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Das Drama des begabten Kindes 
und die narzißtische Störung des Psychoanalytikers 

 

Einleitung

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Die Erfahrung lehrt uns, daß wir im Kampf mit den seelischen Erkrankungen auf die Dauer nur ein einziges Mittel zur Verfügung haben: die Wahrheit unserer einmaligen und einzigartigen Kindheits­geschichte emotional zu finden und sie anzunehmen. 

Ob wir uns mit Hilfe der Psychoanalyse von Illusionen ganz freimachen können? Die Geschichte zeigt, daß Illusionen sich überall einschleichen, jedes Leben ist voll davon, wohl weil die Wahrheit oft unerträglich wäre. 

Und doch ist die Wahrheit für viele Menschen so unentbehrlich, daß sie ihren Verlust mit schweren Erkrankungen bezahlen. Auf dem Weg der Analyse versuchen wir, in einem langen Prozeß unsere persönliche Wahrheit zu entdecken, die, bevor sie uns den neuen Freiheitsraum schenkt, immer schmerzt — es sei denn, wir begnügen uns mit dem bereits konzeptualisierten, intellektuellen Wissen, das auf schmerzhaften Erlebnissen anderer, z.B. Sigmund Freuds, beruht. Aber dann bleiben wir doch wieder im Bereich der Illusion.

Ein Tabu, das alle Entmystifizierungstendenzen unserer Zeit überdauert hat, ist die Idealisierung der Mutterliebe. Die üblichen Biographien illustrieren das sehr deutlich. Wenn man Biographien z.B. berühmter Künstler liest, so fängt ihr Leben irgendwo um die Pubertät herum an.

Vorher hatte der Künstler eine »glückliche« oder »frohe« oder »unbelastete« Kindheit, oder eine Kindheit »voller Entbehrungen« oder »Anregungen«, aber »wie« die Kindheit im einzelnen gewesen ist, scheint völlig uninteressant zu sein. Als ob nicht in der Kindheit die Wurzeln des ganzen Lebens verborgen wären. Ich möchte das an einem einfachen Beispiel illustrieren:

Henry Moore schreibt in seinen Erinnerungen, daß er als kleiner Junge den Rücken seiner Mutter mit Rheumaöl massieren durfte. Als ich das las, bekam ich plötzlich einen ganz persönlichen Zugang zu den Plastiken Moores. Die liegenden großen Frauen mit den kleinen Köpfen — da sah ich die Mutter mit den Augen des kleinen Jungen, der den Kopf seiner Mutter perspektivisch verkleinert und den nahen Rücken als riesengroß erlebt. Das mag vielen Kunstkritikern völlig einerlei sein. Aber für mich ist es ein Zeichen, wie stark die Erlebnisse eines Kindes im Unbewußten überdauern und welche Möglichkeiten des Ausdrucks sie finden können, wenn der Erwachsene frei ist, sie gelten zu lassen.

Nun ist Moores Erinnerung eine harmlose und konnte überdauern. Aber die konflikthaften Erlebnisse jeder Kindheit bleiben im Dunkel. In diesem Dunkel verborgen bleiben auch die Schlüssel zum Verständnis des ganzen späteren Lebens.

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Das arme reiche Kind  

 

Manchmal muß ich mich fragen, ob es uns überhaupt je möglich sein wird, das Ausmaß der Einsamkeit und Verlassenheit zu erfassen, dem wir als Kinder und folglich auch intrapsychisch als Erwachsene ausgesetzt waren oder sind. Ich meine hier nicht in erster Linie die äußere Verlassenheit, die äußeren Trennungen von den Eltern, die selbstverständlich traumatische Auswirkungen haben können, ich denke auch nicht an Kinder, die offensichtlich vernachlässigt oder gar verwahrlost aufgewachsen sind und die es schon immer wußten und wenigstens mit dieser Wahrheit großgeworden sind.

Aber es bleibt ja noch die ganz große Zahl der narzißtisch gestörten Menschen, die sehr oft differenzierte und bemühte Eltern hatten, die von ihren Eltern gefördert wurden und die an schweren Depressionen leiden. Mit dem Bild einer glücklichen und behüteten Kindheit, mit dem sie aufgewachsen sind, kommen sie in die Analyse. Es handelt sich um Patienten, die selber viele Möglichkeiten oder sogar Talente hatten, die sie auch entwickelten, und die oft wegen ihrer Gaben und Leistungen gelobt wurden.

Fast alle diese Analysanden waren schon im ersten Lebensjahr trocken und viele halfen bereits im Alter von eineinhalb bis fünf Jahren sehr geschickt bei der Pflege ihrer kleinen Geschwister. 

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Nach der vorherrschenden Meinung müßten diese Menschen – der Stolz ihrer Eltern – ein starkes und stabiles Selbstbewußtsein haben. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Alles, was sie anpacken, machen sie gut bis hervorragend, sie werden bewundert und beneidet, sie ernten Erfolg, wo es ihnen immer wichtig ist, aber alles das nützt nichts. Dahinter lauert die Depression, das Gefühl der Leere, der Selbstent­fremdung, der Sinnlosigkeit ihres Daseins – sobald die Droge der Grandiosität ausfällt, sobald sie nicht »on top« sind, nicht mit Sicherheit der Superstar, oder wenn sie plötzlich das Gefühl bekommen, vor irgendeinem Idealbild ihrer selbst versagt zu haben. Dann werden sie gelegentlich von Ängsten oder schweren Schuld- und Schamgefühlen geplagt. 

Was sind die Gründe einer so tiefen narzißtischen Störung bei diesen begabten Menschen?

Schon in der ersten Besprechung lassen sie den Zuhörenden bald wissen, daß sie verständnisvolle Eltern hatten, mindestens einen Elternteil, und wenn es ihnen je am Verständnis der Umwelt gefehlt hatte, so lag es, meinen sie, an ihnen, nämlich daran, daß sie sich nicht richtig ausdrücken konnten. Sie bringen ihre ersten Erinnerungen ohne jegliches Mitgefühl für das Kind, das sie einmal waren, und dies fällt um so mehr auf, als diese Patienten nicht nur eine ausgesprochene Fähigkeit zur Introspektion haben, sondern sich auch leicht in andere Menschen einfühlen können.

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Ihre Beziehung zur Gefühlswelt ihrer Kindheit ist aber durch mangelnden Respekt, Kontrollzwang, Manipulation und Leistungsdruck charakterisiert. Nicht selten zeigen sich da Verachtung und Ironie, die bis zum Spott und Zynismus gehen können. Allgemein anzutreffen ist ferner ein völliges Ausbleiben von echtem, emotionalem Verstehen und Ernstnehmen des eigenen Kinderschicksals, sowie eine völlige Ahnungs­losigkeit in bezug auf die eigenen wahren Bedürfnisse, jenseits der Leistungszwänge. Die Verinnerlichung des ursprünglichen Dramas ist so vollkommen gelungen, daß die Illusion der guten Kindheit gerettet werden kann.

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Um das seelische Klima der Kindheit dieser Analysanden schildern zu können, möchte ich zunächst einige Voraussetzungen formulieren, von denen ich ausgehe und die vor allem den Arbeiten von D. Winnicott, M. Mahler und H. Kohut nahestehen. 

1. Es ist ein ureigenes Bedürfnis des Kindes, als das, was es jeweils ist, und als Zentrum der eigenen Aktivität gesehen, beachtet und ernstgenommen zu werden. Im Unterschied zum Triebwunsch handelt es sich hier um ein genauso legitimes, aber narzißtisches Bedürfnis, dessen Erfüllung zur Bildung eines gesunden Selbstgefühls unerläßlich ist.

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2.  »Das, was es jeweils ist«, meint: Gefühle, Empfindungen und ihren Ausdruck, bereits beim Säugling. »Die inneren(!) Empfindungen des Säuglings und Kleinkindes«, schreibt M. Mahler, »bilden den Kern des Selbst. Sie scheinen der Mittel-, der Kristallisationspunkt des Selbstgefühls zu bleiben, um das herum das >Identitätsgefühl< errichtet wird« (1972, S. 17).

3. In einer Atmosphäre der Achtung und Tolerant für die Gefühle des Kindes kann das Kind in der Trennungsphase die Symbiose mit der Mutter aufgeben und die Schritte zur Individuation und Autonomie vollziehen.

4. Damit diese Voraussetzungen des gesunden Narzißmus möglich wären, müßten die Eltern dieser Kinder ebenfalls in einem solchen Klima aufgewachsen sein.

5. Eltern, die dieses Klima als Kinder nicht bekommen haben, sind narzißtisch bedürftig, d.h. sie suchen ihr ganzes Leben, was ihnen ihre eigenen Eltern zur rechten Zeit nicht geben konnten: ein Wesen, das ganz auf sie eingeht, sie ganz versteht und ernstnimmt, das sie bewundert und ihnen folgt.

6. Dieses Suchen kann natürlich nicht voll gelingen, denn es bezieht sich auf eine unwiderruflich vergangene Situation, nämlich die erste Zeit der Selbstformung.

7.  Aber ein Mensch mit einem ungestillten und unbewußten – weil abgewehrten – Bedürfnis ist einem Zwang unterworfen, das Bedürfnis doch noch auf Ersatzwegen befriedigen zu wollen.

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8.  Am meisten eignen sich dazu die eigenen Kinder. Ein Neugeborenes ist auf Gedeih und Verderb auf seine Eltern angewiesen. Und da seine Existenz davon abhängt, ihre Zuwendung zu bekommen, tut es auch alles, um sie nicht zu verlieren. Es wird vom ersten Tag an all seine Möglichkeiten einsetzen, wie eine kleine Pflanze, die sich nach der Sonne dreht, um zu überleben (vgl. A. Miller, 1971).

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Bisher bewegte ich mich auf dem Boden von mehr oder weniger bekannten Tatsachen. Die folgenden Gedanken beruhen auf Beobachtungen, die ich in den von mir durchgeführten oder kontrollierten Analysen von Kollegen und nicht zuletzt in den zahlreichen Interviews mit Adepten der Psychoanalyse machte. Bei allen diesen Menschen war ein Kinderschicksal vorzufinden, das mir bezeichnend erscheint.

1.  Da war eine im Grunde emotional unsichere Mutter, die für ihr narzißtisches Gleichgewicht auf ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Seinsweise des Kindes angewiesen war. Diese Unsicherheit konnte sehr wohl dem Kinde und der ganzen Umgebung hinter einer harten, autoritären, ja totalitären Fassade verborgen bleiben.

2.  Dazu kam eine erstaunliche Fähigkeit des Kindes, dieses Bedürfnis der Mutter oder beider Eltern intuitiv, also auch unbewußt zu spüren und zu beantworten, d.h. die ihm unbewußt zugeteilte Funktion zu übernehmen.

3.  Diese Funktion sicherte dem Kind die »Liebe«, d.h. hier die narzißtische Besetzung durch die Eltern. Es spürte, daß es gebraucht wurde, und das gab seinem Leben die Existenzsicherung.

Diese Fähigkeit wird ausgebaut und perfektioniert, und diese Kinder werden nicht nur zu Müttern (Vertrauten, Tröstern, Ratgebern, Stützen) ihrer Mütter, sondern übernehmen auch Verantwortung für ihre Geschwister und bilden schließlich ein ganz besonderes Sensorium für unbewußte Signale der Bedürfnisse des Anderen aus. Kein Wunder, wenn sie später oft den Beruf des Psychoanalytikers wählen. Wer sonst, ohne diese Vorgeschichte, würde das Interesse dafür aufbringen, den ganzen Tag herausfinden zu wollen, was sich im Unbewußten des Anderen abspielt? Aber in der Ausbildung und Vervollkommnung dieses differenzierten Sensoriums, das einst dem Kind zum Überleben verhalf und den Erwachsenen zu seinem seltsamen Beruf befähigt, liegen auch die Wurzeln der narzißtischen Störung.

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Die verlorene Welt der Gefühle

 

Die Phänomenologie der narzißtischen Störung ist heute bereits sehr gut bekannt. Aufgrund meiner Erfahrungen würde ich meinen, daß ihre Ätiologie in der Anpassung des Säuglings zu suchen ist. Auf jeden Fall führt diese frühe Anpassung dazu, daß die narzißtischen Bedürfnisse des Kindes nach Achtung, Echo, Verständnis, Teilnahme, Spiegelung ein ganz spezifisches Schicksal erfahren.

 

1. Eine schwerwiegende Folge der Anpassung ist die Unmöglichkeit, bestimmte eigene Gefühle (wie z.B. Eifersucht, Neid, Zorn, Verlassenheit, Ohnmacht, Angst) in der Kindheit und dann im Erwachsenenalter bewußt zu erleben. Dies ist um so tragischer, als es sich hier um Menschen handelt, die sehr vital und zu differenzierten Gefühlen besonders befähigt sind. Man merkt es in Analysen dann, wenn sie die Erlebnisse aus ihrer Kindheit beschreiben, die konfliktfrei waren. Meistens handelt es sich um Naturerlebnisse. Da konnten sie empfinden, ohne die Mutter damit zu verletzen, sie unsicher zu machen, ihre Macht zu schmälern, ihr Gleichgewicht zu gefährden.

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Aber es fällt sehr auf, daß diese überaus aufmerksamen, wachen und sensiblen Kinder, die sich genau erinnern, wie sie z.B. im Alter von vier Jahren das Sonnenlicht im strahlenden Gras entdeckten, beim Anblick ihrer schwangeren Mutter noch mit acht Jahren überhaupt »nichts gesehen haben« und keine Neugier zeigten, daß sie bei der Geburt des Geschwisters »überhaupt nicht« eifersüchtig waren, daß sie mit zwei Jahren, während der Besatzung allein gelassen, das Eindringen von Militär und einige Hausdurch­suchungen über sich ergehen ließen, ohne zu weinen, ruhig und »sehr brav«. 

Es ist eine ganze Kunst entwickelt worden, Gefühle nicht erleben zu müssen, denn ein Kind kann diese nur erleben, wenn eine Person da ist, die es mit diesen Gefühlen annimmt, versteht und begleitet. 

Wenn das fehlt - wenn das Kind riskieren muß, die Liebe der Mutter oder der Ersatzperson zu verlieren - kann es die natürlichsten Gefühlsreaktionen nicht <für sich allein> - insgeheim - erleben. Es erlebt sie nicht

Und doch .... etwas bleibt. Im ganzen späteren Leben dieses Menschen werden von ihm unbewußt Situationen inszeniert, in denen diese damals nur im Ansatz vorhandenen Gefühle aufleben können, aber ohne daß der ursprüngliche Zusammenhang verständlich wird. Den Sinn dieses »Spiels«, wie Habermas (1970) das nennt, zu entziffern, ist erst in der Analyse möglich, wenn die Inszenierung den Analytiker einbezieht und die Verbindung der ursprünglichen Situation mit den in der Analyse erlebten intensiven Gefühlen gelingt. Freud beschreibt das schon 1914 in der Schrift »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (vgl. S. Freud, 1914).

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Nehmen wir als Beispiel das Gefühl des Verlassenseins. Nicht das Gefühl eines erwachsenen Menschen, der sich einsam fühlt und deshalb Tabletten schluckt, Drogen nimmt, ins Kino geht, Bekannte aufsucht, unnötige Telefonate macht, um irgendwie das »Loch« zu überbrücken. Nein, ich meine das ursprüngliche Gefühl des kleinen Kindes, das all diese Möglichkeiten der Ablenkung nicht hat und dessen Mitteilungen, verbale oder präverbale, die Mutter nicht erreichten. Nicht, weil es eine böse Mutter hatte, sondern weil die Mutter selber narzißtisch bedürftig war, auf ein bestimmtes, für sie notwendiges Echo des Kindes angewiesen, selbst im Grunde ein Kind auf der Suche nach einem verfügbaren Objekt

Und so paradox das erscheinen mag – ein Kind ist verfügbar. Ein Kind kann einem nicht davonlaufen, wie die eigene Mutter dazumal. Ein Kind kann man erziehen, daß es so wird, wie man es gerne hätte. Beim Kind kann man sich Respekt verschaffen, man kann ihm seine eigenen Gefühle zumuten, man kann sich in seiner Liebe und Bewunderung spiegeln, man kann sich neben ihm stark fühlen, man kann es einem fremden Menschen überlassen, wenn es einem zuviel ist, man fühlt sich endlich im Zentrum der Beachtung, denn die Kinderaugen verfolgen die Mutter auf Schritt und Tritt.

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Wenn eine Frau bei ihrer Mutter all diese Bedürfnisse unterdrücken und verdrängen mußte, so mag sie noch so gebildet und guten Willens sein, auch wissen, was ein Kind braucht, bei ihrem eigenen Kind regen sie sich aus der Tiefe ihres Unbewußten und drängen nach Befriedigung. Das Kind spürt es deutlich und gibt sehr früh auf, die eigene Not zum Ausdruck zu bringen.

Wenn aber später beim Erwachsenen in der Analyse die damaligen Gefühle der Verlassenheit auftauchen, dann kommen sie mit einer solchen Intensität an Schmerz und Verzweiflung, daß es uns völlig klar wird: diese Menschen hätten ihre Schmerzen nicht überlebt. Dafür wäre eine empathische, begleitende Umgebung notwendig gewesen, die ihnen fehlte. Das gleiche gilt für Gefühle, die mit dem ödipalen Drama und mit der ganzen Triebentwicklung zusammenhängen. All das mußte abgewehrt werden. Aber zu sagen, daß es nicht da war, hieße: aus den Analysen gewonnene, empirische Erfahrungen in Abrede stellen.

 

Bei der Abwehr z.B. des frühkindlichen Gefühls von Verlassenheit sind viele Mechanismen anzutreffen. Neben der einfachen Verleugnung die Umkehr ins Gegenteil (»ich zerbreche unter der dauernden Verantwortung, denn die Anderen brauchen mich ununterbrochen«), Umkehr des passiven Leidens in aktives Verhalten (»ich muß die Frauen immer wieder verlassen, sobald ich mich unentbehrlich für sie fühle«),

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Verschiebung auf andere Objekte, Introjektion der Drohung von Liebesentzug (»ich muß nur brav den Normen entsprechen, dann riskiere ich nichts; ich fühle mich dauernd überfordert, aber kann es nicht ändern, ich muß immer mehr leisten als die Andern«). Häufig sind Intellektualisierungen anzutreffen, denn sie bieten einen Schutz von großer Verläßlichkeit.

All diese Abwehrmechanismen sind begleitet von der Verdrängung der ursprünglichen Situation und der dazugehörenden Gefühle, die erst nach Jahren Analyse um Durchbruch kommen.

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2. Die Anpassung an elterliche Bedürfnisse führt oft (aber nicht immer) zur Entwicklung der »Als-ob-Persönlich­keit« oder dessen, was D. Winnicott als »falsches Selbst« beschrieben hat. Der Mensch entwickelt eine Haltung, in der er nicht nur das zeigt, was von ihm gewünscht wird, sondern so mit dem Gezeigten verschmilzt, daß man — bis zur Analyse — kaum ahnen würde, wieviel Anderes hinter dem »maskierten Selbstverständnis« (vgl. Habermas, 1970) noch in ihm ist. Das wahre Selbst kann sich nicht entwickeln und differenzieren, weil es nicht gelebt werden kann. Es steht »im Zustand der Nichtkommunikation«, wie Winnicott es bezeichnet. 

Begreiflicherweise klagen diese Patienten über Gefühle der Leere, Sinnlosigkeit. Heimatlosigkeit, denn diese Leere ist real.

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Es hat eine Entleerung, Verarmung, partielle Tötung der Möglichkeiten tatsächlich stattgefunden, als das Lebendige, Spontane abgeschnitten wurde. In der Kindheit dieser Menschen treten manchmal Träume auf, in denen sich der Patient als partiell tot erlebt. Zwei Beispiele solcher Träume möchte ich anführen.

Meine kleinen Geschwister stehen auf der Brücke und werfen eine Schachtel in den Fluß. Ich weiß, daß ich tot darin liege, und doch höre ich mein Herz klopfen und erwache jedesmal in dem Moment (ein wiederkehrender Traum).

Dieser Traum verdichtet die unbewußten Aggressionen (Neid und Eifersucht) den kleinen Geschwistern gegenüber, denen die Patientin immer fürsorgliche »Mutter« war, mit der »Tötung« der eigenen Gefühle, Wünsche und Ansprüche mit Hilfe von Reaktionsbildung. Ein anderer Patient träumt:

Ich sehe eine grüne Wiese und darauf einen weißen Sarg stehen. Ich habe Angst, daß meine Mutter darin liegt, aber ich öffne den Deckel, und zum Glück ist es nicht Mutter, sondern ich. Hätte der Patient als Kind die Möglichkeit gehabt, seinen Enttäuschungen über die Mutter Ausdruck zu geben, d.h. auch Gefühle von Zorn und Wut zu erleben, dann wäre er lebendig geblieben. Aber das hätte zum Liebesentzug der Mutter geführt, was für ein Kind mit Objektverlust und Tod gleichbedeutend ist. Also »tötet« es seine Wut und somit auch ein Stück der eigenen Seele, um das Selbstobjekt, die Mutter, zu erhalten.

3.  Aus der Schwierigkeit, eigene, zu Konflikten führende Gefühle zu erleben und zu entfalten, resultiert die Permanenz der Bindung, die keine Abgrenzung ermöglicht. Daran sind beide Teile interessiert. Denn die Eltern haben im falschen Selbst des Kindes die gesuchte Bestätigung gefunden, einen Ersatz für die ihnen fehlenden Strukturen, und das Kind, das keine eigenen Strukturen aufbauen konnte, ist zunächst bewußt und später unbewußt (via Introjekt) von den Eltern abhängig. Denn es kann sich nicht auf eigene Gefühle verlassen, hat damit keine Erfahrungen im Sinne von trial and error gemacht, es kennt seine wahren Bedürfnisse nicht, es ist sich selber im höchsten Maße entfremdet.

In dieser Situation kann es sich nicht von den Eltern trennen und ist auch im Erwachsenenalter dauernd auf Bestätigung der Partner, Gruppen und vor allem der eigenen Kinder angewiesen. Die Erben der Eltern sind die Introjekte, vor denen man das wahre Selbst tief verstecken muß, und so folgt auf die Einsamkeit im elterlichen Haus die spätere Isolierung in sich selber. Die narzißtische Besetzung des Kindes durch die Mutter schließt eine affektive Zuwendung nicht aus. Im Gegenteil. Das Kind wird als Selbstobjekt der Mutter von ihr heiß »geliebt«, aber nicht in der Art, wie das Kind es brauchen würde. Und immer unter den Bedingungen des falschen Selbst. Für die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten ist das kein Hindernis, wohl aber für die Entfaltung des echten Gefühlslebens.

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* (d-2006:) Vergleiche auch: Sabine Bode, 2005, Kriegskinder  

 

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