Die heiligen Werte der Erziehung
Dann gewährt es uns aber auch einen ganz besonderen heimlichen Genuß, zu sehen,
wie die Leute um uns nicht gewahr werden, was mit ihnen wirklich geschieht.
Adolf Hitler; zitiert nach Rauschning, S. 181
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Menschen, die im Wertsystem der »Schwarzen Pädagogik« aufgewachsen und von psychoanalytischen Erfahrungen unberührt geblieben sind, werden meiner antipädagogischen Haltung vermutlich entweder mit bewußter Angst oder mit intellektueller Ablehnung begegnen. Sie werden mir vorwerfen, daß ich heiligen Werten gegenüber indifferent sei oder einen naiven Optimismus an den Tag lege und keine Ahnung habe, wie böse Kinder sein können. Solche Vorwürfe würden mich nicht wundern, denn ihre Gründe sind mir allzu gut bekannt.
Trotzdem möchte ich mich zur Frage der Wertindifferenz äußern: Es ist für jeden Pädagogen eine ausgemachte Sache, daß es böse ist, zu lügen, einem anderen Menschen weh zu tun oder ihn zu kränken, auf die Grausamkeit der Eltern mit Grausamkeit zu reagieren, statt Verständnis für die guten Absichten aufzubringen usw. Andererseits gilt es als gut und wertvoll, wenn das Kind die Wahrheit sagt, den Eltern für ihre Absichten dankbar ist und die Grausamkeit ihrer Handlungen übersieht, wenn es die Ideen seiner Eltern übernimmt, aber sich seinen eigenen Ideen gegenüber kritisch äußern kann und vor allem, wenn es in dem, was man von ihm fordert, ja keine Schwierigkeiten macht.
Damit man dem Kind diese beinahe allgemein gültigen, sowohl in der jüdisch-christlichen als auch in anderen Traditionen verwurzelten Werte beibringen kann, muß der Erwachsene manchmal zu Lüge, Verstellung, Grausamkeit, Mißhandlung, Demütigung greifen, aber bei ihm handelt es sich nicht um »negative Werte«, weil er selber bereits erzogen ist und diese Mittel nur zum heiligen Ziel anwenden muß, nämlich damit das Kind einmal frei werde von Lüge, Verstellung, Bosheit, Grausamkeit, Egoismus.
Aus dem oben Angeführten wird deutlich, daß eine Relativierung der traditionellen moralischen Werte diesem Wertsystem bereits immanent ist: die Rangordnung und die Macht entscheiden letztlich darüber, ob eine Handlung zu den guten oder schlechten gezählt wird. Das gleiche Prinzip beherrscht die ganze Welt. Der Starke diktiert die Meinung; und der Sieger im Krieg wird früher oder später anerkannt, unabhängig davon, welche Verbrechen er auf seinem Wege zu diesem Ziel begangen hat.
Zu dieser altbekannten Relativierung der Werte nach der Machtstellung möchte ich eine andere hinzufügen, die sich aus psychoanalytischen Gesichtspunkten ergibt. Sobald man nämlich aufhört, den Kindern Vorschriften zu machen, muß man selber feststellen, daß es unmöglich ist, gleichzeitig die Wahrheit zu sagen und niemanden zu verletzen, Dankbarkeit zu zeigen, wenn man sie nicht empfindet, ohne zu lügen, die Grausamkeiten der Eltern zu übersehen und ein autonomer kritischer Mensch zu werden. Diese Zweifel müssen sich notgedrungen ergeben, sobald man das abstrakte Wertsystem der religiösen oder auch philosophischen Ethik verläßt und sich der konkreten psychischen Wirklichkeit zuwendet.
Menschen, die mit diesem konkreten Denken nicht vertraut sind, mögen meine Relativierung der traditionellen Erziehungswerte und die Infragestellung der Erziehung als Wert überhaupt als schockierend, nihilistisch, bedrohlich oder sogar als naiv empfinden. Das wird von ihrer eigenen Geschichte abhängen. Von mir aus kann ich nur sagen, daß es für mich durchaus Werte gibt, die ich nicht zu relativieren brauche und von deren Realisierungsmöglichkeit vermutlich auf die Dauer unsere Überlebenschancen abhängen. Dazu gehören: die Achtung für den Schwächeren, also auch für das Kind, und der Respekt vor dem Leben und dessen Gesetzlichkeit, ohne den jede Kreativität ersticken müßte.
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Der Faschismus in all seinen Schattierungen hat diesen Respekt nicht, verbreitet den seelischen Tod und kastriert die Seele mit Hilfe seiner Ideologie. Unter allen führenden Gestalten des Dritten Reiches habe ich keine einzige gefunden, die nicht streng und hart erzogen worden wäre. Muß uns das nicht sehr nachdenklich machen?
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Menschen, denen es von Anfang an in der Kindheit möglich und erlaubt war, auf die ihnen bewußt oder unbewußt zugefügten Schmerzen, Kränkungen und Versagungen adäquat, d.h. mit Zorn, zu reagieren, werden diese Fähigkeit der adäquaten Reaktion auch im reiferen Alter behalten. Als Erwachsene werden sie es spüren und verbal ausdrücken können, wenn man ihnen wehgetan hat. Aber sie werden kaum das Bedürfnis haben, dem andern deshalb an die Gurgel zu fahren. Dieses Bedürfnis kommt nur bei Menschen auf, die immer auf der Hut sein müssen, daß ihre Staudämme nicht reißen. Wenn diese reißen, ist alles unberechenbar.
So ist es begreiflich, daß ein Teil dieser Menschen, aus Angst vor unberechenbaren Folgen, jede spontane Reaktion fürchten muß und daß es beim andern Teil zu gelegentlichen Entladungen auf Ersatzpersonen im unverständlichen Jähzorn oder zu regelmäßigen Gewaltakten in Form von Mord und Terroranschlägen kommt. Ein Mensch, der seinen Zorn als Teil von sich selbst verstehen und integrieren kann, wird nicht gewalttätig. Er hat erst das Bedürfnis, den andern zu schlagen, wenn er seine Wut eben nicht begreifen kann, wenn er mit diesem Gefühl als kleines Kind nicht vertraut werden durfte, es nie als Stück von sich selbst erleben konnte, weil dies in seiner Umgebung völlig undenkbar war.
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Wenn man sich diese Dynamik vor Augen hält, wird man nicht überrascht sein, von der Statistik zu erfahren, daß 60 % der deutschen Terroristen der letzten Jahre aus Pfarrersfamilien stammen. Die Tragik dieser Situation liegt darin, daß die Eltern zweifellos die besten Absichten mit ihren Kindern hatten.
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Sie wollten eben von Anfang an, daß diese Kinder gut, verständnisvoll, brav, lieb, anspruchslos, an andere denkend, nicht egoistisch, beherrscht, dankbar, nicht eigensinnig, nicht hartnäckig, nicht trotzig und vor allem fromm werden. Sie wollten diese Werte ihren Kindern mit allen Mitteln anerziehen, und wenn es nicht anders ging, mußten sie für diese guten Erziehungszwecke auch Gewalt anwenden. Falls diese Kinder in ihrem Jugendalter gewalttätig wurden, dann brachten sie zugleich die ungelebte Seite ihrer Kindheit sowie die ungelebte, unterdrückte und nur dem eigenen Kind bekannte verborgene Seite der Eltern zum Ausdruck.
Wenn Terroristen unschuldige Frauen und Kinder als Geiseln nahmen, um einem großen, idealen Zweck zu dienen, taten sie dann etwas anderes, als das, was man mit ihnen einmal getan hatte? Für das große Erziehungswerk, für die hohen religiösen Werte hatte man einst das lebendige kleine Kind geopfert, aber mit dem Gefühl, ein großes und gutes Werk begangen zu haben. Weil sich diese jungen Menschen nie auf ihre eigenen Gefühle haben verlassen dürfen, fuhren sie damit fort, ihre eigenen Gefühle zugunsten einer Ideologie zu unterdrücken. Diese einst der »höheren« Moral geopferten, intelligenten und oft sehr differenzierten Menschen machten sich als Erwachsene zu Opfern einer anderen — oft entgegengesetzten — Ideologie, für deren Zwecke sie sich in ihrem Innersten wie damals in der Kindheit völlig beherrschen ließen.
Das ist die unbarmherzige, tragische Gesetzmäßigkeit des unbewußten Wiederholungszwanges. Seine positive Funktion allerdings darf auch nicht übersehen werden. Wäre es nicht noch viel schlimmer, wenn das Erziehungswerk vollständig gelänge, wenn ein tatsächlich gelungener, unwiederbringlicher Seelenmord am Kind geschehen könnte, ohne daß die Öffentlichkeit je etwas davon erfahren würde?
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Wenn ein Terrorist im Namen seiner Ideale wehrlose Menschen gewalttätig überfällt und sich sowohl den ihn manipulierenden Führern als auch der Polizei des von ihm bekämpften Systems ausliefert, dann erzählt er unbewußt in seinem Wiederholungszwang, was ihm einmal im Namen der hohen Ideale der Erziehung geschehen ist. Die von ihm erzählte Geschichte kann von der Öffentlichkeit als ein Alarmsignal verstanden oder völlig mißverstanden werden, aber als Alarmsignal ist sie ein Zeichen des Lebens, das noch gerettet werden kann.
Was geschieht aber, wenn von diesem Leben keine Spur mehr geblieben ist, weil die Erziehung restlos und perfekt gelungen war, wie das z.B. bei Menschen wie Adolf Eichmann oder Rudolf Höss der Fall war? Man hat sie so früh und so erfolgreich zum Gehorsam erzogen, daß diese Erziehung nie versagt hat, daß dieses Gebäude nirgends Löcher aufwies, an keinem Ort Wasser eingedrungen ist, kein Gefühl es erschüttert hat; diese Menschen haben bis zu ihrem Lebensende die Befehle ausgeführt, die ihnen gegeben wurden, ohne je ihren Inhalt in Frage zu stellen. Nicht aus Einsicht in die Richtigkeit der Befehle, sondern einfach weil es Befehle waren, haben sie sie ausgeführt, genau wie es die »Schwarze Pädagogik« empfiehlt (vgl. Seite 56f).
Deshalb konnte Eichmann während seines Prozesses die erschütterndsten Berichte der Zeugen ohne Gemütsbewegungen über sich ergehen lassen; aber als er bei der Urteilsverkündung aufzustehen vergaß, errötete er verlegen, nachdem er darauf aufmerksam gemacht worden war. Rudolf Höss' Erziehung zum Gehorsam im frühesten Alter überstand ebenfalls alle Wandlungen der Zeit. Sein Vater wollte ihn sicher nicht zu einem Auschwitzkommandanten erziehen, sondern hatte als strenger Katholik eine Missionarenlaufbahn für ihn im Auge. Aber er hat ihm sehr früh das Prinzip eingeimpft, daß man der Obrigkeit immer gehorchen müsse, was sie auch von einem verlange.
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In der Hauptsache verkehrten Geistliche aus allen Kreisen bei uns. Mein Vater wurde im Laufe der Jahre immer religiöser. Sooft es ihm seine Zeit erlaubte, fuhr er mit mir zu all den Wallfahrtsstätten und Gnadenorten meiner Heimat, sowohl nach Einsiedeln in der Schweiz wie nach Lourdes in Frankreich. Inbrünstig erflehte er den Segen des Himmels für mich, daß ich dereinst ein gottbegnadeter Priester würde.
Ich selbst war auch tief gläubig, soweit man dies als Knabe in den Jahren sein kann, und nahm es mit meinen religiösen Pflichten sehr ernst. Ich betete in wahrhaft kindlichem Ernst und war sehr eifrig als Ministrant tätig. — Von meinen Eltern war ich so erzogen, daß ich allen Erwachsenen und besonders Älteren mit Achtung und Ehrerbietung zu begegnen hätte, ganz gleich aus welchen Kreisen sie kämen. Überall, wo es notwendig ist, behilflich zu sein, wurde mir zur obersten Pflicht gemacht. Ganz besonders wurde ich immer darauf hingewiesen, daß ich Wünsche oder Anordnungen der Eltern, der Lehrer, Pfarrer usw., ja aller Erwachsenen bis zum Dienstpersonal unverzüglich durchzuführen bzw. zu befolgen hätte und mich durch nichts davon abhalten lassen dürfe. Was diese sagten, sei immer recht. Diese Erziehungsgrundsätze sind mir in Fleisch und Blut übergegangen. -- R. Höss, 1979, S. 25
Wenn nun die Obrigkeit verlangte, daß man als Leiter der Todesmaschinerie in Auschwitz funktionierte, wie hätte sich Höss dem entgegensetzen können? Und auch später, nach seiner Verhaftung, als man ihm den Auftrag erteilte, über sein Leben zu berichten, hat er diesen Auftrag nicht nur treu und gewissenhaft ausgeführt, sondern auch seine Dankbarkeit für die Verkürzung der Gefängniszeit (»mit der interessanten Beschäftigung«) brav zum Ausdruck gebracht. Diesem Bericht verdankt die Welt einen tiefen Einblick in die Vorgeschichte eines unfaßbaren, tausendfachen Verbrechens.
Die ersten Erinnerungen Rudolf Höss' berichten von einem Waschzwang in seiner Kindheit, in dem er sich wahrscheinlich von allem zu befreien versuchte, was seine Eltern in ihm als unrein oder schmutzig empfanden. Da er bei den Eltern keine Zärtlichkeit fand, suchte er sie bei den Tieren, um so mehr als diese vom Vater nicht wie er geschlagen wurden und somit in der Rangordnung höher als die Kinder standen.
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Ähnliche Wertvorstellungen finden sich bei Heinrich Himmler. Er sagt z.B.
Wie können Sie nur ein Vergnügen daran haben, auf die armen Tiere, die so unschuldig, wehrlos und ahnungslos am Waldrand äsen, aus dem Hinterhalt zu schießen, Herr Kersten. Denn es ist, richtig gesehen, reiner Mord ..... Die Natur ist so wunderschön, und jedes Tier hat schließlich auch ein Recht zu leben. (J. Fest, 1963, S. 169)
Und der gleiche Himmler sagt auch folgendes:
Ein Grundsatz muß für den SS-Mann absolut gelten: Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht.
Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur soweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh oder herzlos sein, wo es nicht sein muß; das ist klar. Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen und ihnen Ideale zu bringen ..... (J. Fest, 1963, S. 161 f.).
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Himmler war, ähnlich wie Höss, ein beinahe perfektes Produkt seines Vaters, der ein Berufserzieher war. Auch Heinrich Himmler träumte davon, Menschen und Völker zu erziehen. Fest schreibt:
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Der Medizinalrat Felix Kersten, der ihn seit dem Jahre 1939 laufend behandelt hat und eine Art Vertrauensstellung besaß, hat behauptet, Himmler hätte selbst die Fremdvölker lieber erzogen als ausgerottet, und während des Krieges schwärmte er, im Gedanken an die Friedenszeit, von seiner Aufgabe, militärische Einheiten aufzustellen, die »ausgebildet sind und erzogen sind, wo wieder erzogen, erzogen wird«. (S. 163)
Im Gegensatz zu Rudolf Höss, dessen Erziehung zum blinden Gehorsam so vollkommen erfolgreich war, ist es Himmler offenbar nicht ganz gelungen, die an ihn gestellten Forderungen an innerer Härte zu erfüllen. Joachim Fest interpretiert sehr überzeugend Himmlers Greueltaten als einen dauernden Versuch, sich selber und der Welt seine Härte doch noch unter Beweis stellen zu können. Er meint:
In der heillosen Konfusion aller Maßstäbe, wie sie sich unter dem Einfluß der Maximen totalitärer Sittlichkeit einstellt, erhielt die den Opfern gegenüber praktizierte Härte ihr Recht gerade daher, daß sie die Härte gegenüber sich selbst voraussetzte. »Hart zu sein gegen uns und andere, den Tod zu geben und zu nehmen«, lautete eine der von Himmler wiederholt apostrophierten Devisen der SS: weil das Morden schwerfiel, war es gut und gerechtfertigt. Aus dem gleichen Grunde hat er immer wieder stolz und wie auf ein »Ruhmesblatt« darauf verweisen können, daß der Orden an seiner mörderischen Aktivität »keinen Schaden im Innern« genommen habe und »anständig« geblieben sei (S. 167).
Hören wir in diesen Worten nicht die Prinzipien der »Schwarzen Pädagogik«, die Vergewaltigung der Regungen der kindlichen Seele?
Das sind nur drei Beispiele aus der unendlichen Zahl von Menschen, die eine ähnliche Laufbahn eingeschlagen und ohne jeden Zweifel eine sogenannte gute, strenge Erziehung genossen haben. Die totale Unterwerfung der Kinder unter den Willen der Erwachsenen wirkte sich nicht erst in der späteren politischen Hörigkeit aus (z.B. im totalitären System des Dritten Reiches), sondern vorher schon in der inneren Bereitschaft zur neuen Unterwerfung, sobald der Jugendliche aus dem Haus kam.
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Wie sollte jemand, der nichts anderes in sich entwickeln durfte, als den Befehlen anderer zu gehorchen, mit dieser inneren Leere selbständig leben können? Das Militär war wohl die beste Möglichkeit, sich weiter vorschreiben zu lassen, was man zu tun hatte. Wenn nun einer wie Adolf Hitler kam und wie einst der Vater behauptete, genau zu wissen, was für die anderen gut, richtig und notwendig sei, da muß man sich nicht wundern, daß so viele mit ihrer Sehnsucht nach Unterwerfung diesem Hitler zugejubelt und ihm geholfen haben, zur Macht zu kommen. Endlich hatten diese jungen Menschen eine Fortsetzung ihrer Vaterfigur gefunden, ohne die sie nicht fähig waren zu leben.
Im Buch von Joachim Fest (Das Gesicht des Dritten Reiches, 1-1963) kann man nachlesen, mit welcher Unterwürfigkeit, Kritiklosigkeit und nahezu kleinkindlicher Naivität die später berühmt gewordenen Männer über die Allwissenheit, Unfehlbarkeit, und Göttlichkeit von Adolf Hitler gesprochen haben. So sieht ein kleines Kind seinen Vater. Und aus diesem Stadium sind diese Männer nie herausgekommen. Ich zitiere einige Stellen, weil es für die heutige Generation ohne diese Zitate wohl kaum vorstellbar ist, wie wenig inneren Halt diese Menschen besaßen, die später deutsche Geschichte machen sollten:
Hermann Göring meinte:
Wenn der katholische Christ überzeugt ist, daß der Papst in allen religiösen und sittlichen Dingen unfehlbar sei, so erklären wir Nationalsozialisten mit der gleichen innersten Überzeugung, daß auch für uns der Führer in allen politischen und sonstigen Dingen, die das nationale und soziale Interesse des Volkes angehen, glattweg unfehlbar ist... Es ist für Deutschland zum Segen geworden, daß in Hitler die seltene Vereinigung stattgefunden hat zwischen dem schärfsten logischen Denker und wahrhaft tiefgründigen Philosophen und dem eisernen Tatmenschen, zäh bis zum äußersten. (S. 108)
Oder:
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Wer nur irgend die Verhältnisse bei uns kennt, ...... weiß, daß jeder von uns genau so viel Macht besitzt, als der Führer ihm zu geben wünscht. Und nur mit dem Führer und hinter ihm stehend ist man tatsächlich mächtig und hält die starken Machtmittel des Staates in der Hand, aber gegen seinen Willen, ja auch nur ohne seinen Wunsch, wäre man im gleichen Augenblick vollständig machtlos. Ein Wort des Führers und jeder stürzt, den er beseitigt zu sehen wünscht. Sein Ansehen, seine Autorität sind grenzenlos .... (S. 109).
Das ist real die Situation eines kleinen Kindes neben seinem autoritären Vater, die hier beschrieben wird. Göring gab offen zu:
Nicht ich lebe, sondern Hitler lebt in mir..... Jedesmal, wenn ich ihm (Hitler) gegenüberstehe, fällt mir das Herz in die Hosen...... Ich konnte oft erst gegen Mitternacht wieder etwas essen, da ich mich sonst in meiner Erregung hätte erbrechen müssen. Wenn ich gegen 9 Uhr nach Karinhall zurückgekommen war, mußte ich tatsächlich erst einige Stunden im Stuhl sitzen, um mich wieder zu beruhigen. Dieses Verhältnis ist für mich geradezu seelische Prostitution gewesen....... (S.108).
In Rudolf Hess' Rede vom 30. Juni 1934 wird diese Haltung ebenfalls offen zugegeben, ohne daß der Redner durch Gefühle von Scham oder Unbehagen daran gehindert worden wäre — ein Phänomen, das wir uns heute, 46 Jahre später, kaum vorstellen können. In dieser Rede heißt es:
Mit Stolz sehen wir: Einer bleibt von aller Kritik ausgeschlossen, das ist der Führer. Das kommt daher, daß jeder fühlt und weiß: Er hat immer recht, und er wird immer recht haben. In der kritiklosen Treue, in der Hingabe an den Führer, die nach dem Warum im Einzelfalle nicht fragt, in der stillschweigenden Ausführung seiner Befehle liegt unser aller Nationalsozialismus verankert. Wir glauben daran, daß der Führer einer höheren Berufung zur Gestaltung deutschen Schicksals folgt. An diesem Glauben gibt es keine Kritik. (S. 260)
Dazu bemerkt Joachim Fest:
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In seinem unbalancierten Verhältnis zur Autorität gleicht Hess auffallend vielen führenden Nationalsozialisten, die wie er aus sogenannten strengen Elternhäusern stammten. Es spricht denn auch einiges dafür, daß Hitler beträchtlich von den Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog.
In der eigentümlichen Mischung aus Aggressivität und hündischer Geducktheit, wie sie doch für den Typus des Alten Kämpfers vielfach bezeichnend war, aber auch der inneren Unselbständigkeit und Befehlsabhängigkeit, kamen nicht zuletzt die Fixierungen auf die Kommandowelt zum Vorschein, die der bestimmende Erfahrungshintergrund ihrer frühen Entwicklung war.
Was immer in dem jungen Rudolf Hess an verborgenen Gefühlen der Auflehnung gegen jenen Vater lebendig war, der seine Macht zum letzten Male nachdrücklich demonstriert hatte, als er den Sohn, ohne Rücksicht auf dessen Wünsche und die Intervention der Lehrer, nicht studieren ließ, sondern die kaufmännische Vorbereitung auf die Übernahme des eigenen Unternehmens in Alexandria erzwang — der immer wieder gebrochene Wille suchte sich von nun an Vater und Vaterersatz, wo immer er ihn fand: Man muß Führer wollen! (S. 260)
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Wenn Ausländer Adolf Hitlers Auftritte in den Wochenschauen beobachtet haben, konnten sie den Jubel und die Wahlen von 1933 nie begreifen. Sie hatten es leicht, seine menschlichen Schwächen, seine aufgesetzte, künstliche Sicherheit, seine unwahren Argumente zu durchschauen: Er ist nicht wie ihr Vater zu ihnen gekommen. Für die Deutschen aber war das viel schwieriger. Die negativen Seiten des Vaters kann ein Kind nicht registrieren, und doch sind sie irgendwo gespeichert, denn der Erwachsene wird sich gerade von diesen negativen, verleugneten Seiten in seinen Vatersubstituten angezogen fühlen. Ein Außenstehender hat Mühe, das zu verstehen.
Wir fragen uns oft, wie eine Ehe bestehen kann, wie z.B. diese Frau mit diesem Mann zusammenleben kann oder umgekehrt. Möglicherweise hält diese Frau dieses Zusammenleben nur unter größten Qualen aus, nur unter der Aufgabe ihrer Lebendigkeit. Aber sie meint, aus Angst sterben zu müssen, falls ihr Mann sie verlassen sollte.
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Real wäre eine solche Trennung vermutlich die große Chance ihres Lebens. Sie kann sie aber gar nicht wahrnehmen, solange sie mit diesem Mann die ins Unbewußte verdrängten frühen Qualen mit ihrem Vater wiederholen muß. So erlebt sie in Gedanken daran, von diesem Mann verlassen zu werden, nicht die gegenwärtige Situation, sondern ihre frühkindlichen Verlassenheitsängste und die Zeit, als sie tatsächlich auf diesen Vater angewiesen war. Ich denke hier ganz konkret an eine Frau, die als Tochter eines Musikers aufgewachsen war, der ihr zwar die verstorbene Mutter ersetzte, aber häufig plötzlich verschwand, wenn er auf Tourneen ging. Sie war damals viel zu klein, um diese plötzlichen Trennungen ohne Panik durchzustehen. In der Analyse wußten wir das längere Zeit, aber die Ängste, von ihrem Mann verlassen zu werden, ließen erst nach, als auch die andere, die brutale und grausame Seite ihres Vaters neben der liebevollen und zärtlichen aus ihrem Unbewußten mit Hilfe von Träumen auftauchte. Der Konfrontation mit diesem Wissen verdankt sie ihre innere Befreiung und die nun mögliche Entwicklung zur Autonomie.
Ich habe dieses Beispiel gebracht, weil es Mechanismen aufzeigt, die möglicherweise bei den Wahlen 1933 wirksam waren. Der Jubel für Hitler ist nicht nur aus seinen Versprechen verständlich (wer macht vor den Wahlen keine Versprechen?), nicht aus ihrem Inhalt, sondern aus der Form der Darbietung. Es war gerade die theatralische, ja für einen Fremden lächerliche Gestik, die den Massen so gut vertraut war und deshalb mit einer solchen Suggestivkraft auf sie wirkte.
Unter dieser Suggestion steht jedes kleine Kind, wenn sein großer, bewunderter, geliebter Vater mit ihm redet. Was er dann sagen mag, spielt keine Rolle. Wichtig ist, wie er redet. Je größer er sich aufbaut, um so mehr wird er bewundert, vor allem bei einem Kind, das nach den Prinzipien der »Schwarzen Pädagogik« erzogen wurde.
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Wenn der strenge, unzugängliche, ferne Vater sich einmal herabläßt, mit dem Kind zu reden, dann ist es ohne Zweifel ein großes Fest, und alle Opfer an Selbstaufgabe sind nicht groß genug, um diese Ehre zu verdienen. Daß dieser Vater u.U. machtsüchtig, unehrlich und im Grunde unsicher sein könnte, dieser große gewaltige Mann, das kann ein gut erzogenes Kind niemals durchschauen. Und so geht es weiter; ein solches Kind kann in dieser Beziehung nichts dazulernen, weil seine Lernfähigkeit durch den früh erworbenen Gehorsam und die Unterdrückung der eigenen Gefühle blockiert ist.
Der Nimbus des Vaters wird oft von Attributen, genährt (wie Weisheit, Güte, Mut), die ihm fehlen, aber auch von solchen, die jeder Vater (in der Perspektive seiner Kinder) zweifellos besitzt: Einzigartigkeit, Größe, Bedeutsamkeit und Macht. Mißbraucht der Vater seine Macht, indem er beim Kind die Fähigkeit zur Kritik unterdrückt, dann werden seine Schwächen hinter diesen festen Attributen verborgen bleiben. Er könnte seinen Kindern ähnlich wie Adolf Hitler seinen Zeitgenossen allen Ernstes zurufen: »Welch Glück, daß Ihr mich habt!«
Wenn man sich das vor Augen hält, verliert Hitlers legendärer Einfluß auf die Männer seiner Umgebung die Qualität der Rätselhaftigkeit. Zwei Stellen aus dem Buch von Hermann Rauschning (1973) können das illustrieren:
Gerhart Hauptmann wurde vorgestellt. Der Führer schüttelte seine Hand. Er sah ihm in die Augen. Es war der bekannte Blick, der alle schauern macht, der Blick, von dem ein alter hoher Jurist einmal sagte, er hätte darnach nur einen Wunsch gehabt, zu Hause zu sein, um in Einsamkeit mit diesem Erlebnis fertig werden zu können. Hitler schüttelte noch einmal die Hand Hauptmanns. Jetzt, dachten die Umstehenden, jetzt wird das große Wort kommen, das in die Geschichte eingehen wird. Jetzt — dachte Gerhart Hauptmann. Und der Führer des Deutschen Reiches schüttelte zum dritten Mal und mit Nachdruck die Hand des großen Dichters und ging zum Nebenmann. Es sei der größte Augenblick seines Lebens gewesen, sagte Gerhart Hauptmann später zu seinen Freunden. (S. 274)
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Rauschning berichtet weiter:
Ich habe wiederholt das Geständnis gehört, man fürchte sich vor ihm, man gehe — als erwachsener Mensch — nicht ohne Herzklopfen zu ihm. Man habe das Gefühl: der Mensch springe einem plötzlich an den Hals und erwürge einen, oder werfe mit dem Tintenfaß oder begehe sonst eine sinnlose Tat. Es ist sehr viel unehrliche Begeisterung mit falschem Augenaufschlag, sehr viel Selbstbetrug hinter diesen Redereien von dem großen Erlebnis. Die meisten Besucher wollen dieses Erlebnis haben. Aber diese Besucher, die sich nicht eingestehen wollten, enttäuscht zu sein, kamen doch, wenn man sie näher beklopfte, allmählich mit der Sprache heraus. Ja, eigentlich, so recht etwas gesagt habe er nicht. Nein, bedeutend sehe er nicht aus. Das könne man nicht behaupten. Warum also sich etwas vormachen? Ja, bei Lichte besehen, sei es doch ein ziemlich gewöhnlicher Mensch. Der Nimbus, das ist alles der Nimbus (S. 275).
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Wenn also ein Mann daherkommt und ähnlich redet, sich ähnlich gebärdet wie der eigene Vater, dann wird auch der Erwachsene seine demokratischen Rechte vergessen oder sie nicht wahrnehmen, wird sich diesem Mann unterwerfen, ihm zujubeln, sich von ihm manipulieren lassen, ihm sein Vertrauen gewähren, schließlich sich ihm vollständig ausliefern und die Sklaverei nicht merken, wie man alles nicht merkt, was die Fortsetzung der eigenen Kindheit bedeutet. Wenn man sich aber von jemandem so abhängig macht, wie man es als kleines Kind von seinen Eltern war, so gibt es kein Entrinnen mehr. Das Kind kann nicht davonlaufen, und der Bürger eines totalitären Regimes kann sich nicht freimachen. Das einzige, was einem als Ventil bleibt, ist die Erziehung der eigenen Kinder. Und so mußten die unfreien Bürger des Dritten Reiches auch ihre Kinder zu unfreien Menschen erziehen, um irgendwo doch noch ihre eigene Macht zu spüren.
Aber diese Kinder, die jetzt selber Eltern sind, hatten auch andere Möglichkeiten. Viele von ihnen haben die Gefahren der Erziehungsideologie erkannt und suchen mit sehr viel Mut und Einsatz neue Wege für sich und ihre Kinder.
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Einige, vor allem die Dichter, haben den Weg zum kindlichen Erlebnis der Wahrheit gefunden, der den früheren Generationen versperrt war. So schreibt z.B. Brigitte Schwaiger:
Ich höre Vaters Stimme, er ruft meinen Vornamen. Er will etwas von mir. Weit weg ist er, in einem anderen Zimmer. Und will etwas von mir, daher gibt es mich. Er geht an mir vorbei, ohne etwas zu sagen. Überflüssig bin ich. Mich sollte es nicht geben (Schwaiger, 1980, S. 27).
Wenn du deine Hauptmannsuniform aus dem Krieg daheim getragen hättest von Anfang an, dann wäre vielleicht vieles deutlicher gewesen. — Ein Vater, ein richtiger Vater, ist einer, den man nicht umarmen darf, dem man antworten muß, auch wenn er zum fünften Mal dasselbe fragt und es aussieht, als frage er zum fünften Mal, um sich zu vergewissern, ob die Töchter auch willig sind, stets zu antworten, ein Vater, der einem das Wort abschneiden darf (ebd., S. 24 f.).
Sobald die Kinderaugen das Machtspiel der Erziehung durchschauen dürfen, besteht Hoffnung auf eine Befreiung aus dem Panzer der »Schwarzen Pädagogik«, denn diese Kinder werden mit Erinnerungen leben.
Wo Gefühle zugelassen werden, bricht das Schweigen zusammen, und der Einzug der Wahrheit kann nicht mehr aufgehalten werden. Auch intellektuelle Diskussionen darüber, ob es »überhaupt eine Wahrheit gebe«, ob nicht »alles relativ sei« usw., werden in ihrer Schutzfunktion durchschaut, sobald der Schmerz die Wahrheit entdeckt hat.
Ein deutliches Beispiel dafür fand ich in Christoph Meckels Darstellung seines Vaters (Suchbild, 1980).
Im erwachsenen Menschen steckt ein Kind, das will spielen. Es steckt in ihm ein Befehlshaber, der will strafen. In meinem erwachsenen Vater steckte ein Kind, das mit den Kindern Himmel auf Erden spielte. Es klebte in ihm eine Sorte Offizier, die bestrafen wollte im Namen der Disziplin. Nutzlose Affenliebe des glücklichen Vaters. Hinter dem Verschwender von Zuckerbroten kam ein Offizier mit der Peitsche daher.
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Der hielt für seine Kinder Strafen bereit. Der beherrschte so etwas wie ein System von Strafen, ein ganzes Register. Zu Anfang gab es Schelte und Wutausbruch — das war erträglich und ging wie der Donner vorbei. Dann kam das Ziehen, Drehen und Kneifen am Ohr, die Ohrfeige und der berühmte Katzenkopf.
Es folgte die Verbannung aus dem Zimmer, danach das Fortgesperrtsein ins Kellerloch. Und weiter: die Kindsperson wurde ignoriert, durch strafendes Schweigen gedemütigt und beschämt. Es wurde zu Besorgungen mißbraucht, ins Bett verurteilt oder zum Kohleschleppen abkommandiert. Zum Schluß, als Mahnmal und Höhepunkt, erfolgte die Strafe, die Strafe schlechthin, die exemplarische Bestrafung. Das war die Strafe des Vaters, die ihm vorbehaltene, eisern gehandhabte Maßnahme. Im Sinn von Ordnung, Gehorsam und Menschlichkeit, damit Recht geschähe und das Recht sich dem Kind einpräge, wurde die Prügelstrafe angesetzt. Die Sorte Offizier griff zum Tatzenstock und ging schon mal in den Keller voraus. Ihm folgte, wenig schuldbewußt, das Kind. Es hatte die Hände auszustrecken (Handflächen nach oben) oder sich über die Knie des Vaters zu beugen. Die Prügel erfolgten gnadenlos und präzis, laut oder leise gezählt, und ohne Bewährung. Die Sorte Offizier äußerte ihr Bedauern, zu dieser Maßnahme gezwungen zu sein, behauptete, darunter zu leiden, und litt darunter. Auf den Schock der Maßnahme folgte das lange Entsetzen: der Offizier verordnete Heiterkeit. Mit betonter Heiterkeit ging er voraus, gab ein gutes Beispiel in dicker Luft und war gereizt, wenn das Kind von der Heiterkeit nichts wissen wollte. An mehreren Tagen, jeweils vor dem Frühstück, wurde die Strafe im Keller wiederholt. Sie wurde zum Ritual und die Heiterkeit zur Schikane.
Für den Rest des Tages hatte die Strafe vergessen zu sein. Von Schuld und Sühne wurde nicht gesprochen, und Recht und Unrecht lagen auf hoher Kante. Die Heiterkeit der Kinder blieb aus. Kalkweiß, sprachlos oder heimlich weinend, tapfer, trübe, verbissen und bitter ratlos steckten sie — nachts noch — in der Gerechtigkeit fest. Die prasselte nieder und hatte den letzten Schlag, die hatte das letzte Wort aus dem Mund des Vaters. Die Sorte Offizier strafte noch im Urlaub und war deprimiert, wenn sein Kind ihn fragte, ob er nicht wieder wegwolle in den Krieg
(S. 55-57).
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Ohne Zweifel wird hier schmerzhaft erlittene Erfahrung dargestellt; zumindest die subjektive Wahrheit offenbart sich in jedem der oben zitierten Sätze. Wer an ihren objektiven Gehalt nicht glaubt, weil er die Tatsachen zu ungeheuerlich findet, müßte nur in den Ratschlägen der »Schwarzen Pädagogik« nachlesen, um sich dessen zu vergewissern. Es gibt ausgeklügelte analytische Theorien,, nach denen es möglich ist, die Wahrnehmungen des Kindes, wie sie Christoph Meckel hier schildert, mit vollem Ernst als Projektionen seiner »aggressiven oder homosexuellen Wünsche« zu sehen und die hier dargestellte Realität als Ausdruck der kindlichen Phantasie zu interpretieren. Ein durch die »Schwarze Pädagogik« in seinen Wahrnehmungen verunsichertes Kind läßt sich später als Erwachsener leicht durch solche Theorien zusätzlich verunsichern und beherrschen, auch wenn diese seinen Erfahrungen kraß widersprechen.
Deshalb ist es jedesmal ein Wunder, wenn Darstellungen wie die von Christoph Meckel möglich sind, trotz der »guten Erziehung«, die er genossen hat. Vielleicht verdankt er diese Möglichkeit der Tatsache, daß seine Erziehung, zumindest väterlicherseits, für einige Jahre des Krieges und der Gefangenschaft unterbrochen wurde. Menschen, die kontinuierlich ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch so behandelt wurden, werden kaum so aufrichtig über ihre Väter schreiben können, weil sie in den entscheidenden Jahren täglich lernen mußten, das Erlebnis der Schmerzen, die zur Wahrheit führen, abzuwehren. Sie werden an der Wahrheit ihrer Kindheit zweifeln und werden sich Theorien zu eigen machen, denen zufolge das Kind nicht Opfer der Projektionen des Erwachsenen, sondern das alleinprojizierende Subjekt ist.
Das plötzliche Dreinschlagen eines wütenden Menschen ist meistens der Ausdruck einer tiefen Verzweiflung, aber die Ideologie des Schiagens und der Glaube, daß das Schlagen unschädlich sei, haben die Funktion, die Folgen der Tat zu verdecken und sie unkenntlich zu machen; die Abstumpfung des Kindes gegen Schmerzen führt nämlich dazu, daß ihm sein Leben lang der Zugang zu seiner Wahrheit verwehrt bleibt. Nur erlebte Gefühle wären stärker als dieser Torhüter, aber gerade diese dürfen nicht sein....
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Der Hauptmechanismus der »Schwarzen Pädagogik«:
Abspaltung und ProjektionIm Jahre 1943 hielt Himmler seine berühmte »Posener Rede«, in der er im Namen des deutschen Volkes den SS-Truppen seine Anerkennung für die vollzogene Vernichtung der Juden zum Ausdruck brachte. Ich zitiere den Teil der Rede, der mir geholfen hat, 1979 schließlich ein Geschehen zu begreifen, um dessen psychologische Erklärung ich mich seit dreißig Jahren vergeblich bemüht hatte:
Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden .... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des Jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht — »Das jüdische Volk wird ausgerottet«, sagt ein jeder Parteigenosse, »ganz klar, steht in unserem Programm. Ausschaltung der Juden. Ausrottung, machen wir.« Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei — abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen — anständiggeblieben zu sein, das hat uns hartgemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte . ... Die Reichtümer, die sie hatten, haben wir ihnen abgenommen. Ich habe einen strikten Befehl gegeben, .....daß diese Reichtümer selbstverständlich restlos an das Reich abgeführt wurden.
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Wir haben uns nichts davon genommen. Einzelne, die sich verfehlt haben, werden gemäß einem von mir zu Anfang gegebenen Befehl bestraft, der androhte: Wer sich auch nur eine Mark davon nimmt, der ist des Todes. Eine Anzahl SS-Männer — es sind nicht sehr viele — haben sich dagegen verfehlt, und sie werden des Todes sein, gnadenlos. Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder mit sonst etwas zu bereichern. Wir wollen nicht am Schluß, weil wir einen Bacillus ausrotteten, an dem Bacillus krank werden und sterben. Ich werde niemals zusehen, daß hier auch nur eine kleine Fäulnisstelle entsteht oder sich festsetzt. Wo sie sich bilden sollte, werden wir sie gemeinsam ausbrennen. Insgesamt aber können wir sagen, daß wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk erfüllt haben. Und wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen.
(J. Fest, 1963, S. 162 und 166)
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Diese Rede enthält alle Elemente des komplizierten psychodynamischen Mechanismus, den man mit Abspaltung und Projektion der Selbstteile umschreiben kann und dem wir in den Schriften der »Schwarzen Pädagogik« so oft begegnet sind. Die Erziehung zur sinnlosen Härte macht es notwendig, daß alles Schwache (d.h. auch Emotionalität, Tränen, Mitleid, Einfühlung in sich und andere, Gefühle von Ohnmacht, Angst, Verzweiflung) »gnadenlos« im Selbst niedergekämpft werden muß.
Um diesen Kampf gegen das Menschliche im eigenen Innern zu erleichtern, wurde den Bürgern im Dritten Reich ein Objekt als Träger aller dieser verabscheuten (weil in der eigenen Kindheit verbotenen und gefährlichen) Eigenschaften angeboten — das jüdische Volk. Ein sogenannter »Arier« konnte sich rein, stark, hart, klar, gut, eindeutig und moralisch in Ordnung fühlen, von den »bösen«, weil schwachen und unkontrollierten Gefühlsregungen befreit, wenn alles, was er seit seiner Kindheit in seinem Innern befürchtete, den Juden zugeschrieben und bei ihnen unerbittlich und immer aufs Neue kollektiv bekämpft werden mußte und durfte.
Es scheint mir, daß wir immer noch von der Möglichkeit eines ähnlichen Verbrechens umgeben sind, solange wir seine Gründe und seinen psychologischen Mechanismus nicht verstanden haben.
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Je mehr ich in der analytischen Arbeit Einblick in die Dynamik der Perversion bekam, um so fraglicher erschien mir die seit Kriegsende immer wieder vertretene Ansicht, Holocaust sei das Werk von einigen Perversen gewesen. Die für die perversen Erkrankungen spezifischen Merkmale, wie Isolierung, Einsamkeit, Scham und Verzweiflung fehlten eben vollständig bei den Massenmördern: diese waren nicht isoliert, sondern aufgehoben in der Gruppe; sie haben sich nicht geschämt, sondern waren stolz, sie waren nicht verzweifelt, sondern euphorisch oder stumpf.
Die andere Erklärung, daß es sich nämlich um autoritätsgläubige Menschen handelte, die gewohnt waren zu gehorchen, ist nicht falsch, aber sie reicht nicht aus, um ein Phänomen wie Holocaust zu erklären, falls wir unter Gehorsam das Ausführen von Befehlen verstehen, die bewußt als aufgezwungen erlebt werden. Fühlende Menschen lassen sich nicht über Nacht zu Massenmördern umfunktionieren. Aber bei der Ausführung der »Endlösung« handelte es sich um Männer und Frauen, denen ihre eigenen Gefühle nicht im Wege standen, weil sie vom Säuglingsalter an dazu erzogen worden waren, keine eigenen Gefühlsregungen zu spüren, sondern die Wünsche der Eltern als die eigenen zu erleben. Es handelte sich um ehemalige Kinder, die stolz waren, hart zu sein und nicht zu weinen, mit »Freude« alle Pflichten zu erfüllen, keine Angst zu empfinden, d. h. im Grunde: kein Innenleben zu haben.
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Unter dem Titel Wunschloses Unglück beschreibt Peter Handke seine Mutter, die im Alter von 51 Jahren Suizid begangen hat. Das Mitleid mit der Mutter und das Verständnis für sie durchziehen das ganze Buch wie ein roter Faden und machen es dem Leser begreiflich, warum dieser Sohn in all seinen Werken die »wahren Empfindungen« (der Titel einer anderen Erzählung) so verzweifelt suchen muß. Irgendwo auf dem Friedhof seiner Kindheit mußten die Wurzeln dieser Empfindungen begraben worden sein, um die gefährdete Mutter in der gefährdeten Zeit zu schonen.
Mit folgenden Worten schildert Handke die Atmosphäre des Dorfes, in dem er aufgewachsen ist:
Es gab nichts von einem selber zu erzählen; auch in der Kirche bei der Osterbeichte, wo wenigstens einmal im Jahr etwas von einem selber zu Wort kommen konnte, wurden nur die Stichworte aus dem Katechismus hingemurmelt, in denen das Ich einem wahrhaftig fremder als ein Stück vom Mond erschien. Wenn jemand von sich redete und nicht einfach schnurrig etwas erzählte, nannte man ihn »eigen«. Das persönliche Schicksal, wenn es sich überhaupt jemals als etwas Eigenes entwickelt hatte, wurde bis auf Traumreste entpersönlicht und ausgezehrt in den Riten der Religion, des Brauchtums und der guten Sitten, so daß von den Individuen kaum etwas Menschliches übrigblieb; »Individuum« war auch nur bekannt als ein Schimpfwort. Spontan zu leben - das hieß schon, eine Art von Unwesen treiben.
Um eine eigene Geschichte und eigene Gefühle betrogen, fing man mit der Zeit, wie man sonst von Haustieren, zum Beispiel Pferden, sagte, zu »fremdeln« an; man wurde scheu und redete kaum mehr, oder wurde ein bißchen verdreht und schrie in den Häusern herum (P. Handke, 1975, S. 51 und 52).
Das Ideal der Gefühllosigkeit findet bei vielen Autoren bis ca. 1975 und in der geometrischen Richtung der Malerei seinen Niederschlag. In Karin Strucks spezifischer Sprache heißt es:
Dietger kann nicht weinen. Vom Tod seiner Oma sei er erschüttert gewesen, die Oma habe er intensiv geliebt. Von der Beerdigung kommend, habe er gesagt, ich überlege mir, ob ich mir einige Tränen abquetschen soll, abquetschen hat er gesagt. . . Dietger sagt, ich brauche keine Träume. Dietger ist stolz darauf, daß er nicht träumt. Er sagt: ich träume nie, ich habe einen gesunden Schlaf. Jutta sagt, Dietger leugnet seine unbewußten Wahrnehmungen und Gefühle wie seine Träume (K. Struck, 1973, S. 279).
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Dietger ist ein Nachkriegskind. Und wie fühlten Dietgers Eltern? Darüber gibt es wenige Zeugnisse, weil diese Generation ihre wahren Gefühle noch weniger als die heutige artikulieren durfte. Christoph Meckel zitiert in seinem <Suchbild> Aufzeichnungen seines Vaters, eines liberalen Dichters und Schriftstellers aus dem letzten Weltkrieg:
Im Abteil eine Frau, ... sie erzählt. . . von den ... Geschäftsmethoden der Deutschen allenthalben in der Verwaltung. Bestechungen, Überpreise und dergleichen mehr, vom KZ in Auschwitz usw. — Als Soldat ist man doch sofern dieser Dinge, die einen im Grunde auch gar nicht interessieren; man steht für ein ganz anderes Deutschland draußen und will später im Kriege sich nicht bereichert haben, sondern ein sauberes Empfinden besitzen. Ich habe nur Verachtung für diesen zivilen Unrat. Man ist vielleicht dumm, aber Soldaten sind ja stets die Dummen, die es bezahlen müssen. Dafür haben wir aber eine Ehre, die uns keiner raubt (24. 1. 44).
Auf einem Umweg zum Mittagessen Zeuge der Erschießung von 28 Polen, die öffentlich an der Böschung eines Sportplatzes vor sich geht. Tausende umsäumen Straßen und Ufer des Flusses. Ein wüster Leichenhaufen, in allem Schauerlichen und Unschönen jedoch ein Anblick, der mich äußerst kalt läßt. Die Erschossenen hatten zwei Soldaten und einen Reichsdeutschen überfallen und erschlagen. Muster eines Volksschauspiels der neuen Zeit (27. 1. 44).
Ist das Gefühl einmal ausgeschaltet, so funktioniert der hörige Mensch tadellos und zuverlässig auch da, wo er keine Kontrolle von außen befürchten müßte:
Einen Oberst, der etwas von mir will, lasse ich kommen, und so klettert er aus dem Wagen und kommt heran. Er beklagt sich mit Hilfe eines radebrechenden Oberleutnants, daß es nicht gut sei, sie fünf Tage fast ohne Brot zu lassen. Ich entgegne, es sei nicht gut, ein Badogliohöriger Offizier zu sein und bin sehr kurz. Einer anderen Gruppe von angeblich faschistischen Offizieren, die mir alle möglichen Papiere entgegenhalten, lasse ich den Wagen heizen und bin höflicher (27.10.43; Chr. Meckel, 1980, S. 62 und 63).
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Diese perfekte Anpassung an die Normen der Gesellschaft, also an das, was man als »gesunde Normalität« bezeichnet, birgt in sich die Gefahr, daß ein solcher Mensch zu vielem gebraucht werden kann. Nicht ein Verlust von Autonomie tritt hier ein, weil es diese Autonomie nie gegeben hat, sondern ein Auswechseln der Werte, die ja im einzelnen für den Betreffenden ohnehin ohne Bedeutung sind, solange das Prinzip des Gehorsams das ganze Wertsystem beherrscht. Es blieb bei der Idealisierung der fordernden Eltern, die ja leicht auf den Führer oder auf die Ideologie übertragen werden kann. Da die fordernden Eltern immer recht haben, muß man sich nicht darüber im einzelnen den Kopf zerbrechen, ob das von ihnen Geforderte auch richtig ist. Und wie soll das auch beurteilt werden, woher sollen die Maßstäbe jetzt vorhanden sein, wenn man sich immer sagen ließ, was recht und unrecht war, wenn man keine Gelegenheit bekam, Erfahrungen mit eigenen Gefühlen zu machen, und darüber hinaus Ansätze zur Kritik, die die Eltern nicht ertrugen, lebensgefährlich waren? Hat der Erwachsene nichts Eigenes aufgebaut, dann erlebt er sich in der gleichen Art auf Gedeih und Verderb der Obrigkeit ausgeliefert, wie der Säugling bei den Eltern; ein »Nein« den Mächtigeren gegenüber erscheint ihm für immer lebensgefährlich.
Zeugen von plötzlichen politischen Umstürzen berichten immer wieder, mit welch erstaunlicher Leichtigkeit sich viele Menschen an die neue Situation anpassen können. Sie können über Nacht Überzeugungen vertreten, die mit den gestrigen im völligen Widerspruch stehen — ohne sich daran zu stoßen. Das Gestern ist für sie mit dem Machtwechsel völlig ausgelöscht.
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Und doch — auch wenn diese Beobachtung für viele, vielleicht sogar für die meisten Menschen zutreffen sollte, so gilt sie nicht für alle. Es gab immer einzelne Menschen, die sich nicht so schnell oder nie umfunktionieren ließen. Mit unserem psychoanalytischen Wissen könnten wir versuchen, der Frage nachzugehen, was diese wichtige und so schwerwiegende Differenz ausmacht, das hieße herauszufinden, was die einen Menschen für Führer- und Gruppendiktate so außerordentlich anfällig und was die anderen dagegen immun macht.
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Wir bewundern Menschen, die in totalitären Staaten Widerstand leisten, und denken: die haben Mut oder eine »feste Moral« oder sind »ihren Prinzipien treu« geblieben oder ähnlich. Wir können sie auch als naiv belächeln und finden: »Merken die nicht, daß ihre Worte gegen diese erdrückende Macht gar nichts nützen werden? Daß sie ihr Aufbegehren teuer werden büßen müssen?« Aber möglicherweise sehen beide, sowohl der Bewundernde als auch der Verachtende, am Eigentlichen vorbei: Der Einzelne, der seine Anpassung im totalitären Regime verweigert, tut es kaum aus Pflichtbewußtsein oder Naivität, sondern weil er nicht anders kann als sich treu zu bleiben. Je länger ich mich mit diesen Fragen befasse, um so mehr neige ich dazu, Mut, Ehrlichkeit und Liebesfähigkeit nicht als »Tugenden«, nicht als moralische Kategorien, sondern als Folgen eines mehr oder weniger gnädigen Schicksals aufzufassen.
Die Moral, die Pflichterfüllung sind Prothesen, die notwendig werden, wenn etwas Entscheidendes fehlt. Je umfassender die Gefühlsentleerung in der Kindheit war, um so größer muß das Arsenal an intellektuellen Waffen und die Vorratskammer an moralischen Prothesen sein, weil die Moral und das Pflichtbewußtsein keine Kraftquellen, kein fruchtbarer Boden für echte menschliche Zuwendung sind. In den Prothesen fließt kein Blut, sie sind zu kaufen und können verschiedenen Herren dienen. Was gestern noch als gut galt, kann heute, je nach der Bestimmung der Regierung oder der Partei, als das Böse und Verdorbene gelten und umgekehrt.
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Aber ein Mensch mit lebendigen Gefühlen kann nur er selber sein. Er hat keine andere Wahl, will er sich nicht verlieren. Die Ablehnung, die Ausstoßung, der Liebesverlust und die Schmähungen lassen ihn nicht gleichgültig, er wird unter ihnen leiden und sich vor ihnen fürchten, aber er wird sein Selbst nicht verlieren wollen, wenn er es einmal hat. Und wenn er spürt, daß etwas von ihm verlangt wird, zu dem sein ganzes Wesen »nein« sagt, dann kann er es nicht tun. Er kann es einfach nicht.
So geht es Menschen, die das Glück hatten, der Liebe ihrer Eltern sicher zu sein, auch wenn sie für deren Ansprüche ein »nein« haben mußten. Oder Menschen, die dieses Glück zwar nicht hatten, aber später, z. B. in der Analyse, gelernt haben, das Risiko des Liebesverlustes einzugehen, um ihr verlorenes Selbst wieder zu spüren. Um keinen Preis der Welt sind sie bereit, dieses nochmals herzugeben.
Der prothetische Charakter von moralischen Gesetzen und Verhaltensregeln läßt sich da am deutlichsten erkennen, wo alle Lügen und Verstellungen machtlos sind, nämlich in der Mutter-Kind-Beziehung. Das Pflichtbewußtsein ist zwar kein fruchtbarer Boden für die Liebe, wohl aber für gegenseitige Schuldgefühle. Mit lebenslänglichen Schuldgefühlen und lähmender Dankbarkeit ist das Kind für immer an die Mutter gebunden. Robert Walser sagte einmal: »Es gibt Mütter, die sich aus der Schar ihrer Kinder einen Liebling auswählen, den sie vielleicht küssend steinigen, dessen Existenz sie . . . untergraben.« Hätte er gewußt, emotional gewußt, daß er hier sein Schicksal beschrieb, hätte sein Leben vermutlich nicht in der psychiatrischen Klinik enden müssen. Es ist unwahrscheinlich, daß eine rein intellektuelle Aufklärungsarbeit und Einsicht im Erwachsenenalter genügen könnte, um die sehr frühe Konditionierung aus der Kindheit aufzuheben. Wer unter Lebensbedrohung im zartesten Alter gelernt hat, ungeschriebenen Gesetzen zu
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folgen und seine Gefühle aufzugeben, der wird den geschriebenen Gesetzen um so schneller folgen und keinen Schutz dagegen in sich finden. Da aber der Mensch nicht ganz ohne Gefühle leben kann, wird er sich Gruppen anschließen, in denen seine bisher verbotenen Gefühle sanktioniert oder sogar gefordert werden und im Kollektiv endlich einmal ausgelebt werden dürfen. Jede Ideologie bietet diese Möglichkeit einer kollektiven Entladung, aufgestauter Affekte und zugleich des Festhaltens am idealisierten Primärobjekt, das auf neue Führergestalten oder auf die Gruppe als Ersatz der vermißten guten Symbiose mit der eigenen Mutter übertragen wird. Die Idealisierung der narzißtisch besetzten Gruppe garantiert die kollektive Grandiosität. Da jede Ideologie zugleich einen Sündenbock außerhalb der eigenen großartigen Gruppe anbietet, kann wiederum dort das abgespaltene, seit je verachtete, schwache Kind, das zum eigenen Selbst gehört, aber nie wirklich in ihm wohnen durfte, verachtet und bekämpft werden. Himmlers Rede über den »Bazillus der Schwäche«, der auszurotten und zu verbrennen sei, bringt sehr klar zum Ausdruck, welche Rolle in diesem Abspaltungsprozeß des Grandiosen den Juden zugefallen ist. Wie uns die analytische Kenntnis der Abspaltungs- und Projektionsmechanismen helfen kann, das Phänomen Holocaust zu verstehen, so hilft uns die Geschichte des Dritten Reiches, die Folgen der »Schwarzen Pädagogik« deutlicher zu sehen: Auf dem Hintergrund der aufgestauten Ablehnung des Kindlichen in unserer Erziehung läßt es sich beinahe leicht begreifen, daß Männer und Frauen ohne auffallende Schwierigkeiten eine Million Kinder als Träger der gefürchteten eigenen Seelenanteile in die Gaskammer geleitet haben. Man kann sich sogar vorstellen, daß sie sie angeschrien, geschlagen oder photographiert haben und hier endlich ihren frühkindlichen Haß ableiten konnten. Ihre Erziehung war von Anfang an darauf ausgerichtet, alles Kindliche, Spielerische, Lebendige in sich abzutöten. Die Grausamkeit, die ihnen zugefügt wurde, der seelische Mord am Kind, das sie einst waren, mußten sie in der gleichen Weise weitergeben: sie mordeten im Grunde immer wieder neu das eigene Kindsein in den zu vergasenden jüdischen Kindern.
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Gisela Zenz berichtet in ihrem Buch Kindesmißhandluns. und Kindesrechte über Steeles und Pollocks psychotherapeutische Arbeit mit mißhandelnden Eltern in Denver. Dort werden" auch die Kinder dieser Eltern behandelt. Die Beschreibung dieser Kinder kann uns helfen, das Verhalten der Massenmörder, die zweifellos geschlagene Kinder waren, genetisch zu verstehen.
Altersentsprechende Objektbeziehungen konnten die Kinder kaum entwickeln. Spontane und offene Reaktionen gegenüber den Therapeuten waren selten, ebenso die direkte Äußerung von Zuneigung oder Ärger. Nur wenige zeigten direktes Interesse an der Person des Therapeuten. Ein Kind konnte sich -nach sechs Monaten Therapie zweimal wöchentlich — außerhalb des Therapiezimmers nicht an den Namen des Therapeuten erinnern. Trotz offensichtlich intensiver Beschäftigung mit den Therapeuten und zunehmender Bindung an sie, veränderte sich die Beziehung am Ende der Stunde jedesmal abrupt, und die Kinder verließen ihren Therapeuten, als bedeute er ihnen gar nichts. Den Therapeuten schien darin einerseits eine Anpassung an die bevorstehende Rückkehr in das häusliche Milieu zu liegen, andererseits ein Mangel an Objektkonstanz, der sich auch bei Unterbrechungen der Therapie durch Ferien oder Krankheit zeigte. Nahezu gleichförmig verleugneten alle Kinder die Bedeutung des Objektverlustes, den die meisten mehrfach erlebt hatten. Erst ganz allmählich konnten einige Kinder zugeben, daß die Trennung vom Therapeuten während der Ferien ihnen etwas bedeutete, sie traurig und wütend machte.
Als das eindruckvollste Phänomen bezeichnen die Autoren die Unfähigkeit der Kinder, sich zu entspannen und zu freuen. Manche lachten monatelang nicht, betraten den Therapieraum als »finstere kleine Erwachsene«, deren Traurigkeit oder Depression nur zu offensichtlich war. Wenn sie sich an Spielen beteiligten, schien es mehr dem Therapeuten %uliebe zu sein als zum eigenen Vergnügen. Viele Kinder schienen Spielzeug und Spielen kaum
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zu kennen, insbesondere nicht mit Erwachsenen. Sie waren überrascht, wenn die Therapeuten Freude am Spiel zeigten und Spaß daran hatten, mit den Kindern zu spielen. Über die Identifizierung mit ihnen konnten sie allmählich selbst Freude und Lust am Spiel erleben.
Die meisten Kinder sahen sich selbst außerordentlich negativ, beschrieben sich selbst als »dumm«, als »ein Kind, das niemand mag«, das »nichts kann« und »schlimm« ist. Sie konnten nie zugeben, stolz auf etwas zu sein, was sie offensichtlich gut konnten. Sie zögerten, etwas Neues zu unternehmen, waren voller Angst, etwas falsch zu machen und schämten sich leicht. Einige schienen ein Selbstgefühl kaum entwickelt zu haben. Darin kann man eine Spiegelung der Vorstellung von Eltern erkennen, die das Kind nicht als eisenständige Person, sondern ausschließlich in Relation zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse wahrnehmen. Eine wichtige Rolle schien auch ein mehrfacher Wechsel der Unterbringung zu spielen. Ein sechsjähriges Mädchen, das in zehn Pflegefamilien gewesen war, konnte nicht begreifen, daß es einen eigenen Namen behielt, gleichgültig, in wessen Haus es sich aufhielt. Die Personenzeichnungen der Kinder waren durchweg primitiv, und manche konnten sich selbst überhaupt nicht malen, während ihre Zeichnungen von unbelebten Gegenständen durchaus altersentsprechend ausfielen.
Das Gewissen oder besser: das Wertsystem der Kinder war extrem rigide und punitiv. Die Kinder waren sich selbst wie anderen gegenüber sehr kritisch, empörten sich oder gerieten in große Aufregung, wenn andere Kinder ihre absoluten Regeln für Gut und Böseu J-übertraten. [. . .]
Arger und Aggression gegenüber Erwachsenen konnten die Kinder kaum direkt ausdrücken. Dagegen waren die Geschichten und Spiele voll von Aggression und Brutalität. Puppen und fiktive Personen wurden unaufhörlich geschlagen, gequält und getötet. Manche Kinder wiederholten ihre eigene Mißhandlung im Spiel. Ein Kind, das als Säugling dreimal einen Schädelbruch gehabt hatte, spielte ständig Geschichten mit Menschen oder Tieren, die Kopfverletzungen hatten. Ein anderes Kind, dessen Mutter versucht hatte, es als Baby zu ertränken, begann seine Spieltherapie damit, daß es eine Babypuppe in der Badewanne ertränkte und dann die Mutter von der Polizei ins Gefängnis bringen ließ. So wenig diese Ereignisse in den offen geäußerten Ängsten der Kinder eine Rolle spielten, so sehr mußten sie sie unbewußt beschäftigen.
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Kaum jemals konnten sie ihre Besorgnis verbal zum Ausdruck bringen, gleichwohl waren intensive Wut und Rachsucht tief verankert, aber verbunden mit großer Angst, was geschehen könnte, wenn diese Impulse durchbrachen. Mit der Entwicklung von Übertragungsbeziehungen in der Therapie richteten sich solche Gefühle auch gegen die Therapeuten, aber fast immer in indirekter passiv-aggressiver Form: Unfälle nahmen überhand, bei denen der Therapeut von einem Ball getroffen wurde oder aber seine Sachen wurden »zufällig« beschädigt. [.....]
Trotz jer_geringen Kontakte zu den Eltern drängte sich den Therapeuten der Eindruck auf, daß die Eltern-Kind-Beziehungen in hohem Maße von Verführung und Sexualisierung gekennzeichnet waren. Eine Mutter legte sich zu ihrem siebenjährigen Sohn ins Bett, sobald sie sich einsam oder unglücklich fühlte, und viele Eltern wandten sich immer wieder mit starken, oft konkurrierenden Zärtlichkeitsansprüchen an ihre Kinder, von denen sich viele mitten in der ödipalen Entwicklungsphase befanden. Eine Mutter bezeichnete ihre vierjährige Tochter als »sexy« und kokett, und meinte, es sei offensichtlich, daß sie unerfreuliche Männergeschichten haben würde. Es schien, als seien die Kinder, die allgemein zur Befriedigung der Bedürfnisse der Eltern da sein mußten, auch von der Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse nicht befreit, die sich meist in verdeckten unbewußten Ansprüchen an die Kinder niederschlugen
(G. Zenz, 1979, S. 291 ff).
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Es mag als Hitlers »genialer Wurf« gelten, den so früh zur Härte, zum Gehorsam, zur Unterdrückung der Gefühle erzogenen Deutschen die Juden für ihre Projektionen angeboten zu haben. Doch der Gebrauch dieses Mechanismus ist keineswegs neu. Er ist in den meisten Eroberungskriegen, in der Geschichte der Kreuzzüge, der Inquisition, auch in der neuesten Geschichte zu beobachten. Was aber bisher wenig beachtet wurde, ist die Tatsache, daß das, was man als Erziehung des Kindes bezeichnet, zum großen Teil auf diesem Mechanismus beruht und umgekehrt, daß die Ausnützung dieser Mechanismen für politische Zwecke ohne diese Erziehung nicht möglich wäre.
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Das Bezeichnende für diese Verfolgungen ist, daß es sich hier um einen narzißtischen Bereich handelt. Ein Teil des Selbst wird bekämpft, nicht ein wirklich gefährlicher Feind, wie z.B. bei realer Existenzbedrohung. Von einem aggressiven Angriff auf eine fremde, getrennte Person im objektalen Sinn ist diese Verfolgung deshalb deutlich zu unterscheiden.
Die Erziehung dient in sehr vielen Fällen dazu, das Aufleben des einst in sich Umgebrachten und Verachteten im eigenen Kind zu verhindern. Morton Schatzman zeigt in seinem Buch Die Angst vor dem Vater sehr eindrücklich, wie das Erziehungssystem des seinerzeit berühmten und einflußreichen Pädagogen Dr. Daniel Gottlob Moritz Schreber mit der Bekämpfung bestimmter Teile des eigenen Selbst zusammenhängt. Wie so viele Eltern verfolgt Schreber in seinen Kindern das, was ihm in seinem Innern Angst macht.
Die edlen Keime der menschlichen Natur sprießen in ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen, das Unkraut, rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden. Dies freilich muß mit Rastlosigkeit und Nachdruck geschehen. Es ist ein verderblicher und doch so häufiger Irrtum, wenn man sich durch die Hoffnung einschläfert, daß Unarten und Charakterfehler kleiner Kinder später sich von selbst verlieren. Die scharfen Spitzen und Ecken dieser oder jener geistigen Fehler runden sich zwar nach Umständen etwas ab, aber, sich überlassen, bleibt der Wurzelstock in der Tiefe stecken, fährt mehr oder weniger immer fort, in giftigen Trieben emporzuwuchern und somit das Gedeihen des edlen Lebensbaumes zu beeinträchtigen. Die Unart des Kindes wird am Erwachsenen zum ernsthaften Charakterfehler, bahnt den Weg zu Laster und Verworfenheit (zit. n. M. Schatzman, 1978, S. 24 f.).
Unterdrücke im Kinde alles, halte von ihm fern alles, was es sich nicht aneignen soll; leite es aber beharrlich hin auf alles, was es sich angewöhnen soll (ebd., S. 25).
Die Sehnsucht nach dem »wahren Seelenadel« rechtfertigt jede Grausamkeit dem fehlbaren Kinde gegenüber, und wehe ihm, wenn es die Verlogenheit durchschaut. Die pädagogische Überzeugung, man müsse das Kind von Anfang an in eine Richtung »bringen«, entspringt dem Bedürfnis nach Abspaltung der beunruhigenden Teile des eigenen Inneren und ihrer Projektion auf ein verfügbares Objekt. Die große Plastizität, Flexibilität, Wehrlosigkeit und Verfügbarkeit des Kindes machen es zum idealen Objekt einer solchen Projektion. Der innere Feind kann endlich draußen verfolgt werden.
Friedensforscher werden sich dieser Mechanismen immer deutlicher bewußt, aber solange ihr Ursprung in der Erziehung der Kinder übersehen bzw. verschleiert bleibt, wird man wenig dagegen unternehmen können. Denn Kinder, die als bekämpfte Träger der gehaßten Teile ihrer Eltern aufgewachsen sind, können es kaum erwarten, diese Teile jemandem anderen anhängen zu können, um sich wieder gut, »moralisch«, edel, menschenfreundlich zu erleben. Solche Projektionen können sich mit jeder Weltanschauung leicht verbinden.
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Gibt es eine »weiße Pädagogik«?
Die sanfte Gewalt
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Die Mittel der Bekämpfung des Lebendigen im Kind sind nicht immer mit äußerlich faßbaren Mißhandlungen gepaart. Das wird am Beispiel einer Familie, deren Geschichte ich in mehreren Generationen verfolgen konnte, deutlich.
Noch im 19. Jahrhundert ging ein junger Missionar mit seiner Frau nach Afrika, um dort Andersgläubige zum Christentum zu bekehren. Damit gelang es ihm, die ihn in seiner Jugend quälenden Glaubenszweifel loszuwerden. Nun war er endlich der echte Christ geworden, der wie einst sein Vater mit größtem Aufwand seinen Glauben anderen Menschen zu vermitteln versuchte. Das Ehepaar bekam 10 Kinder, von denen 8 nach Europa geschickt wurden, sobald sie das Schulalter erreicht hatten. Eines der Kinder wurde später zum Vater von Herrn A. und pflegte häufig seinem einzigen Sohn zu sagen, wie gut dieser es doch hätte, zu Hause aufwachsen zu dürfen. Er selber hatte seine Eltern zum ersten Mal wiedergesehen^ als er bereits 30 Jahre alt war. Mit bangen Gefühlen hatte er am Bahnhof auf die ihm unbekannten Eltern gewartet und sie dann tatsächlich nicht erkannt. Er hatte oft diese Szene ohne Gefühle von Trauer, eher lachend, erzählt. Herr A. beschrieb seinen Vater als gütig, lieb, verständnisvoll, dankbar, zufrieden und echt fromm. Auch alle Familienangehörigen und Bekannten bewunderten an ihm diese Qualitäten, und nirgends gab es zunächst eine Erklärung dafür, daß sein Sohn, neben einem so gütigen Vater, eine schwere Zwangsneurose hatte entwickeln müssen.
Herr A. mußte sich seit seiner Kindheit mit befremdenden Zwangsgedanken aggressiven Inhalts abquälen, war aber kaum fähig, Gefühle von Ärger oder Unzufriedenheit, geschweige denn Zorn oder Wut, als adäquate Reaktionen auf Versagungen zu erleben. Er litt auch seit seiner Kindheit darunter, daß er nicht die »heitere, natürliche, vertrauensvolle« Frömmigkeit seines Vaters »geerbt« hätte, versuchte, sie mit der Lektüre frommer Texte zu erreichen, wurde aber immer wieder von »bösen«, weil kritischen Gedanken, die in ihm panische Angst auslösten, daran gehindert.
Es dauerte sehr lange, bis Herr A. im Laufe seiner Analyse zum ersten Mal eine Kritik äußern konnte, ohne sie in die Form von erschreckenden Phantasien kleiden und dann abwehren zu müssen. Da kam es ihm zu Hilfe, daß sein Sohn sich gerade einer marxistischen Schülerbewegung anschloß. Herr A. hatte es nun leicht, bei seinem Sohn Widersprüche, Einengungen und Intoleranz dieser Ideologie zu entdecken, was ihm anschließend ermöglichte, auch die Psychoanalyse als die »Religion« seines Analytikers kritisch durchleuchten zu können. In den einzelnen Phasen der Übertragung trat die Tragik seiner Vaterbeziehung immer deutlicher in seine Erlebniswelt. Es häuften sich Enttäuschungen an Ideologien verschiedener Männer, deren Abwehrcharakter ihm immer deutlicher wurde. Starke Affekte der Empörung über alle möglichen Mystifikationen brachen durch. Der nun erwachte Zorn des betrogenen Kindes ließ ihn schließlich an allen Religionen und politischen Ideologien zweifeln. Die Zwänge nahmen ab. sie verschwanden aber erst ganz, als diese Gefühle mit dem längst verstorbenen und verinnerlichten Vater seiner Kindheit erlebt werden konnten.
Herr A. erlebte nun in der Analyse immer wieder die ohnmächtige Wut auf die unheimliche Einengung seines Lebens, die von der Haltung des Vaters ausging. Man mußte wie er lieb, gütig und dankbar sein, keine Ansprüche stellen, keine Tränen weinen, immer alles »von der positiven Seite« sehen, nirgends Kritik üben, niemals unzufrieden sein, immer an die denken, denen es »noch viel schlimmer ging«.
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Die bisher unbekannten Gefühle der Auflehnung erschlossen A. den engen Raum seiner Kindheit, aus dem alles verbannt werden mußte, was nicht in dieses fromme »sonnige« Kinderzimmer paßte. Und erst nachdem diese Revolte (die er früher auf seinen eigenen Sohn hatte abspalten müssen, um sie in ihm zu bekämpfen) in seinem Innern leben und reden durfte, erschloß sich ihm die andere Seite seines Vaters. In der eigenen Wut und Trauer hat er sie gefunden, kein Mensch hätte ihm je darüber erzählen können, weil diese labile Seite des Vaters nur in der Seele seines Sohnes, in seiner Zwangsneurose, ihren Wohnsitz genommen hatte, sich hier in einer grausamen Art ausbreitete und den Sohn 42 Jahre lang lähmte. Mit seiner Krankheit half der Sohn, die Frömmigkeit des Vaters zu erhalten.
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Jetzt, da Herr A. seine kindliche Erlebnisart wiedergefunden hat, konnte er sich auch in das Kind, das sein Vater einmal war, einfühlen. Er fragte sich: Wie wurde mein Vater damit fertig, daß seine Eltern 8 Kinder so weit weggeschickt hatten, ohne sie je zu besuchen, um in Afrika christliche Nächstenliebe zu verbreiten? Hätte er nicht an dieser Liebe und an dem Sinn einer solchen Tätigkeit, die zugleich Grausamkeit gegen eigene Kinder fordert, zutiefst zweifeln müssen? Aber er durfte nicht zweifeln, sonst hätte ihn die fromme und strenge Tante nicht bei sich behalten. Und was soll ein kleiner, sechsjähriger Junge, dessen Eltern tausende von Kilometern entfernt von ihm leben, allein machen? Er muß an diesen Gott glauben, der solche unbegreiflichen Opfer verlangt (dann sind seine Eltern ja gehorsame Diener einer guten Sache), er muß ein frommes und heiteres Wesen entwickeln, um geliebt zu werden, er muß im Dienste des Überlebens zufrieden, dankbar usw. werden, einen sonnigen, leichten Charakter entwickeln, um ja niemandem zur Last zu fallen.
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Wird ein so gewordener Mensch selber Vater, dann muß er mit Ereignissen konfrontiert werden, die das ganze mühsam erbaute Gebäude ins Wanken bringen könnten: er sieht ein lebendiges Kind vor sich, er sieht, wie ein Mensch eigentlich beschaffen ist, wie er sein könnte, wenn man ihn nur nicht daran hindern würde. Aber da kommen bereits eigene Ängste ins Spiel: Das darf nicht sein.
Wenn man das Kind, so wie es ist, leben ließe, hieße das nicht, daß die eigenen Opfer und Selbstverleugnungen nicht nötig gewesen wären? Wäre es möglich, daß ein Kind ohne den Zwang zum Gehorsam, ohne die Willensunterdrückung, ohne die seit Jahrhunderten empfohlene Bekämpfung des Egoismus und Eigensinns gedeihen könnte? Eltern können solche Gedanken nicht zulassen; sie würden sonst in die größte Not kommen und den eigenen Boden verlieren, den Boden der überlieferten Ideologie, in der die Unterdrückung und Manipulierung des Lebendigen den höchsten Wert darstellen. Und so erging es auch dem Vater von Herrn A.*
Schon beim kleinen Säugling versuchte er eine ausgedehnte Kontrolle über dessen körperliche Funktionen zu erlangen und hat eine sehr frühe Verinnerlichung dieser Kontrolle erreicht. Er half der Mutter, den Säugling zur Reinlichkeit zu erziehen und ihm das ruhige Warten auf Nahrung auf »liebevolle Art« mit Ablenkung beizubringen, damit das Füttern genau nach Vorschrift eingehalten werden konnte. Als Herr A. noch ein kleines Kind war und bei Tisch etwas nicht mochte, oder »zu gierig« aß, oder sich »unartig« verhielt, wurde er in die Ecke gestellt und mußte zuschauen, wie die beiden Eltern ruhig ihre Mahlzeit zu Ende aßen. Wahrscheinlich stand damals in dieser Ecke das nach Europa weggeschickte Kind und fragte sich, wegen welcher Sünden es so weit von seinen geliebten Eltern entfernt werden mußte.
* Auch die Mutter war in dieser Ideologie aufgewachsen; ich beschränke mich aber auf die Schilderung des Vaters, weil bei Herrn A. der Zweifel am und der Zwang zum Glauben eine besondere Rolle spielten und weil diese Problematik vor allem mit der Person des Vaters verbunden war.
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Herr A. erinnerte sich nicht daran, von seinem Vater je geschlagen worden zu sein. Trotzdem ging der Vater mit seinem Kind, ohne es zu wollen und zu wissen, in einer ähnlichen Art grausam um, wie er mit dem Kind in sich umgegangen ist, um aus ihm ein »zufriedenes Kind« zu machen. Er hat systematisch versucht, alles Lebendige in seinem Erstgeborenen abzutöten. Hätte sich der vitale Rest nicht in die Zwangsneurose geflüchtet und von dorther seine Not angemeldet, dann wäre der Sohn tatsächlich seelisch tot, denn er war nur der Schatten des Anderen, hatte keine eigenen Bedürfnisse, kannte keine spontanen Gefühlsregungen mehr, kannte nur die depressive Leere und die Angst vor seinen Zwängen.
In der Analyse erfuhr er erst als 42jähriger Mann, was für ein lebendiges, neugieriges, intelligentes, waches, humorvolles Kind er eigentlich gewesen war, das nun zum ersten Mal in ihm leben konnte und schöpferische Kräfte entwickelte. Es wurde Herrn A. mit der Zeit klar, daß seine schweren Symptome einerseits die Folge der Unterdrückung der wichtigen vitalen Teile seines Selbst waren, anderseits die ungelebten, unbewußten Konflikte seines Vaters spiegelten. In den quälenden Zwängen des Sohnes verrieten sich die brüchige Frömmigkeit und die abgespaltenen, ungelebten Zweifel des Vaters. Hätte dieser sie bewußt erleben, austragen und integrieren können, dann hätte sein Sohn die Chance gehabt, frei davon aufzuwachsen und sein eigenes, reiches Leben früher und ohne Hilfe der Analyse leben zu können.
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Erzieher — nicht Kinder — brauchen die Pädagogik
Der Leser wird längst gemerkt haben, daß die »Lehren« der »Schwarzen Pädagogik« eigentlich die ganze Pädagogik durchziehen, mögen sie heute noch so gut verschleiert sein. Da die Bücher von Ekkehard von Braunmühl den Widersinn und die Grausamkeit der erzieherischen Einstellung im heutigen Leben sehr deutlich entlarven, kann ich mich hier darauf beschränken, auf sie hinzuweisen (s. Literaturverzeichnis). Wenn es mir schwerer fällt als ihm, seinen Optimismus zu teilen, so mag das daran liegen, daß ich die Idealisierung der eigenen Kindheit als ein großes, unbewußtes Hindernis im Lernprozeß der Eltern ansehe.
Auch meine antipädagogische Haltung wendet sich nicht gegen eine bestimmte Art von Erziehung, sondern gegen Erziehung überhaupt, auch gegen die antiautoritäre. Diese Haltung beruht auf Erfahrungen, die ich später darstellen werde. Zunächst aber möchte ich betonen, daß sie mit dem Rousseauschen Optimismus über die menschliche »Natur« nichts gemeinsam hat. Erstens sehe ich das Kind nicht in einer abstrakten »Natur« aufwachsen, sondern in einer konkreten Umgebung seiner Bezugspersonen, deren Unbewußtes einen wesentlichen Einfluß auf seine Entwicklung ausübt. Zweitens ist Rousseau's Pädagogik im tiefsten Sinne manipulatorisch. Dies scheint unter Pädagogen nicht immer erkannt worden zu sein, ist aber von Ekkehard von Braunmühl eindringlich herausgearbeitet und belegt worden.
Als eines seiner zahlreichen Beispiele zitiere ich die folgende Stelle aus dem Emile oder die Erziehung.
Folgt mit eurem Zögling dem umgekehrten Weg. Laßt ihn immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen.
Ist das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und erkennt, euch nicht vollkommen ausgeliefert? Verfügt ihr nicht über alles in seiner Umgebung, was auf es Bezug hat? Seid ihr nicht Herr seiner Eindrücke nach eurem Belieben? Seine Arbeiten, seine Spiele, sein Vergnügen und sein Kummer — liegt nicht alles in euren Händen, ohne daß es davon weiß?
Zweifellos darf es tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, daß es es will. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht für es vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne daß ihr wißt, was es sagen will.
(zit. n. E. v. Braunmühl, 1979, S. 35).
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Meine Überzeugung von der Schädlichkeit der Erziehung beruht auf folgenden Erfahrungen:
Sämtliche Ratschläge zur Erziehung der Kinder verraten mehr oder weniger deutlich zahlreiche, sehr verschieden geartete Bedürfnisse des Erwachsenen, deren Befriedigung dem lebendigen Wachstum des Kindes nicht nur nicht förderlich ist, sondern es geradezu verhindert. Das gilt auch für die Fälle, in denen der Erwachsene ehrlich davon überzeugt ist, im Interesse des Kindes zu handeln.
Zu diesen Bedürfnissen gehören: erstens, das unbewußte Bedürfnis, die einst erlittenen Demütigungen anderen weiterzugeben; zweitens, ein Ventil für die abgewehrten Affekte zu finden; drittens, ein verfügbares und manipulierbares lebendiges Objekt zu besitzen; viertens, die eigene Abwehr, d.h. die Idealisierung der eigenen Kindheit und der eigenen Eltern zu erhalten, indem durch die Richtigkeit der eigenen Erziehungsprinzipien diejenige der elterlichen bestätigt werden soll; fünftens, die Angst vor der Freiheit; sechstem, die Angst vor der Wiederkehr des Verdrängten, dem man im eigenen Kind nochmals begegnet und das man dort nochmals bekämpfen muß, nachdem man es vorher bei sich abgetötet hat, und schließlich siebtem, die Rache für die erlittenen Schmerzen.
Da jede Erziehung mindestens eines der hier erwähnten Motive enthält, ist sie höchstens dazu geeignet, aus dem Zögling einen guten Erzieher zu machen. Niemals wird sie ihm aber zur freien Lebendigkeit verhelfen können. Wenn man ein Kind ersieht, lernt es erziehen. Wenn man einem Kind Moral predigt, lernt es Moral predigen, wenn man es warnt, lernt es warnen, wenn man mit ihm schimpft, lernt es schimpfen, wenn man es auslacht, lernt es auslachen, wenn man es demütigt, lernt es demütigen, wenn man seine Seele tötet, lernt es töten. Es hat dann nur die Wahl, ob sich selbst oder die anderen oder beides.
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Das heißt aber nicht, daß das Kind ganz wild aufwachsen kann. Was es für seine Entfaltung braucht, ist der Respekt seiner Bezugspersonen, die Toleranz für seine Gefühle, die Sensibilität für seine Bedürfnisse und Kränkungen, die Echtheit seiner Eltern, deren eigene Freiheit — und nicht erzieherische Überlegungen — dem Kind natürliche Grenzen setzt.
Gerade letzteres macht aber den Eltern und Erziehern große Schwierigkeiten, und zwar aus folgenden Gründen:
1. Wenn die Eltern sehr früh in ihrem Leben lernen mußten, ihre eigenen Gefühle %u überhören, sie nicht ernstzunehmen, ja sie zu verachten oder zu verspotten, so wird ihnen das wichtigste Sensorium im Umgang mit ihren Kindern fehlen. Als Ersatz dafür werden sie versuchen, erzieherische Prinzipien als Prothesen einzusetzen. So werden sie z. B. unter Umständen Angst haben, ihre Zärtlichkeit zu zeigen, in der Meinung, daß sie damit das Kind verwöhnen, oder sie werden in einem andern Falle ihr eigenes persönliches Gekränktsein hinter dem Vierten Gebot verstecken.
2. Eltern, die als Kinder nicht gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu spüren und ihre Interessen zu verteidigen, weil ihnen kein Recht dazu eingeräumt wurde, bleiben darin ihr Leben lang orientierungslos und deshalb auf feste Erziehungsregeln angewiesen. Diese Orientierungslosigkeit führt aber trotz der Regeln zu einer großen Verunsicherung des Kindes, unabhängig davon, ob sie in sadistischem oder masochistischem Gewande auftritt.
Dazu ein Beispiel: Ein Vater, der sehr früh zum Gehorsam dressiert wurde, muß unter Umständen sein Kind grausam und gewalttätig zum Gehorsam zwingen, um hier zum ersten Mal in seinem Leben seine Bedürfnisse nach Respekt durchzusetzen. Doch dieses Verhalten schließt nicht aus, daß dazwischen Perioden eines masochistischen Verhaltens liegen, in denen der gleiche Vater sich alles gefallen läßt, weil er nie gelernt hatte, die Grenzen seiner Toleranz zu verteidigen. So wird er aus Schuldgefühlen wegen der vorangegangenen, ungerechten Züchtigung plötzlich ungewöhnlich gewährend, so daß er damit die Unruhe des
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Kindes weckt, das die Ungewißheit über das echte Gesicht seines Vaters nicht aushält und ihn mit zunehmend aggressivem Verhalten dazu provoziert, endlich die Geduld zu verlieren. So übernimmt schließlich das Kind die Rolle des sadistischen Gegenparts in Vertretung der Großeltern, mit dem Unterschied aber, daß der Vater sich ihrer bemächtigen kann. Solche Situationen - in denen es »zu weit gegangen ist« — dienen den Pädagogen als Beweis für die Notwendigkeit der Züchtigungen und Bestrafungen.
3. Da das Kind oft als Ersatz der eigenen Eltern gebraucht wird, werden unendlich viele widerspruchsvolle Wünsche und Erwartungen an es herangetragen, die es unmöglich erfüllen kann. In krassen Fällen bleibt dann eine Psychose, Drogensucht oder der Suizid die einzige Lösung. Aber oft führt diese Ohnmacht zu gesteigerter Aggressivität, die wiederum den Erziehern die Notwendigkeit strenger Maßnahmen bestätigt.
4. Eine ähnliche Situation ergibt sich, wenn Kinder wie in, .der »antiautoritären« Erziehung der sechziger jähre darauf gedrillt werden, ein bestimmtes Verhalten anzunehmen, das ihre Eltern sich selbst einmal gewünscht haben und das sie deshalb als allgemein wünschenswert betrachten. Die eigentlichen Bedürfnisse des Kindes können dabei vollständig übersehen werden. In einem mir bekannten Fall wurde z.B. ein trauriges Kind dazu ermutigt, ein Glas kaputtzuschlagen, in einem Moment, in dem es am liebsten auf den Schoß seiner Mutter geklettert wäre. Wenn sich Kinder dauernd so mißverstanden und manipuliert fühlen, bricht eine echte Ratlosigkeit und begründete Aggressivität durch.
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Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Meinung und zum Schrecken der Pädagogen kann ich dem Wort »Erziehung« keine positive Bedeutung abgewinnen. Ich sehe in ihr die Notwehr des Erwachsenen, die Manipulation aus der eigenen Unfreiheit und Unsicherheit, die ich zwar verstehen kann, deren Gefahren ich aber nicht übersehen darf.
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So kann ich verstehen, daß man Delinquenten in Gefängnisse einsperrt, aber nicht sehen, daß der Freiheitsentzug und das Leben in Gefängnissen, das allein auf Anpassung, Hörigkeit und Unterwürfigkeit ausgerichtet ist, wirklich zur Besserung, d.h. zur Entfaltung des Gefangenen beitragen kann. Im Wort »Erziehung« liegt die Vorstellung bestimmter Ziele, die der Zögling erreichen soll — und damit wird schon seine Entfaltungsmöglichkeit beeinträchtigt. Aber der ehrliche Verzicht auf jede Manipulation und auf diese Zielvorstellungen bedeutet nicht, daß man das Kind sich selbst überläßt. Denn das Kind braucht die seelische und körperliche Begleitung des Erwachsenen in einem sehr hohen Maße.
Um dem Kind seine volle Entfaltung zu ermöglichen, muß diese Begleitung folgende Züge aufweisen:
Achtung vor dem Kind;
Respekt für seine Rechte;
Toleranz für seine Gefühle;
Bereitschaft, aus seinem Verhalten zu lernen:
a) über das Wesen dieses einzelnen Kindes, b) über das eigene Kindsein, das die Eltern zur Trauerarbeit befähigt, c) über die Gesetzmäßigkeit des Gefühlslebens, die beim Kind viel deutlicher als beim Erwachsenen zu beobachten ist, weil das Kind viel intensiver und im optimalen Fall unverstellter als der Erwachsene seine Gefühle erleben kann.Die Erfahrungen in der neuen Generation zeigen, daß eine solche Bereitschaft auch bei Menschen möglich ist, die selber Opfer von Erziehung waren.
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Doch die Befreiung von jahrhundertealten Zwängen kann sich wohl kaum in einer Generation vollziehen. Der Gedanke, daß wir als Eltern von jedem neu geborenen Kind mehr über die Gesetze des Lebens erfahren und lernen können als von unseren Eltern, wird vielen älteren Personen absurd und lächerlich vorkommen.
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Aber auch bei jüngeren Menschen mag ein Mißtrauen vorhanden sein, weil viele von ihnen durch eine Mischung von psychologischer Literatur und verinnerlichter »Schwarzer Pädagogik« verunsichert sind. So fragte mich z.B. ein sehr intelligenter, hochsensibler Vater, ob es nicht ein Mißbrauch des Kindes wäre, wenn man von ihm lernen wollte. Weil diese Frage von einem Menschen kam, der, 1942 geboren, die Tabus seiner Generation in einem außergewöhnlichen Maß hatte überwinden können, machte sie mir klar, wie sehr wir bei psychologischen Veröffentlichungen an die Möglichkeit von Mißverständnissen und einer neuen Verunsicherung denken müssen.
Kann das ehrliche Lernen einen Mißbrauch bedeuten? Ohne das Offensein für das, was der andere uns mitteilt, ist uns kaum eine echte Zuwendung möglich. Wir brauchen die Artikulation des Kindes, um es verstehen, begleiten und lieben zu können. Auf der anderen Seite braucht das Kind seinen freien Raum, um sich adäquat artikulieren zu können. Hier besteht keine Diskrepanz zwischen Zielen und Mitteln, sondern vielmehr ein dialogischer und dialektischer Vorgang. Das Lernen ergibt sich aus dem Zuhören, was wiederum zum noch besseren Zuhören und Eingehen auf den andern führt.
Oder anders ausgedrückt: Um vom Kind zu lernen, brauchen wir Empathie, andererseits steigt die Empathie mit dem Lernen. Im Gegensatz dazu steht das Anliegen des Erziehers, der das Kind so oder so haben möchte oder haben zu müssen meint und es für diese geheiligten Zwecke nach seinem Bild zu formen versucht. Damit unterbindet er die freie Artikulation des Kindes und verpaßt zugleich seine eigene Lernchance. Dies ist zweifellos ein oft ungewollter Mißbrauch, der nicht nur Kindern gegenüber verübt wird, sondern, wenn man genau hinschaut, die meisten menschlichen Beziehungen durchzieht, weil die Partner häufig mißbrauchte Kinder waren und nun unbewußt zeigen, was sie in ihrer Kindheit bekommen haben.
Die antipädagogischen Schriften (von E. von Braunmühl u.a.) können eine große Hilfe für junge Eltern bedeuten, wenn sie nicht als »Erziehung zur Elternschaft« aufgefaßt werden, sondern als Zuwachs an Informationen, als Ermutigung zu neuen Erfahrungen und als Befreiung zum vorurteilsfreieren Lernen.
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