Erziehung als Verfolgung des Lebendigen
Die »Schwarze Pädagogik«
Die Strafe folgte auf großem Fuß. Zehn Tage lang, zu lang für jedes Gewissen, segnete mein Vater die ausgestreckten, vier Jahre alten Handflächen seines Kindes mit scharfem Stöckchen. Sieben Tatzen täglich auf jede Hand: macht hundertvierzig Tatzen und etwas mehr: es machte der Unschuld des Kindes ein Ende. Was immer im Paradies geschah, mit Adam, Eva, Lilith, Schlange und Apfel, das gerechte biblische Schlagwetter vor der Zeit, das Gebrüll des Allmächtigen und sein ausweisender Finger — ich weiß davon nichts. Es war mein Vater, der mich von dort vertrieb. - Christoph Meckel, Suchbild-1980, S.59
Wer sich nach unserer Kindheit erkundigt, will etwas von unserer Seele wissen. Wenn die Frage keine rhetorische Floskel ist und der Frager Geduld hat zum Zuhören, wird er zur Kenntnis nehmen müssen, daß wir mit Grauen lieben und in unerklärlicher Liebe hassen, was uns die größten Schmerzen und Mühen bereitete. - Erika Burkart, 1979, S.352
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Einleitung
Jeder, der einmal Mutter oder Vater war und nicht in einer perfekten Verleugnung lebt, weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es einem Menschen fallen kann, bestimmte Seiten seines Kindes zu tolerieren. Dies einzusehen ist besonders schmerzhaft, wenn wir das Kind lieben, es wirklich in seiner Eigenart achten möchten und es doch nicht können. Großzügigkeit und Toleranz lassen sich nicht mit Hilfe von intellektuellem Wissen erreichen.
Falls wir keine Möglichkeit hatten, die uns in der eigenen Kindheit erwiesene Verachtung bewußt zu erleben und zu verarbeiten, geben wir sie weiter. Das bloß intellektuelle Wissen über Gesetze der kindlichen Entwicklung schützt uns nicht vor Ärger oder Wut, wenn das Verhalten des Kindes unseren Vorstellungen oder Bedürfnissen nicht entspricht, geschweige denn, wenn es unsere Abwehrmechanismen bedroht.
Ganz anders ist es bei Kindern: ihnen steht keine Vorgeschichte im Wege, und ihre Toleranz Eltern gegenüber kennt keine Grenzen. Jede bewußte oder unbewußte seelische Grausamkeit der Eltern ist in der Liebe des Kindes sicher vor der Entdeckung geschützt. Was alles einem Kind straflos zugemutet werden kann, läßt sich in den neuesten Geschichten der Kindheit unschwer nachlesen (vgl. z.B. Ph. Ariès, 1960; L. de Mause, 1974; M. Schatzman, 1978; I. Weber-Kellermann, 1979; R. E. Helfer u. C. H. Kempe [Hrsg.], 1978).
Die einstige physische Verstümmelung, Ausbeutung und Verfolgung des Kindes scheint in der Neuzeit immer mehr durch seelische Grausamkeit abgelöst worden zu sein, die außerdem mit dem wohlwollenden Wort »Erziehung« mystifiziert werden konnte. Da die Erziehung bei manchen Völkern schon im Säuglingsalter, in der Phase der symbiotischen Verbindung von Mutter und Kind begann, garantierte diese frühe Konditionierung, daß der wahre Sachverhalt vom Kind kaum entdeckt werden konnte. Die Abhängigkeit des Kindes von der Liebe seiner Eltern macht es ihm auch später unmöglich, die Traumatisierungen zu erkennen, die oft das ganze Leben lang hinter den Idealisierungen der Eltern der ersten Jahre verborgen bleiben.
Der Vater des von Freud beschriebenen paranoiden Patienten Schreber hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Erziehungsbücher geschrieben, die in Deutschland so populär waren, daß sie zum Teil vierzig Mal aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
Darin wird immer wieder betont, daß man so früh wie möglich, schon im 5. Monat, beginnen müsse, das Kind zu erziehen, wenn man es vom schädlichen »Unkraut befreien« wolle. Mir sind ähnliche Ansichten in Briefen und Tagebüchern der Eltern begegnet. Sie erhellen für einen Außenstehenden sehr klar die Gründe für die schweren Erkrankungen ihrer Kinder, die später meine Patienten waren.
wikipedia Moritz_Schreber *1808 in Leipzig bis 1861
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Aber diese konnten mit solchen Tagebüchern zunächst nicht viel anfangen und brauchten lange und tiefe Analysen, bis sie die darin beschriebene Realität überhaupt sehen durften. Sie mußten sich zunächst aus der Verwobenheit mit ihren Eltern zu abgegrenzten Persönlichkeiten entwickeln.
Die Überzeugung, daß alles Recht auf seiten der Eltern und jede — bewußte oder unbewußte — Grausamkeit Ausdruck ihrer Liebe sei, bleibt so tief im Menschen verwurzelt, weil sie in Verinnerlichungen der ersten Lebensmonate, also in der Zeit vor der Trennung vom Objekt, gründet.
Zwei Stellen aus Dr. Schrebers Ratschlägen für die Erzieher aus dem Jahre 1858 mögen illustrieren, wie sich dieser Vorgang gewöhnlich abspielt:
Als die ersten Proben, an denen sich die geistig-erzieherischen Grundsätze bewähren sollen, sind die durch grundloses Schreien und Weinen sich kundgebenden Launen der Kleinen zu betrachten ... Hat man sich überzeugt, daß kein richtiges Bedürfnis, kein lästiger oder schmerzhafter Zustand, kein Kranksein vorhanden ist, so kann man sicher sein, daß das Schreien eben nur der Ausdruck einer Laune, einer Grille, das erste Auftauchen des Eigensinns ist. Man darf sich jetzt nicht mehr wie anfangs ausschließlich abwartend dabei verhalten, sondern muß schon in etwas positiverer Weise entgegentreten: durch schnelle Ablenkung der Aufmerksamkeit, ernste Worte, drohende Gebärden, Klopfen ans Bett ..., oder wenn dieses alles nicht hilft — durch natürlich entsprechend milde, aber in kleinen Pausen bis zur Beruhigung oder zum Einschlafen des Kindes beharrlich wiederholte körperlich fühlbare Ermahnungen ...
Eine solche Prozedur ist nur ein- oder höchstens zweimal nötig, und — man ist Herr des Kindes für immer. Von nun an genügt ein Blick, ein Wort, eine einzige drohende Gebärde, um das Kind zu regieren. Man bedenke, daß man dadurch dem Kinde selbst die größte Wohltat erzeigt, indem man ihm viele seinem Gedeihen hinderliche Stunden der Unruhe erspart und es von allen jenen inneren Quälgeistern befreit, die außerdem gar leicht zu ernsteren und immer schwerer besiegbaren Lebensfeinden emporwuchern (vgl. Schatzman, 1978, S. 52 f.).
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Dr. Schreber weiß nicht, daß er im Grunde seine eigenen Impulse in den Kindern bekämpft, und es besteht für ihn gar kein Zweifel darüber, daß er seine Macht lediglich im Interesse des Kindes ausübt:
Bleiben hierin die Eltern sich selbst treu, so werden sie bald durch den Eintritt jenes schönen Verhältnisses belohnt, wo das Kind fast durchgehend nur mit einem elterlichen Blick regiert wird. (vgl. ebd., S. 56)*
So erzogene Kinder merken häufig noch im hohen Alter nicht, wenn sie von einem Menschen mißbraucht werden, solange dieser »freundlich« mit ihnen spricht.
Ich bin oft gefragt worden, warum ich im Drama des begabten Kindes meistens von Müttern und so wenig von Vätern spreche. Die wichtigste Bezugsperson des Kindes in seinem ersten Lebensjahr bezeichne ich als »Mutter«, Das muß nicht unbedingt die biologische Mutter, ja nicht einmal eine Frau sein.
Es war mir im Drama wichtig, darauf hinzuweisen, daß die verbietenden, verachtenden Blicke, die der Säugling aufnimmt, zum Entstehen schwerer Störungen, u.a. Perversionen und Zwangsneurosen, im Erwachsenenalter beitragen können. In der Familie Schreber war es nicht die leibliche Mutter, die die beiden Söhne in ihrer Säuglingszeit »mit Blicken regierte«, sondern der Vater. Beide Söhne litten später an Geisteskrankheiten mit Verfolgungswahn.
Ich habe mich bisher nirgends mit soziologischen Theorien über die Väter- bzw. Mütterrollen befaßt. In den letzten Jahrzehnten gibt es immer mehr Väter, die auch die positiven mütterlichen Funktionen übernehmen und dem Kind Zärtlichkeit, Wärme und Einfühlung in seine Bedürfnisse entgegenbringen können.
* [Kursivierung in Zitaten hier wie im folgenden durch Alice Miller.]
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Im Gegensatz zu den Zeiten der patriarchalischen Familie befinden wir uns jetzt in einer Phase des gesunden Experimentierens mit der Geschlechterrolle, und in diesem Stadium habe ich Mühe, über die »soziale Rolle« des Vaters oder der Mutter zu sprechen, ohne überholten normativen Kategorien zu verfallen. Ich kann lediglich sagen, daß jedes kleine Kind einen empathischen und nicht regierenden Menschen (egal ob Vater oder Mutter) als Begleitung braucht.
Man kann in den ersten zwei Jahren unendlich viel mit dem Kind machen, es biegen, über es verfügen, ihm gute Gewohnheiten beibringen, es züchtigen und strafen, ohne daß dem Erzieher etwas passiert, ohne daß das Kind sich rächt. Das Kind wird nur dann das ihm zugefügte Unrecht ohne schwerwiegende Folgen überwinden, wenn es sich wehren, d.h. wenn es seinen Schmerz und Zorn artikulieren darf.
Ist es ihm aber verwehrt, in seiner Weise zu reagieren, weil die Eltern seine Reaktionen (den Schrei, die Trauer, die Wut) nicht ertragen können und sie ihm mit Hilfe von Blicken oder anderen Erziehungsmaßnahmen verbieten, dann wird das Kind lernen, stumm zu sein. Seine Stummheit garantiert zwar die Wirksamkeit der Erziehungsprinzipien, birgt aber zugleich die Gefahrenherde der späteren Entwicklung.
Mußten adäquate Reaktionen auf erlittene Kränkungen, Demütigungen und Vergewaltigungen im weitesten Sinn ausbleiben, dann können diese Erlebnisse nicht in die Persönlichkeit integriert werden, die Gefühle bleiben unterdrückt, und das Bedürfnis, sie zu artikulieren, bleibt ungestillt, ohne Hoffnung auf Erfüllung. Es ist diese Hoffnungslosigkeit, die unbewußte Traumata je mit den dazugehörigen Gefühlen artikulieren zu können, die die meisten Menschen in schwere seelische Not bringt. Nicht im realen Geschehen, sondern in der Notwendigkeit der Verdrängung liegt bekanntlich der Ursprung der Neurose. Ich werde versuchen zu belegen, daß diese Tragik nicht nur an der Entstehung der Neurose beteiligt ist.
Die Unterdrückung der Triebbedürfnisse ist nur ein Teil der massiven Unterdrückung des Individuums, die die Gesellschaft ausübt. Weil sie aber nicht erst im Erwachsenenalter, sondern bereits von den ersten Tagen an durch das Medium der oft gutmeinenden Eltern damit anfängt, kann das Individuum die Spuren dieser Unterdrückung ohne spätere Hilfe nicht in sich entdecken. Es ist wie ein Mensch, dem man ein Mal auf seinen Rücken aufgedrückt hat, das er ohne Spiegel niemals wird sehen können. Einen solchen Spiegel bietet u.a. die analytische Situation.
Die Psychoanalyse bleibt ein Privileg* von wenigen, und ihre therapeutischen Ergebnisse werden oft bestritten. Wenn man aber mehrmals mit verschiedenen Menschen erlebt hat, welche Kräfte freiwerden, wenn die Folgen der Erziehung abgebaut werden konnten; wenn man sieht, wie diese Kräfte überall sonst destruktiv eingesetzt werden müssen, um das Lebendige bei sich und bei anderen zu zerstören, weil dieses von klein auf als böse und bedrohlich angesehen wurde, dann möchte man etwas von den in der analytischen Situation gewonnenen Erfahrungen der Gesellschaft vermitteln.
Ob diese Vermittlung gelingt, bleibt eine offene Frage. Doch die Gesellschaft hat ein Recht darauf, soweit dies überhaupt möglich ist, zu erfahren, was in den Räumen der Analytiker eigentlich geschieht. Denn was hier zum Vorschein kommt, ist nicht nur eine Privatangelegenheit einiger Kranker oder Verwirrter, sondern Sache von uns allen.
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* vgl. hier S. V ff.: Standort 1990
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