Brutstätten des Hasses
Erziehungsschriften aus zwei Jahrhunderten
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Seit längerer Zeit stelle ich mir die Frage, wie ich in einer anschaulichen und nicht rein intellektuellen Form zeigen könnte, was in vielen Fällen den Kindern am Anfang ihres Lebens angetan wird und welche Konsequenzen dies für die Gesellschaft hat. Wie kann ich erzählen, fragte ich mich oft, was Menschen in ihrer jahrelangen mühsamen Rekonstruktionsarbeit an den Ursprüngen ihres Lebens vorgefunden haben.
Zu der Schwierigkeit der Darstellung kommt der alte Konflikt: auf der einen Seite steht meine Schweigepflicht, auf der anderen steht die Überzeugung, daß hier eine Gesetzmäßigkeit vorliegt, die nicht nur wenigen Eingeweihten vorbehalten bleiben sollte. Andererseits kenne ich die Abwehr des nicht analysierten Lesers, die Schuldgefühle, die sich einstellen, wenn von Grausamkeit gesprochen wird und der Weg zur Trauer noch versperrt bleiben muß.
Was soll man dann mit diesem traurigen Wissen tun?
Wir sind so gewöhnt, alles, was wir hören, als Vorschriften und Moralpredigten zu empfangen, daß zuweilen auch reine Informationen als Vorwürfe erlebt und deshalb gar nicht aufgenommen werden können. Wir wehren uns mit Recht gegen neue Forderungen, wenn wir zu früh und nicht selten mit Gewalt von Ansprüchen der Moral überfordert wurden.
Nächstenliebe, Selbstaufgabe, Opferbereitschaft — wie schön klingen diese Worte, und wieviel Grausamkeit kann sich in ihnen verbergen, allein weil sie dem Menschenkind aufgezwungen werden und dies schon zu einer Zeit, in der die Voraussetzungen der Nächstenliebe unmöglich vorhanden sein können. Durch den Zwang werden diese Voraussetzungen nicht selten im Keim erstickt, und was dann bleibt, ist eine lebenslange Anstrengung. Sie ist wie ein zu harter Boden, auf dem nichts wachsen kann. und die einzige Hoffnung, die geforderte Liebe doch noch erzwingen zu können, liegt in der Erziehung der eigenen Kinder, bei der man diese wiederum gnadenlos fordern kann.
Aus diesem Grund möchte ich mich jeglichen Moralisierens enthalten. Ich möchte ausdrücklich nicht sagen, daß man dieses oder jenes tun bzw. nicht tun soll, z.B. nicht hassen soll, denn solche Sätze halte ich für nutzlos. Meine Aufgabe sehe ich vielmehr darin, die Wurzeln des Hasses aufzuzeigen, die nur wenige zu erblicken scheinen, und die Erklärung dafür zu suchen, warum es so wenige sind.
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Während ich mich mit diesen Fragen beschäftigte, fiel mir Katharina Rutschkys <Schwarze Pädagogik> (1977) in die Hand. Es handelt sich um eine Sammlung von Erziehungsschriften, in denen alle Techniken der frühen Konditionierung zum Nicht-Merken dessen, was eigentlich mit einem geschieht, so klar beschrieben werden, daß sie von der Realität her Rekonstruktionen bestätigen, zu denen ich im Laufe der langen analytischen Arbeit gelangt bin.
So kam mir die Idee, aus diesem ausgezeichneten, aber sehr umfangreichen Buch einige Passagen so zusammenzustellen, daß der Leser sich mit ihrer Hilfe selber und ganz persönlich Fragen beantworten kann, die ich aufwerfen möchte. Es sind vor allem die Fragen: Wie wurden unsere Eltern erzogen? Was mußten und durften sie mit uns machen? Wie hätten wir das als kleine Kinder merken können? Wie hätten wir es mit unseren Kindern anders machen können? Läßt sich dieser Teufelskreis je durchbrechen? Und schließlich: Ist die Schuld kleiner, wenn man sich die Augen verbindet?
Es ist nicht auszuschließen, daß ich mit diesen Texten etwas erreichen möchte, das entweder gar nicht möglich oder völlig überflüssig ist. Denn solange ein Mensch etwas nicht sehen darf, wird er es übersehen, mißverstehen, auf irgendeine Weise abwehren müssen. Ist es ihm aber bereits früher zugänglich geworden, dann braucht er es nicht erst durch mich zu erfahren. Diese Überlegung ist richtig, und trotzdem möchte ich mein Vorhaben nicht aufgeben, denn der Versuch scheint mir sinnvoll, auch wenn im Moment nur wenige Leser von diesen Zitaten profitieren sollten.
In den ausgewählten Texten werden m.E. Techniken enthüllt, mit denen man nicht nur »bestimmte Kinder«, sondern mehr oder weniger uns alle (aber vor allem unsere Eltern und Ahnen) auf das Nicht-Merken abgerichtet hat.
*(d-2015:) K.Rutschky bei detopia
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Ich gebrauche hier das Wort »enthüllt«, obwohl diese Schriften nicht geheim, sondern öffentlich verbreitet waren und zahlreiche Auflagen erhielten. Doch ein Mensch der heutigen Generation kann etwas aus ihnen herauslesen, das ihn persönlich angeht und das seinen Eltern noch verborgen blieb. Diese Lektüre kann ihm das Gefühl geben, hinter ein Geheimnis gekommen zu sein, hinter etwas Neues, aber auch Altbekanntes, das bisher sein Leben verschleierte und gleichzeitig bestimmte. So ist es mir persönlich bei der Lektüre der Schwarzen Pädagogik gegangen. Ihre Spuren in den psychoanalytischen Theorien, in der Politik und in den unzähligen Zwängen des Alltags sind mir plötzlich deutlicher aufgefallen.
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Die größte Sorge bereitet den Erziehern seit jeher die »Halsstarrigkeit«, der Eigensinn, der Trotz und die Heftigkeit der kindlichen Gefühle. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, daß mit der Erziehung zum Gehorsam nicht früh genug angefangen werden kann.
Sehen wir uns als Beispiel die folgenden Ausführungen von J. Sulzer an:
Was nun den Eigensinn betrifft, so äußert sich derselbe als ein natürliches Mittel gleich in der ersten Kindheit, sobald die Kinder ihr Verlangen nach etwas durch Gebärden zu verstehen geben können. Sie sehen etwas, das sie gern haben möchten; sie können es nicht bekommen, sie erbosen sich darüber, schreien und schlagen um sich. Oder man gibt ihnen etwas, das ihnen nicht ansteht; sie schmeißen es weg und fangen an zu schreien. Dies sind gefährliche Unarten, welche die ganze Erziehung hindern und nichts Gutes bei den Kindern aufkommen lassen. Wo der Eigensinn und die Bosheit nicht vertrieben werden, da kann man unmöglich einem Kinde eine gute Erziehung geben. Sobald sich also diese Fehler bei einem Kinde äußern, so ist es hohe Zeit, dem Übel zu wehren, damit es nicht durch die Gewohnheit hartnäckiger und die Kinder ganz verdorben werden.
Ich rate also allen denen, die Kinder zu erziehen haben, daß sie die Vertreibung des Eigensinns und der Bosheit gleich ihre Hauptarbeit sein lassen und so lange daran arbeiten, bis sie zum Ziel gekommen sind.
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Man kann, wie ich oben bemerkt habe, unmündigen Kindern nicht mit Gründen beikommen; also muß der Eigensinn auf eine mechanische Weise vertrieben werden, und hierfür gibt es kein anderes Mittel, als daß man den Kindern den Ernst zeigt. Gibt man ihrem Eigensinn einmal nach, so ist er das zweitemal schon stärker und schwerer zu vertreiben. Haben die Kinder einmal erfahren, daß sie durch Erbosen und Schreien ihren Willen durchsetzen, so werden sie nicht ermangeln, dieselben Mittel wieder anzuwenden. Endlich werden sie zu Meistern ihrer Eltern und Aufwärterinnen und bekommen ein böses, eigensinniges und unleidliches Gemüt, wodurch sie hernach ihre Eltern, als wohlverdienten Lohn der guten Erziehung, solange sie leben, plagen und quälen. Sind aber die Eltern so glücklich, daß sie ihnen gleich anfangs durch ernstliches Schelten und durch die Rute den Eigensinn vertreiben, so bekommen sie gehorsame, biegsame und gute Kinder, denen sie hernach eine gute Erziehung geben können. Wo einmal ein guter Grund der Erziehung gelegt werden soll, da muß man nicht nachlassen zu arbeiten, bis man sieht, daß der Eigensinn weg ist, denn dieser darf absolut nicht da sein. Es bilde sich niemand ein, daß er etwas Gutes in der Erziehung wird tun können, ehe diese zwei Hauptfehler behoben sind. Er wird vergeblich arbeiten. Hier muß notwendig erst das Fundament gelegt werden.
Dieses sind also die zwei vornehmsten Stücke, auf die man im ersten fahr der Erziehung sehen muß. Sind nun die Kinder schon über ein Jahr alt, wenn sie also anfangen etwas zu verstehen und zu sprechen, so muß man auch auf andere Dinge denken, doch nicht anders als mit der Bedingung, daß der Eigensinn der Hauptvorwurf aller Arbeit sei, bis er völlig beseitigt ist. Unsere Hauptabsicht ist immer, die Kinder zu rechtschaffenen, tugendhaften Menschen zu machen, und an diese Hauptabsicht sollen die Eltern allemal denken, so oft sie ihre Kinder ansehen, damit sie keinen Anlaß versäumen, an ihnen zu arbeiten. Sie müssen auch immer den Grundriß oder die Abbildung eines zur Tugend geschickten Gemütes, die ich oben gegeben, in frischem Gedächtnis behalten, damit sie wissen, was sie vorzunehmen haben. Das erste und allgemeinste, worauf man nun zu sehen hat, ist, daß man den Kindern eine Liebe zur Ordnung einpflanzt: das ist das erste Stück, das wir zur Tugend fordern. Dieses kann aber in den drei ersten Jahren, wie alle andern Dinge, die man mit den Kindern vornehmen will, nicht anders als auf eine ganz mechanische Art geschehen.
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Man muß nämlich alles, was man mit den Kindern vornimmt, nach den Regeln einer guten Ordnung vornehmen. Das Essen und Trinken, die Kleidung, das Schlafen, und überhaupt die ganze kleine Haushaltung der Kinder, muß ordentlich sein und ja niemals nach ihrem Eigensinn oder ihrer Wunderlichkeit im geringsten abgeändert werden, damit sie in ihrer ersten Kindheit lernen, sich den Regeln der Ordnung genau zu unterwerfen. Die Ordnung, die man mit ihnen hält, hat unstreitig einen Einfluß auf das Gemüt, und wenn die Kinder ganz jung einer guten Ordnung gewohnt werden, so vermeinen sie hernach, daß dieselbe ganz natürlich sei; weil sie nicht mehr wissen, daß man sie ihnen durch die Kunst beigebracht hat. Wolle man aus Gefälligkeit gegen ein Kind die Ordnung seiner kleinen Haushaltung ändern, so oft es seine Wunderlichkeit haben will, so würde es auf die Gedanken kommen, daß an der Ordnung nicht viel gelegen, und daß sie unserer Wunderlichkeit immer weichen muß; dies wäre ein Vorurteil, das seinen Schaden weit und breit in das moralische Leben erstrecken würde, wie leicht aus dem zu entnehmen ist, was ich oben von der Ordnung gesagt habe. Kann man nun schon mit den Kindern sprechen, so muß man ihnen bei allen Anlässen die Ordnung als etwas Heiliges und Unverletzliches vorstellen. Wollen sie etwas haben, das wider die Ordnung ist, so sage man ihnen: Mein liebes Kind, dies kann unmöglich geschehen, es ist wider die Ordnung, diese darf niemals überschritten werden u. dgl. [....]
Das zweite Hauptstück, worauf man sich bei der Erziehung gleich anfangs im zweiten und dritten Jahr befleißigen muß, ist ein genauer Gehorsam gegen Eltern und Vorgesetzte und eine kindliche Zufriedenheit mit allem, was sie tun. Diese Eigenschaften sind nicht nur für den Erfolg der Erziehung schlechterdings notwendig, sondern sie haben einen sehr starken Einfluß auf die Erziehung überhaupt. Für die Erziehung sind sie notwendig, weil sie dem Gemüt überhaupt Ordnung und Unterwürfigkeit gegen die Gesetze geben. Ein Kind, das gewohnt ist, seinen Eltern zu gehorchen, wird auch, wenn es frei und sein eigener Herr wird, sich den Gesetzen und Regeln der Vernunft gern unterwerfen, weil es einmal schon gewöhnt ist, nicht nach seinem Willen zu handeln. Dieser Gehorsam ist so wichtig, daß eigentlich die ganze Erziehung nichts anderes ist, als die Erlernung des Gehorsams.
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Es ist ein überall anerkannter Satz, daß hohe Personen, die zur Regierung ganzer Staaten bestimmt sind, die Regierungskunst durch Gehorsam erlernen müssen. Qui nescit obedire, nescit imperare, davon aber kann man keinen andern Grund als diesen geben, weil der Gehorsam den Menschen tüchtig macht nach den Gesetzen zu folgen, welches die erste Eigenschaft eines Regenten ist. Nachdem man also durch die erste Arbeit an den Kindern den Eigensinn aus ihren zarten Gemütern vertrieben hat, so soll das Hauptwerk der Arbeit auf den Gehorsam gehen. Diesen Gehorsam aber den Kindern einzupflanzen, ist nicht sehr leicht.
Es ist ganz natürlich, daß die Seele ihren Willen haben will, und wenn man nicht in den ersten zwei Jahren die Sache richtig gemacht hat, so kommt man hernach schwerlich zum Ziel. Diese ersten Jahre haben unter andern auch den Vorteil, daß man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, daß sie einen Willen gehabt haben und die Schärfe, die man wird brauchen müssen, hat auch eben deswegen keine schlimmen Folgen. Man muß also gleich anfangs, sobald die Kinder etwas merken können, ihnen sowohl durch Worte als durch die Tat zeigen, daß sie sich dem Willen der Eltern unterwerfen müssen. Der Gehorsam besteht darin, daß die Kinder i. gern tun, was ihnen befohlen wird, 2. gern unterlassen, was man ihnen verbietet, und 3. mit den Verordnungen, die man ihrethalben macht, zufrieden sind.
Aus: J. Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, (2)1748,
Zit. n. Katharina Rutschky [Hrsg.], Schwarze Pädagogik [i. f. = KR], S. 173 ff.*
Es ist erstaunlich, wieviel psychologisches Wissen dieser Erzieher bereits vor 200 Jahren besaß. Es stimmt nämlich wirklich, daß Kinder mit den Jahren alles vergessen, was ihnen in der frühen Kindheit begegnet ist. »Sie erinnern sich hernach niemals mehr, daß sie einen Willen gehabt haben« — zweifellos. Aber die Fortsetzung dieses Satzes stimmt leider nicht, nämlich daß die Schärfe, die man wird brauchen müssen, ..... auch eben deswegen keine schlimmen Folgen hat.
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Das Gegenteil ist der Fall: Juristen, Politiker, Psychiater, Ärzte und Gefängniswärter haben beruflich gerade mit diesen schlimmen Folgen ein Leben lang zu tun, meistens ohne es zu wissen. Die psychoanalytische Arbeit braucht Jahre, um sich an ihre Ursprünge heranzutasten, aber wenn sie gelingt, erreicht sie damit tatsächlich die Befreiung von Symptomen.
Immer wieder wird von Laien der Einwand erhoben, daß es Menschen gebe, die eine nachweisbar schwere Kindheit hatten, ohne neurotisch zu werden, während andere, die in sogenannten »behüteten Verhältnissen« aufgewachsen sind, psychisch krank werden. Damit soll auf eine angeborene Veranlagung hingewiesen und der Einfluß des Elternhauses abgestritten werden.
Die oben zitierte Stelle hilft zu verstehen, wie es zu diesem Irrtum in allen Bevölkerungsschichten kommen kann (und soll?). Neurosen und Psychosen sind nämlich nicht direkte Folgen realer Frustrationen, sondern sie sind Ausdruck der Verdrängung von Traumen. Wenn es vor allem darum geht, Kinder so zu erziehen, daß sie nicht merken, was man ihnen zufügt, was man ihnen nimmt, was sie dabei verlieren, wer sie sonst gewesen wären und wer sie überhaupt sind, und wenn diese Erziehung früh genug einsetzt, wird der Erwachsene später den Willen des anderen, ungeachtet seiner Intelligenz, als den eigenen erleben.
Wie kann er wissen, daß sein eigener Wille gebrochen wurde, da er ihn nie erfahren durfte? Und doch wird er daran erkranken können. Hat aber ein Kind Hunger, Flucht, Bombenangriffe so erlebt, daß es sich von seinen Eltern als abgetrennte Person ernstgenommen und respektiert fühlte, dann wird es nicht aufgrund dieser realen Traumen krank werden. Es hat sogar die Chance, Erinnerungen an diese Erlebnisse zu behalten (weil zugewandte Bezugspersonen es begleitet haben) und damit seine Innenwelt zu bereichern.
Die nächste Stelle, von J. G. Krüger, verrät, warum es den Erziehern so wichtig war (und ist), »Halsstarrigkeit« energisch zu bekämpfen.
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Meinen Gedanken nach muß man Kinder niemals schlagen wegen Fehlern, die sie aus Schwachheit begehen. Das einzige Laster, welches Schläge verdient, ist die Halsstarrigkeit. Es ist also unrecht, wenn man Kinder wegen des Lernens schlägt, es ist unrecht, wenn man sie schlägt, daß sie gefallen sind, es ist unrecht, daß man sie schlägt, wenn sie aus Versehen Schaden getan haben, es ist unrecht, wenn man sie wegen des Weinens schlägt.
Aber es ist recht und billig, sie wegen aller dieser Verbrechen, ja wegen noch anderer Kleinigkeiten zu schlagen, wenn sie es aus Bosheit getan haben. Wenn euer Sohn nichts lernen will, weil ihr es haben wollt, wenn er in der Absicht weint, um euch zu trotzen, wenn er Schaden tut, um euch zu kränken, kurz, wenn er seinen Kopf aufsetzt:
Dann prügelt ihn, dann laßt ihn schrein:
Nein, nein, Papa, nein, nein!Denn ein solcher Ungehorsam ist ebensogut, als eine Kriegserklärung gegen eure Person. Euer Sohn will euch die Herrschaft rauben, und ihr seid befugt, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, um euer Ansehen zu befestigen, ohne welches bei ihm keine Erziehung stattfindet. Dieses Schlagen muß kein bloßes Spielwerk sein, sondern ihn überzeugen, daß ihr sein Herr seid. Daher müßt ihr ja nicht eher aufhören, bis er das tut, dessen er sich vorher aus Bosheit weigerte. Nehmt ihr dieses nicht in acht, so habt ihr eine Schlacht geliefert, über welche sein böses Herz im Triumph aufzieht, und sich fest vornimmt, auch künftig die Schläge nicht zu beachten, um nur der Herrschaft der Eltern nicht unterworfen zu sein.
Hat er sich aber das erstemal für überwunden erkannt, und sich vor euch demütigen müssen, so wird ihm schon der Mut genommen sein, aufs neue zu rebellieren. Doch habt ihr euch dabei sehr in acht zu nehmen, daß ihr euch bei dem Strafen von dem Zorn nicht überwältigen laßt. Denn das Kind wird scharfsichtig genug sein, eure Schwachheit zu erblicken, und die Strafe für eine Wirkung des Zorns ansehen, die es für eine Ausübung der Gerechtigkeit halten sollte. Könnt ihr euch also hierin nicht mäßigen, so überlaßt lieber die Exekution einem andern, schärft ihm aber ja ein, nicht eher aufzuhören, bis das Kind den Willen des Vaters erfüllt hat, und kommt, euch um Vergebung zu bitten.
Diese Vergebung müßt ihr ihm, wie Locke sehr wohl bemerkt, zwar nicht ganz abschlagen, sie ihm aber doch etwas sauer machen, und eure völlige Zuneigung nicht eher wieder zu erkennen geben, als
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und bewiesen hat, daß er entschlossen sei, ein treuer Untertan seiner Eltern zu bleiben. Wenn man nun Kinder von Jugend auf mit gehöriger Klugheit ersteht, so wird es gewiß sehr selten nötig sein, zu dergleichen gewaltsamen Mitteln zu schreiten; allein es wird sich kaum ändern lassen, wenn man sie erst in seine Zucht bekommt, da sie vorher ihren Eigenwillen gehabt haben. Doch kann man auch manchesmal, besonders wenn sie ehrgeizig sind, selbst bei großen Verbrechen, der Schläge überhoben sein, wenn man sie zum Exempel barfuß gehen, hungern und bei Tisch aufwarten läßt, oder sie sonst an einem solchen Ort angreift, wo es ihnen weh tut.bis er durch völligen Gehorsam sein voriges Verbrechen gebessert
Aus: J. G. Krüger, Gedanken von der Erhebung der Kinder,
1752, zit. n. KR, S. 170 f.
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Hier ist noch alles offen ausgesprochen. In den neueren Erziehungsbüchern sind die Herrschaftsansprüche der Erzieher viel besser verschleiert. Man hat inzwischen ein feines Instrumentarium von Argumenten entwickelt, um die Notwendigkeit der Schläge zum Wohle des Kindes zu beweisen. Hier aber wird noch offen vom »Herrschaftsraub«, von »treuen Untertanen« usw. gesprochen, und damit auch die traurige Wahrheit, die noch heute leider gilt, enthüllt. Denn die Motive des Schiagens sind die gleichen geblieben: die Eltern kämpfen bei ihrem Kind um die Macht, die sie bei ihren eigenen Eltern eingebüßt haben.
Das Bedrohtsein der ersten Lebensjahre, das sie nicht erinnern können (vgl. Sulzer), erleben sie bei den eigenen Kindern zum ersten Mal, und hier erst, beim Schwächeren, wehren sie sich oft ganz massiv. Dazu dienen unzählige Rationalisierungen, die sich bis heute erhalten haben. Obwohl Eltern immer aus inneren Gründen, d.h. aus der eigenen Not, ihre Kinder mißhandeln, gilt es in unserer Gesellschaft als klare, ausgemachte Sache, daß diese Behandlung für die Kinder gut sein soll. Nicht zuletzt die Sorgfalt, die man dieser Argumentation angedeihen läßt, verrät ihre Doppelbödigkeit. Obwohl diese Argumente jeder psychologischen Erfahrung widersprechen, werden sie von Generation zu Generation weitergereicht.
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Dafür muß es emotionale Gründe geben, die sehr tief in allen Menschen verankert sind. Niemand könnte wohl auf die Dauer »Wahrheiten« gegen physikalische Gesetze verkünden (z.B. daß es gesund fürs Kind sei, im Winter im Badekleid und im Sommer im Pelzmantel herumzulaufen), ohne sich der Lächerlichkeit auszusetzen. Aber es ist durchaus üblich, über die Notwendigkeit des Schiagens, der Demütigung und Bevormundung zu sprechen, allerdings mit gewählteren Worten wie »Züchtigung«, »Erziehung« und »Lenkung zum Guten«.
In den folgenden Ausschnitten aus der Schwarzen Pädagogik läßt sich beobachten, welchen Gewinn der Erzieher für seine verborgensten, uneingestandenen Bedürfnisse aus dieser Ideologie zieht. Das erklärt auch den großen Widerstand gegen die Rezeption und Integration des unbestreitbaren Wissens, das man in den letzten Jahrzehnten über psychologische Gesetzmäßigkeiten errungen hat.
Es gibt viele gute Bücher, die über die Schädlichkeit und Grausamkeit der Erziehung berichten (z.B. E. von Braunmühl, L. de Mause, K. Rutschky, M. Schatzman, K. Zimmer). Warum vermag dieses Wissen so wenig in der Öffentlichkeit zu verändern?
Ich habe mich früher mit den zahlreichen individuellen Gründen für diese Schwierigkeiten beschäftigt, meine aber, daß in der Behandlung der Kinder auch eine allgemein gültige psychologische Gesetzmäßigkeit anzutreffen ist, die es aufzudecken gilt: die Machtausübung des Erwachsenen über das Kind, die wie keine andere verborgen und ungestraft bleiben kann. Die Aufdeckung dieses fast ubiquitären Mechanismus ist oberflächlich gesehen gegen das Interesse von uns allen (wer verzichtet schon leicht auf die Abfuhrmöglichkeit aufgestauter Affekte und auf die Rationalisierungen zur Erhaltung des guten Gewissens?), aber sie ist dringend notwendig im Interesse der späteren Generationen.
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Denn je leichter es dank der Technik sein wird, mit einem Knopfdruck Tausende von Menschen umzubringen, um so wichtiger ist es, daß im öffentlichen Bewußtsein die ganze Wahrheit darüber zugelassen werde, wie der Wunsch, das Leben von Millionen von Menschen auszulöschen, entstehen kann.
Schläge sind nur eine Form der Mißhandlung, sie sind immer erniedrigend, weil das Kind sich nicht dagegen wehren darf und den Eltern dafür Dank und Respekt schulden soll. Aber neben der Prügelstrafe gibt es eine ganze Skala von raffinierten Maßnahmen »zum Wohle des Kindes«, die für das Kind schwer durchschaubar sind und gerade deshalb oft verheerende Wirkungen auf sein späteres Leben haben.
Was geht z.B. in uns vor, wenn wir als Erwachsene versuchen, uns in das Kind einzufühlen, das von P. Villaume folgendermaßen erzogen wird:
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Wenn das Kind auf der Tat ertappt worden ist, ist's auch nicht schwer, ihm das Geständnis abzulocken. Sehr leicht wäre es, ihm zu sagen: Der und der hat gesehen, daß du dies und jenes getan hast. Ich möchte aber lieber einen Umweg nehmen; und deren gibt es mehrere.
Man hat das Kind über seinen kränklichen Zustand ausgefragt. Man hat von ihm selbst das Geständnis, daß es diese und jene Schmerzen, Beschwerden empfindet, welche man ihm beschreibt. Ich fahre fort:
»Du siehst mein Kind, daß ich deine jetzige Leiden weiß; ich habe dir solche gesagt. Du siehst also, daß ich deinen Zustand kenne. Ich weiß noch mehr: ich weiß, was du noch in der Zukunft leiden wirst, und will dir's sagen; höre mich. Dein Gesicht wird noch welker, deine Haut braun werden; dein Hände werden zittern, du wirst eine Menge kleiner Geschwüre im Gesicht bekommen, deine Augen werden trüb, dein Gedächtnis schwach, dein Verstand stumpf werden. Alle Fröhlichkeit, Schlaf und Appetit wirst du verlieren usw.« Schwerlich wird man ein Kind finden, das nicht erschrecken sollte. Weiter:
»Nun will ich dir noch mehr sagen; sei recht aufmerksam! Weißt du, woher alle deine Leiden kommen? Du magst es nicht wissen; ich aber weiß es. Du hast sie verschuldet! — Ich will dir sagen, was du im Verborgenen tust. Sieh usw.«
Ein Kind müßte aufs Äußerste verstockt sein, wenn es nicht mit Tränen gestehen sollte.
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Der andre Weg zur Wahrheit ist folgender: Ich entlehne dieses Stück aus den Pädagogischen Unterhandlungen. Ich rief Heinrich. »Höre einmal, Heinrich, dein Anfall hat mich ganz bedenklich gemacht.« (H. hatte einige Anfalle von der fallenden Sucht gehabt.) »Ich habe hin und her gesonnen, was wohl die Ursache sein mag, aber ich kann nichts finden. Bedenke dich; weißt du nichts!«
H. »Nein, ich weiß nichts.« (Er konnte wohl nichts wissen; denn ein Kind in diesem Fall weiß nicht, was es tut. Auch sollte das nur ein Eingang zu dem folgenden sein.)
»Es ist doch sonderbar! Hast du dich etwa erhitzt, und zu bald getrunken?«
H. »Nein; Sie wissen ja, ich bin schon lange nicht ausgegangen, als wenn Sie mich mitnahmen.«
»Ich kann es nicht begreifen — Ich weiß zwar auch eine Geschichte von einem Knaben von etwa zwölf Jahren (so alt war Heinrich), die ist sehr traurig — der Knabe starb zuletzt.« (Der Erzieher schildert hier Heinrich selbst, unter einem andern Namen, und erschreckt ihn.)
»Er bekam auch unvermutet solche Verzückungen wie du; und sagte, dann wäre ihm so, als wenn ihn jemand heftig kitzelte.« H. »Ach Gott! Ich werde doch nicht sterben? Es ist mir auch so.« »Und manchmal wollte ihm der Kitzel den Odem benehmen.« H. »Mir auch. Haben Sie es nicht gesehen?« (Hieraus sieht man, daß das arme Kind in der Tat nicht wußte, was die Ursache seines Elendes war.) »Er fing dann heftig an zu lachen.« H. »Nein, mir wird Angst, daß ich nicht weiß, wohin.« (Dieses Lachen gibt der Erzieher nur vor; vielleicht um seine Absicht zu verhehlen. Mir deucht, es wäre besser gewesen, wenn er bei der Wahrheit geblieben wäre.)
»Das hielt alles eine Zeitlang an; endlich verfiel er in ein so starkes, heftiges und anhaltendes Lachen, daß er erstickte und starb.«
(Dies alles erzählte ich mit der größten Gleichgültigkeit, bemerkte seine Antworten gar nicht; suchte alles bis auf Mienen und Gebärden, so zu stellen, daß es das Ansehen freundschaftlicher Unterhaltung gewann.)
H. »Er starb vor Lachen? Kann man denn vor Lachen sterben?« »Jawohl; das hörst du hier. Hast du nicht jemals recht heftig gelacht? Da wird's so enge um die Brust, und die Tränen kommen in die Augen.«
H. »Ja, das weiß ich.«
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»Nun gut; so stelle dir vor, wenn das hätte sehr lange anhalten sollen, ob du es hättest ausstehen können? Du konntest aufhören, weil der Gegenstand oder die Sache, die dich zu Lachen machte, aufhörte auf dich zu wirken, oder weil sie dir nicht mehr so lächerlich vorkam. Bei dem armen Knaben aber war keine solche äußerliche Sache, die ihn lachen machte; sondern die Ursache war der Kitzel seiner Nerven, den er nicht nach seinem Willen aufhören machen konnte; und wie der fortdauerte, so dauerte auch sein Lachen fort, und bewirkte am Ende seinen Tod.«
H. »Der arme Knabe! - Wie hieß er?« »Er hieß Heinrich.«
H. »Heinrich —!« (Er sah mich starr an).
(Gleichgültig) »Ja! Er war eines Kaufmanns Sohn in Leipzig.«
H. »So! Aber woher kam denn das?«
(Diese Frage wollte ich gern hören. Bisher war ich im Zimmer auf und ab gegangen; nun blieb ich stehen und faßte ihn scharf ins Gesicht, um ihn ganz genau zu bemerkend) »Was denkst du wohl, Heinrich?«
H. »Ich weiß nicht.«
»Ich will dir's sagen, was die Ursache war. (Folgendes sagte ich mit langsamem und nachdrücklichem Ton.) Der Knabe hatte von irgend jemand gesehen, daß er sich an den feinsten Nerven seines Körpers schadete, und dabei wunderliche Gebärden machte. Dieser Knabe, ohne zu wissen, daß er sich schaden würde, ahmte dieses nach. Es gefiel ihm so sehr, daß er endlich durch diese Handlung die Nerven seines Körpers in eine ungewöhnliche Bewegung setzte, sie dadurch schwächte und seinen Tod bewirkte.« (Heinrich war über und über rot, und in einer sichtbaren Verlegenheit.) - »Was fehlt dir, Heinrich?« H. »Ach nichts!«
»Bekommst du etwa deinen Anfall wieder?« H. »Ach nein! Wollen Sie mir erlauben, daß ich fortgehen darf?« »Warum, Heinrich? Gefällt es dir nicht bei mir?« H. »Ach ja! Aber -« »Nun?« H. »Ach nichts!«
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»Höre, Heinrich, ich bin dein Freund, nicht wahr? Sei aufrichtig. Warum bist du so rot und so unruhig geworden, bei der Geschichte des armen Knaben, der sich auf so unglückliche Weise sein Leben verkürzte?«
H. »Rot? Ach, ich weiß nicht - Es tat mir leid um ihn.« »Ist das alles? - Nein, Heinrich, es muß eine andre Ursache sein; dein Gesicht verrät's. Du wirst unruhiger? Sei aufrichtig, Heinrich; durch Aufrichtigkeit machst du dich Gott, unserm lieben Vater, und allen Menschen angenehm.«
H. »Ach Gott - (Er fing an überlaut zu weinen, und war so erbarmungswürdig, daß mir auch die Tränen in die Augen stiegen — er sah's, griff meine Hand und küßte sie heftig.) »Nun, Heinrich, was weinst du?« H. »Ach Gott!«
»Soll ich dir dein Geständnis ersparen? Nicht wahr, du hast eben das getan, was jener unglückliche Knabe tat?« H. »Ach Gott! Ja.«
Diese letztere Methode möge vielleicht ersterer vorzuziehen sein, wenn man es mit Kindern von einem sanften, weichen Charakter ^u tun hat. Jene hat schon etwas Hartes, indem sie das Kind geradezu angreift.
P. Villaume, 1787, zit. n. KR, S. 19 ff.
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Gefühle von Empörung und Wut über diese verlogene Manipulation können im Kind in dieser Situation gar nicht aufkommen, weil es die Manipulation gar nicht durchschaut. Es können lediglich Gefühle von Angst, Scham, Verunsicherung und Hilflosigkeit in ihm auftauchen, die möglicherweise schnell vergessen werden, nämlich sobald das Kind ein eigenes Opfer gefunden hat. Villaume sorgt, wie andere Erzieher, bewußt dafür, daß seine Methoden unbemerkt bleiben:
Man muß also auf das Kind aufmerksam sein, doch aber so, daß es davon nichts merkt, sonst verbirgt es sich, wird mißtrauisch, und es ist ihm gar nicht beizukommen. Da ohnehin die Scham solches Vergehen immer zu verheimlichen anrät, so ist die Sache an und für sich gar nicht leicht.
Wenn man einem Kind (doch immer unbemerkt) überall, und vornehmlich an heimlichen Orten, nachschleicht, so kann es geschehen, daß man es bei der Tat betrifft.
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Man läßt die Kinder früher zu Bett gehen — wenn sie nun im ersten Schlaf sind, nimmt man ihnen ganz sacht die Decke ab, um zu sehen, wie ihre Hände liegen oder ob man einige Merkmale wahrnehmen kann. Ebenfalls am Morgen, ehe sie munter werden.
Kinder, vornehmlich wenn sie einiges Gefühl oder irgendeine Vermutung haben, daß ihr heimliches Betragen ungesittet ist, scheuen und verbergen sich vor den Erwachsenen. Aus dem Grund würde ich anraten, das Geschäft der Beobachtung irgendeinem Kameraden, und bei dem weiblichen Geschlecht einer jungen Freundin, einem treuen Dienstmädchen aufzutragen. Es versteht sich, daß solche Beobachter schon mit dem Geheimnis bekannt oder von einem Alter und Beschaffenheit sein müssen, in welchem die Bekanntmachung unschädlich ist. Solche nun würden unter dem Schein der Freundschaft (und es wäre wahrlich ein großer Freundschaftsdienst) jene beobachten. Ich wollte wohl raten, wenn man ihrer ganz versichert und es übrigens zur Beobachtung nötig wäre, daß die Beobachter mit den Kleinen in einem Bett schliefen. Im Bett fällt Scham und Mißtrauen leicht weg. Wenigstens wird's nicht lange währen, daß sich die Kleinen nicht durch Reden oder Taten verraten.
(P. Villaume, 1787, zit. n. KR, S. 316 f.)
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Das bewußte Einsetzen der Demütigung, das die Bedürfnisse des Erziehers befriedigt, zerstört das Selbstbewußtsein des Kindes, macht es unsicher und gehemmt, wird aber als Wohltat gepriesen.
Es braucht nicht erst gesagt zu werden, wie die Erzieher selbst nicht selten durch unverständiges Hervorheben der Vorzüge des Kindes den Dünkel wecken und steigern helfen, da sie selber nur oft größere Kinder sind und gleichen Dünkels voll. [....] Es kommt nun darauf an, den Dünkel wieder zu beseitigen. Unstreitig ist er eine Mißbildung, die, wenn sie nicht beizeiten bekämpft wird, sich verhärtet und, mit andern selbstsüchtigen Angelegenheiten zusammentretend, für das sittliche Leben höchst gefährlich werden kann, davon ganz abgesehen, daß der zur Hoffart gesteigerte Dünkel andern lästig oder lächerlich werden muß. Außerdem wird durch diesen auch die Wirksamkeit des Erziehers mannigfach beschränkt, das Gute, welches er lehrt und wozu er auffordert, glaubt ja der Dünkel volle schon zu besitzen und hält es wenigstens für leicht erreichbar, Warnungen werden als übertriebene Ängstlichkeit, Worte des Tadels als Zeichen einer grämlichen Strenge genommen.
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Da kann nur Demütigung helfen. Wie aber soll diese beschaffen sein? Vor allen Dingen nicht viele Worte. Worte sind überhaupt nicht gerade dasjenige, wodurch Sittliches begründet und entwickelt, Unsittliches abgeschafft und entfernt werden kann; sie können nur als Begleiter einer tiefer greifenden Operation von Wirkung sein. Am wenigsten möchten umständliche direkte Belehrungen und lange Strafpredigten, herbe Satiren und bitterer Spott zum Ziel führen: die ersteren erregen Langeweile und stumpfen ab, die letzteren erbittern und schlagen nieder. Am eindringlichsten lehrt immer das Leben.
Man führe also den Dünkelvollen in Verhältnisse ein, wo er, ohne daß der Erzieher ein Wort verlieren darf, sich seiner Mangelhaftigkeit bewußt wird: der auf seine Kenntnisse ungebührlich Stolze werde mit Aufgaben beschäftigt, denen seine Kraft durchaus noch nicht gewachsen ist und man lasse ihn daher auch ungestört, wenn er zu hoch zu fliegen versucht, dulde aber bei solchen Versuchen keine Halbheit und Oberflächlichkeit; der mit seinem Fleiß sich Brüstende werde in Stunden, wo er nachläßt, ernst, aber kurz an seine Versäumnis erinnert, und man mache einem solchen selbst das in der Präparation fehlende oder falsch aufgeschriebene Wort bemerklich; wobei nur %u vermeiden ist, daß der Schüler nicht eine besondere Absichtlichkeit argwöhne. Nicht minder wirksam wird es sein, wenn der Erzieher seinen Zögling öfter in die Nähe des Großen und Erhabenen führt: dem talentvollen Knaben halte man entweder aus der lebendigen Umgebung oder aus der Geschichte Männer vor, die durch ein weit glänzenderes Talent ausgezeichnet sind und in Benutzung desselben Bewunderungswürdiges zustande gebracht oder solche, die, ohne besonders hervorleuchtende Geisteskräfte, durch angestrengten, eisernen Fleiß über den talentvollen Leichtsinn sich weit emporgehoben haben; natürlich auch hier ohne ausdrückliche Beziehung auf den Zögling, der diesen Vergleich schon von selbst in der Stille machen wird. Endlich wird es in bezug auf die bloß äußerlichen Güter zweckmäßig sein, an die Unsicherheit und Vergänglichkeit derselben durch gelegentliche Hinweisungen auf entsprechende Ereignisse zu erinnern; der Anblick einer jugendlichen Leiche, die Kunde vom Sturz eines Handelshauses demütigt mehr, als oft wiederholtes Abmahnen und Tadeln.
Aus: K. G. Hergang (Hrsg.), Pädagogische Realenzyklopädie,
(2) 1851, zit. n. KR, S. 412 f.
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Die Maske der Freundlichkeit hilft, die grausame Behandlung noch besser zu verbergen:
Als ich einst einen Schullehrer fragte, wie er es denn nur möglich gemacht habe, daß die Kinder ihm ohne Schläge gehorchten, antwortete er: Ich suche meine Schüler durch mein ganzes Betragen zu überzeugen, daß ich es gut mit ihnen meine, und zeige ihnen durch Exempel und Gleichnisse, daß es ihr eigener Schade sei, wenn sie mir nicht gehorchen. Ferner mache ich es zu einer Belohnung, daß der Gefälligste, der Folgsamste, der Fleißigste in den Lehrstunden den andern vorgewogen wird; ich frage ihn am meisten, ich erlaube ihm seinen Aufsatz öffentlich vorlesen zu dürfen, ich lasse ihn an die Tafel schreiben, was angeschrieben werden muß. Dadurch bringe ich Eifer in die Kinder, daß jeder gern sich auszeichnen, jeder gern vorgezogen sein will. Wenn dann einer bisweilen eine Strafe verwirkt hat, so setze ich ihn in der Lehrstunde zurück, ich frage ihn nicht, ich lasse ihn nichts vorlesen, ich tue, als wenn er nicht zugegen wäre. Dies tut den Kindern gemeiniglich so weh, daß die Gestraften heiße Tränen vergießen; und findet sich ja bisweilen einer, der durch solche gelinde Mittel sich nicht wollte ziehen lassen, so muß ich ihn freilich schlagen; ich mache aber zu der Exekution eine so lange Vorbereitung, die ihn empfindlicher trifft, als die Schläge selbst. Ich schlage ihn nicht in dem Augenblick, da er die Strafe verdient hat, sondern verschiebe es bis zum folgenden oder bis auf den dritten Tag. Davon habe ich zweierlei Vorteile, erstlich kühlt sich unterdessen mein Blut ab, und ich bekomme Ruhe, zu überlegen, wie ich die Sache recht klug anfangen will; hernachfühlt auch der kleine Delinquent die Strafe zehnfach nicht nur auf dem Rücken, sondern auch durch beständiges Denken an dieselbe.
Kommt nun der Tag der Strafe, so halte ich gleich nach dem Morgengebet eine wehmütige Anrede an sämtliche Kinder und sage ihnen, daß ich heute einen sehr traurigen Tag hätte, indem ich durch die Unfolgsamkeit eines meiner lieben Schüler in die Notwendigkeit wäre versetzt worden, ihn zu schlagen. Da fließen schon viele Tränen, nicht nur von dem, der gezüchtigt werden soll, sondern auch von seinen Mitschülern. Nach Endigung dieses Vortrags lasse ich die Kinder sich niedersetzen und fange meine Lektion an. Erst wenn die Schule geendigt ist, lasse ich den kleinen Sünder hervortreten, kündige ihm sein Urteil an und frage ihn, ob er wisse, womit er es verdient habe? Hat er dieses gehörig beantwortet, so zähle ich ihm in Gegenwart sämtlicher Schulkinder seine Schläge zu, wende mich dann an die Zuschauer und sage, wie ich herzlich wünsche, daß dies das letztemal gewesen sein möge, da ich genötigt gewesen wäre, ein Kind zu schlagen.
C. G. Salzmann, 1796, zit. n. KR, S. 392 f.
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Es ist dann nur die Freundlichkeit des Erwachsenen, die im Dienst des Überlebens im Gedächtnis des Kindes zurückbleibt, gepaart mit einer zuverlässigen Hörigkeit des »kleinen Verbrechers« und dem Verlust der Fähigkeit, spontan Gefühle zu erleben.
Wohl den Eltern und Lehrern, welche es durch eine weise Erziehung ihrer Kinder so weit gebracht haben, daß ihr Rat so kräftig ist als ein Befehl; daß sie zur Ausübung einer eigentlichen Strafe selten veranlaßt werden, und daß selbst in diesen wenigen Fällen die Entziehung gewisser angenehmer, aber entbehrlicher Dinge, die Entfernung von ihrer Gesellschaft, die Erzählung des Ungehorsams an Personen, deren Beifall die Kinder verlangen, oder andere solche Mittel als die strengsten Strafen gefürchtet werden. Doch so glücklich sind die wenigsten Eltern. Die meisten müssen zuweilen zu härteren Mitteln greifen. Aber wenn sie wahrhaftigen Gehorsam ihrer Kinder dadurch veranlassen wollen, so müssen bei der Züchtigung sowohl die Mienen als die Worte zwar ernsthaft, doch nicht grimmig und feindselig sein.
Man sei gefaßt und ernsthaft, man kündige die Strafe an, man strafe und sage weiter nichts, bis die Handlung geendigt und der gestrafte kleine Verbrecher wieder fähig ist, neuen Rat und neue Befehle zu verstehen. [...]
Wenn nun nach geendigter Züchtigung der Schmerz noch eine Zeitlang fortdauert, so ist es unnatürlich, alsobald das Weinen und Ächzen zu verbieten. Wollen aber die Gezüchtigten sich durch solche beschwerlichen Töne rächen, so ist das erste Mittel, daß man sie durch gewisse anbefohlene kleine Gewerbe oder Handlungen zerstreue. Hilft dieses nicht, so darf man das Weinen verbieten und die Übertretung strafen, bis nach dem Ende der neuen Züchtigung das Weinen aufhört.
Aus: J. B. Basedow, Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker,
(3) 1773, zit. n. KR, S. 391 f.*
Das Weinen als natürliche Reaktion auf den Schmerz muß mit neuer Züchtigung unterdrückt werden. Bei der Unterdrückung der Gefühle gibt es verschiedene Techniken:
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Nun laßt uns sehen, was die Übungen zur völligen Unterdrückung der Affekte tun. Wer die Kraft einer eingerissenen Gewohnheit kennt, der weiß, daß es Überwindung und Stand-haftigkeit erfordert, ihr zu widerstehen. Die Affekte aber können als solche eingewurzelte Gewohnheiten angesehen werden. Je standhafter und geduldiger nun ein Gemüt überhaupt ist, desto tüchtiger ist es in besondern Fällen, eine Neigung oder schlimme Gewohnheit zu überwinden. Also dienen überhaupt alle Übungen, durch welche die Kinder sich selbst überwinden lernen, die sie geduldig und standhaft machen, zur Unterdrückung der Neigungen. Demnach verdienen bei der Erziehung alle Übungen dieser Art eine besondere Aufmerksamkeit und sind als eines der wichtigsten Dinge anzusehen, ungeachtet sie fast überall versäumt werden.
Dergleichen Übungen nun hat man sehr viele, und man kann sie auf eine solche Weise anstellen, daß die Kinder sich ihnen gern unterwerfen, wenn man nur die rechte Art weiß, mit ihnen zu sprechen, und die Zeit beachtet, da sie aufgeräumt sind. Eine solche Übung ist z.B. das Stillschweigen. Fragt ein Kind: Könntest du wohl einmal ein paar Stunden stille sein, ohne ein Wort zu reden? Macht ihm Lust, die Sache zu probieren, bis es die Probe einmal ausgehalten hat. Hernach spart nichts, ihm zu bezeugen, daß dies ein Verdienst ist, sich selbst so zu überwinden. Wiederholt die Übung, macht sie von Zeit zu Zeit schwerer, teils durch ein längeres Stillschweigen, teils dadurch, daß ihr ihm Anlaß zum Sprechen gebt oder daß ihr ihm etwas mangeln läßt.
Diese Übungen setzt solange fort, bis ihr seht, daß das Kind eine Fertigkeit darin erlangt hat. Hernach vertraut ihm Geheimnisse an und versucht, ob es auch da schweigen kann. Ist es soweit gekommen, daß es seine Zunge bezähmen kann, so ist es auch zu anderen Dingen fähig, und die Ehre, die es dadurch erlangt, ermuntert es, andere Proben zu bestehen. Eine solche Probe ist, sich gewisser Dinge %u enthalten, die man liebt. Kinder lieben insonderheit die Vergnügen der Sinne. Man muß bisweilen probieren, ob sie sich hierin überwinden können. Gebt ihnen schöne Früchte, und wenn sie sich daranmachen wollen, so stellt sie auf die Probe. Könntest du dich überwinden, diese Früchte bis morgen aufzuhebend Könntest du diese wegschenken? Verfahret so, wie ich gleich vorher von dem Stillschweigen gelehrt. Die Kinder lieben die Bewegung. Sie halten sich nicht gern still. Übt sie auch
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darin, damit sie lernen sich überwinden. Setzt auch ihren Leib, soviel es die Gesundheit erlaubt, auf die Probe; laßt sie hungern, dürsten, Hitze und Frost ausstehen, harte Arbeit verrichten; doch daß es mit guter Einwilligung der Kinder geschehe; denn zu solchen Übungen muß man sie gar nicht zwingen, weil sie sonst ohne Nutzen sein würden. Ich verspreche euch, daß die Kinder durch solche Übungen tapfere, standhafte und geduldige Gemüter bekommen werden, die hernach desto eher tüchtig sein werden, die bösen Neigungen zu unterdrücken.
Ich will den Fall setzen, daß ein Kind unbedachtsam im Reden ist, so daß es sehr oft ganz ohne Grund spricht. Diese Gewohnheit könnte durch folgende Übung behoben werden. Nachdem ihr dem Kind seine Unart gründlich vorgestellt, so sagt ihm: Nun wollen wir einmal probieren, ob du das unbedachtsame Reden lassen kannst. Ich werde sehen, wievielmal du heut ohne Überlegung sprechen wirst. Alsdann gibt man auf alle seine Reden genaue Achtung, und wo es unbedachtsam gesprochen, so zeigt man ihm deutlich, daß es gefehlt hat und bemerkt, wie oft dieses in einem Tag geschehen.
Den folgenden Tag sagt man ihm: Gestern hast du sovielmal unbedächtig gesprochen; nun laßt uns sehen, wie oft du heute fehlen wirst. Und auf diese Weise fährt man fort. Wenn noch ein wenig von Ehre und guten Trieben in dem Kind vorhanden ist, so wird es auf solche Weise gewiß nach und nach von seinem Fehler lassen. Neben diesen allgemeinen Übungen muß man auch besondere vornehmen, die unmittelbar auf die Bezähmung der Affekte gehen, die aber nicht eher vorgenommen werden müssen, bis man die oben erwähnten Vorstellungen erst gebraucht hat. Ein einziges Beispiel kann für alle übrigen zur Regel dienen, weil ich die Segel etwas einziehen muß, um nicht allzu weitläufig zu werden. Laßt uns annehmen, ein Kind sei rachgierig, und man habe schon durch Vorstellungen soviel erhalten, daß es geneigt ist, diese Passion zu unterdrücken, uns daher auch verspricht, es zu tun, so setzt es auf folgende Weise auf die Probe: Sagt ihm, daß ihr seine Standhaftigkeit in Überwindung dieser Passion auf die Probe setzen wollt; vermahnt es, auf guter Hut zu sein und sich wider die ersten Anfälle des Feindes in acht zu nehmen. Hernach bestellt jemand heimlich, daß er dem Kind eine Beleidigung zufügen soll, wenn es sich nicht versieht, um zu sehen, wie es sich verhalten wird. Gelingt es ihm, daß es sich überwindet, so muß man seine Verdienste loben und es soviel als möglich das Vergnügen, das aus der Überwindung seiner selbst kommt, fühlen lassen.
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Hernach muß man ein andermal dieselbe Probe wiederholen. Kann es die Probe nicht aushalten, so muß man es liebreich bestrafen und vermahnen, sich ein andermal besser zu halten. Doch muß man nicht streng gegen es sein. Wo viele Kinder sind, da muß man die, die eine Probe gut ausgehalten haben, andern als Vorbild hinstellen. Man muß den Kindern aber bei diesen Proben so viel als möglich nachhelfen. Man muß ihnen sagen, wie sie sich in acht zu nehmen haben. Man muß ihnen soviel Lust zu der Sache machen, als nur immer möglich ist, damit sie nicht durch die Schwierigkeiten abgeschreckt werden. Denn es ist zu merken, daß zu solchen Proben notwendig eine Lust von Seiten der Kinder erfordert wird, weil sonst alles unfruchtbar abläuft. So viel soll von den Übungen gesagt sein.
J. Sulzer, (2) 1748, zit. n. KR, S. 362 ff.
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Die Wirkung dieser Affektbekämpfung ist deshalb so verhängnisvoll, weil bereits beim Säugling, damit begonnen wird, d.h. bevor sich das Selbst des Kindes entwickeln konnte.
Eine fernere, in ihren Konsequenzen sehr wichtige Regel ist die: daß auch erlaubtes Begehren des Kindes stets nur dann erfüllt werde, wenn das Kind in freundlich harmloser oder wenigstens ruhiger Verfassung ist, niemals aber mitten im Schreien oder unbändigen Gebaren. Zuvor muß das ruhige Benehmen zurückgekehrt sein, selbst wenn z.B. das wohlbegründete und rechtzeitige Bedürfnis nach der regelmäßigen Nahrung die Veranlassung wäre — und dann erst, nach einer kleinen Pause, schreite man zur Erfüllung. Auch die Zwischenpause ist nötig, denn es muß vom Kind selbst der leiseste Schein ferngehalten werden, als könne es durch Schreien oder unbändiges Benehmen seiner Umgebung irgend etwas abzwingen. Im Gegenteil erkennt das Kind sehr bald, daß es nur durch das entgegengesetzte Benehmen, durch (obschon noch unbewußte) Selbstbeherrschung, seine Absicht erreicht. Unglaublich schnell (wie andernfalls ebensoschnell die entgegengesetzte Gewohnheit) bildet sich die feste gute Gewohnheit. Man hat damit schon sehr viel gewonnen, denn die Konsequenzen dieser guten Grundlage reichen unendlich weit und vielarmig in die Zukunft hinein.
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Es ist aber auch hierbei ersichtlich, wie undurchführbar diese und alle ähnlichen Grundsätze, welche gerade als die wichtigsten betrachtet werden müssen, sind, wenn, wie meistenteils, die Kinder dieses Alters fast nur den Händen von Dienstleuten überlassen sind, welche, wenigstens für solche Auffassungen, selten genügendes Verständnis haben.
Durch die zuletzt erwähnte Gewöhnung hat das Kind bereits einen merklichen Vorsprung erreicht in der Kunst zu warten und ist vorbereitet auf eine andere, für die Folge noch wichtigere, auf die Kunst sich zu versagen. Nach dem bisherigen kann es fast als selbstverständlich betrachtet werden, daß jedem unerlaubten Begehren — sei dieses nun ein dem Kind selbst nachteiliges oder nicht — eine unbedingte Verweigerung mit ausnahmsloser Konsequenz entgegengesetzt werden müsse. Das Verweigern allein ist aber noch nicht alles, sondern man muß zugleich darauf achten, daß das Kind das Verweigern ruhig hinnehme und nötigenfalls durch ein ernstes Wort, eine Drohung u. dgl., dieses ruhige Hinnehmen zu einer festen Gewohnheit machen. Nur keine Ausnahme gemacht! — und es geht auch dies leichter und schneller, als man gemeinhin glaubt. Jede Ausnahme freilich vernichtet die Regel und erschwert die Gewöhnung auf längere Zeit. — Dagegen gewähre man jedes erlaubte Begehren des Kindes mit liebevoller Bereitwilligkeit. So nur erleichtert man dem Kind die heilsame und unentbehrliche Gewöhnung an Unterordnung und Regelung seines Willens, an Selbstunterscheidung des Erlaubten und des Nichterlaubten, nicht aber durch zu ängstliches Entziehen aller ein unerlaubtes Begehren anregenden Wahrnehmungen. Der Grund zu der dazu nötigen geistigen Kraft muß frühzeitig gelegt, und ihre Erstarkung kann, wie die jeder anderen Kraft, nur durch Übung erreicht werden. Will man später erst damit beginnen, so wird das Gelingen ungleich schwieriger, und das darauf nicht eingeübte kindliche Gemüt dem Eindruck der Bitterkeit ausgesetzt.
Eine sehr gute, dieser Altersstufe ganz zeitgemäße Übung in der Kunst sich zu versagen, ist die, daß man dem Kind oft Gelegenheit gibt, andere Personen in seiner nächsten Umgebung essen und trinken sehen zu lernen, ohne daß es selbst danach begehrt.
D.G. M. Schreber, 1858, zit. n. KR, S. 354 f.
Das Kind soll also von Anfang an lernen, »sich selbst zu verleugnen«, alles, was nicht »gottgefällig« in ihm ist, so früh wie möglich abzutöten.
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(Eph. 3,15), ist durch die Liebe des Erlösers ab- und vorgebildet und wird durch den Geist Christi in den Menschen erzeugt, genährt, erhalten. Durch diese von oben stammende Liebe wird die natürliche elterliche Liebe gereinigt, geheiligt, geklärt und gestärkt. Diese geheiligte Liebe hat vor allem das dem Kinde gesteckte Ziel, das Gedeihen des inwendigen Menschen, das Geistesleben desselben im Auge, seine Befreiung von der Macht des Fleisches, seine Erhebung über die Ansprüche des bloß natürlichen Sinnenlebens, seine innere Unabhängigkeit von der es umflutenden Welt. Sie ist darum von früh an schon darauf bedacht, daß das Kind lerne, sich selbst zu verleugnen, zu überwinden und zu beherrschen, daß es nicht blindlings den Trieben des Fleisches und der Sinnlichkeit folge, sondern dem höheren Willen und Triebe des Geistes. Diese geheiligte Liebe kann darum auch ebensowohl hart sein als mild, ebenso versagen als gewähren, jedes zu seiner Zeit, sie versteht auch durch Wehetun wohlzutun, sie kann auch schwere Verleugnungen auferlegen, wie ein Arzt, der auch bittere Arzneien verordnet, wie ein Chirurg, der wohl weiß, daß der Schnitt seines Messers schmerzt; aber er schneidet doch, weil es die Rettung des Lebens gilt.Die wahre Liebe stammt aus dem Herren Gottes, dem Quell und Urbild alles Vatersinnes
»Du hauest ihn (den Knaben) mit der Rute; aber du errettest seine Seele von der Hölle.« In diesem Wort malt Salomo das Hartseinkönnen der wahren Liebe. Es ist nicht die harte stoische oder einseitig gesetzliche Strenge, die Gefallen an sich selber hat und lieber den Zögling opfert, als daß sie einmal von ihrer Satzung wiche; nein, sie läßt ihr herzliches Wohlmeinen bei allem Ernst doch immer wieder in Freundlichkeit, Erbarmen, hoffender Geduld, wie die Sonne durch Wolken, hindurchleuchten. Sie ist bei aller Festigkeit doch frei und weiß immer, was sie tut und warum sie es tut.
Aus: K. A. Schmid [Hrsg.], Enzyklopädie des gesamten
Erziehungs- und Unterrichtswesens, 2-1887, zit. n. KR, S. 25 f.
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Da man genau zu wissen meint, welche Gefühle für das Kind (oder den Erwachsenen) gut und wertvoll sind, wird auch die Heftigkeit, die eigentliche Quelle der Kraft, bekämpft.
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Zu jenen geistigen Erscheinungen, welche an der Grenze der Normalität auftreten, gehört die Heftigkeit der Kinder, ein Gebaren, das in mannigfacher Form sich darstellt, gewöhnlich aber damit beginnt, daß mit der nicht unmittelbaren Befriedigung eines angeregten Begehrens eine außergewöhnlich heftige Tätigkeit im Gebiet der willkürlichen Muskeln unter mehr oder minder großer Begleitung von Folgezuständen zum Ausbruch kommen.
Kinder, die erst wenige Wörter sprechen gelernt haben und deren ganze Geschicklichkeit in dem Greifen nach den nächsten Gegenständen sich zu erkennen gibt, brauchen, wenn sie für die Entwicklung eines heftigen Wesens geeignet sind, nur einen Gegenstand nicht zu erhalten oder nicht behalten dürfen, um in ein wildes Geschrei auszubrechen und in ungezügelte Bewegungen versetzt zu werden. Auf eine ganz natürliche Weise entwickelt sich aus ihm die Bosheit, jene Charaktereigentümlichkeit, welche darin besteht, daß das menschliche Gefühl nicht mehr den allgemeinen Gesetzen der Lust und des Schmerzes unterstellt ist, sondern in seiner natürlichen Anlage dermaßen entartet ist, daß es nicht nur jede Teilnahme verloren hat, sondern an der Unlust und dem Schmerz anderer eine Lust empfindet.
Die immer steigende Unlust des Kindes über den Verlust des Lustgefühls, das durch die Gewährung seiner Wünsche verschafft worden wäre, findet schließlich ihre Befriedigung nur noch in der Rache, d.h. in dem wohltuenden Gefühl, seinesgleichen in das nämliche Gefühl der Unlust oder des Schmerzes versetzt zu wissen. Je öfter die Wohltat dieses Rachegefühls empfunden wird, um so mehr macht sie sich als ein Bedürfnis geltend, das in jedem müßigen Augenblick die Mittel zu seiner Befriedigung in Bewegung setzen kann. In diesem Stadium gelangt das Kind durch seine Heftigkeit dahin, anderen jede nur mögliche Unannehmlichkeit, jedes nur denkbare Ärgernis zuzufügen, nur um ein Gefühl zu erwecken, das den Schmerz über die unerfüllt bleibenden Wünsche zu lindern vermag. Aus diesem Fehler folgt mit Naturnotwendigkeit der weitere, daß durch die Furcht vor einer Strafe das Bedürfnis nach Lüge, Schlauheit und Betrug, nach der Anwendung von Hilfsmitteln erweckt wird, das nur geübt zu werden braucht, um zu einer Fertigkeit zu gelangen. Die unwiderstehliche Lust zur Bosheit bildet sich allmählich in der nämlichen Weise aus, ebenso der Hang zum Stehlen, die Kleptomanie. Als eine nebensächliche, aber nichtsdestoweniger beachtenswerte Folge des ursprünglichen Fehlers kommt auch noch der Eigensinn zur Entwicklung. [...] Die Mütter, denen doch gewöhnlich die Erziehung der Kinder überlassen bleibt, verstehen es sehr selten, der Heftigkeit erfolgreich entgegenzutreten.
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[.....] Wie bei allen schwer heilbaren Krankheiten muß auch bei dem psychischen Fehler der Heftigkeit die größte Sorgfalt auf die Prophylaxis, auf die Verhütung des Übels, gerichtet werden. Zur Erreichung dieses Zweckes wird jede Erziehung am besten durch den unerschütterlich festgehaltenen Grundsatz gelangen, von dem Kind soviel als möglich alle Einwirkungen fernzuhalten, die mit der Erregung irgendeines Gefühles, eines wohltuenden oder schmerzlichen, verbunden sind.
Aus: S. Landmann, Über den Kinderfehler der Heftigkeit,
1896, zit. n. KR, S. 364 ff.*
Bezeichnenderweise wird hier Ursache mit Wirkung verwechselt und etwas als Ursache bekämpft, das man selber bewirkt hat. Ähnliches findet sich nicht nur in der Pädagogik, sondern auch in der Psychiatrie und Kriminologie. Ist nun das »Böse« durch Unterdrückung des Lebendigen erzeugt, so ist jedes Mittel gerechtfertigt, um es im Opfer zu verfolgen.
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[.....] In der Schule speziell geht Zucht vor Unterricht. Fester steht kein Satz in der Pädagogik, als daß Kinder zuerst erzogen sein müssen, ehe sie unterrichtet werden können. Es gibt wohl eine Zucht ohne Lehre, wie wir oben gesehen, aber keine Lehre ohne Zucht.
Wir bleiben also dabei: Lernen an und für sich ist nicht Zucht, ist noch nicht sittliches Streben, sondern zum Lernen gehört Zucht.
Danach richten sich auch die Mittel der Zucht. Zucht ist, wie oben gesagt, in erster Linie nicht Wort, sondern Tat, und wenn sie in Worten sich darstellt, nicht Lehre, sondern Befehl. [...] Hieraus geht nun aber weiter hervor, daß Zucht, wie das alttestamentliche Wort sagt, wesentlich Strafe (musar) ist. Der verkehrte, der zu seinem und anderer Unheil seiner selbst nicht mächtige Wille muß gebrochen werden. Zucht ist, mit Schleiermacher zu reden, Lebenshemmung, sie ist mindestens Einschränkung der Lebenstätigkeit, sofern diese sich nicht willkürlich entfalten kann, sondern in bestimmte Grenzen eingeschlossen und an bestimmte Ordnungen gebunden ist; je nach Umständen aber ist sie auch Einschränkung, also teilweise Aufhebung des Lebensgenusses, der Lebensfreude, und zwar selbst der geistlichen, indem beispielsweise das Glied einer kirchlichen Gemeinde des höchsten in dieser Welt möglichen Genusses, der Kommunion, in vorübergehender Weise und bis zur Erlangung neuer religiöser Willensstärke verlustig erklärt wird.
Daß in dem Werk der Erziehung eine gesunde Zucht der körperlichen Züchtigung niemals wird entbehren können, ist in der Erörterung des Begriffs der Strafe nachzuweisen. Ihre frühzeitige und nachdrückliche, aber sparsame Anwendung ist geradezu die Grundlage aller echten Zucht, weil das Fleisch die Macht ist, welche in erster Linie gebrochen werden muß. [.....] Da wo die menschlichen Autoritäten nicht mehr hinreichen, Zucht aufrechtzuhalten, da tritt die göttliche Autorität mit Gewalt ein und beugt die einzelnen wie die Völker unter das unerträgliche Joch der eigenen Schlechtigkeit.
(Aus: Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und
Unterrichtswesens, 2-1887; zit. n. KR, S. 381 f.)*
Da wird die »Lebenshemmung« von Schleiermacher unverschleiert zugegeben und als Tugend gepriesen. Es wird aber wie bei vielen Moralisten übersehen, daß die echten freundlichen Gefühle ohne den lebendigen Grund der »Heftigkeit« gar nicht wachsen können. Moraltheologen und Pädagogen müssen besonders erfinderisch sein oder im Notfall wieder zur Rute greifen, denn auf dem durch frühe Zucht ausgetrockneten Boden wird die Nächstenliebe nicht leicht wachsen. Immerhin — es bleibt ja noch die Möglichkeit der »Nächstenliebe« aus Pflicht und Gehorsam, also wiederum die Lüge.
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