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Der letzte Akt des stummen Dramas — die Welt ist entsetzt

 

Einleitung  

127-132

Es ist nicht leicht, über Kindesmißhandlungen zu schreiben, ohne in eine moralisierende Haltung auszu­rutschen. Die Empörung über den schlagenden Erwachsenen und das Mitleid mit dem hilflosen Kind stellen sich so selbstverständlich ein, daß man, ungeachtet der tieferen Menschenkenntnis, schnell in die Versuchung kommt, den Erwachsenen als brutal und grausam zu verurteilen und zu verdammen. 

Doch wo gibt es diese Menschen, die nur gut, und die anderen, die nur grausam sind? Ob jemand seine Kinder mißhandelt, hängt nicht so sehr von seinem Charakter und Naturell ab, sondern von der Tatsache, daß er selber als Kind mißhandelt worden ist und sich nicht dagegen wehren durfte. Es gibt unzählige Menschen, die ähnlich wie der Vater von Herrn A. liebenswürdig, zart und hochsensibel sind und ihren Kindern täglich Grausamkeiten zufügen, die sie Erziehung nennen. 

Solange das Schlagen von Kindern als notwendig und nützlich galt, war diese Grausamkeit legitimiert. Heute leiden diese Menschen, wenn ihnen »die Hand ausrutscht«, wenn sie das Kind aus einem unverständlichen Zwang, aus einer unbegreiflichen Verzweiflung heraus angeschrieen, gedemütigt oder geschlagen haben, seine Tränen sehen und doch spüren, daß sie nicht anders können und daß es beim nächsten Mal wieder so kommen wird. Und es muß wieder so kommen, solange die Geschichte der eigenen Kindheit idealisiert bleibt.

Paul Klee ist als der große Maler zauberhafter poetischer Bilder bekannt. Daß er auch eine andere Seite hatte, erfuhr vielleicht nur sein einziges Kind. Der jetzt 72jährige Sohn des Malers, Felix Klee, sagt zu seinem Interviewer (Brückenbauer vom 29.2.1980): »Er hatte zwei Seiten, er machte gern s'Chalb (Späße), konnte aber auch vehement mit dem Stock in die Erziehung eingreifen.« 

Paul Klee hat, angeblich für diesen Sohn, wundervolle Puppen angefertigt, von denen immer noch 30 erhalten sind. Der Sohn berichtet: »In unserer engen Wohnung baute Papa im Türrahmen das Theater auf. Wenn ich in der Schule war, spielte er, so gestand er selber, manchmal für die Katze ....« Doch der Vater spielte nicht nur für die Katze, sondern auch für seinen Sohn. Konnte ihm dieser dann die Schläge übelnehmen?

Ich habe dieses Beispiel angeführt, um dem Leser zu helfen, von den Clichés der guten oder bösen Eltern loszukommen. Es gibt tausend Formen von Grausamkeit, die man bis heute noch nicht kennt, weil die Verletzungen des Kindes und seine Folgen bisher noch so wenig bekannt sind. Mit diesen Folgen beschäftigt sich der vorliegende Teil des Buches. 

Die einzelnen Stationen im Leben der meisten Menschen heißen:

  1. als kleines Kind Verletzungen zu empfangen, die niemand als Verletzungen ansieht;

  2. auf den Schmerz nicht mit Zorn zu reagieren;

  3. Dankbarkeit für die sogenannten Wohltaten zeigen;

  4. alles vergessen;

  5. im Erwachsenenalter den gespeicherten Zorn auf andere Menschen abladen oder ihn gegen sich selber richten.

Die größte Grausamkeit, die man den Kindern zufügt, besteht wohl darin, daß sie ihren Zorn und Schmerz nicht artikulieren dürfen, ohne Gefahr zu laufen, die Liebe und Zuwendung der Eltern zu verlieren. Dieser frühkindliche Zorn wird im Unbewußten gespeichert, und da er im Grunde ein gesundes, vitales Kraft­potential darstellt, muß ebensoviel Energie dafür verwendet werden, um dieses Potential in der Verdrängung zu halten. Die auf Kosten der Lebendigkeit gelungene Erziehung zur Schonung der Eltern führt nicht selten zum Selbst­mord oder zur extremen Drogen­abhängigkeit, die einem Selbstmord nahekommt. 

Wenn die Droge dazu gedient hat, das aus der Unterdrückung der Gefühle und aus der Selbstentfremdung entstandene Loch zu füllen, dann macht die Entziehungskur das Loch wieder sichtbar. Wenn die Entziehungs­kur nicht mit der Wiedergewinnung der Lebendigkeit einhergeht, muß mit neuen Rückfällen gerechnet werden. 

Christiane F., die Autorin des Buches <Wir Kinder vom Bahnhof Zoo>, führt uns die Tragik eines solchen Lebens mit erschütternder Klarheit vor Augen.

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Der Vernichtungskrieg gegen das eigene Selbst 

 

 

Die ungenützte Chance der Pubertät  

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Es gelingt den Eltern sehr oft, das kleine Kind mit den zahlreichen Methoden der Beherrschung so zu zähmen, daß sie bis zur Pubertät keine Probleme mit ihm haben. Die »Abkühlung« der Gefühle und Triebe in der Latenz­zeit kommt diesem Wunsch nach problemlosen Kindern entgegen. 

In dem Buch <Der goldene Käfig> von Hilda Bruch erzählen Eltern von magersüchtigen Töchtern, wie begabt, gelungen, gepflegt, erfolgreich, angepaßt und rücksichtsvoll ihre Kinder einst gewesen seien, und sie können diese plötzliche Veränderung nicht begreifen. Sie stehen hilf- und verständnislos vor einem Jugendlichen, der alle Normen abzulehnen scheint und dessen selbstzerstörerisches Verhalten nun weder mit logischen Argumenten noch mit den Finessen der »Schwarzen Pädagogik« zu beeinflussen ist.

Die Pubertät konfrontiert den Jugendlichen oft ganz unerwartet mit der Intensität seiner wahren Gefühle, nachdem es ihm bereits gelungen sein mag, sie während der Latenzzeit von sich fernzuhalten. Mit dem biologischen Aufbruch seines Wachstums wollen diese Gefühle (Wut, Zorn, Auflehnung, Verliebtheit, sexuelle Wünsche, Begeisterung, Freude, Verzauberung, Trauer) voll leben, doch in vielen Fällen würde das für das psychische Gleich­gewicht der Eltern eine Gefahr bedeuten.

Würde ein Jugendlicher nüchtern seine wahren Gefühle äußern, so müßte er riskieren, als gefährlicher Terrorist im Gefängnis oder als Verrückter in einer Irrenanstalt eingesperrt zu werden. Für Shakespeares Hamlet oder Goethes Werther hätte unsere Gesellschaft zweifellos nur eine psychiatrische Klinik zur Verfügung, und Karl Moor wäre vielleicht in einer ähnlichen Gefahr. 

So versucht der Drogensüchtige, sich der Gesellschaft anzupassen, indem er seine echten Gefühle bekämpft; da er aber im Ansturm der Pubertät nicht mehr ganz ohne sie leben kann, sucht er seine Gefühle mit Hilfe der Droge wiederzugewinnen, was ihm — wenigstens am Anfang — zu gelingen scheint. Aber die von den Eltern repräsentierte und vom Jugendlichen längst verinnerlichte Einstellung der Gesellschaft muß ihr Recht behalten: starke, intensive Gefühle zu erleben führt zum Verachtetwerden, zur Isolierung, Ausstoßung, Todesgefahr, d.h. zur Selbstzerstörung.

Die Sehnsucht nach dem wahren Selbst, die eigentlich so berechtigt und lebensnotwendig ist, wird in ähnlicher Weise vom Drogensüchtigen selbst bestraft, wie seine ersten vitalen Regungen in der frühen Kindheit einst bestraft wurden — mit der Tötung des Lebendigen. 

Fast jeder Heroinabhängige erzählt, daß er am Anfang Gefühle von bisher unbekannter Intensität erlebt habe. Dadurch wurde ihm die Flachheit und Leere seines gewöhnlichen Gefühlslebens noch deutlicher bewußt. 

Da er sich gar nicht vorstellen kann, daß es diese Möglichkeit auch ohne Heroin geben kann, beginnt die begreifliche Sehnsucht nach der Wiederholung. Denn in diesen Ausnahmezuständen erlebte der junge Mensch, wie er hätte sein können, er ist mit seinem Selbst in Berührung gekommen, und diese Begegnung wird ihm begreiflicherweise keine Ruhe mehr lassen. 

Er bringt es nicht mehr fertig, sein Leben neben seinem Selbst zu »absolvieren«, gewissermaßen so, als ob es ihn nie gegeben hätte. Er weiß jetzt, daß es ihn gibt. Aber zugleich weiß er seit seiner frühen Kindheit, daß dieses wahre Selbst keine Lebenschance hat. So geht er einen Kompromiß mit seinem Schicksal ein: er darf seinem Selbst zeitweise begegnen, ohne daß jemand es erfährt. Nicht einmal er selber darf es wissen, denn es ist ja der »Stoff«, der es »tut«, die Wirkung kommt »von außen«, ist schwer zu beschaffen, sie wird nie zum integrierten Teil seines Selbst, er wird nie für diese Gefühle Verantwortung übernehmen müssen oder können. 

Das zeigen die Intervalle zwischen dem einen und dem anderen Schuß: die völlige Apathie, Lethargie, Leere oder Unruhe und Angst — der Schuß ging vorüber wie ein vergessener Traum, der auf die Ganzheit des Lebens keine Wirkung haben kann.

Auch die Abhängigkeit von einem absurden Zwang hat ihre Vorgeschichte. Da sie das ganze frühere Leben von Anfang an durchdrungen hat, fällt sie dem Süchtigen kaum auf. Eine 24jährige, seit ihrem 16. Lebens­jahr Heroinsüchtige, spricht vor der TV-Kamera von der Stoffbeschaffung durch den Strich und von der Notwendigkeit, den Stoff zu haben, um »diese Tiere zu ertragen«. Sie wirkt sehr echt, und alles, was sie sagt, ist einfühlbar und nahe. Einzig die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Teufelskreis als die für sie einzig mögliche Lebensform erlebt wird, läßt uns aufhorchen. 

Diese Frau kann sich offenbar ein anderes, ein von diesem Teufelskreis unabhängiges Leben überhaupt nicht vorstellen, weil sie nie so etwas wie eine freie Entscheidung erlebt hat. Unter einem zerstörenden Zwang zu stehen, war die einzige ihr bekannte Lebensform, und die kann ihr deshalb in ihrer Absurdität nicht auffallen. 

Es wird uns nicht erstaunen, daß beide Elternfiguren — wie häufig bei den Drogensüchtigen — völlig idealisiert bleiben. Sie selber fühlt sich schuldig, daß sie schwach sei, ihren Eltern so viel Schande bringe und sie so enttäuscht habe. Auch die »Gesellschaft« sei schuld — was natürlich nicht abzustreiten ist. Aber die innere Not, der Konflikt zwischen der Sehnsucht nach dem wahren Selbst und der Notwendigkeit der Anpassung an die Bedürfnisse der Eltern, wird nicht erlebt, solange die Eltern vor dem eigenen Vorwurf geschützt werden müssen. 

Am Beispiel von Christiane F.s Bericht über ihr Leben können wir im Konkreten diese Not verstehen lernen.

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