »teilen«, »geben«, »Opfer bringen« und »verzichten« lernen, lange bevor ein echtes Teilen und ein wahrer Verzicht überhaupt möglich geworden sind. Ein Kind, das neun Monate lang gestillt wurde, will nicht mehr an der Brust trinken, man muß es nicht erst dazu erziehen, auf die Brust zu »verzichten«. Ein Kind, das lange genug »egoistisch«, »asozial« sein durfte, bekommt von selbst einmal spontane Freude am Teilen und Geben; ein für die Bedürfnisse der Eltern »erzogenes« Kind erlebt diese Freude vielleicht nie, auch wenn es mustergültig und pflichtbewußt teilt und gibt und darunter leidet, daß die anderen nicht auch so »gut« sind wie es selbst. So erzogene Erwachsene werden versuchen, ihren eigenen Kindern diesen »Altruismus« wieder so schnell wie möglich »beizubringen«, was bei begabten Kindern sehr leicht ist. Aber um welchen Preis!
Das Wort »Egoismus« verliert seine Eindeutigkeit, wenn man genauer hinschaut. Ähnlich verhält es sich mit dem »Respekt für die Anderen«, den man oft den »ichbezogenen« Menschen abspricht. Wenn eine Mutter sich selbst und ihr Kind vom ersten Tag seines Lebens an respektieren kann, braucht sie dem Kind niemals »Respekt beizubringen«, es wird gar nicht anders können, als sich und den anderen Menschen ernstzunehmen. Aber eine Mutter, die seinerzeit von ihrer Mutter nicht als das, was sie war, ernstgenommen wurde, wird versuchen, sich mit Hilfe der Erziehung Respekt zu verschaffen. Die tragischen Schicksale eines solchen »Respekts« werden in diesem Buch beschrieben.
Auch die anderen moralisierenden Bewertungen verlieren ihre Selbstverständlichkeit, wenn man ihrem Ursprung nachgeht.
Die übliche Gegenüberstellung von Selbstliebe und Objektliebe entspringt der naiven, unkritischen Alltagssprache. Auf dem Boden einer reflektierenden Haltung ist es nämlich undenkbar, daß man andere Menschen wirklich liebt (und nicht nur braucht), wenn man sich selber so, wie man ist, nicht lieben kann. Und wie soll man das können, wenn man von Anfang an nicht die Möglichkeit hatte, seine eigenen wahren Gefühle zu leben und sich so zu erfahren.
Den meisten sensiblen Menschen bleibt ihr wahres Selbst tief und gründlich verborgen. Wie kann man etwas lieben, das man nicht kennt und das nie geliebt worden ist? Viele begabte Menschen leben völlig ahnungslos über ihr wahres Selbst, vielleicht verliebt in ihr idealisiertes, angepaßtes, falsches Selbst – es sei denn, die Depression signalisiert ihnen den Verlust, oder sie werden in der Psychose brüsk mit ihrem wahren Selbst konfrontiert, dem sie wie einem Fremden hilflos ausgeliefert sind.
In den folgenden drei Aufsätzen, in denen ich den Ursprüngen des Selbstverlustes näherzukommen versuche, verzichte ich bei der Beschreibung von klinischen Bildern auf den Begriff »Narzißmus«. Ich spreche nur gelegentlich vom gesunden Narzißmus, um den Idealfall einer genuinen Lebendigkeit, eines freien Zugangs zum wahren Selbst, zu den echten Gefühlen, zu bezeichnen. Im Gegensatz dazu steht die »narzißtische Störung«, d.h. die »Isolierhaft« des wahren Selbst im Gefängnis des falschen, die ich aber nicht als Krankheit, sondern als Tragik verstanden wissen möchte. Es ist u.a. ein Interesse dieses Buches, von wertenden, isolierenden und deshalb diskriminierenden Begriffen loszukommen.
In der Hoffnung, die gröbsten Mißverständnisse vermeiden zu können, möchte ich klarstellen, daß meine Gedanken über Entstehung und Behandlung narzißtischer Störungen in keinem Gegensatz zur Triebtheorie stehen. Die Freudsche Entdeckung der kindlichen Sexualität und seine Studien über Triebschicksale, die von Abraham, Ferenczi u.a. fortgesetzt wurden, behalten für mich ihre Gültigkeit.
Aber die Arbeit an den Triebkonflikten des Patienten setzt ein lebendiges wahres Selbst als Subjekt der Triebwünsche voraus. Das scheint unseren Patienten zu fehlen. Wenn ich auf die letzten zwanzig Jahre meiner Tätigkeit mit dem heutigen Verständnis für die Zusammenhänge zurückblicke, kann ich keinen Analysanden finden, bei dem die Fähigkeit, seine echten Gefühle zu erleben, nicht in hohem Maße beeinträchtigt gewesen wäre.
Ohne diese Basis bleibt aber jede »Verarbeitung« der Triebkonflikte illusorisch, d.h. sie vergrößert das intellektuelle Wissen des Patienten und stärkt unter Umständen seine Abwehr, ohne seine Gefühlswelt zu tangieren. Schlägt man aber zunächst den Weg ein, den uns z.B. die Arbeiten von Winnicott eröffnen, dann gewinnt der Patient mit seiner Lebendigkeit auch seine Erlebnisfähigkeit wieder und kann sich dann den verdrängten Triebkonflikten aussetzen, die nun mit Sicherheit von selbst auftauchen und mit größter Intensität erlebt werden.
Wenn ich also in den drei Aufsätzen u.a. versuche, meine Art des Umgangs mit narzißtischen Störungen zu schildern, so ist damit keine Alternative zur klassischen Psychoanalyse gemeint, sondern im Gegenteil: es wird im Rahmen der Psychoanalyse ein Weg gesucht, auf dem der Patient seine früh verlorene authentische Lebendigkeit wiedergewinnen und sein wahres Selbst finden kann.
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