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Ruth Rehmann (Der Mann auf der Kanzel, 1979), die selber Pfarrerstochter ist, beschreibt in ihrem Buch die Atmosphäre, in der Pfarrerskinder manchmal aufwachsen mußten:

Es wird ihnen gesagt, daß die Werte, die sie besitzen, eben wegen ihrer Immaterialität allen greifbaren Werten überlegen sind. Aus dem Besitz verborgener Werte wachsen Dünkel und Selbstgerechtigkeit, die sich rasch und nahtlos mit der geforderten Demut vermischen. Das kann ihnen niemand wegnehmen, nicht einmal sie selbst. In allem, was sie tun und lassen, haben sie es außer mit den leibhaftigen Eltern mit dem allgegenwärtigen Übervater zu tun, den sie nicht kränken können, ohne mit schlechtem Gewissen zu bezahlen. 

Schmerzloser ist es, sich zu fügen: lieb sein! In diesen Häusern sagt man nicht »lieben«, sondern »liebhaben« und »lieb sein«. Indem sie das Verb zum Adjektiv machen und mit einem Hilfsverb stützen, brechen sie dem Pfeil des Heidengottes die Spitze ab und biegen ihn zum Ehering und Familienband. Die gefährliche Wärme verwerten sie im heimischen Herd. Wer sich einmal daran gewärmt hat, friert überall sonst auf der Welt. (S. 40)

 

Nachdem sie die Geschichte ihres Vaters aus ihrer Tochterperspektive geschildert hat, faßt Ruth Rehmann ihre Gefühle in folgenden Worten zusammen:

Das ist es, was mich an dieser Geschichte beängstigt: diese besondere Art von Einsamkeit, die gar nicht nach Einsamkeit aussieht, weil sie von wohlwollenden Menschen umgeben ist, nur daß der Einsame keine andere Möglichkeit hat, ihnen näherzukommen, als die von oben nach unten, durch ein Hinabbeugen, wie der heilige Martin sich vom hohen Roß zum armen Mann hinabgebeugt. Man kann das mit den verschiedensten Namen nennen: wohltun, helfen, schenken, raten, trösten, belehren, sogar dienen, das ändert nichts daran, daß oben oben und unten unten bleibt, und daß der, der nun mal oben ist, sich nicht wohltun, raten, trösten, belehren lassen kann und wenn er es noch so nötig hätte, weil in dieser festgefahrenen Konstellation keine Gegenseitigkeit möglich ist, bei aller Liebe kein Funke von dem, was man Solidarität nennt. Kein Elend ist elend genug, als daß so einer vom hohen Roß seines demütigen Dünkels herunterkäme.

Das könnte die besondere Art von Einsamkeit sein, in der einer trotz täglicher minuziöser Kontrolle an Gottes Wort und Gebot in Schuld geraten könnte, ohne Schuld zu bemerken, weil die Wahrnehmung gewisser Sünden ein Wissen voraussetzt, das durch Sehen, Hören, Verstehen zustande kommt, nicht durch Dialoge im Innenraum. Camillo Torres hat außer Theologie auch Soziologie studieren müssen, um die Not seiner Leute zu verstehen und entsprechend zu handeln. Die Kirche hat das nicht gern gesehen. Die Sünden des Wissenwollens sind ihr immer schon sündiger erschienen als die des Nichtwissenwollens und diejenigen wohlgefälliger, die das Wesentliche im Unsichtbaren suchten und das Sichtbare als unwesentlich übersahen. (S. 213 f.)

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Das Wissenwollen muß vom Pädagogen sehr früh unterbunden werden, auch damit das Kind nicht zu schnell merken kann, was mit ihm gemacht wird.

Der Knabe. Wo kommen denn die Kinder her, lieber Herr Hofmeister?
Der Hofmeister. Sie wachsen in dem Leib ihrer Mutter. Wenn sie so groß sind, daß sie keinen Platz mehr im Leib haben, so müssen die Mütter sie von sich drücken, ungefähr so wie wir, wenn wir viel gegessen haben, und dann auf den Abtritt gehen. Aber es tut den Müttern sehr weh.
Der Knabe. Und dann ist das Kind geboren
Der Hofmeister. Ja.
Der Knabe. Aber wie kommt denn das Kind in den Leib der Mutter?
Der Hofmeister. Das weiß man nicht; man weiß nur, daß es darin wächst.
Der Knabe. Das ist doch sonderbar.
Der Hofmeister. Nun, das eben nicht. — Siehe, dort steht ein ganzer Wald, der ist auf dieser Stelle in die Höhe gewachsen. Es wundert sich kein Mensch darüber; denn man weiß schon, daß die Bäume aus der Erde hervorwachsen. Ebenso wundert sich kein Verständiger darüber, daß Kinder in dem Leib der Mütter wachsen. Denn dies ist so gewesen, solange als Menschen auf der Erde sind.
Der Knabe. Und da müssen Hebammen dabei sein, wenn ein Kind geboren wird?

Der Hofmeister. Ja; eben weil die Mütter so viel Schmerzen empfinden, daß sie sich nicht allein zu helfen wissen. Weil nun nicht alle Weiber so hartherzig und mutig sind, daß sie mit Leuten, welche viel Schmerzen ausstehen müssen, umgehen können, so hat man in jedem Ort Weiber, welche/»r Bezahlung so lange bei den Müttern bleiben, bis die Schmerzen wieder vorbei sind. Ebenso wie man Totenweiber oder Totenwäscherinnen hat; denn die Toten zu waschen, oder aus und anzuziehen, ist auch ein Geschäft, das nicht jedermann tun mag, und wozu sich daher Leute um Geld verstehen.
Der Knabe. Ich möchte doch einmal dabei sein, wenn ein Kind geboren wird.

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Der Hofmeister: Wenn du dir eine Vorstellung von den Schmerzen und dem Jammer der Mütter machen willst, so brauchst du nicht eben dahin zu gehen, wo ein Kind geboren wird, denn man erfährt so etwas selten, weil die Mütter selbst nicht wissen, in welcher Viertelstunde die Schmerzen angehen; sondern ich will mit dir zu dem Hofrat R. gehen; wenn er einmal einen Patienten ein Bein abzuschneiden oder einen Stein aus dem Leib zu holen hat. Diese Leute jammern und winseln gerade so, wie die Mütter, wenn sie gebären müssen.
[....] 
Der Knabe: Die Mutter hat mir unlängst gesagt, die
Hebamme kennt die Kinder gleich, ob es Knaben oder Mädchen wären. Woran kann denn die Hebamme dies erkennen? 
Der Hofmeister:
Das will ich dir sagen. Die Knaben sind überhaupt viel breitschultriger und stärker von Knochen als die Mädchen: vorzüglich aber ist die Hand und der Fuß eines Knabens allemal breiter und ungeformter als die Hand und der Fuß bei einem Mädchen. Du darfst z.B. nur deiner Schwester Hand ansehen, welche doch fast anderthalb Jahre älter ist als du. Deine Hand ist viel breiter als die ihrige, und deine Finger sind dicker und fleischiger. Sie scheinen auch deswegen kürzer zu sein, obgleich sie es nicht sind. 

  J. Heusinger, 2-1801, zit. n. KR, S. 332 f.

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Ist das Kind einmal durch solche Antworten dumm gemacht worden, dann kann man vieles mit ihm anstellen.

Es nützt selten und schadet oft, wenn ihr ihnen die Ursachen angebt, um welcher willen ihr diese oder jene Wünsche nicht erfüllt. Selbst wenn ihr Willens seid, zu tun, was sie verlangen, gewöhnt sie doch zuweilen zum Aufschub, zur Zufriedenheit mit einem Teil der gewünschten Sache und zur dankbaren Annehmung einer andern Wohltat, die von der gebetnen verschieden ist.

Zerstreut eine Begierde, der ihr widerstehen müßt, entweder durch Beschäftigung oder durch Erfüllung irgendeiner andern. Mitten im Essen, Trinken und Spielen sagt zuweilen mit freundlicher Ernsthaftigkeit, daß sie einige Minuten ihr Vergnügen unterbrechen und etwas anderes vornehmen sollen. Erfüllt keine Bitte, die ihr einmal abgeschlagen habt. Sucht die Kinder oft mit einem Vielleicht zufriedenzustellen. Dieses Vielleicht aber müßt ihr zuweilen, aber nicht immer, und wenn eine verbotene Wiederholung der Bitte geschieht, niemals erfüllen. — Sind ihnen gewisse Nahrungsmittel zuwider, so unterscheidet, ob sie von gemeiner oder seltener Art sind. 

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Im letzteren Fall dürft ihr euch nicht viele Mühe geben, den Ekel zu bestreiten: im ersteren aber versucht, ob sie lieber eine Zeitlang Hunger und Durst ertragen, als dasjenige genießen wollen, wovor sie ekelt. Sollten sie das erstere lieber wollen, so mischt unvermerkt solche Nahrungsmittel unter andre: schmecken und bekommen ihnen dieselben wohl, so überzeugt sie eben dadurch von den Fehlern ihrer Einbildung. Erfolgt aber ein Erbrechen oder andere schädliche Veränderung des Körpers, so sagt nichts, sondern versucht, ob sich auf jene verborgene Art ihre Natur nach und nach daran gewöhnen lasse. Ist dieses nicht möglich, so werdet ihr sie vergebens zu zwingen suchen: habt ihr aber erfahren, daß bloße Einbildung der Grund dieses Ekels sei, so versucht die Kur durch längeren Hunger oder durch einige Zwangsmittel. Dieses wird aber schwerer gelingen, wenn die Kinder sehen, daß die Eltern und Aufseher bald an diesen, bald an jenen Nahrungsmitteln einen Ekel zeigen [.....] 

Können also Eltern oder Aufseher ohne Verzerrung oder jämmerliche Klagen keine Arzneien einnehmen, so müssen sie es ihre Kinder nie sehen lassen, sondern sich vielmehr oft stellen, als ob sie solche übelschmeckende Arzneien gebrauchten, welche irgend einmal den Kindern nötig sein möchten. Diese und andre Schwierigkeiten werden auch gemeiniglich durch die Gewohnheit des vollkommnen Gehorsams behoben. Am größten sind sie bei chirurgischen Operationen. Ist nur eine einzige nötig, so sage man jungen Kindern kein Wort vorher; sondern verberge alle Voranstalten, greife schweigend\u und sage: Kind, nun bist du geheilt; der Schmerz geht bald vorüber. 

Ist aber eine wiederholte Operation nötig, so weiß ich keinen allgemeinen Rat zu geben, entweder nach gewissen Vorstellungen oder ohne dieselben zum Werke zu schreiten, weil dieses bei einigen, jenes bei andern ratsamer sein kann. — Wenn Kindern vor der Finsternis graut, so ist es allemal unser eignes Versehen. Wir müssen in ihren ersten Lebenswochen, vornehmlich zu der Zeit, wenn sie bei Nacht getränkt werden, zuweilen das Licht auslöschen. Sind sie einmal verwöhnt, so muß man ihre Krankheit nach und nach heilen. Das Licht verlischt; es wird langsam angezündet; künftig noch langsamer; endlich ist es in einer Stunde nicht möglich; unterdessen wird mit Munterkeit in der Gesellschaft gesprochen und etwas, welches die Kinder gern haben, genossen. Nun brennt bei Nacht kein Licht mehr; nun führt man sie an der Hand durch stockfinstre Zimmer; nun sendet man sie in dieselben, etwas Angenehmes zu holen. Aber ist den Eltern und Aufsehern selbst vor Finsternis bange, so weiß ich keinen andern Rat, als Verstellung

  J.B. Basedow, 3-1773, zit. n. KR, S. 258 f.

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Die Verstellung scheint ein universales Mittel der Beherrschung zu sein, auch in der Pädagogik. Der endgültige Sieg wird auch hier, wie z.B. in der Politik, als »erfolgreiche Lösung« des Konfliktes dargestellt.

[.....] 
3. Ebenso muß die Selbstbeherrschung von dem Zögling gefordert werden, und damit er sie lerne, ist er darin zu üben. Dazu gehört, was Stoy in seiner Enzyklopädie sehr hübsch ausführt, daß man ihn lehre, sich selbst zu beobachten, doch ohne sich zu bespiegeln, damit er diejenigen Fehler wisse, gegen deren Ausbrüche er seine Kraft zu richten habe; dann aber sind ihm bestimmte Leistungen zuzumuten. Der Knabe muß lernen zu entbehren, muß lernen sich etwas zu versagen und muß lernen zu schweigen, wenn er gescholten wird, zu dulden, wenn ihm Widerwärtiges begegnet; muß lernen ein Geheimnis zu bewahren, mitten in einem Vergnügen abzubrechen. 
[.....]
4. Übrigens gilt gerade für die Übung der Selbstbeherrschung nur der Mut des Anfanges, die gelingende Tat ist die Mutter eines ähnlichen Wollens, ist ein in der Pädagogik häufig wiederholter Satz: mit jedem einzelnen Sieg wächst die Kraft des herrschenden und schwindet die Macht des bekämpften Willens, bis dieser zuletzt die Waffen streckt. Wir haben zornige Knaben, welche, wie man zu sagen pflegt, in der Wut sich selbst nicht kannten, schon nach wenig Jahren als verwunderte Zeugen der Zornausbrüche anderer gesehen und gehört, wie sie dem Erzieher dankten. 

(Aus: Enzyklopädie....., 2-1887, zit. n. KR, S. 374 f.)

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Um diese Dankbarkeit zu ernten, muß man mit der Konditionierung früh genug beginnen.

Es schlägt nicht leicht fehl, wenn man einem jungen Bäumchen die Richtung gibt, wie es wachsen soll, welches bei einer alten Eiche nicht stattfinden kann. 
[.....]
Der Säugling liebt etwas, womit er spielt und das ihm die Zeit verkürzt. Man blicke ihn mit Freundlich­keit an und nehme es ihm lächelnd, ohne den geringsten Ungestüm, ohne ernsthafte Gebärden, weg, und ersetze es sogleich, ohne es lange warten zu lassen, mit einem andern Spielzeug und Zeitvertreib, so wird es das erstere vergessen und das andere gern annehmen.

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Öftere und zeitige Wiederholungen dieses Versuchs, bei welchen man so aufgeräumt, wie das Kind aussieht, werden erweisen, daß dieses so unbiegsam nicht sei, als man es beschuldigt und durch unvernünftige Behandlung geworden wäre. Es wird nicht so leicht gegen den sich eigenwillig beweisen, der dasselbe vorher durch Liebe, Spiel und zärtliche Aufsicht an sich gewöhnt und sein Vertrauen gewonnen hat. Kein Kind ist im Anfang so leicht darüber unruhig und widersetzlich, weil man ihm etwas wegnimmt oder seinem Willen nicht nachkommt; sondern weil es nicht den Zeitvertreib entbehren und die Langeweile vertragen will. Die ihm dargebotene neue Zerstreuung macht, daß es von dem absteht, was es heftig vorher begehrte. Sollte es aber auch bei Entziehung einer ihm angenehmen Sache sich unzufrieden erweisen, auch wohl weinen und schreien, so kehre man sich nicht daran, suche auch nicht durch Liebkosungen und Zurückgabe des Genommenen dasselbe zu befriedigen; sondern fahre fort selbiges durch den neuen Zeitvertreib auf einen andern Gegenstand zu leiten. 

F. S. Bock, Lehrbuch der Erziehungskunst zum Gebrauch für 
christliche Eltern und künftige Junglehrer,
1780, zit. n. KR, S. 390 f.

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Diese Ratschläge erinnern mich an einen Patienten, dem sehr früh und mit Erfolg das Hungergefühl »nur mit liebevoller Ablenkung abgewöhnt« wurde. Eine komplizierte zwanghafte Symptomatik, die die tiefe Verunsicherung deckte, hat sich später an diese Dressur geknüpft. Aber natürlich war die Ablenkung nur eine der vielen Formen zur Bekämpfung seiner Vitalität. Sehr beliebte und oft unbewußt angewandte Methoden sind der Blick und der Ton.  

Unter ihnen nimmt eine sehr feine und würdige Stelle ein die stumme Strafe oder die stumme Rüge, die sich durch den Blick oder angemessene Bewegung geltend macht. Das Stillschweigen hat oft mehr Kraft als viele Worte und das Auge mehr Kraft als der Mund. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß der Mensch mit dem Auge wilde Bestien zähmt; wie leicht sollte es ihm werden, alle die schlechten und verkehrten Triebe und Regungen der jungen Menschenseele zu bändigen? 

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Haben wir nur die Empfindlichkeit unserer Kinder von Anfang an geschont und richtig ausgebildet, so vermag ein einziger Blick mehr als Stock und Peitsche bei Kindern, die nicht abgestumpft sind für feinere Wirkungen. »Das Auge sieht's, im Herren glüht's« sollte der vornehmste Wahlspruch beim Strafen sein. Angenommen, eins unserer Kinder hat gelogen; wir vermögen es ihm aber nicht nachzuweisen. 

Zufällig bringen wir das Gespräch bei Tisch oder sonst, wenn wir zusammensitzen, auf Menschen, welche lügen, und weisen auf das Schändliche, Feige und Verderbliche der Lüge hin mit einem scharfen Blick auf den Übeltäter. Er wird, wenn anders er noch unverdorben ist, dasitzen wie auf der Marterbank und den Geschmack an unwahrhaftigem Wesen verlieren. Der stille, erzieherische Rapport zwischen uns und ihm wird aber an Stärke zunehmen. — Zu den stummen Dienern der Erziehungstätigkeit gehören auch die richtigen Gesten. 

Eine geringe Handbewegung, ein Schütteln des Kopfes oder ein Achselzucken kann stärkere Wirkungen erzielen, als viele Worte es vermögen. — Neben stummer Rüge steht uns die mündliche Rüge zur Verfügung. Auch hier bedarf es gar nicht immer besonders vieler und hoher Worte. C'est le ton quifait la musique, auch die Musik in der Erziehungskunst. Wer so glücklich ist, über eine Stimme zu verfügen, durch deren Ton er die verschiedenartigsten Seelenstimmungen und -regungen wiedergeben kann, hat ein glückliches Strafmittel von Mutter Natur mit auf den Lebensweg bekommen. 

Schon bei ganz kleinen Kindern kann man seine Beobachtungen machen. Ihre Gesichtszüge strahlen, wenn Mutter oder Vater mit freundlichem Ton ihnen zusprechen, ihr schreiender Mund schließt sich, wenn des Vaters Stimme ernst und laut sie zur Ruhe verweist. Und es kommt nicht selten vor, daß kleine Kinder gehorsam die Flasche nehmen, die sie kurz vorher von sich gestoßen, wenn im bestimmten Ton der Rüge ihnen befohlen wird zu trinken. [.....] Das Kind kann noch nicht so weit denken, kann noch nicht in unser Empfinden so tief hineinschauen, um die klare Erkenntnis zu gewinnen, daß wir nur aus Liebe zu seinem Besten, nur aus Wohlwollen ihm den Schmerz der Strafe antun müssen; unsere Liebesversicherungen würden ihm nur als Heucheleien erscheinen oder als Widerspruch. Verstehen wir Erwachsenen doch auch das Bibelwort nicht immer: »Wen Gott lieb hat, den züchtigt er.« Erst lange Lebenserfahrung und Lebensbetrachtung und der Glaube, daß unter den irdischen Werten des Lebens die unsterbliche Seele am höchsten einzuschätzen ist, läßt uns ahnen, welch tiefe Wahrheit und Weisheit in dem Spruch liegt. -

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Auch Leidenschaft bleibe dem sittlichen Tadel fern; energisch und kraftvoll kann er trotzdem sein; Leidenschaft vermindert Ehrfurcht und zeigt uns nie von unserer besten Seite. Zorn, edlen Zorn, der aus der Tiefe des beleidigten und empörten sittlichen Gefühls aufsteigt, soll man nicht scheuen. Je weniger das Kind Leidenschaftlichkeit am Erzieher gewohnt ist und je mehr auch der Zorn von Leidenschaft frei bleibt, um so stärker wird der Eindruck sein, wenn's einmal donnert und blitzt, wo die Luft gereinigt werden muß. 

Aus: A. Matthias, Wie erziehen wir unseren Sohn Benjamin?, 
4-1902, zit. n. KR, S. 426 ff.

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Kann ein kleines Kind je auf die Idee kommen, daß das Bedürfnis nach Donner und Blitz aus den unbewußten Tiefen der erziehenden Seele aufsteigt und nichts mit seiner eigenen kindlichen Seele zu tun hat? Der Vergleich mit Gott gibt das Gefühl der Allmacht: wie der echt Gläubige Gott nicht zu hinterfragen hat (siehe Genesis-Buch), so soll sich auch das Kind dem Erwachsenen fügen, ohne nach Gründen zu fragen.

Zu den Ausgeburten einer übel verstandenen Philanthropie gehört auch die Meinung, zur Freudigkeit des Gehorsams bedürfe es der Einsicht in die Gründe des Befehls, und jeder blinde Gehorsam widerstreite der Menschenwürde. Wer sich unterfängt, dergleichen Ansichten in Haus oder Schule zu verpflanzen, der vergißt, daß wir Erwachsenen uns im Glauben an eine höhere Weisheit der göttlichen Weltordnung fügen müssen, und daß die menschliche Vernunft nimmermehr dieses Glaubens entbehren darf. Er vergißt, daß wir allesamt hier nur im Glauben, nicht aber im Schauen leben. Wie wir im hingebenden Glauben an die höhere Weisheit und unergründliche Liebe Gottes handeln sollen, so soll das Kind im Glauben an die Weisheit der Eltern und Lehrer sein Tun unterordnen und hierin eine Vorschule zum Gehorsam gegen den himmlichen Vater finden. Wer dieses Verhältnis ändert, der setzt freventlich an die Stelle des Glaubens den klügelnden Zweifel und verkennt zugleich die Kindesnatur, welcher der Glaube Bedürfnis ist. — 

Werden Gründe mitgeteilt, so weiß ich überhaupt nicht, wie wir noch von Gehorsam sprechen können. Wir wollen durch solche die Überzeugung herbeiführen, und das Kind, welches endlich diese gewonnen hat, gehorcht nicht uns, sondern eben nur jenen Gründen; an die Stelle der Ehrfurcht gegen

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eine höhere Intelligenz tritt die selbstgefällige Unterordnung unter die eigene Einsicht, Der Erzieher, welcher seine Befehle mit Gründen begleitet, räumt zugleich Gegengründen eine Berechtigung ein, und damit wird das Verhältnis zum Zögling verschoben. Dieser betritt das Feld der Unterhandlungen und stellt sich dem Erzieher gleich; mit solcher Gleichheit verträgt sich aber keineswegs die Ehrfurcht, ohne welche keine Erziehung gedeihen kann. Wer übrigens glaubt, nur mit auf Gründe gestütztem Gehorsam Liebe erwerben zu können, der lebt in arger Täuschung, denn er verkennt die Kindesnatur und das Bedürfnis derselben sich dem Starken zu unterwerfen. Ist Gehorsam im Gemüt, sagt uns ein Dichter, so wird auch die Liebe nicht fern sein. Im Familienkreis vertreten schwache Mütter meistens das philanthropische Prinzip, während der Vater mit kurzem Wesen unbedingten Gehorsam fordert. Dafür wird die Mutter auch am meisten von ihren Kleinen tyrannisiert, darum gilt dem Vater die meiste Ehrfurcht, und deshalb ist dieser das Haupt des Ganzen, dessen Geist von ihm seine Richtung erhält. 

(L. Kellner, 3-1852, zit. n. KR, S. 172 f.)

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Der Gehorsam scheint ein unangezweifeltes oberstes Prinzip auch der religiösen Erziehung zu sein. In den Psalmen kommt das Wort immer wieder vor und immer in Verbindung mit der Gefahr des Liebesverlustes, falls gegen den Gehorsam gesündigt werde. Wer sich darüber wundert, »verkennt die Kindesnatur und das Bedürfnis derselben, sich dem Starken zu unterwerfen«. (L. Kellner, siehe oben) .

Die Bibel wird auch gegen die natürlichsten mütterlichen Regungen beigezogen, die als Affenliebe bezeichnet werden.

Ist es nicht Affenliebe, wenn das Kind schon in der Wiege auf alle Weise verhätschelt und verzärtelt wird? Statt das Kind mit dem ersten Tage seines Erdendaseins an Einhaltung von Ordnung und Zeit im Genüsse seiner Nahrung zu gewöhnen und so den ersten Grund zu Mäßigkeit, Geduld und - Menschenglück zu legen, läßt sich die Affenliebe leiten vom Geschrei des Säuglings. [.....]

Die Affenliebe kann nicht hart sein, nicht verwehren, nicht nein sagen für das wahre Wohl des Kindes, sie kann nur ja sagen zu seinem Schaden; sie läßt sich vom blinden Gutsein wie von einem Naturtrieb beherrschen, erlaubt, wo sie verbieten, ist nachsichtig, wo sie strafen, läßt geschehen, wo sie verwehren sollte. 

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Die Affenliebe ermangelt jeden klaren Bewußtseins in Beziehung auf das Erziehungsziel; sie ist kurzsichtig; sie will dem Kinde wohl tun, aber sie wählt falsche Mittel; sie läßt sich von augenblicklichen Empfindungen verleiten, anstatt sich von ruhiger Besonnenheit und Überlegung leiten zu lassen. Sie wird, anstatt das Kind zuführen, von diesem verführt. Sie hat keine ruhige, echte Widerstandskraft und läßt sich von des Kindes Widerspruch, Eigensinn, Trot% oder auch von Bitten, Schmeicheleien, Tränen des jungen Tyrannen tyrannisieren. Sie ist das Gegenteil von wahrer Liebe, die auch vor Strafen nicht zurückschreckt. Die Bibel sagt (Sirach ßo,i): Wer sein Kind lieb hat, der hält es stets unter der Rute, daß er hernach Freude an ihm erlebe«, und ein andermal (Sirach 30,9): »Zärtle mit deinem Kinde, so mußt du dich hernach vor ihm fürchten; spiele mit ihm, so wird es dich hernach betrüben.« [.....] 
Es kommt vor, daß mit Affenliebe erzogene Kinder grobe Ungezogenheiten gegen ihre Eltern begehen.

  A. Matthias, 4-1902, zit. n. KR, S. 53 ff. 

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Die Eltern fürchten die »Ungezogenheiten« so sehr, daß ihnen manchmal jedes Mittel heilig erscheint, diese zu verhindern. Und dazu bietet sich ihnen eine reiche Palette von Möglichkeiten an, unter denen der Liebesentzug in seinen vielen Nuancen eine hervorragende Rolle spielt, denn kein Kind kann ihn riskieren.

Ordnung und Zucht muß das Kleine fühlen, ehe es derselben bewußt wird, damit es mit einer guten Angewöhnung und mit zurückgedämmtem Herrschertrieb des sinnlichen Egoismus in die Zeit des erwachenden Bewußtseins übergehe. [.....] Also ist der Gehorsam zu pflegen, indem der Erzieher seine Macht ausübt, was durch ernsten Blick, entschiedenes Wort, eventuell mittelst physischen Zwangs, der das Böse hemmt, wenn er auch das Gute nicht schaffen kann, und mittelst Strafen geschieht; letztere jedoch haben nicht notwendig noch in erster Linie den körperlichen Schmerz zu verwenden, sondern je nach der Art oder Wiederholung des Ungehorsams von Entziehung der Wohltaten und Schmälerung der Liebeserweise aufzusteigen, wie denn z. B. auf das feiner geartete Kind, das streitig sein will, die Entfernung vom Schoß der Mutter, die Verweigerung der Vaterhand, des Kusses vor Schlafengehen usw. als empfindliche Strafe wirkt. Während also durch Erweisungen der Liebe die Neigung des Kindes gewonnen wird, dient eben diese Neigung dazu, es für die Zucht empfänglicher zu machen.
[.....] Wir definierten den Gehorsam als die Unterordnung des Willens unter einen berechtigten anderen Willen. [.....]
Der Wille des Erziehers muß eine Burg sein, unzugänglich der List wie dem Trotz, und nur Einlaß gewährend, wo Gehorsam an die Pforten klopft. 

  Aus: Enzyklopädie . . ., 2-1887, zit. n. KR, S. 168 f. 

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Wie man mit Gehorsam an die Pforten der Liebe klopft, lernt das Kind bereits »in den Windeln« und verlernt es leider häufig sein Leben lang nicht.

[....] Übergehend nunmehr zu dem zweiten Hauptpunkt, der Pflege des Gehorsams, beginnen wir mit der Namhaftmachung dessen, was hierfür im frühesten Alter des Kindes geschehen kann. Mit Recht macht die Pädagogik darauf aufmerksam, daß schon das Kind in den Windeln einen Willen hat und demgemäß zu behandeln ist. (Ebd., S. 167)

Wurde diese Behandlung konsequent und früh genug durchgeführt, so sind alle Voraussetzungen geschaffen, daß ein Bürger in einer Diktatur leben kann, ohne darunter zu leiden, daß er sich sogar euphorisch mit ihr identifizieren kann, wie zu Hitlers Zeiten;

denn Gesundheit und Lebenskraft eines politischen Gemeinwesens ruhen ebenso in der Blüte des Gehorsams gegen Gesetz und Obrigkeit wie in der vernünftigen Energie der Herrscher. Nicht minder in der Familie, in allen Erziehungsfragen muß man den befehlenden und den dem Befehl folgenden Willen nicht als gegensätzlich ansehen: sie sind organische Äußerungen eines an und für sich selbst einigen Willens. (Ebd.)

Wie in der Symbiose der »Windelzeit« gibt es hier keine Trennung von Subjekt und Objekt. Lernt das Kind, auch körperliche Strafen als »notwendige Maßnahmen« gegen »Übeltäter« zu verstehen, so wird es im Erwachsenenalter versuchen, sich selber durch Gehorsam vor Strafen zu schützen, und gleichzeitig keine Bedenken haben, im Strafsystem mitzuhelfen. Im totalitären Staat, in dem sich seine Erziehung spiegelt, kann ein solcher Bürger auch jede Art von Folterung und Verfolgung ausführen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Sein »Wille« ist mit dem der Regierung völlig identisch.

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Es wäre wohl ein Überbleibsel des feudalen Dünkels zu glauben, daß nur »die ungebildeten Massen« für Propaganda anfällig seien, nachdem wir wiederholt die leichte Verführbarkeit der Intellektuellen in manchen Diktaturen miterleben konnten. Sowohl Hitler wie Stalin hatten auffallend viele Anhänger unter den Intellektuellen und wurden von ihnen enthusiastisch bewundert. Die Fähigkeit, das Wahrgenommene nicht abzuwehren, hängt überhaupt nicht von der Intelligenz ab, sondern vom Zugang zum wahren Selbst. Die Intelligenz kann im Gegenteil helfen, unzählige Windungen zu vollbringen, wenn die Anpassung notwendig ist. Die Erzieher haben das immer schon gewußt und für ihre Zwecke ausgenützt, etwa im Sinne des Sprichwortes: »Der Klügere gibt nach, der Dumme bleibt stehn«. 

In einer Erziehungsschrift z.B. von H. Grünewald (1899) können wir lesen: »Ich habe den Eigensinn noch nie bei einem intellektuell entwickelten bzw. geistig hervorragenden Kind gefunden« (vgl. K. R., S. 423). Später, als Erwachsener, kann ein solches Kind einen außergewöhnlichen Scharfsinn an den Tag legen, um feindliche Ideologien — und in der Pubertätszeit sogar die aktuellen Vorstellungen der eigenen Eltern — zu kritisieren, weil ihm für diese Fälle die intellektuellen Funktionen ungehindert zur Verfügung stehen werden. Nur innerhalb der eigenen Gruppenzugehörigkeit (zu einer Ideologie oder theoretischen Schule z.B.), die die frühe Familiensituation repräsentiert, wird dieser Mensch u.U. eine naive Hörigkeit und Kritiklosigkeit bewahren, die seine sonstige Brillanz vollständig vermissen lassen. In ihnen setzt sich tragischerweise seine, frühe Abhängigkeit von den tyrannischen Eltern fort, die — wie es die »Schwarze Pädagogik« will — unentdeckt bleibt. 

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So konnte sich z.B. Martin Heidegger von der traditionellen Philosophie ohne weiteres absetzen und damit die Lehrer seiner Adoleszenzeit verlassen. Es war ihm aber nicht möglich, die für seine Intelligenz offensichtlichen Widersprüche der Hitlerideologie zu sehen. Ihr brachte er die kleinkindliche Faszination und Treue entgegen, in denen Kritik nicht zugelassen war (vgl. A. Miller, 1979). 

Einen eigenen Willen und eine eigene Meinung zu haben, galt eben als Eigensinn und war verpönt. Wenn wir sehen, was für Strafen dafür ausgedacht wurden, begreifen wir, daß sich ein intelligentes Kind diesen Konsequenzen entziehen wollte und es auch mühelos konnte. Daß es dafür einen andern Preis zu bezahlen hatte, wußte es nicht.

 

Der Vater bekommt seine Macht von Gott (und seinem eigenen Vater), der Lehrer findet schon den günstigen Boden des Gehorsams vor, und der Herrscher im Staate kann ernten, was gesät wurde. 

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Auf den eigentlichen Höhepunkt der Strafen gelangen wir mit der energischsten Straftat, der körperlichen Züchtigung. Wie die Rute als Symbol der väterlichen Zucht im Haus gilt, so der Stock als das Hauptwahrzeichen der Schulzucht. Es gab eine Zeit, wo der Stock das Allheilmittel war für alle Schäden in der Schule, wie die Rute im Haus. Diese »verblümte Art, mit der Seele zu reden«, ist uralt und allen Völkern geläufig. Was liegt auch näher als die Regel: »Wer nicht hört, muß fühlen!?« Der pädagogische Schlag ist eine energische Aktion zur Begleitung des Wortes und Verstärkung seiner Wirkung. Am unmittelbarsten und natürlichsten tritt diese Aktion auf/« der Ohrfeige, deren jeweiliger Einleitung durch ein fühlbares Schütteln am Ohr wir uns aus eigener Jugend noch erinnern. Diese mahnt auf unverkennbare Weise an das Vorhandensein des Gehörwerkzeugs und seinen Gebrauch. Sie hat offenbar symbolische Bedeutung, wie die Maulschelle, welche an das Werkzeug der Sprache appelliert und zu besserem Gebrauch desselben mahnt. Beide Arten der körperlichen Züchtigung sind die naivsten und bezeichnendsten, wie schon ihr Name ausweist. Auch die eh und je noch beliebten Kopfnüsse und Haarrupfer treiben noch eine Art von Symbolik [...] 

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Eine wahrhaft christliche Pädagogik, die das Menschenkind nimmt, nicht, wie es sein sollte, sondern wie es ist, wird nicht grundsätzlich aller und jeder körperlichen Züchtigung absagen können. Dieselbe ist für manche Verfehlung gerade die angemessene Strafe: sie demütigt und erschüttert, sie bezeugt tatsächlich die Notwendigkeit der Beugung unter eine höhere Ordnung und gibt dabei doch die ganze Energie der väterlichen Liebe zu erkennen [.....] Wir würden es vollkommen begreifen, wenn ein gewissenhafter Lehrer erklärte: »Ehe ich die Macht aus den Händen gäbe, nötigenfalls zu der ultima ratio des Stocks zu greifen, wollte ich lieber gar nicht Lehrer sein.

[.....] »Der Vater straft sein Kind, und fühlet selbst den Streich, die Härte ist Verdienst, wo dir das Herz ist weich.« So Rückert. Ist der Lehrer ein rechter Schulvater, so weiß er nötigenfalls auch mit dem Stock zu lieben, oft reiner und tiefer als mancher natürliche Vater. Und obwohl wir auch das junge Herz ein Sündenherz nennen, glauben wir doch behaupten zu dürfen: das junge Her^ versteht in der Regel diese Liebe, wenn auch nicht immer im Augenblick. 

Aus: Enzyklopädie ...., (2) 1887, zit. n. KR, S. 433 ff.

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Diese verinnerlichte »Liebe« begleitet »das junge Herz« manchmal bis ins hohe Alter. Es wird sich ohne Widerstand von Medien manipulieren lassen, wenn es gewohnt ist, daß seine »Neigungen« manipuliert werden und es nie etwas anderes gekannt hat.

 

Die erste und vorzüglichste Sorge des Erziehers hat darüber zu wachen, daß die dem eigentlichen höheren Willen hinderlichen und feindlichen Neigungen, anstatt (was doch so allgemein geschieht) durch die erste Erziehung geweckt und genährt zu werden, vielmehr auf alle mögliche Weise in ihrem Entstehen gehindert oder wenigstens sobald als möglich wieder ausgerottet werden. [.....]

Sowenig das Kind dergleichen für höhere Bildung ungünstige Neigungen kennenlernen soll, sosehr soll es entgegen mit allen übrigen innig und vielfach, wenigstens ihren ersten Keimen nach, vertraut werden.

Der Erzieher veranlasse also im Kind schon früh mannigfaltige und andauernde Neigungen dieser besseren Art. Er rege es oft und auf vielfache Weise zur Froheit, Freudigkeit, zum Entzücken, zur Hoffnung usw., mitunter aber auch, obwohl seltener und kürzer, zur Bangigkeit, Traurigkeit u. dgl. an. 

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Die Befriedigungen der mannigfaltigen nicht nur körperlichen, sondern vorzüglich auch geistigen Bedürfnisse, oder die Entbehrungen dieser Befriedigungen und die verschiedenen Mischungen von beiden geben ihm Gelegenheit genug dazu. Er hat aber alles so anzulegen, daß es die Wirkung der Natur und nicht seine Willkür sei oder wenigstens zu sein scheine. Besonders dürfen die unangenehmen Ereignisse ihren Ursprung nicht verraten, wenn sie von ihm kommen. 

Aus: K. Weiller, Versuch eines Lehrgebäudes der 
Erziehungskunde,
1805, zit. n. KR, S. 469 f.

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Man darf dem Nutznießer der Manipulation nicht auf die Spur kommen. Die Fähigkeit, zu entdecken, wird zerstört oder pervertiert mit Hilfe von Ängstigung.

 

Man weiß es auch ohnehin genug, wie neugierig die Jugend, besonders die etwas erwachsene, in diesem Punkt ist, und was sie oft für seltsame Wege und Mittel wählt, den natürlichen Unterschied des andern Geschlechts kennenzulernen. Man kann sicher glauben, daß jede Entdeckung, die sie für sich machen, ihrer schon erhitzten Einbildungskraft immer mehr Nahrung verschaffen und also ihrer Unschuld gefährlich werden wird. Schon aus diesem Grund wäre es ratsam, ihnen zuvorzukommen, und der erwähnte Unterricht macht es ohnehin notwendig. Wider die Schamhaftigkeit würde es indessen freilich sein, wenn man freie Entblößungen des einen Geschlechts gegen das andere zulassen wollte. 

Und wissen soll doch der Knabe, wie ein weiblicher Körper gebildet ist; wissen soll das Mädchen, wie ein männlicher Körper gestaltet ist, sonst bekommen sie wieder keine vollständigen Begriffe und man setzt der grübelnden Neugierde keine Schranken. Beide sollen es auf eine ernsthafte Art wissen. Kupfertafeln könnten über diesen Punkt Befriedigung geben; aber stellen sie die Sache deutlich vor? Reizen sie nicht die Einbildungskraft? Lassen sie nicht den Wunsch einer Vergleichung mit der Natur zurück? Alle diese Besorgnisse verschwinden, wenn man sich zu dieser Absicht eines entseelten menschlichen Körpers bedient. Der Anblick einer Leiche flößt Ernst und Nachdenken ein, und dies ist die beste Stimmung, die ein Kind unter solchen Umständen haben kann. Seine nachherigen Erinnerungen an die Szene werden durch eine natürliche Ideenverknüpfung auch eine ernsthafte Wendung nehmen. 

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Das Bild, das in seiner Seele zurückbleibt, hat nicht die verführerischen Reize der Bilder, die die Einbildungskraft freiwillig erzeugt, oder die durch andere minder ernsthafte Gegenstände erregt werden. Könnte alle Jugend den Unterricht über die Erzeugung des Menschen aus einer anatomischen Vorlesung schöpfen, so würde es weit weniger Vorbereitungen bedürfen. Da aber die Gelegenheit dazu so selten ist, so kann doch ein jeder auch auf die vorgenannte Art ihr den nötigen Unterricht erteilen. Eine Leiche zu sehen, dazu ist ja oft Gelegenheit. 

J. Oest, 1787, zit. n. KR. S. 328 f.

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Mit Leichenbildern gegen den Geschlechtstrieb anzukämpfen gilt als ein legitimes Mittel, um die »Unschuld« zu schützen, zugleich aber wird so der Boden für die Entwicklung von Perversionen gelegt. Auch der systematisch gezüchtete Ekel vor dem eigenen Körper erfüllt diese Funktion:

 

Die Schamhaftigkeit einzuprägen ist lange nicht so wirksam, als jede Entblößung und was dahin gehört, als eine Unsitte und als eine Beleidigung für andere ansehen zu machen, so wie es beleidigend wäre, jemandem, der nicht dafür bezahlt wird, zuzumuten, das Nachtbecken hinauszutragen. Aus dieser Ursache würde ich vorschlagen, die Kinder alle 14 Tage oder vier Wochen von einem alten schmutzigen und häßlichen Weib, ohne Beisein anderer Zuschauer, von Kopf zu Fuß reinigen zu lassen, wobei doch Eltern und Vorgesetzte nötige Aufsicht haben müßten, daß auch ein solches altes Weib sich bei keinem Teil unnötig aufhielte. 

Dieses Geschäft würde der Jugend als ekelhaft vorgestellt, und ihnen gesagt, daß eine solche alte Frau desfalls dafür bezahlt werden müßte, ein Geschäft zu übernehmen, welches der Gesundheit und Reinlichkeit wegen nötig, aber so ekelhaft wäre, daß kein anderer Mensch es übernehmen könne. Dies würde dazu dienen, dem Eindruck vorzubeugen, den eine überrumpelte Schamhaftigkeit verursachen könnte. (Zit. n. KR, S. 329 f.)

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Die Wirkung der Beschämung kann auch im Kampf mit dem Eigensinn eingesetzt werden.

Wie schon oben angegeben, muß der Eigensinn »in den früheren Jahren durch das Gefühl entschiedener Übermacht« gebrochen werden. Später wirkt Beschämung nachhaltiger, namentlich auf kräftige Naturen, bei denen der Eigensinn oft im engsten Zusammenhang mit Mut und Willensenergie steht. 

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Gegen das Ende der Erziehung hin endlich muß eine versteckte oder deutlichere Hindeutung auf das Häßliche und sittlich Verkehrte dieses Fehlers imstande sein, die Überlegung und die ganze Willenskraft gegen die letzten Reste des Eigensinns in die Schranke zu rufen. Ein Gespräch »unter vier Augen« erweist sich nach unserer Erfahrung auf der zuletzt bezeichneten Stufe als zweckentsprechend. Im Hinblick auf das häufige Vorkommen des kindlichen Eigensinns erscheint es höchst merkwürdig, daß man Erscheinung, Wesen und Heilung dieses antisozialen seelischen Phänomens bisher sowenig in der Kinderpsychologie und Pathologie berücksichtigt bzw. beleuchtet hat. 
(Aus: H. Grünewald, Über den Kinderfehler des Eigensinns, 1899, zit. n. KR, S. 425)

Bei all diesen Mitteln ist es immer wichtig, daß man sie früh genug einsetzt.

Wenn man nun auch auf solche Weise öfters seinen Zweck nicht erreicht, so muß dies kluge Eltern erinnern, daß sie ihr Kind sehr zeitig nachgebend, geschmeidig und gehorsam machen, und es gewöhnen, den eigenen Willen zu überwinden. Dies ist ein Hauptstück der sittlichen Erziehung, und die Unterlassung desselben ist der größte Fehler, welcher nur kann begangen werden. Die rechte Ausübung dieser Pflicht, ohne wider diejenige anzustoßen, die uns auflegt, das Kind fröhlich zu erhalten, ist die größte Kunst bei der anfänglichen Ausbildung. (F. S. Bock, 1780, zit. n. KR, S. 389)

 

In den folgenden drei Szenen werden die oben geschilderten Prinzipien anschaulich vor Augen gehalten. Ich zitiere diese Stellen in ihrer ganzen Ausführlichkeit, um den Leser die Luft spüren zu lassen, die diese Kinder (d. h. zumindest unsere Eltern) täglich eingeatmet haben. Diese Lektüre hilft das Entstehen der neurotischen Entwicklung zu begreifen. Nicht ein äußeres Ereignis steht an ihrem Ursprung, sondern die Verdrängung der unzähligen Momente, die das alltägliche Leben des Kindes ausmachen und die das Kind niemals imstande ist, zu beschreiben, weil es nicht weiß, daß es etwas anderes überhaupt geben kann.

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Bis in sein viertes Jahr lehrte ich Konrädchen hauptsächlich viererlei: Aufmerken, gehorchen, sich vertragen und seine Begierden mäßigen. Das erste geschah dadurch, daß ich fortfuhr, ihm allerlei Tiere, Blumen und andere Merkwürdigkeiten der Natur zu zeigen und ihm Bilder zu erklären; das zweite, daß ich ihn, so oft er um mich war, beständig etwas nach meinem Willen tun ließ; das dritte, indem ich bisweilen etliche Kinder zu ihm bat und sie mit ihm spielen ließ, wobei ich allemal zugegen war, und so oft ein Zank entstand, genau untersuchte, wer ihn angefangen habe, und den Zänker eine Zeitlang vom Spiel entfernte; das vierte lehrte ich ihn, indem ich ihm oft abschlug, was er mit großer Heftigkeit verlangte. 

So hatte ich einmal Honig geschnitten und brachte eine große Schüssel voll in die Stube. Honig! Honig! rief er freudig aus, Vater, gib mir Honig, rückte den Stuhl an den Tisch, setzte sich und erwartete, daß ich ihm sogleich ein paar Semmeln mit Honig bestreichen solle. Ich tat's aber nicht, setzte den Honig vor ihm hin und sagte: Jetzt teile ich noch keinen Honig aus; erst wollen wir Erbsen in den Garten säen; dann, wenn dies geschehen ist, wollen wir eine Honigsemmel miteinander verzehren. Er sah erst mich, hernach den Honig an, dann ging er mit mir in den Garten. Auch pflegte ich es bei Austeilung der Speisen immer so zu halten, daß er zuletzt bekam. So speisten einmal meine Eltern und Christelchen bei mir, und wir hatten einen Reisbrei, den er vorzüglich gern aß! Brei! rief er freudig und hing sich an die Mutter an. Ja, sagte ich, das ist Reisbrei, davon soll Konrädchen auch bekommen. Erst bekommen die großen Leute, hernach die kleinen Leute. Da, Großmutter, hast du Brei! Da, Großvater, hast du auch etwas! Da, Mutter, ist etwas für dich! Dies soll dem Vater, dies Christelchen; und dies? Wer wird das wohl bekommen? Onnäde, gab er freudig zur Antwort. Er fand diese Ordnung nicht unbillig, und ich ersparte mir damit all den Verdruß, den Eltern haben, die ihren Kindern zuerst von allem, was auf den Tisch kommt, geben. 

C. G. Salzmann, 1796, zit. n. KR, S. 352 f. 

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Die »kleinen Leute« sitzen ruhig am Tisch und warten. Das muß nicht erniedrigend sein. Es kommt darauf an, wie der Erwachsene diese Prozedur erlebt. Und hier zeigt er es unverschleiert, wie sehr er seine Macht und sein Groß-Sein auf Kosten der Kleinen genießt. Ähnlich geschieht das in der nächsten Geschichte, in der allein die Lüge dem Kind die Möglichkeit verschafft, im geheimen zu lesen.

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Die Lüge ist etwas Ehrloses. Dafür wird sie selbst von dem, der sie sagt, erkannt; und es gibt wohl keinen Lügner, der einige Achtung gegen sich haben könnte. Wer aber sich selbst nicht achtet, der achtet auch andere nicht, und der Lügner findet sich gewissermaßen aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Es folgt hieraus, daß ein kleiner Lügner sehr delikat behandelt sein will, damit durch die Kur seines Fehlers die Achtung gegen sich selbst, welche durch das Bewußtsein, gelogen zu haben, ohnehin schon gelitten hat, nicht noch empfindlicher verletzt werde, und es ist wohl eine Regel, die keine Ausnahme leidet: »Ein Kind, welches lügt, muß dieses Fehlers wegen nie öffentlich getadelt oder bestraft, und, ohne die äußerste Not, nicht einmal öffentlich deswegen erinnert werden.« - Der Erzieher wird wohltun, wenn er mehr erstaunt und verwundert darüber erscheint, daß das Kind eine Unwahrheit gesagt habe, als entrüstet darüber, daß es gelogen hat, und er tue, solange es angeht, als ob er eine (wissentlich vorgebrachte) Lüge, für eine (aus Unbedachtsamkeit gesagte) Unwahrheit halte. Dies ist der Schlüssel zu dem Betragen, welches Hr. Willich annahm, da er auch unter seiner kleinen Gesellschaft auf Spuren von diesem Laster geriet. Kätchen ließ sich dasselbe zuweilen zuschulden kommen. [. . .] Es fand sich einmal Veranlassung, sich durch eine Unwahrheit zu retten, und Kätchen fiel in diese Gefahr: Sie hatte eines Abends ganz besonders fleißig gestrickt, so daß sie das fertiggewordene Stück in der Tat für die Arbeit zweier Abende hätte ausgeben können. Zufälligerweise vergaß noch dazu die Mutter, sich diesmal zeigen zu lassen, was die Mädchen diesen Abend etwa gearbeitet hatten.

Am folgenden Abend stahl sich Kätchen heimlich aus der übrigen Gesellschaft weg, nahm ein Buch, welches ihr den Tag über in die Hände gekommen war, und las den ganzen Abend darin. Sie war so listig, denen von ihren Geschwistern, die von Zeit zu Zeit nachsehen mußten, wo sie wäre und was sie täte, zu verbergen, daß sie las, sondern sie ließ sich entweder mit der Strickerei in der Hand oder sonst bei einer Beschäftigung antreffen. Diesen Abend aber sah die Mutter nach den Arbeiten der Mädchen. Kätchen zeigte ihren Strumpf. Wirklich hatte er stark

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zugenommen, allein die achtsame Mutter glaubte ein gewisses besonderes, nicht ganz aufrichtiges Benehmen an Kätchen zu bemerken. Sie sah die Arbeit an, schwieg, und beschloß, sich wegen Kätchen zu erkundigen. Es gelang ihr am folgenden Tag durch einige Nachfragen herauszubringen, daß Kätchen gestern nicht gestrickt haben konnte. Anstatt aber ihr nun unbedachtsamerweise eine Unwahrheit auf den Kopf zuzusagen, zog sie das Mädchen zu schicklicher Zeit in ein Gespräch, in welchem sie ihr Fallen zu legen beschlossen hatte.

Es wurde von weiblichen Arbeiten gesprochen. Die Mutter meinte, daß sie gegenwärtig gemeiniglich sehr schlecht bezahlt würden, und setzte hinzu, sie glaube nicht, daß ein Mädchen von Kätchens Alter und Geschicklichkeit mit Arbeiten so viel verdienen könnte als sie täglich brauche, wenn sie Nahrung, Kleidung und Wohnung in Anschlag brächte. Kätchen aber glaubte das Gegenteil und meinte, daß sie z.B. im Stricken in ein paar Stunden noch einmal so viel leisten könnte, als die Mutter gerechnet hatte. Die Mutter widersprach mit Lebhaftigkeit. Dadurch geriet auch das Mädchen in Feuer, vergaß sich, und fuhr damit heraus, daß sie am vorletzten Abend ein doppelt so großes Stück gestrickt habe, als sonst.

»Wie soll ich denn das verstehen?« erwiderte die Mutter hierauf. »Du sagtest mir ja gestern, daß du gestern abend die Hälfte von dem gestrickt hättest, um was sich dein Strumpf vergrößert hat.« - Kätchen wurde rot. Die Augen wurden ihr ungehorsam und schweiften willkürlich hin und her. »Kätchen«, redete sie die Mutter mit ernsthaftem, doch teilnehmenden Ton an, »hat das weiße Band in den Haaren nichts geholfen? - Ich gehe wehmütig von dir.« Sogleich stand sie von ihrem Sitz auf, kehrte sich nicht an Kätchen, welche ihr nachlaufen wollte, ging mit ernsthaftem Wesen zur Tür hinaus und ließ das bestürzte Mädchen in Tränen und Unwillen in der Stube zurück.

Man wird merken, daß Kätchen jetzt nicht zum erstenmal diesen Fehler begangen hatte, seitdem sie in dem Haus ihrer Pflegeeltern war. Die Mutter hatte ihr Vorstellungen darüber gemacht, und hatte ihr endlich aufgelegt, künftig ein weißes Band in den Haaren zu tragen. »Weiß«, setzte sie hinzu, »ist, wie man zuweilen dafür hält, die Farbe der Unschuld und Reinheit. Du wirst wohltun, dich, so oft du in den Spiegel siehst, bei deinem Stirnband der Reinheit und Wahrheit zu erinnern, welche in deinen Gedanken und Reden herrschen soll. 

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Unwahrheit aber ist Kot, der deine Seele befleckt.« — Das Mittel hatte eine geraume Zeit geholfen. Nun war aber, bei diesem neuen Fehltritt, auch die Hoffnung verwirkt, daß Kätchens Fehler ein Geheimnis zwischen ihr und der Mutter bleiben sollte. Denn diese hatte damals versichert, daß, wenn Kätchen sich noch einmal diesen Fehler erlauben sollte, sie, die Mutter, sich verpflichtet fühle, von dem Beistand des Vaters Gebrauch zu machen, und ihm also die Sache zu entdecken.

Jetzt war die Sache auf diesem Punkt, und es geschah auch, wie die Mutter gesagt hatte. Denn auch sie drohte nichts, was im eintretenden Fall nicht augenblicklich erfüllt wurde. Hr. Willich schien den Tag über sehr unmutig, verdrießlich und nachdenkend. Alle Kinder bemerkten dies, für keines aber als für Kätchen waren seine finsteren Blicke Stiche in das Hers^. Die Furcht vor dem, was da kommen würde, folterte das Mädchen den ganzen Nachmittag.

Des Abends rief der Vater Kätchen in seine Stube zu sich allein. Sie fand ihn noch mit derselben Miene.

»Kätchen«, sagte er zu ihr, »es ist mir heute etwas überaus Unangenehmes begegnet, ich habe eine Lügnerin unter meinen Kindern gefunden.«

Kätchen weinte und konnte kein Wort sagen. Hr. Willich: »Ich bin erschrocken, da mir die Mutter erzählte, daß du dich schon einigemal zu diesem Laster erniedrigt hast. Sage mir, um Himmels willen, Mädchen, wie kommt es, daß du dich so verirren kannst? [Nach einer Pause] Trockne nun deine Tränen. Durch Weinen wird es nicht besser. Unterrichte mich lieber über den vorgestrigen Vorfall, damit wir herausbringen, wie dem Übel etwa künftig abzuhelfen ist. Sage mir, wie war es gestern abend? Wo bist du gewesen? Was hast du getan oder nicht getan?«

Kätchen erzählte hierauf die Sache, wie sie war und wie wir sie wissen, Sie verhehlte nichts, nicht einmal die List, die sie angewandt hatte, ihre Geschwister über das, was sie tat, irrezuführen. »Kätchen«, versetzte hierauf Hr. Willich in einem Vertrauen erweckenden Ton, »du hast mir jetzt Dinge von dir erzählt, die du nicht billigen wirst. Der Mutter aber, als sie gestern abend deine Strickerei untersuchte, hast du gesagt, du seist im Stricken  //«/fYg gewesen. Stricken ist unstreitig etwas Gutes; der Mutter hast du

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etwas Gutes von dir erzählt. Sage mir nun, wann fühltest du dein Herz leichter? Jetzt, da du das Schlimme erzählst, das aber Wahrheit ist, oder gestern, da du Gutes erzähltest, welches aber Unwahrheit war?«

Kätchen gestand, sie sei froh, daß das gegenwärtige Geständnis ihr von dem Herzen weg wäre, und es sei ein häßliches Laster, das Lügen.

[. . .] Kätchen. »Es ist wahr, ich war sehr albern. Aber verzeihen Sie mir's, guter Vater.«

Will. »Vom Verleihen ist gar nicht die Rede. Mich hast du sehr wenig beleidigt. Dich aber, und allenfalls die Mutter, hast du sehr stark beleidigt. Ich werde mich schon danach richten, und wenn du zehnmal wieder lögest, mich sollst du nicht täuschen. Wenn es nicht augenscheinlich wahr ist, was du sagst, so werde ich es künftig mit deinen Worten machen, wie mit Geld, das man für falsch hält. Ich werde probieren, und fragen und besehen; du wirst mir wie ein Stock sein, auf den man sich nicht verlassen kann; ich werde dich immer mit etwas Mißtrauen ansehen.« Kätch. »Ach, lieber Vater, so arg . . .«

Will. »Glaube nicht, armes Kind, daß ich übertreibe oder scherze. Wenn ich mich nicht auf deine Wahrhaftigkeit verlassen kann, wer bürgt mir denn dafür, daß ich nicht in Schaden komme, wenn ich glaube, was du mir sagest? — Ich merke, liebes Kind, daß du ^wei Feinde zu besiegen hast, wenn du deinen Hang zum Lügen ausrotten willst. Willst du wissen, welche es sind, Kätchen?«

Kätch. [sich anschmiegend, und etwas zu freundlich und leichtsinnig scheinend] »O ja, lieber Vater.«

Will. »Aber bist du auch in deinem Gemüte gesetzt und vorbereitet genug? Ich möchte nicht sagen, was in deiner Seele nicht haftet, und was morgen wieder vergessen ist.«

Kätch. [schon mehr ernsthaft] »Nein, gewiß, ich werde es merken.«

Will. »Armes Mädchen, wenn du jetzt flatterhaft sein könntest! - [nach einer Pause] Dein erster Feind heißt Leichtsinn und Gedankenlosigkeit. ~ Da du das Buch in die Tasche stecktest und dich davonschlichst, um heimlich in demselben zu lesen, da hättest du nachdenken sollen. Wie? Du konntest es über das Herz bringen auch nur das geringste zu tun, wovon du uns nichts sagen wolltest? Wie kamst du denn auf den Gedanken? Hieltest du das Lesen in dem

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Buch für erlaubt — wohl, so hättest du nur sagen dürfen: >Ich möchte heute in diesem Buch lesen, und bitte, meinen gestrigen Fleiß im Stricken auch für heute gelten zu lassen< —, glaubst du wohl, daß es dir abgeschlagen worden wäre? Hieltest du es aber nicht für erlaubt? — Hättest du also etwas Unerlaubtes hinter unserem Wissen tun wollen? Gewiß nicht. So bös bist du nicht. [. . .] Dein ^weiter Feind, liebe Tochter, ist eine falsche Scham. Du schämst dich zu bekennen, wenn du unrecht getan hast. Laß diese Furcht fahren. Dieser Feind ist auf der Stelle besiegt. Erlaube dir keine Beschönigung oder Zurückhaltung mehr, auch nicht bei dem kleinsten Fehler, den du begehst. Laß uns, laß deine Geschwister in deinem Herren lesen, wie du darin liest. Du bist so verdorben noch nicht, daß du dich schlechterdings schämen müßtest, zu gestehen, was du getan hast. Nur verberge dir selbst nichts, und sage nichts mehr anderes, als du es weißt. Auch bei der alltäglichsten Kleinigkeit, auch im Scherz erlaube dir nicht, anders zu sagen, als die Sache ist.

Die Mutter hat dir, wie ich sehe, das weiße Band aus den Haaren genommen. Du hast es verwirkt, es ist wahr. Du hast deine Seele mit einer Lüge befleckt. Du hast dich aber doch auch gebessert. Du hast mir deine Fehler so treu gestanden, daß ich nicht glauben kann, du habest etwas verschwiegen oder anders gesagt. Dies ist mir auch wieder ein Beweis deiner Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit. Hier ist ein anderes Band für deinen Kopfputz. Es ist etwas schlechter als das vorige. Es kommt aber hierbei nicht darauf an, von welcher Güte das Band ist, sondern was diejenige wert ist, welche es trägt. Steigt diese im Wert, so bin ich gar nicht in Abrede, meine Erkenntlichkeit dafür einst durch ein kostbares und mit Silber durchwirktes Haarband zu beweisen.« Er entließ hierauf das Mädchen, nicht ohne Besorgnis, daß zwar Rückfälle in diesen Fehler wegen der Lebhaftigkeit ihres Temperamentes nicht ausbleiben würden, doch auch nicht ohne die Hoffnung, daß ihr heller Verstand und eine geschickte Behandlung dem Mädchen bald zu mehr Gesetztheit in ihrem Wesen verhelfen und hiermit die eigentliche Quelle dieses häßlichen Lasters verstopfen werde.

Es kam nach einiger Zeit wirklich ein Rückfall. [.....] Es war abends, und eben waren die übrigen Kinder gefragt worden, was und wie sie es in ihren Ämtern getan hätten. Die Rechenschaften fielen ausgezeichnet wohl aus; selbst Kätchen konnte manches

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anführen, was sie über das gewöhnliche Maß ihrer Pflicht getan hätte. Eine einzige Unterlassung fiel ihr ein, welche sie nicht nur verschwieg, sondern der Mutter, auf Befragen, sogar als geschehen angab. Es hätten in ihren Strümpfen einige Löcher zugestopft werden sollen. Kätchen hatte es vergessen. In dem Augenblick aber, als sie Rechenschaft ablegte und daran dachte, fiel ihr ein, daß sie schon seit einigen Tagen früher als die andern aufgestanden wäre. Sie hoffte, daß dieses morgen der Fall wieder sein würde, und wollte alsdann in aller Geschwindigkeit das Versäumte nachholen.

Allein, es ging weit anders, als Kätchen gedacht hatte. Kätchen hatte aus Unachtsamkeit die Strümpfe am unrechten Ort liegen lassen, und die Mutter hatte sie längst in Verwahrung, während das Mädchen glaubte, sie wären noch da, wo sie dieselben hingetan zu haben meinte. Es war daher der Mutter schon auf der Zunge, Kätchen der Strümpfe wegen noch einmal zu fragen, und sie allenfalls scharf dabei anzusehen. Allein sie erinnerte sich noch zur rechten Zeit des Verbots ihres Mannes, das Mädchen dieses Fehlers nie öffentlich zu bezichtigen, und sie hielt an sich. Aber es kränkte sie in der Seele, daß das Mädchen mit solcher Leichtfertigkeit eine bare Unwahrheit von sich geben konnte. Auch die Mutter war des andern Morgens früh auf, denn es war ihr wahrscheinlich, daß Kätchen so etwas im Sinn haben mochte. Sie traf aber Kätchen dennoch schon angezogen, suchend und in nicht geringer Beängstigung an. Die Tochter wollte der Mutter die Hand zum guten Morgen bieten, und versuchte eben, ihr sonstiges freundliches Wesen anzunehmen. Dies hielt die Mutter für den günstigen Augenblick. »Zwinge dich nicht«, sagte sie, »auch mit den Mienen zu lügen; dein Mund hat es gestern schon getan. Dort liegen deine Strümpfe seit gestern Mittag im Schrank, und du hast nicht daran gedacht, sie zu stopfen; wie konntest du also gestern abend sagen, sie wären gestopft?«

tch. »Ach Gott, Mutter, ich bin des Todes.« »Hier sind deine Strümpfe«, sagte die Mutter gan% kalt und fremd »Ich mag heute nichts mit dir %u tun haben. Komm in die Lektionen oder komm nicht: es ist mir gleich viel; du bist ein niederträchtiges Mädchen.«

Hiermit ging die Mutter zur Tür hinaus, und Kätchen setzte sich weinend und schluchzend, um hurtig zu tun, was sie gestern

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unterlassen hatte. Kaum aber hatte sie angefangen, so kam Hr. Willich mit ernsthaft-trauernder Miene zur Tür herein und ging stillschweigend in der Stube einmal auf und ab. Will. »Du weinest Kätchen, was ist dir widerfahren?« Kätch. »Ach, lieber Vater, Sie wissen es schon.« Will. »Ich will von dir wissen, Kätchen, was dir widerfahren ist.« Kätch. [das Gesicht in das Schnupftuch verbergend] »Ich habe wieder gelogen.«

Will. »Unglückliches Kind. Ist dir's denn gar nicht möglich, über deine Flatterhaftigkeit Meister zu werden?« Kätchen konnte vor Weinen und Wehmut nicht antworten. Will. »Ich will dich nicht mit vielen Reden bestürmen, liebe Tochter. Daß die Lüge ein schändliches Ding ist, weißt du längst schon, und daß dir die Lüge in Augenblicken herausfährt, wo du deine Gedanken nicht zusammennimmst, ist mir auch ausgemacht. Was ist daher zu tun? Du mußt handeln, Kind, und ich will dich als Freund dabei unterstützen.

Der heutige Tag sei dir zur Trauer über dein gestriges Versehen gesetzt. Die Bänder, welche du heute anlegst, müssen schwar\ sein. Gehe und tue dies, ehe deine Geschwister noch aufstehen.« »Besänftige dich«, fuhr Hr. W. fort, nachdem Kätchen zurück kam und getan hatte, wie ihr war befohlen worden, »du sollst an mir einen treuen Beistand in diesem deinen Leiden haben. Um dich desto aufmerksamer auf dich selbst zu machen, sollst du jeden Abend vor dem Schlafengehen zu mir auf meine Stube kommen, und in ein Buch, das ich eigens dazu zurechtmachen will, einschreiben, entweder: heute habe ich gelogen, oder: heute habe ich nicht gelogen.

Du hast keine Verweise von mir zu befürchten, selbst wenn du einschreiben müßtest, was dir nicht lieb sein wird. Ich hoffe, daß schon die Erinnerung an eine gesagte Lüge, dich auf viele Tage gegen dies Laster in Schutz'nehmen wird. Damit ich aber doch auch etwas tue, was dir des Tags über behilflich sein kann, daß du des Abends eher etwas Gutes einzuschreiben hast, als etwas Schlimmes, so verbiete ich dir, von heute abend an, wo du das schwarze Band aus deinen Haaren ablegen wirst, wieder ein Band in den Haaren zu tragen. Ich tue dies Verbot auf unbestimmte Zeit, bis mich dein Abendregister überzeugen wird, daß dir ernsthaftes Betragen und Wahrhaftigkeit so zur Gewohnheit geworden sind, daß meinem Urteil nach kein Rückfall mehr zu befürchten ist. Kommt es mit dir, wie ich wünsche, dahin — nun so wirst du alsdann von selbst urteilen können, welche Farbe du hernach zu deinem Haarband wählen darfst.« 

Aus: J. Heusinger, Die Familie Wertheim, (2) 1800, zit. n. KR, S. 192 ff.

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Zweifellos ist das Käthchen überzeugt, daß sich ein solches Laster nur bei ihm, dem bösen Geschöpf einnisten konnte. Um sich vorzustellen, daß ihr großartiger und gütiger Erzieher selber Schwierigkeiten mit der Wahrheit hat und es, Käthchen, deshalb so quält, müßte das Kind eine psychoanalytische Erfahrung haben. Also kommt es sich sehr schlecht neben den guten Erwachsenen vor. Und der Vater von Konrädchen? Spiegelt sich in ihm vielleicht die Not zahlreicher Väter auch unserer Zeit?

 

Ich hatte mir fest vorgenommen, ihn ganz ohne Schläge zu erziehen; dies ging aber nicht so, wie ich wünschte. Bald kam ich in Notwendigkeit, einmal die Rute zu gebrauchen. Der Kasus war folgender: Christelchen besuchte uns und brachte eine Puppe mit. Kaum hatte sie Konrädchen gesehen, so wollte er sie haben. Ich bat Christelchen, sie ihm zu geben, und sie tat es. Da Konrädchen sie einige Zeit gehabt hatte, wollte sie Christelchen wieder haben, und Konrädchen wollte es nicht tun. Was sollte ich nun anfangen? Wenn ich ihm das Bilderbuch herbeigeholt und ihm dann gesagt hätte, er solle Christelchen die Puppe geben, so würde er es vielleicht ohne Widerrede getan haben. Dies fiel mir aber nicht ein; und wenn es mir auch eingefallen wäre, so weiß ich doch nicht, ob ich es würde getan haben. Ich glaubte, es wäre doch nun Zeit, daß das Kind sich gewöhnen müsse, dem Vater aufs Wort zu gehorchen. Ich sagte also: Konrädchen, willst du Christelchen die Puppe nicht wieder geben? Nein! sagte er etwas heftig. Aber die arme Christel hat ja keine Puppe! Nein! antwortete er wieder, weinte, drückte die Puppe fest an sich und drehte mir den Rücken zu.

Da sagte ich ihm dann im ernsthaften Ton: Konrädchen, du mußt die Puppe Christelchen gleich wiedergeben, ich will es haben. Und was tat Konrädchen? Er warf die Puppe Christelchen vor die Füße.

Gott, wie erschrak ich darüber. Ich glaube, wenn mir die beste Kuh im Stalle gefallen wäre, es hätte mir so einen Schreck nicht verursacht.

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Christelchen wollte die Puppe aufheben; ich ließ es aber nicht zu. Konrädchen, sagte ich, gleich heb die Puppe auf und gib sie Christelchen.

Nein! Nein! schrie Konrädchen.

Da holte ich eine Rute bei, zeigte sie ihm und sagte: Heb die Puppe auf, oder ich haue dich mit der Rute. Aber das Kind beharrte auf seinem Kopfe und schrie: Nein! nein!

Da hob ich denn die Rute in die Höhe und wollte ihn schlagen.

Allein da entstand ein neuer Auftritt. Die Mutter rief: Lieber Mann, ich bitte dich, um Gottes willen. -

Nun war ich zwischen zwei Feuern. Ich resolvierte mich aber kurz und gut, nahm Puppe und Rute und das Kind auf den Arm, sprang zur Stube hinaus, in eine andere Stube, schloß die Tür zu, daß die Mutter nicht nachkommen konnte, warf die Puppe auf die Erde und sagte: Heb die Puppe auf, oder ich schlage dich mit der Rute! Mein Konrad blieb aber bei seinem Nein.

Da ging es nun Fick! fick! fick! Willst du die Puppe aufheben? fragte ich.

Nein! war seine Antwort.

Da bekam er die Rute noch viel derber, und nun sagte ich wieder: Gleich heb die Puppe auf!

Da hob er sie endlich auf, ich nahm ihn bei der Hand, führte ihn in die andere Stube und sagte: Gib die Puppe Christelchen!

Er gab sie ihr.

Nun lief er laut schreiend zur Mutter und wollte seinen Kopf in ihren Schoß legen. Diese hatte aber so viel Verstand, daß sie ihn zurückwies und sagte: Geh, bist kein guter Konrad.

Freilich rollten ihr die Tränen über die Backen, da sie es sagte. Da ich es merkte, bat ich sie, daß sie zur Stube hinausgehen möchte. Da es geschehen war, schrie Konrädchen etwa noch eine Viertelstunde, dann wurde er ruhig.

Ich kann wohl sagen, daß durch diesen Auftritt mein Herz gewaltig angegriffen wurde, teils weil mich das Kind dauerte; teils weil ich mich über seine Hartnäckigkeit betrübte.

Bei Tisch konnte ich nicht essen, ließ die Mahlzeit stehen und ging zum Herrn Pfarrer, um mein Herz vor ihm auszuschütten. Da bekam ich nun wieder Trost. Er hat recht getan, lieber Herr Kiefer, sagte er zu mir. Wenn die Nessel noch jung ist, so kann man sie leicht ausraufen; läßt man sie aber lange stehen, so wachsen die Wurzeln, und wenn man sie hernach ausraufen will, so

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bleiben die Wurzeln stecken. Mit den Unarten der Kinder ist es ebenso. Je länger man ihnen nachsieht, desto schwerer sind sie hernach wegzubringen. Daß er den kleinen Starrkopf tüchtig durchgehauen hat, das war auch gut. Das wird er in einem halben Jahr nicht vergessen.

Hätte er ihn nur sanft gehauen, so hätte es nicht nur diesmal nichts geholfen, sondern er würde ihn nun immer haben schlagen müssen, und der Junge würde sich so an die Schläge gewöhnt haben, daß er sich am Ende gar nichts mehr daraus gemacht hätte. Daher kommt's, daß die Kinder sich gemeiniglich so wenig aus den Schlägen der Mütter machen, weil diese den Mut nicht haben, derb zuzuschlagen. Das ist auch die Ursache, warum es Kinder gibt, die so verstockt sind, daß man durch die stärksten Prügel nichts mehr bei ihnen ausrichten kann. [. . .] Da nun bei seinem Konrädchen die Hiebe noch im frischen Andenken sind, so rate ich ihm, daß er diese Zeit benutze. Wenn er nach Hause kommt, so kommandiere er ihn fein oft. Lasse er sich Stiefeln, Schuhe, die Tabakspfeife beiholen und wieder wegtragen; lasse er ihn die Steine im Hofe von einem Platz Zum andern legen. Er wird alles tun und sich zum Gehorsam gewöhnen. 

(C. G. Salzmann, 1796, zit. n. KR, S. 158 ff.)

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Der Trost des Herrn Pfarrers — klingt er denn so altmodisch? Haben wir nicht im Jahre 1979 gehört, daß zwei Drittel der deutschen Bevölkerung für die Prügelstrafe sind? In England ist die Prügelstrafe noch nicht verboten, und in den Internaten gehört sie dort zur Norm. Wen wird später die Antwort auf diese Demütigungen treffen, wenn die Kolonien nicht mehr herhalten? Es kann ja nicht jeder ehemalige Schüler zum Lehrer werden und auf diesem Wege seine Rache einziehen ......

 

Zusammenfassung  

 

Die oben angeführten Zitate hatten das Ziel, eine Haltung zu charakterisieren, die nicht nur in der faschistischen, sondern in verschiedenen Ideologien mehr oder weniger offen zutage tritt. Die Verachtung und Verfolgung des schwachen Kindes sowie die Unterdrückung des Lebendigen, Kreativen, Emotionalen im Kind und im eigenen Selbst durchziehen so viele Bereiche unseres Lebens, daß sie uns kaum mehr auffallen.

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Mit verschiedener Intensität und unter verschiedenen Sanktionen, aber fast überall findet sich die Tendenz, das Kindliche, d.h. das schwache, hilflose, abhängige Wesen so schnell wie möglich in sich loszuwerden, um endlich das große, selbständige, tüchtige Wesen zu werden, das Achtung verdient. Begegnen wir diesem Wesen in unseren Kindern wieder, so verfolgen wir es mit ähnlichen Mitteln, wie wir es mit uns bereits taten, und nennen das »Erziehung«. Ich werde im folgenden gelegentlich den Begriff »Schwarze Pädagogik« auf diese sehr komplexe Haltung anwenden, wobei aus dem jeweiligen Zusammenhang ersichtlich sein wird, welchen Aspekt ich dort gerade in den Vordergrund stelle. 

Die einzelnen Aspekte lassen sich direkt aus den oben angeführten Zitaten ableiten, aus denen wir folgendes lernen können: 

  1. daß die Erwachsenen Herrscher (nicht Diener!) des abhängigen Kindes seien;

  2. daß sie über Recht und Unrecht wie Götter bestimmen;

  3. daß ihr Zorn aus ihren eigenen Konflikten stammt;

  4. daß sie das Kind dafür verantwortlich machen;

  5. daß die Eltern immer zu schützen seien;

  6. daß die lebendigen Gefühle des Kindes für den Herrscher eine Gefahr bedeuten;

  7. daß man dem Kind so früh wie möglich seinen »Willen benehmen« müsse;

  8. daß alles sehr früh geschehen sollte, damit das Kind »nichts merke« und den Erwachsenen nicht verraten könne.

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Die Mittel der Unterdrückung des Lebendigen sind: Fallen stellen, Lügen, Listanwendung, Verschleierung, Manipulation, Ängstigung, Liebesentzug, Isolierung, Mißtrauen, Demütigung, Verachtung, Spott, Beschämung, Gewaltanwendung bis zur Folter.

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Zur »Schwarzen Pädagogik« gehört es auch, dem Kind von Anfang an falsche Informationen und Meinungen zu vermitteln. Diese werden seit Generationen weitergegeben und von den Kindern respektvoll übernommen, obwohl sie nicht nur nicht ausgewiesen, sondern nachweisbar falsch sind. 

Dazu gehören z.B. Meinungen wie: 

  1. daß das Pflichtgefühl Liebe erzeuge;

  2. daß man den Haß mit Verboten töten könne;

  3. daß Eltern a priori als Eltern Achtung verdienen;

  4. daß Kinder a priori keine Achtung verdienen;

  5. daß Gehorsam stark mache;

  6. daß eine hohe Selbsteinschätzung schädlich sei;

  7. daß eine niedrige Selbsteinschätzung zur Menschenfreundlichkeit führe;

  8. daß Zärtlichkeiten schädlich seien (Affenliebe);

  9. daß das Eingehen auf kindliche Bedürfnisse schlecht sei;

  10. daß Härte und Kälte eine gute Vorbereitung fürs Leben bedeuten;

  11. daß vorgespielte Dankbarkeit besser sei als ehrliche Undankbarkeit;

  12. daß das Verhalten wichtiger sei als das Sein;

  13. daß die Eltern und Gott keine Kränkung überleben würden;

  14. daß der Körper etwas Schmutziges und Ekelhaftes sei;

  15. daß die Heftigkeit der Gefühle schädlich sei;

  16. daß die Eltern triebfreie und schuldlose Wesen seien;

  17. daß die Eltern immer Recht hätten.

 

Wenn man bedenkt, welcher Terror von dieser Ideologie ausgeht und daß sie um die Jahrhundertwende noch auf ihrem Höhepunkt stand, wird man sich kaum wundern, daß Sigmund Freud seinen unerwarteten Einblick in die sexuelle Verführung im Kindesalter durch Erwachsene, den er den Aussagen seiner Patienten verdankte, mit Hilfe einer Theorie zudecken mußte, die sein unerlaubtes Wissen ungeschehen machte. 

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Ein Kind seiner Zeit durfte unter schwersten Sanktionen nicht merken, was die Erwachsenen mit ihm machten, und wäre Freud bei der Verführungstheorie geblieben, so hätte er nicht nur seine introjizierten Eltern fürchten müssen, sondern wäre zweifellos auch realen Schmähungen, wahrscheinlich einer völligen Isolierung und Ausstoßung aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt worden. Er mußte aus Selbstschutz eine Theorie entwickeln, in der die Diskretion gewahrt wurde, in der alles »Böse«, Schuldhafte, Ungerechte der kindlichen Phantasie zugeschrieben wurde und die Eltern nur als Projektionsscheiben dieser Phantasien erschienen. 

Daß die Eltern ihrerseits sexuelle und aggressive Phantasien auf ihr Kind nicht nur projizieren, sondern auch an ihm befriedigen können, weil sie die Macht besitzen, wurde aus dieser Theorie begreiflicherweise ausgespart. Dieser Aussparung ist es wohl zu verdanken, daß so viele pädagogisch konditionierte Fachleute der Triebtheorie folgen durften, ohne die Idealisierung ihrer Eltern in Frage stellen zu müssen. Mit der Trieb- und Strukturtheorie konnte das in der frühen Kindheit verinnerlichte Gebot: »Du sollst nicht merken, was Deine Eltern dir antun«, aufrecht erhalten werden.*

 

* Zu dieser Einsicht bin ich erst im Laufe der letzten Jahre, ausschließlich aufgrund meiner analytischen Erfahrung, gekommen und war überrascht, im faszinierenden Buch von Marianne Krüll (1979) auffallende Übereinstimmungen zu finden. Marianne Krüll ist eine Soziologin, die sich nicht mit Theorien begnügt, sondern das Verstandene erleben und das Erlebte verstehen will. Sie ist an den Geburtsort Sigmund Freuds gefahren, in dem Zimmer gestanden, in dem Freud seine ersten Lebensjahre zusammen mit den Eltern verbrachte, und hat, nachdem sie viele Bücher darüber gelesen hatte, versucht, sich vorzustellen und %u fühlen, was das Kind Sigmund Freud in diesem Zimmer gespeichert haben muß.

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Der Einfluß der »Schwarzen Pädagogik« auf Theorie und Praxis der Psychoanalyse scheint mir so wichtig, daß ich mich mit diesem Thema noch ausführlicher befassen möchte (vgl. S. 12). Hier muß ich mich mit den wenigen Andeutungen begnügen, weil ich zunächst ganz allgemein den Sinn dafür wecken möchte, daß das mit Hilfe der Erziehung tief in uns verankerte Gebot, die Eltern zu schonen, bestens geeignet ist, die für uns lebenswichtigen Wahrheiten zu verschleiern oder sogar in das pure Gegenteil zu wenden. wofür viele von uns mit schweren Neurosen bezahlen müssen.

*

 

Was geschieht mit den zahlreichen Menschen, an denen die Anstrengungen der Erzieher erfolgreich waren?

Es ist undenkbar, daß sie als Kinder ihre echten Gefühle leben und entwickeln konnten, denn zu diesen Gefühlen hätten doch auch der verbotene Zorn und die ohnmächtige Wut gehören müssen — ganz besonders, wenn diese Kinder geschlagen, gedemütigt, belogen und hintergangen wurden. Was geschieht nun mit diesem ungelebten, weil verbotenen Zorn? Er löst sich leider nicht auf, sondern verwandelt sich mit der Zeit in einen mehr oder weniger bewußten Haß gegen das eigene Selbst oder gegen andere Ersatzpersonen, der sich verschiedene, für den Erwachsenen bereits erlaubte und gut angepaßte Wege der Entladung sucht.

Die Käthchens und Konrädchens aller Zeiten waren sich als Erwachsene immer darüber einig, daß ihre Kindheit die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen war. Erst in der jungen Generation von heute vollzieht sich eine Wandlung in dieser Hinsicht. Lloyd de Mause ist wohl der erste Wissenschaftler, der die Geschichte der Kindheit ausführlich untersuchte, ohne die Tatsachen zu beschönigen und ohne die Ergebnisse seiner Forschungen mit idealisierenden Kommentaren wieder zurückzunehmen. Weil sich dieser Psychohistoriker einfühlen kann, muß er die Wahrheit nicht verdrängen. Die Wahrheit, die sein Buch (1977) enthüllt, ist traurig und bedrückend, aber bringt mit sich die Chance einer Wende: Wer dieses Buch liest und sehen kann, daß die hier beschriebenen Kinder später selber Erwachsene waren, der wird sich auch über die schlimmsten Greueltaten unserer Geschichte nicht mehr wundern.

Er wird die Stellen entdecken, an denen Grausamkeit gesät wurde und dank dieser Entdeckung Hoffnung schöpfen, daß die Menschheit diesen Grausamkeiten nicht für immer ausgeliefert bleiben muß, weil wir durch das Aufdecken der unbewußten Spielregeln der Macht und der Methoden ihrer Legitimierung tatsächlich in der Lage sind, grundsätzlich etwas zu verändern. Ohne das Verständnis für den Engpaß der frühen Kindheit, in der sich die Erziehungsideologie fortpflanzt, sind aber diese Spielregeln nicht in ihrem vollen Umfang zu begreifen.

Die bewußten Ideale der jungen Eltern haben sich in unserer Generation zweifellos geändert. Gehorsam, Zwang, Härte und Gefühllosigkeit gelten nicht mehr als absolut anerkannte Werte. Aber der Weg zur Realisierung der neuen Ideale ist häufig blockiert durch die Notwendigkeit, das Leiden der eigenen Kindheit in der Verdrängung zu halten, die zum Mangel an Empathie führt. Es sind gerade die einstigen Käthchens und Konrädchens, die von Kindesmißhandlungen nichts hören wollen (oder deren Gefahr verharmlosen), weil sie selber angeblich eine »glückliche Kindheit« gehabt haben. 

Doch gerade ihr Mangel an Einfühlung verrät das Gegenteil: sie haben sehr früh auf die Zähne beißen müssen. Menschen, die tatsächlich in einer empathischen Umgebung aufwachsen durften (was äußerst selten ist, denn bis vor kurzem wußte man nicht, wie sehr ein Kind leiden kann) oder solche, die später ein empathisches Objekt in ihrem Innern kreiert haben, werden sich eher dem Leiden anderer öffnen können oder es zumindest nicht bestreiten. Dies wäre eine notwendige Voraussetzung, damit alte Wunden heilen könnten und nicht mit Hilfe der nächsten Generation zugedeckt werden müßten.

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