Selbstsuche und Selbstzerstörung in der Droge
Das Leben von Christiane F.
wikipedia Christiane Felscherinow *1962 wikipedia Wir_Kinder_vom_Bahnhof_Zoo
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Die ersten 6 Jahre ihres Lebens wohnte Christiane auf dem Lande, wo sie den ganzen Tag beim Bauern war, Tiere fütterte und »mit den andern im Heu« tobte. Dann zog ihre Familie nach Berlin, und sie lebte dort mit ihren Eltern und der um ein Jahr jüngeren Schwester in einer 2 1/2-Zimmerwohnung im, 11. Stock der Hochhaussiedlung Gropiusstadt.
Der plötzliche Verlust der ländlichen Umgebung, der vertrauten Spielkameraden und der Bewegungsfreiheit auf dem Lande ist für ein Kind an sich schwer genug, um so tragischer aber, wenn es mit diesen Erlebnissen allein bleibt und ständig auf unberechenbare Schläge und Strafen gefaßt sein muß.
Ich wäre ganz glücklich mit meinen Tieren gewesen, wenn es mit meinem Vater nicht immer schlimmer geworden wäre. Während meine Mutter arbeitete, saß er zu Hause. Mit der Ehevermittlung war es ja nichts geworden. Nun wartete mein Vater auf einen anderen Job, der ihm gefiel. Er saß auf dem abgeschabten Sofa und wartete. Und seine irrsinnigen Wutausbrüche wurden immer häufiger.
Schularbeiten machte meine Mutter mit mir, wenn sie von der Arbeit kam. Ich hatte eine Zeitlang Schwierigkeiten, die Buchstaben H und K auseinanderzuhalten. Meine Mutter erklärte mir das eines Abends mit einer Affengeduld. Ich konnte aber kaum zuhören, weil ich merkte, wie mein Vater immer wütender wurde. Ich wußte immer, wann es gleich passierte: Er holte den Handfeger aus der Küche und drosch auf mir rum. Dann sollte ich ihm den Unterschied von H und K erklären. Ich schnallte natürlich überhaupt nichts mehr, bekam noch einmal den Arsch voll und mußte ins Bett.
Das war seine Art, mit mir Schularbeiten zu machen. Er wollte, daß ich tüchtig bin und was Besseres werde. Schließlich hatte sein Großvater noch unheimlich Kohle gehabt. Ihm gehörte in Ostdeutschland sogar eine Druckerei und eine Zeitung, unter anderem. Nach dem Kriege war das in der DDR alles enteignet worden. Nun flippte mein Vater aus, wenn er glaubte, ich würde in der Schule was nicht schaffen.
Da gab es Abende, an die ich mich noch in allen Einzelheiten erinnere. Einmal sollte ich ins Rechenheft Häuser malen. Die sollten sechs Kästchen breit und vier Kästchen hoch sein. Ich hatte ein Haus schon fertig und wußte genau, wie es ging, als mein Vater sich plötzlich neben mich setzte. Er fragte, von wo bis wo das nächste Häuschen gezeichnet werden müsse. Vor lauter Angst zählte ich die Kästchen nicht mehr, sondern fing an zu raten. Immer, wenn ich auf ein falsches Kästchen zeigte, bekam ich eine geklebt. Als ich nur noch heulte und überhaupt keine Antworten mehr geben konnte, da ging er zum Gummibaum. Ich wußte schon, was das bedeutete. Er zog den Bambusstock, der den Gummibaum hielt, aus dem Blumentopf. Dann drosch er mit dem Bambusstock auf meinen Hintern, bis man buchstäblich die Haut abziehen konnte.
Meine Angst fing schon beim Essen an. Wenn ich kleckerte, hatte ich ein Ding weg. Wenn ich etwas umstieß, versohlte er mir den Hintern. Ich wagte kaum noch, mein Milchglas zu berühren. Vor lauter Angst passierte mir dann bei fast jedem Essen irgendein Unglück.
Abends fragte ich meinen Vater immer ganz lieb, ob er nicht wegginge. Er ging ziemlich oft weg, und wir drei Frauen atmeten dann erst einmal tief durch. Diese Abende waren herrlich friedlich. Wenn er dann allerdings in der Nacht nach Hause kam, konnte es wieder ein Unglück geben. Er hatte meistens etwas getrunken. Irgendeine Kleinigkeit dann, und er rastete total aus. Es konnten Spielsachen oder Kleidungsstücke sein, die unordentlich rumlagen. Mein Vater sagte immer, Ordnung sei das Wichtigste im Leben. Und wenn er nachts Unordnung sah, dann zerrte er mich aus dem Bett und schlug mich. Meine kleine Schwester bekam anschließend auch noch etwas ab. Dann warf mein Vater unsere Sachen auf den Fußboden und befahl, in fünf Minuten wieder alles ordentlich einzuräumen. Das schafften wir meistens nicht und bekamen noch mal Kloppe.
Meine Mutter stand dabei meistens weinend in der Tür. Sie wagte selten, uns zu verteidigen, weil er dann auch sie schlug. Nur Ajax, meine Dogge, sprang oft dazwischen. Sie winselte ganz hoch und hatte sehr traurige Augen, wenn in der Familie geschlagen wurde. Sie brachte meinen Vater am ehesten zur Vernunft, denn er liebte ja Hunde wie wir alle. Er hatte Ajax mal angeschrien, aber nie geschlagen.
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Trotzdem liebte und achtete ich meinen Vater irgendwie. Ich dachte, er sei anderen Vätern haushoch überlegen. Aber vor allem hatte ich Angst vor ihm. Dabei fand ich es ziemlich normal, daß er so oft um sich schlug. Bei anderen Kindern in der Gropiusstadt war es zu Hause nicht anders. Die hatten sogar manchmal richtige Veilchen im Gesicht und ihre Mütter auch. Es gab Väter, die lagen betrunken auf der Straße oder auf dem Spielplatz rum. So schlimm betrank sich mein Vater nie. Und es passierte in unserer Straße auch, daß Möbelstücke aus den Hochhäusern auf die Straße flogen, Frauen um Hilfe schrien und die Polizei kam. So schlimm war es bei uns also nicht.
Das Auto, der Porsche, war wohl das, was mein Vater am meisten liebte. Er wienerte ihn fast jeden Tag, wenn er nicht gerade in der Werkstatt stand. Einen zweiten Porsche gab es wohl nicht in der Gropiusstadt. Jedenfalls bestimmt keinen Arbeitslosen mit Porsche.
Ich hatte natürlich damals keine Ahnung, was mit meinem Vater los war, warum er ständig regelrecht ausrastete. Mir dämmerte es erst später, als ich mich auch mit meiner Mutter häufiger über meinen Vater unterhielt. Allmählich habe ich einiges durchschaut. Er packte es einfach nicht. Er wollte immer wieder hoch hinaus und fiel jedesmal auf den Arsch. Sein Vater verachtete ihn deshalb. Opa hatte schon meine Mutter vor der Ehe mit dem Taugenichts gewarnt. Mein Opa hatte eben immer große Pläne mit meinem Vater gehabt (S. 18-20).
Mein sehnlichster Wunsch war, schnell älter zu werden, erwachsen zu sein wie mein Vater, wirkliche Macht zu haben über andere Menschen. Was ich an Macht hatte, probierte ich inzwischen aus.
Mit meiner kleinen Schwester spielten wir fast jeden Tag das Spiel, das wir gelernt hatten. Wenn wir aus der Schule kamen, suchten wir Zigarettenkippen aus Aschenbechern und Mülleimern. Wir strichen sie glatt, klemmten sie zwischen die Lippen und pafften. Wenn meine Schwester auch eine Kippe haben wollte, bekam sie was auf die Finger. Wir befahlen ihr, die Hausarbeit zu machen, also abwaschen, staubwischen und was uns die Eltern noch so aufgetragen hatten. Dann nahmen wir unsere Puppenwagen, schlossen die Wohnungstür hinter uns ab und gingen spazieren. Wir schlossen meine Schwester solange ein, bis sie die Arbeit gemacht hatte (S. 22).
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Christiane, die häufig aus ihr unverständlichen Gründen vom Vater verprügelt wird, fängt schließlich an, sich so zu benehmen, daß ihr Vater »einen guten Grund zum Prügeln« bekommt. Auf diese Art wertet sie ihn auf sie macht aus dem ungerechten und unberechenbaren Vater wenigstens einen gerecht strafenden. Das ist die einzige Möglichkeit, die ihr bleibt, um das Bild des idealisierten geliebten Vaters zu retten. Sie fängt auch an, andere Männer herauszufordern und sie zu strafenden Vätern zu machen, zunächst den Hauswart, dann die Lehrer und schließlich, in der Drogenszene, die Polizisten. Auf diese Art wird der Konflikt mit dem Vater auf andere Menschen verschoben.
Da Christiane nicht mit dem Vater über die Konflikte sprechen, sie nicht mit ihm austragen kann, wird der ursprüngliche Haß auf den Vater aus dem Bewußtsein verdrängt und im Unbewußten aufgestaut. Mit anderen männlichen Autoritäten wird dafür stellvertretend ein Kampf geführt, und schließlich wird die ganze aufgestaute Wut des gedemütigten, nicht respektierten, nicht verstandenen, alleingelassenen Kindes in der Sucht gegen das eigene Selbst gerichtet. In der weiteren Entwicklung macht Christiane mit sich das, was früher ihr Vater mit ihr gemacht hat: sie zerstört systematisch ihre Würde, manipuliert mit Drogen ihre Gefühle, verurteilt sich (dieses besonders sprachbegabte Kind!) zur Sprachlosigkeit und Isolierung und ruiniert schließlich sowohl ihren Körper wie ihre Seele.
Bei der Schilderung der Kinderwelt von Christiane mußte ich manchmal an bestimmte Beschreibungen des Lebens im KZ denken, so z.B. bei den folgenden Szenen:
Zunächst mal ging es natürlich darum, andere Kinder zu ärgern. Da griffen wir uns ein Kind, sperrten es in einen Fahrstuhl und drückten alle Knöpfe. Den anderen Fahrstuhl hielten wir fest. Dann mußte der bis zum obersten Stock hochjuckeln mit einem Halt in jedem Stockwerk. Mit mir haben sie das auch oft gemacht.
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Gerade wenn ich mit meinem Hund zurückkam und rechtzeitig zum Abendbrot zu Hause sein mußte. Dann haben die alle Knöpfe gedrückt, und es dauerte eine elend lange Zeit, bis ich im elften Stock war, und Ajax wurde dabei wahnsinnig nervös.
Gemein war es, jemandem alle Knöpfe zu drücken, der hochwollte, weil er mußte. Der pullerte am Ende in den Fahrstuhl. Noch gemeiner allerdings war es, einem Kind den Kochlöffel wegzunehmen. Alle kleinen Kinder gingen nur mit einem Kochlöffel nach draußen. Denn nur mit einem langen hölzernen Kochlöffel kamen wir an die Fahrstuhlknöpfe ran. Ohne Kochlöffel war man also total aufgeschmissen. Wenn man ihn verloren hatte oder andere Kinder ihn weggenommen hatten, konnte man elf Stockwerke zu Fuß hochlatschen. Denn die anderen Kinder halfen einem natürlich nicht, und die Erwachsenen dachten, man wolle nur im Fahrstuhl spielen und ihn kaputt machen (S.27).
Eines Nachmittags lief eine Maus in das Gras, das wir nicht betreten durften. Wir fanden sie nicht wieder. Ich war ein bißchen traurig, tröstete mich aber mit dem Gedanken, daß es der Maus draußen viel besser gefallen würde als im Käfig.
Ausgerechnet am Abend dieses Tages kam mein Vater in das Kinderzimmer, sah in den Mäusekäfig und fragte ganz komisch: »Wieso sind da nur zwei? Wo ist denn die dritte Maus?« Ich witterte noch kein Unheil, als er so komisch fragte. Mein Vater hatte die Mäuse nie gemocht und mir immer wieder gesagt, ich solle sie weggeben. Ich erzählte, daß mir die Maus auf dem Spielplatz weggelaufen sei.
Mein Vater sah mich an wie ein Irrer. Ich wußte, daß er nun total ausrastete. Er schrie und schlug sofort zu. Er schlug, und ich war eingezwängt in meinem Bett und kam nicht raus. Er hatte noch nie so zugeschlagen, und ich dachte, er haut mich tot. Als er dann auch auf meine Schwester eindrosch, hatte ich ein paar Sekunden Luft und versuchte instinktiv zum Fenster zu kommen. Ich glaube, ich wäre rausgesprungen, aus dem 11. Stock. Aber mein Vater packte mich und warf mich auf das Bett zurück. Meine Mutter stand wohl wieder weinend in der Tür, aber ich sah sie gar nicht. Ich sah sie erst, als sie sich zwischen meinen Vater und mich warf. Sie schlug mit Fäusten auf meinen Vater ein. Er war völlig von Sinnen.
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Er prügelte meine Mutter auf den Flur. Ich hatte plötzlich mehr Angst um meine Mutter als um mich. Ich ging hinterher. Meine Mutter versuchte ins Badezimmer zu fliehen und die Tür vor ihm zuzumachen. Aber mein Vater hielt sie an den Haaren fest. In der Badewanne war wie an jedem Abend Wäsche eingeweicht. Denn zu einer Waschmaschine hatte es bisher bei uns nicht gereicht. Mein Vater stieß den Kopf meiner Mutter in die volle Badewanne. Irgendwie kam sie wieder frei. Ich weiß nicht, ob mein Vater sie losließ oder ob sie sich selbst befreite.
Mein Vater verschwand leichenblaß im Wohnzimmer. Meine Mutter ging zur Garderobe und zog sich den Mantel an. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie aus der Wohnung. Das war wohl einer der schrecklichsten Momente in meinem Leben, als meine Mutter einfach, ohne ein Wort zu sagen, aus der Wohnung ging und uns allein ließ. Im ersten Moment dachte ich nur, nun kommt er wieder und schlägt weiter. Aber im Wohnzimmer blieb es ruhig bis auf den Fernseher, der lief (S. 34f.).
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Niemand wird ernsthaft daran zweifeln können, daß die Häftlinge eines Konzentrationslagers Schreckliches gelitten haben. Wenn aber von körperlichen Mißhandlungen der Kinder berichtet wird, reagieren wir erstaunlich gelassen; wir sagen, je nach Ideologie: »das ist ja ganz normal«, oder »Kinder muß man schließlich erziehen«, oder »das war damals Sitte«, oder »wer nicht hören will, muß fühlen« usw. Ein älterer Herr erzählte einmal vergnügt in einer Gesellschaft, daß seine Mutter ihn als kleines Kind über einem eigens dazu entfachten Strohfeuer geschaukelt hatte, um seine Hose zu trocknen und ihm das Einnässen abzugewöhnen. »Meine Mutter war der beste Mensch, den man sich denken kann, aber das war damals der Brauch bei uns«, sagte er.
Dieser Mangel an Einfühlung in die eigenen Kindheitsleiden führt dazu, daß man auch dem Leiden anderer Kinder gegenüber erstaunlich stumpf bleiben kann. Wenn das, was mir geschah, zu meinem Wohl geschehen mußte, so ist diese Behandlung als notwendiger Teil des Lebens zu akzeptieren und nicht zu hinterfragen.
Diese Abstumpfung hat also ihre Vorgeschichte im eigenen Mißhandeltwerden, dessen Erinnerung zwar erhalten geblieben sein kann, dessen emotionaler Gehalt aber, das ganze Erlebnis des Geschlagen- und Gedemütigtwerdens, in den meisten Fällen vollständig verdrängt werden mußte.
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Da liegt der Unterschied zwischen der Folterung eines Erwachsenen und der eines Kindes. Beim letzteren ist das Selbst noch nicht so ausgebildet, um eine Erinnerungsspur mit den dazugehörigen Gefühlen erhalten zu können. Es wird zwar (obwohl nicht immer) das Wissen gespeichert, daß man geschlagen worden ist und daß dies — wie die Eltern gesagt haben — zum eigenen Wohle geschah, aber das Leiden der eigenen Mißhandlung wird unbewußt bleiben und später eine Einfühlung in andere behindern. Deshalb werden die ehemals geschlagenen Kinder zu schlagenden Vätern und Müttern, aus denen sich auch die zuverlässigsten Henker, KZ-Aufseher, Kapos, Gefängniswärter, Folterer rekrutieren. Sie schlagen, mißhandeln, foltern aus dem inneren Zwang, ihre eigene Geschichte zu wiederholen, und können das ohne jegliches Mitgefühl für das Opfer tun, weil sie vollständig mit dem attackierenden Teil identifiziert sind.
Diese Menschen wurden selber so früh geschlagen und gedemütigt, daß es ihnen gar nie möglich war, das hilflose, attackierte Kind in sich bewußt zu erleben, denn dazu hätte eine verstehende, begleitende erwachsene Person gehört, die ihnen fehlte. Nur unter diesen Bedingungen würde sich das Kind auch als das, was es im Moment ist, nämlich als das schwache, hilflose, ausgelieferte, geschlagene Kind erleben und diesen Teil in sein Selbst integrieren können.
Man könnte sich theoretisch vorstellen, daß ein Kind von seinem Vater zwar geschlagen wurde, sich aber danach bei einer gütigen Tante ausweinen konnte, erzählen konnte, wie es ihm ergangen sei, und daß diese Tante nicht versucht hätte, dem Kind seinen Schmerz auszureden oder den Vater zu rechtfertigen, sondern dem ganzen Geschehen sein Gewicht belassen hätte.
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Aber solche Glücksfalle sind selten. Der Ehepartner eines schlagenden Elternteils teilt diese Erziehungsprinzipien oder aber ist selber sein Opfer, auf jeden Fall selten ein Anwalt des Kindes. Eine solche vorgestellte »Tante« ist deshalb eine große Ausnahme, weil das geschlagene Kind wohl kaum die innere Freiheit haben wird, sie aufzusuchen und zu gebrauchen. Ein Kind wird eher die entsetzliche innere Isolierung und Aufspaltung der Gefühle auf sich nehmen, als den Vater oder die Mutter bei fremden Leuten zu »verpetzen«. Psychoanalytiker wissen, wie lange es u.U. dauern kann, bis der seit 30, 40, 50 Jahren unterdrückte Vorwurf eines Kindes formulierbar und erlebbar wird.
Deshalb ist die Situation eines kleinen mißhandelten Kindes u.U. noch schlimmer und in den Folgen für die Gesellschaft eher gravierender als die Situation eines Erwachsenen im KZ-Lager. Zwar wird auch der ehemalige Lagerhäftling zuweilen vor Situationen stehen, in denen er spürt, daß er den ganzen Abgrund seines damaligen Leidens niemals wird adäquat vermitteln können, daß man ihm verständnislos, kalt, stumpf, gleichgültig, ja sogar ungläubig gegenübersteht*, aber er selber wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht an der Tragik seiner Erlebnisse zweifeln. Er wird niemals versuchen, sich die ihm zugefügte Grausamkeit als Wohltat einzureden, die Absurdität des Lagers als eine für ihn notwendige Erziehungsmaßnahme zu verstehen, wird meistens nicht versuchen, sich in die Beweggründe seiner Henker einzufühlen. Er wird Menschen finden, die ähnliche Erlebnisse hatten, und seine Gefühle von Empörung, Haß und Verzweiflung über die erlittene Grausamkeit mit ihnen teilen.
* William G. Niederlands Buch Folgen der Verfolgung (1980) vermittelt dem Leser sehr eindringlich die verständnislose Umwelt des ehemaligen Häftlings im Spiegel der psychiatrischen Gutachterpraxis.
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All diese Möglichkeiten fehlen dem mißhandelten Kind. Es ist mit seinem Leiden, wie ich es am Beispiel von Christiane F. zu zeigen versuche, nicht nur einsam in der Familie, sondern auch im eigenen Selbst. Und weil es mit niemandem diesen Schmerz teilen kann, wird es sich auch in der eigenen Seele keinen Ort schaffen können, wo es sich ausweinen könnte. Der Schoß einer »gütigen Tante« in seinem Selbst wird nicht kreiert, es bleibt bei der Ideologie »man muß auf die Zähne beißen und tapfer sein«. Das Wehr- und Hilflose bekommt im Selbst keine Heimat und wird späterhin der Identifikation mit dem Aggressor, überall in der Welt verfolgt.
Ein Mensch, der von Anfang an mit oder ohne Hilfe von körperlichen Züchtigungen gezwungen war, das lebendige Kind in sich abzutöten bzw. zu verdammen, abzuspalten und zu verfolgen, wird sein ganzes Leben damit zu tun haben, diese innere Gefahr nicht wieder aufkommen zu lassen. Doch die seelischen Kräfte sind von einer solchen Zähigkeit, daß sie selten endgültig umzubringen sind. Sie suchen sich immer wieder Auswege, um überleben zu können, oft in sehr verzerrten und für die Gesellschaft nicht ungefährlichen Formen. Eine der Formen ist die Projektion des Kindlichen nach außen, wie z.B. in der Grandiosität, eine andere ist die Bekämpfung des »Bösen« im eigenen Innern. Die »Schwarze Pädagogik« zeigt, wie sich die beiden Formen verbinden und wie sie in der traditionellen religiösen Erziehung gekoppelt sind.
Der Vergleich zwischen der Mißhandlung des Kindes und der des Erwachsenen hat neben den Gesichtspunkten des Reifegrades des Selbst, der Loyalität, der Isolierung noch einen anderen Aspekt. Der mißhandelte Häftling darf zwar keinen Widerstand leisten, darf sich gegen Demütigungen nicht wehren, aber er ist innerlich frei, seinen Verfolger zu hassen. Diese Möglichkeit, seine Gefühle zu erleben, ja sie sogar mit anderen Häftlingen zu teilen, gibt ihm die Chance, sein Selbst nicht aufgeben zu müssen. Gerade diese Chance hat ein Kind nicht.
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Es darf seinen Vater nicht hassen, das geht ja aus dem Vierten Gebot hervor und wurde ihm von klein auf anerzogen, aber es kann ihn auch nicht hassen, wenn es Angst haben muß, seine Liebe zu verlieren, und es will ihn gar nicht hassen, weil es ihn liebt. Ein Kind steht also nicht wie ein Lagerinsasse vor dem gehaßten, sondern vor dem geliebten Verfolger, und es ist gerade diese tragische Komplikation, die auf sein ganzes späteres Leben den stärksten Einfluß nehmen wird. Christiane F. schreibt:
Ich hatte ihn ja nie gehaßt, sondern nur Angst vor ihm gehabt. Ich war auch immer stolz auf ihn gewesen. Weil er tierlieb war, und weil er ein so starkes Auto hatte, seinen 62er Porsche (S. 36).
Diese Sätze sind so erschütternd, weil sie wahr sind: Genauso empfindet ein Kind. Seine Toleranz hat keine Grenzen, es ist immer treu und sogar stolz, daß sein Vater, der es brutal schlägt, niemals einem Tier etwas zuleide täte; es ist bereit, ihm alles zu verzeihen, die ganze Schuld immer auf sich zu nehmen, keinen Haß zu empfinden, alles Vorgefallene schnell zu vergessen, nichts nachzutragen, niemandem etwas zu erzählen, mit seinem Verhalten zu versuchen, neue Schläge zu vermeiden, herauszufinden, weshalb der Vater unzufrieden ist, ihn zu verstehen usw. Es kommt selten vor, daß sich umgekehrt der Erwachsene einem Kind gegenüber so verhält — es sei denn, er ist sein Psychotherapeut —, doch beim abhängigen, sensiblen Kind ist es fast die Regel. Was geschieht aber mit all den unterdrückten Affekten? Man kann sie ja nicht aus der Welt schaffen. So müssen sie auf Ersatzobjekte gerichtet werden, um den Vater zu schonen.
Auch darüber gibt uns Christianes Bericht einen anschaulichen Unterricht, als sie ihr Leben mit der inzwischen geschiedenen Mutter und deren Freund Klaus beschreibt:
Wir bekamen dann auch Krach miteinander. Wegen Kleinigkeiten. Ich provozierte manchmal diesen Krach. Meistens ging es ums Plattenspielen. Meine Mutter hatte mir zum 11. Geburtstag einen Plattenspieler, so eine kleine Funzel, gekauft, und ich hatte ein paar Platten, Disco-Sound, Teeny-Musik. Und abends legte ich mir dann eine Scheibe auf und drehte die Funzel so weit auf, daß es zum Ohrenzerreißen war.
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Eines Abends kam Klaus in das Kinderzimmer und sagte, ich solle den Plattenspieler leiser stellen. Ich tat das nicht. Er kam wieder und riß den Arm von der Platte. Ich legte ihn wieder auf und stellte mich so vor den Plattenspieler, daß er nicht dran kam. Da faßte er mich an und schubste mich weg. Als dieser Mann mich anfaßte, flippte ich aus (S. 38).
Das gleiche Kind, das die unheimlichsten Schläge seines Vaters wehrlos ertrug, »flippte« nun sofort aus, als »dieser Mann« es anfaßte. Ähnliches kann man in Analysen öfters miterleben. Frauen, die unter ihrer Frigidität leiden oder während der Analyse Ekelgefühle beim Berühren ihrer Männer entwickeln, kommen auf dieser Spur zu sehr frühen Erinnerungen von sexuellem Mißbrauch durch ihre Väter oder andere Männer der Familie. In der Regel tauchen diese Erinnerungen mit spärlichen Gefühlen auf, der starke Affekt ist zunächst beim gegenwärtigen Partner gebannt. Erst mit der Zeit wird die ganze Skala der Enttäuschungen am geliebten Vater erlebt: die Scham, die Demütigung, die Wut, die Empörung.
Es kommt häufig in Analysen vor, daß kurz bevor das Wissen über die sexuelle Verführung durch den Vater ins Bewußtsein durchbrechen darf, Deckerinnerungen über ähnliche Szenen mit weniger nahen Personen erzählt werden.
Wer ist hier »der Mann«? Wenn es nicht der eigene Vater war, warum hat sich das Kind nicht gewehrt? Warum hat es den Eltern nichts davon erzählt? Hat es nicht vorher schon Ähnliches mit seinem Vater erlebt und dort die Schweigepflicht als selbstverständlich eingeübt? Die Verschiebung der »bösen« Affekte auf eher gleichgültigere Personen ermöglicht es, die bewußt »gute« Beziehung zum Vater aufrechtzuerhalten.
Als Christiane ihre Kräche mit Klaus haben konnte, schien ihr ihr Vater »wie ausgewechselt«. »Er tat unheimlich nett. Und er war es eigentlich auch. Er schenkte mir wieder eine Dogge. Eine Hündin« (S. 39). Und etwas weiter heißt es:
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Mein Vater war prima. Ich merkte, daß er mich auf eine Art auch liebte. Er behandelte mich jetzt fast wie eine Erwachsene. Ich durfte sogar abends mit ihm und seiner Freundin noch ausgehen.
Er war richtig vernünftig geworden. Er hatte jetzt auch gleichaltrige Freunde und allen hatte er erzählt, daß er schon verheiratet gewesen war. Ich mußte ihn nicht mehr Onkel Richard nennen. Ich war seine Tochter. Und er schien richtig stolz darauf, daß ich seine Tochter war. Allerdings, typisch für ihn: er hatte den Urlaub so gelegt, wie es ihm und seinen Freunden am besten paßte. Ans Ende meiner Ferien. Und ich kam gleich zwei Wochen zu spät in meine neue Schule. Ich begann also gleich mit Schulschwänzen (S. 40).
Der nie geleistete Widerstand gegen die Prügel des Vaters zeigt sich nun im Kampf mit den Lehrern:
Ich fühlte mich nicht anerkannt in der Schule. Die anderen hatten ja diese zwei Wochen Vorsprung. Das ist in einer neuen Schule ein großer Vorsprung. Ich probierte mein Rezept aus der Grundschule auch hier. Ich unterbrach die Lehrer mit Zwischenrufen, ich widersprach. Manchmal, weil ich recht hatte, und manchmal nur so. Ich kämpfte wieder einmal. Gegen die Lehrer und die Schule. Ich wollte Anerkennung (S. 41).
Dieser Kampf dehnt sich nachher auch auf Polizisten aus. Der Jähzorn des Vaters gerät so in Vergessenheit, so sehr, daß Christiane sogar schreiben kann:
Ich kannte bisher eigentlich nur (!) Hauswarte als Autoritätstypen, die man hassen mußte, weil sie einem immer im Nacken waren, wenn man Spaß hatte. Polizisten waren für mich noch eine unangreifbare Autorität. Jetzt lernte ich, daß die Hauswarts-Welt von Gropiusstadt eine Bullen-Welt sei. Daß Bullen viel gefährlicher als Hauswarte waren. Was Piet und Kathi sagten, war für mich sowieso die reine und letzte Wahrheit (S. 46).
Die andern bieten ihr Haschisch an, und es ist ihr klar, daß sie »nicht nein sagen konnte«.
Kathi begann, mich zu streicheln. Da wußte ich nicht mehr, ob ich das gutfinden sollte (S. 47).
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Ein konditioniertes, braves Kind darf nicht spüren, was es empfindet, sondern fragt sich, wie es fühlen sollte.
Ich wehrte mich nicht. Ich war richtig gelähmt. Ich hatte wahnsinnige Angst vor irgend etwas. Einmal wollte ich rauslaufen. Dann dachte ich wieder: »Christiane, das ist der Preis dafür, daß du jetzt in dieser Clique bist«. Ich habe alles über mich ergehen lassen und nichts gesagt. Ich hatte ja irgendwo auch die wahnsinnige Hochachtung vor diesen Typen (S. 48).
Christiane hat früh lernen müssen, daß Liebe und Anerkennung nur mit der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, Regungen und Gefühle (wie Haß, Ekel, Widerwille) zu erkaufen ist, also um den Preis der Selbstaufgabe. Das ganze Bestreben geht nun dahin, diese Selbstaufgabe zu erreichen, d.h. cool zu sein. Das Wort cool kommt daher fast auf jeder Seite dieses Buches vor. Um diesen Zustand zu erreichen, um frei von unerwünschten Gefühlen zu werden, brauchte man Haschisch:
Anders als die Alkis, die ihren Streß noch im Club mit sich rumtrugen und aggressiv waren, konnten die Typen in unserer Clique total abschalten. Sie schmissen sich nach Feierabend in ihre geilen Sachen, rauchten Dope, hörten coole Musik, und es war der totale Frieden. Da vergaßen wir die ganze Scheiße, durch die wir den übrigen Tag draußen gehen mußten. Ich fühlte mich noch nicht genauso wie die anderen. Dazu glaubte ich, sei ich noch zu jung. Aber die anderen waren meine Vorbilder. Ich wollte möglichst so sein wie sie oder so werden. Von ihnen wollte ich lernen, weil ich dachte, sie wüßten, wie man cool lebt und sich von all den Arschlöchern und der ganzen Scheiße nicht anmachen läßt (S. 49).
Ich mußte mich immer irgendwie antörnen. Ich war ständig im totalen Tran. Das wollte ich auch, um ja nicht mit dem ganzen Dreck in der Schule und zu Hause konfrontiert zu werden (S. 51).
Ich wollte geheimnisvoll aussehen. Niemand sollte mich durchschauen. Es sollte niemand merken, daß ich gar nicht die coole Braut war, die ich sein wollte (S. 52).
Probleme gab es in der Clique nicht. Wir redeten nie über unsere Probleme. Keiner belästigte den anderen mit seinem Scheiß zu Hause oder auf der Arbeit. Wenn wir zusammen waren, gab es für uns die miese Welt der anderen gar nicht (S. 60f).
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Das falsche Selbst wird bewußt und mit viel Mühe aufgebaut und perfektioniert. Einige Sätze illustrieren diese Bemühung:
Da waren also unheimlich coole Typen ... Er war irgendwie noch cooler als die Typen in unserer Clique ... (S. 63).
Es gab irgendwie überhaupt keinen Kontakt zwischen den Menschen (S. 64).
Das war eine ganz coole Clique (S. 68).
Auf der Treppe ... unheimlich ruhig (S. 67).
Doch dieses Ideal einer vollständigen Ruhe ist für einen Pubertierenden am wenigsten erreichbar. Gerade in dieser Zeit erlebt der Mensch seine Gefühle am intensivsten, und der Kampf gegen diese Gefühle mit Hilfe der Pille kommt einem seelischen Mord nahe. Um also doch noch etwas von ihrer Lebendigkeit, von ihrer Fähigkeit zu fühlen, retten zu können, muß eine andere Droge herhalten, eine, die nicht beruhigt, sondern gerade im Gegenteil aufregt, aufputscht und wieder das Gefühl gibt, noch am Leben zu sein. Die Hauptsache ist aber, daß man alles selber regulieren, kontrollieren, manipulieren kann.
Wie die Eltern früher mit Hilfe des Schlagens die Gefühle des Kindes nach ihren Bedürfnissen erfolgreich unter Kontrolle bekamen, so versucht jetzt das zwölfjährige Mädchen, ihre Stimmungen mit Hilfe der Drogen zu manipulieren.
Auf der Szene am Sound gab es alles an Drogen. Ich nahm alles an Drogen bis auf H. Valium, Mandrax, Ephedrin, Cappis, also Captagon, natürlich jede Menge Shit und wenigstens zweimal die Woche einen Trip. Aufputsch- und Schlafmittel schmissen wir mittlerweile gleich handvoll rein. Die Pillen lieferten sich im Körper einen wahnsinnigen Kampf, und das gab das geile Feeling. Man konnte sich Stimmungen machen, wie man Bock hatte. Man konnte entweder mehr Aufputscher oder mehr Beruhigungspillen fressen. Wenn ich also Bock hatte, im Sound abzuhotten, dann schluckte ich mehr Cappis und Ephedrin, wenn ich nur ruhig in der Ecke sitzen wollte oder im Sound-Kino, dann schmiß ich ordentlich Valium und Mandrax ein. Ich war mal wieder ein paar Wochen rundum glücklich (S.70).
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Wie geht das weiter?
Ich versuchte in den nächsten Tagen, alle Gefühle für andere in mir abzutöten. Ich nahm keine Tabletten und nicht einen einzigen Trip. Ich trank den ganzen Tag Tee mit Haschisch drin und machte mir einen Joint nach dem anderen. Ich fand mich nach ein paar Tagen schon wieder echt cool. Ich hatte es geschafft, daß ich außer mir selber niemanden und nichts mehr liebte oder gern hatte. Ich dachte, nun hätte ich also meine Gefühle unter Kontrolle (S.73f.).
Ich wurde sehr ruhig. Das lag auch daran, daß ich immer mehr Beruhigungspillen einschmiß und nur noch selten Aufputscher. Meine ganze Hippeligkeit war weg. Ich ging nur noch selten auf die Tanzfläche. Ich hottete eigentlich nur noch ab, wenn ich kein Valium aufreißen konnte.
Zu Hause muß ich für meine Mutter und ihren Freund richtig angenehm geworden sein. Ich widersprach nicht, ich kämpfte nicht mehr mit ihnen. Ich lehnte mich gegen nichts mehr auf, weil ich es aufgegeben hatte, für mich zu Hause irgend etwas zu verändern. Und ich merkte, daß dadurch die Situation einfacher wurde (S. 75).
Ich nahm immer mehr Tabletten. Als ich einen Samstag Geld hatte und alles an Pillen auf der Scene war, übertrieb ich es. Weil ich irgendwie sehr down war, spülte ich zwei Captagon, drei Ephedrin und noch ein paar Coffies, also Coffein-Tabletten mit einem Bier runter. Als ich dann total aufgedreht war, gefiel mir das auch nicht. Da schmiß ich Mandrax und jede Menge Valium nach (S. 78).
Sie geht zum Konzert von David Bowie, darf sich aber nicht darauf freuen und muß vorher eine ganze Menge Valium schlucken. »Nicht, um sich zu berauschen, sondern um bei David Bowie ganz cool zu bleiben« (S. 80).
Als David Bowie anfing, da war es beinah so geil, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war wahnsinnig. Als er dann aber zu dem Stück kam »It is too late«, es ist zu spät, kam ich mit einem Schlag runter. Ich war mit einem Mal ganz blöde drauf. Schon in den letzten Wochen, als ich nicht mehr wußte, wozu und wohin, war mir dies »It is too late« an den Nerv gegangen. Ich dachte, daß der Song genau meine Situation beschrieb. Nun haute mich dieses »It is too late« um. Ich hätte mein Valium gebraucht (S. 81).
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Als die alten Mittel die erwünschte Kontrolle nicht mehr leisten können, steigt Christiane, mit 13 Jahren, auf Heroin um, und alles geht zunächst wie gewünscht:
Mir ging es zu gut zum Nachdenken. Entzugserscheinungen gibt es ja noch nicht, wenn man anfängt. Bei mir hielt das coole Feeling die ganze Woche an. Alles lief prima. Zu Hause gab es überhaupt keinen Krach mehr. Die Schule nahm ich ganz relaxed, arbeitete manchmal mit und bekam gute Zensuren. In den nächsten Wochen arbeitete ich mich in vielen Fächern von vier auf zwei rauf. Ich meinte plötzlich, mit allen Menschen und allem klarzukommen. Ich schwebte richtig cool durchs Leben (S. 84f).
Menschen, die in ihrer Kindheit nicht lernen konnten, sich mit ihren echten Gefühlen vertraut zu machen und mit ihnen frei umzugehen, werden es in der Pubertät besonders schwer haben.
Ich schleppte immer Probleme mit mir rum und wußte nicht mal richtig, was für Probleme das waren. Ich sniefte H. und die Probleme waren weg. Aber so ein Snief hielt längst nicht mehr für eine Woche vor (S. 92).
Irgendeinen Bezug zur Wirklichkeit hatte ich nicht mehr. Das Wirkliche war für mich unwirklich. Mich interessierte weder gestern noch morgen. Ich hatte keine Pläne, sondern nur noch Träume. Am liebsten redete ich mit Detlef darüber, wie es wäre, wenn wir viel Geld hätten. Ein großes Haus wollten wir uns kaufen und ein großes Auto und die coolsten Möbel. Nur eins kam in diesen Spinnereien nie vor: Heroin (S. 95).
Mit dem ersten Turkey brechen die ersehnte Manipulierbarkeit und Unabhängigkeit von Gefühlen zusammen. Es ist eine totale Regression auf die Stufe eines Säuglings.
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Ich war nun vom H abhängig und von Detlef. Daß ich von Detlef abhängig war, hat mich mehr erschreckt. Was war das für eine Liebe, wenn einer total abhängig war? Was war, wenn Detlef mich abends um Dope bitten und betteln ließ? Ich wußte, wie Fixer bettelten, wenn sie auf Turkey kamen. Wie sie sich erniedrigten und demütigen ließen. Wie sie dann zu einem Nichts zusammenfielen. Ich konnte nicht bitten. Schon gar nicht Detlef. Wenn er mich betteln ließ, dann war es aus mit uns. Ich hatte noch nie jemanden um was bitten können (S. 114).
Ich dachte daran, wie ich Fixer, die auf Turkey waren, fertiggemacht hatte. Ich hatte das ja nie so richtig abgecheckt, was mit denen los war. Ich hatte nur gemerkt, daß die unheimlich empfindlich waren, leicht verletzbar und ohne jede Kraft. Ein Fixer auf Turkey wagt kaum zu widersprechen, so ein Nichts ist er. Ich hatte an denen manchmal meine Machtgelüste ausgetobt. Wenn man es richtig anfing, konnte man sie regelrecht kaputtmachen, ihnen einen richtigen Schock versetzen. Man mußte nur ordentlich auf ihren wirklichen Schwächen rumhacken, immer wieder in ihren Wunden bohren, dann klappten sie zusammen.
Auf Turkey hatten sie ja genügend Durchblick, um zu begreifen, was für elende Würstchen sie waren. Da war das ganze coole Fixer-Gehabe weg, da fühlte man sich nicht mehr erhaben über alles und alle. Ich sagte mir: Jetzt machen sie dich fertig, wenn du auf Turkey bist. Die werden schon rausfinden, wie mies du eigentlich bist (S. 115).
In dieser Panik vor Turkey gibt es keinen Menschen, mit dem Christiane sich darüber aussprechen könnte, denn die Mutter »würde glatt ausflippen, wenn du ihr das erzählst«. »Ich konnte ihr das nicht antun«, meint Christiane und trägt die tragische Einsamkeit des Kindes weiter, um die erwachsene Person, ihre Mutter, zu schonen.
Der Vater kommt ihr nach langer Zeit wieder in den Sinn, als sie zum ersten Mal »anschaffen« geht und das vor ihrem Freund Detlef verheimlichen will.
Ich und anschaffen. Bevor ich so was mache, würde ich aufhören zu drücken. Ehrlich. Nee, mein Vater hat sich wieder mal dran erinnert, daß er eine Tochter hat und mir Taschengeld gegeben (S.120).
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Wenn Haschisch noch die Hoffnung auf Befreiung und coole Unabhängigkeit weckte — beim Heroin wird es bald deutlich, daß mit einer totalen Abhängigkeit zu rechnen ist. Der »Stoff«, die harte Droge übernimmt schließlich die Funktion des launischen, jähzornigen Vaters der Kindheit, dem man ebenso wie jetzt dem Heroin total ausgeliefert war. Und wie damals das wahre Selbst vor den Eltern verborgen bleiben mußte, spielt sich auch hier das eigentliche Leben im geheimen, im Untergrund ab, zunächst noch ein Geheimnis vor der Schule und vor der Mutter.
Wir alle wurden von Woche zu Woche aggressiver. Das Dope und die ganze Hektik, der Kampf jeden Tag um Geld und H, der ewige Streß zu Hause, das Verstecken und das Gelüge, mit dem wir unsere Eltern täuschten, machten die Nerven kaputt. Man konnte die Aggressivität, die sich da aufstaute, auch untereinander nicht mehr unter Kontrolle halten (S. 133).
Die Wiederkehr des Vaters in der psychischen Dynamik ist vielleicht nicht für Christiane, aber für einen Außenstehenden deutlich sichtbar, als Christiane ihre erste Begegnung mit dem Stotter-Max beschreibt. Dieser einfache und ehrliche Bericht öffnet beim Leser mehr Verständnis für das Wesen und die Tragik einer Perversion, als es viele theoretische psychoanalytische Abhandlungen tun. Christiane erzählt:
Ich kannte von Detlef die traurige Geschichte von Stotter-Max. Er war Hilfsarbeiter, Ende dreißig und kam aus Hamburg. Seine Mutter war Prostituierte. Er hatte als Kind wahnsinnig Schläge bekommen. Von der Mutter und ihren Zuhältern und in den Heimen, in denen er war. Die haben ihn so weichgekloppt, daß er vor lauter Angst nie lernte, richtig zu sprechen, und die Schläge nun auch brauchte, um sich sexuell zu befriedigen. Wir sind beide in seine Wohnung gegangen. Ich habe erst mal das Geld verlangt, obwohl er ja ein Stammfreier war, bei dem man eigentlich nicht vorsichtig zu sein brauchte. Er gab mir tatsächlich hundertfünfzig Mark, und ich war ein bißchen stolz, daß ich so cool ihm soviel Geld abgenommen hatte. Ich zog mein T-Shirt aus, und er gab mir die Peitsche. Es war alles wie im Kino. Ich war nicht ich selber. Ich schlug erst nicht richtig zu. Aber er wimmerte, daß ich ihm weh tun solle.
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Da habe ich dann irgendwann draufgehauen. Er schrie »Mami« und ich weiß nicht mehr was. Ich habe nicht hingehört. Ich habe auch versucht, nicht hinzusehen. Aber ich sah doch, wie die Striemen auf seinem Körper immer mehr anschwollen und dann platzte die Haut an einigen Stellen regelrecht. Es war so widerlich und dauerte fast eine Stunde.
Als er endlich fertig war, habe ich mir mein T-Shirt angezogen und bin gerannt. Ich bin zur Wohnungstür rausgerannt, die Treppe runter und habe es gerade noch geschafft. Vor dem Haus konnte ich meinen verdammten Magen nicht mehr unter Kontrolle halten und mußte mich übergeben. Nachdem ich gekotzt hatte, war alles vorbei. Ich habe nicht geweint, ich hatte auch nicht die Spur von Selbstmitleid. Irgendwie war es mir schon ganz klar, daß ich mich selber in diese Situation gebracht hatte, daß ich eben in der Scheiße war. Ich ging zum Bahnhof. Detlef war da. Ich erzählte nicht viel. Nur, daß ich den Job mit Stotter-Max allein gemacht hätte (S. I2;f.).
Stotter-Max wurde nun der gemeinsame Stammfreier von Detlef und mir. Manchmal gingen Detlef und ich zusammen zu ihm, manchmal auch einer von uns allein. Stotter-Max war eigentlich ganz in Ordnung. Er liebte jedenfalls uns beide. Er konnte natürlich nicht weiter hundertfünfzig Mark bezahlen von seinem Hilfsarbeiter-Lohn. Aber vierzig Mark, das Geld für einen Schuß, kratzte er immer irgendwie zusammen. Einmal haute er sogar sein Sparschwein kaputt und holte aus einer Schüssel noch Groschen und zählte mir dann genau vierzig Mark vor. Wenn ich in Eile war, konnte ich auch bei ihm schnell mal vorbeigehen und zwanzig Mark abkassieren. Ich sagte ihm, daß ich morgen um soundsoviel Uhr wiederkäme, und ich es ihm dann für einen Zwanziger machen würde. Wenn er noch einen Zwanziger hatte, machte er mit.
Stotter-Max wartete immer auf uns. Für mich stand immer mein Lieblingsgetränk, Pfirsichsaft, bereit. Für Detlef war immer sein Leibgericht Griespudding im Eisschrank. Stotter-Max kochte den Pudding selber. Außerdem bot er mir immer eine Auswahl Danone-Joghurt und Schokolade an, weil er wußte, daß ich das gern nach dem Job aß. Die Prügelei war für mich zur reinen Routinesache geworden und hinterher aß, trank und quatschte ich noch ein bißchen mit Stotter-Max.
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Der wurde immer magerer. Er investierte wirklich die letzte Mark in uns und konnte sich selber nicht mehr genug zu fressen kaufen. Er hatte sich so sehr an uns gewöhnt und war so happy, daß er kaum noch stotterte, wenn er mit uns zusammen war (S. 126f.).
Kurz darauf flog er aus seinem Job. Er war völlig runtergekommen, ohne auch nur Dope probiert zu haben. Fixer hatten ihn fertiggemacht. Wir. Er bettelte, daß wir ihn wenigstens mal so besuchen sollten. Aber so Freundschaftsbesuche sind für einen Fixer wirklich nicht drin. Einmal, weil er gar nicht so viel Gefühl für einen anderen aufbringen kann. Dann aber vor allem, weil er den ganzen Tag unterwegs ist, um Geld und Dope zu ergeiern und echt keine Zeit für so was hat. Detlef erklärte das auch Stotter-Max glashart, als der versprach, daß er uns reichlich Geld geben würde, sobald er wieder etwas habe. »Ein Fixer ist wie ein Geschäftsmann. Der muß jeden Tag dafür sorgen, daß die Kasse stimmt. Der kann eben nicht aus Freundschaft oder Sympathie einfach Kredit geben« (S. 128).
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Christiane und ihr Freund Detlef benehmen sich hier wie berufstätige Eltern, die von der Liebe und Abhängigkeit ihres Kindes (des Freiers) profitieren und es schließlich kaputtmachen. Die rührende Yoghurt-Auswahl bei Stotter-Max war anderseits wahrscheinlich eine Inszenierung seines »Kinderglückes«. Man kann sich gut vorstellen, wie seine Mutter um seine Nahrung immer noch besorgt war, nachdem sie ihn geschlagen hatte. Was aber Christiane betrifft — ohne ihre Vorgeschichte mit ihrem eigenen Vater hätte sie diese erste Begegnung mit dem Stotter-Max niemals so »bestehen« können.
Jetzt war der Vater in ihr, und sie schlug ihren Freier nicht nur auf Befehl, sondern aus dem ganzen aufgestauten Elend eines geschlagenen Kindes heraus. Diese Identifikation mit dem Aggressor hilft ihr weiter, die Schwäche abzuspalten, sich auf Kosten des anderen stark zu fühlen und zu überleben, wobei der Mensch Christiane, das aufgeweckte, sensible, intelligente, vitale, aber noch abhängige Kind immer mehr am Ersticken ist:
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Wenn einer von uns auf Turkey war, dann konnte ihn der andere fertigmachen bis zum Gehtnichtmehr. Es wurde eigentlich nicht besser dadurch, daß wir uns irgendwann wieder wie zwei Kinder in den Armen lagen. Es war inzwischen nicht nur zwischen uns Mädchen, sondern auch zwischen Detlef und mir so, daß man in dem anderen sah, was für ein Dreck man selber war. Man haßte die eigene Miesheit und ging auf dieselbe Miesheit beim anderen los und wollte sich wohl beweisen, daß man nicht ganz so mies war.
Diese Aggressivität entlud sich natürlich auch gegenüber Fremden (S. 137).
Als ich noch nicht auf H. gewesen war, hatte ich vor allem Angst gehabt. Vor meinem Vater, später vor dem Freund meiner Mutter, vor der Scheiß-Schule und den Lehrern, vor Hauswarten, Verkehrspolizisten und U-Bahn-Kontrolleuren. Jetzt fühlte ich mich unantastbar. Nicht mal vor den Zivilbullen hatte ich Schiß, die manchmal auf dem Bahnhof rumschlichen. Bei jeder Razzia war ich noch eiskalt entkommen (S. 195).
Diese innere Entleerung, das Einfrieren der Gefühle macht schließlich das Leben sinnlos und weckt Todesgedanken:
Fixer sterben allein. Meistens allein auf einem stinkenden Klo. Und ich wollte echt sterben. Ich wartete ja eigentlich auf gar nichts anderes. Ich wußte nicht, warum ich auf der Welt bin. Ich hatte das auch früher nie so recht gewußt. Aber wozu um alle Welt lebt ein Fixer? Nur, um noch andere mit kaputtzumachen? Ich dachte an diesem Nachmittag, daß ich schon meiner Mutter zuliebe sterben mußte. Ich wußte ja sowieso nicht mehr, ob ich da war oder nicht da war (S. 216).
Allein die dämliche Angst zu sterben machte mich fertig. Ich wollte sterben, aber vor jedem Schuß hatte ich eine dämliche Angst vorm Sterben. Vielleicht brachte mich auch mein Kater wieder drauf, was das Sterben eigentlich für eine miese Sache ist, wenn man noch gar nicht richtig gelebt hat (S. 221).
Es war ein großes Glück, daß sich schließlich die beiden Stern-Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck in ein langes, zwei Monate dauerndes Gespräch mit Christiane eingelassen haben. Es kann für ihr ganzes Leben von großer Bedeutung sein, daß es ihr in der entscheidenden Phase der Pubertät vergönnt war, nach ihrem grauenhaften Schicksal, aus der unendlichen seelischen Vereinsamung herauszukommen und zuhörende, einfühlsame, verstehende, betroffene Menschen zu finden, die ihr die Möglichkeit gaben, sich zu artikulieren und ihr Leben zu erzählen.
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Die verborgene Logik des absurden Verhaltens
In einem für Gefühle zugänglichen Leser weckt Christianes Bericht so viel Verzweiflung und Ohnmacht, daß er wahrscheinlich am liebsten das alles als erdachte Geschichte so schnell wie möglich vergessen möchte. Doch er kann dies nicht tun, weil er spürt, daß da nichts als die pure Wahrheit erzählt wurde.
Wenn man nicht nur die äußere Geschichte zur Kenntnis nimmt, sondern sich bei der Lektüre von der Warum-Frage begleiten läßt, findet man hier eine genaue Aufklärung über das Wesen nicht nur der Sucht, sondern auch anderer Formen menschlichen Verhaltens, die uns zuweilen in ihrer Absurdität auffallen und denen wir mit unserer Logik nicht beikommen. Wenn wir einem Heroinsüchtigen begegnen, der sein Leben ruiniert, neigen wir allzuschnell dazu, diesem Jugendlichen mit Vernunftargumenten oder, was noch schlimmer ist, mit erzieherischen Maßnahmen beikommen zu wollen. In dieser Richtung arbeiten sogar viele therapeutische Gruppen. Sie treiben den Teufel mit dem Beelzebub aus, ohne im Jugendlichen das Interesse dafür zu wecken, welchen Sinn die Sucht in seinem Leben eigentlich hat und was er seiner Umwelt damit unbewußt mitteilen muß.
Ein Beispiel könnte das illustrieren.
In einer Fernsehsendung des ZDF vom 23.3.80 berichtet ein ehemaliger, seit 5 Jahren geheilter Heroinsüchtiger über sein jetziges Leben. Seine depressive, ja beinahe suizidale Stimmung ist deutlich spürbar.
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Er ist ca. 24 Jahre alt, hat eine Freundin und erzählt, daß er sich jetzt im Hause seiner Eltern das Dachstockwerk als Privatwohnung ausbauen dürfe, die er mit allen erdenklichen bürgerlichen Schikanen einrichten möchte. Seine Eltern, die ihn nie verstanden und seine Sucht als eine Art körperlicher, tödlicher Krankheit angesehen haben, seien jetzt hilfebedürftig und bestünden darauf, daß er in ihrem Hause wohnen bleibe. Dieser Mann klammert sich an den Wert aller möglichen kleinen Gegenstände, die er jetzt besitzen darf und für die er sein autonomes Leben opfern muß.
Er wird von nun an in einem goldenen Käfig leben, und es ist sehr verständlich, daß er immer von der Gefahr eines Rückfalls zur Heroinsucht spricht. Hätte dieser junge Mann eine Therapie gehabt, die ihm ermöglicht hätte, seine frühkindliche, aufgestaute Wut auf die ihn einengenden, gefühlsfeindlichen und autoritären Eltern zu erleben, so hätte er seine eigentlichen Bedürfnisse gespürt, hätte sich nicht in einen Käfig einsperren lassen und wäre wahrscheinlich trotz allem für die Eltern eine echtere, ehrlichere Hilfe geworden. Diese freie Hilfe kann man den Eltern anbieten, wenn man sich nicht von ihnen wie ein Kind abhängig macht. Tut man dies aber, dann wird man sie eher mit seiner Sucht oder einem Suizid bestrafen. In diesen Inszenierungen wird dann die wahre Geschichte der Kindheit erzählt, die das ganze Leben verschwiegen werden mußte.
Die klassische Psychiatrie ist trotz ihres riesigen Machtapparates im Grunde hilflos, solange sie versucht, die schweren Schäden der frühkindlichen Erziehung mit neuen Erziehungsmaßnahmen zu beseitigen. Das ganze Strafsystem der psychiatrischen Kliniken, die raffinierten Formen der Demütigung des Patienten haben wie die Erziehung zum Ziel, die verschlüsselte Sprache des Kranken endlich zum Schweigen zu bringen. Am Beispiel der Magersucht läßt sich das deutlich veranschaulichen. Was erzählt eigentlich eine Magersüchtige, die in einem vermögenden Haus aufgewachsen ist, mit materiellen und geistigen Gütern verwöhnt wurde und jetzt stolz darauf ist, daß ihr Gewicht 30 Kilo nicht überschreitet?
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Von den Eltern kann man erfahren, daß sie auf der Harmonie ihrer Ehe bestehen und über das freiwillige, exzessive Hungern ihres Kindes entsetzt sind, nachdem sie doch niemals mit diesem Kind, das ständig ihre Erwartungen erfüllt hatte, irgendwelche Schwierigkeiten kannten. Ich würde meinen, daß dieses junge Mädchen unter dem Ansturm der pubertären Gefühle nicht mehr in der Lage ist, weiter wie ein Automat zu funktionieren, aber auf dem Hintergrund seiner Vorgeschichte gar keine Chance hat, seine jetzt aufbrechenden Gefühle zu leben.
Es erzählt also in der Art, wie es sich jetzt versklavt, kontrolliert, einengt, ums Leben bringt, was mit ihm in der frühen Kindheit geschehen ist. Das soll nicht heißen, daß die Eltern böse Menschen waren, sie haben nur ihr Kind dazu erziehen wollen, was es auch später geworden ist: ein gut funktionierendes, leistungsfähiges, von vielen Menschen bewundertes Mädchen. Oft waren es nicht einmal die Eltern selber, sondern Gouvernanten. Auf jeden Fall zeigt die Anorexia nervosa alle Details einer strengen Erziehung: die Erbarmungslosigkeit, die Diktatur, das Überwachungssystem, die Kontrolle, die Verständnislosigkeit und den Mangel an Einfühlungsvermögen für die wahren Bedürfnisse des Kindes.
Dazu kommt die Überhäufung an Zärtlichkeit abwechselnd mit Ablehnung und Verlassen (Freßorgien und Erbrechen). Das oberste Gesetz dieses Polizeisystems heißt: Alle Mittel sind gut, damit Du so wirst, wie wir Dich brauchen, und nur so können wir Dich lieben. Das spiegelt sich später im Terror der Magersucht. Das Gewicht wird bis auf 5 g kontrolliert, und der Sünder sofort bestraft, wenn er die Grenze überschritten hat.
Auch der beste Psychotherapeut ist darauf angewiesen, bei diesen schwer gefährdeten Patienten das Gewicht heraufzusetzen, weil sonst kein Gespräch zustande kommen kann. Doch es ist ein Unterschied, ob er der Kranken die Notwendigkeit erklärt, daß sie zunehmen müsse, und gleichzeitig das Verständnis ihres Selbst als die Aufgabe der Therapie ansieht, oder ob er die Gewichtszunahme als das einzige therapeutische Ziel erachtet.
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Im letzteren Fall übernimmt der Arzt das Zwangssystem der frühen Erziehung und muß mit einem Rückfall oder einem Symptomwandel rechnen. Wenn diese beiden Konsequenzen nicht eintreten, so ist auch die zweite Erziehung gelungen, und sofern die Pubertät einmal überschritten ist, wird ein permanenter Mangel an Lebendigkeit gesichert sein.
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Jedes absurde Verhalten hat seine Vorgeschichte in der frühen Kindheit, die unauffindbar bleibt, solange die Manipulation der kindlichen, seelischen und körperlichen Bedürfnisse durch den Erwachsenen nicht als Grausamkeit, sondern als notwendige Erziehungsmaßnahme verstanden wird. Da auch Fachleute von diesem Irrtum nicht frei sind, ist das, was man später als Therapie bezeichnet, manchmal nur die Fortsetzung der frühen, ungewollten Grausamkeit.
Es kommt nicht selten vor, daß Mütter ihrem einjährigen Kind Valium verabreichen, damit es ruhig schläft, wenn sie am Abend weggehen möchten. Das mag einmal notwendig gewesen sein. Wenn das Valium aber zum Mittel der Beherrschung des kindlichen Schlafes wird, dann wird hier ein natürliches Gleichgewicht gestört und schon sehr früh eine vegetative Verunsicherung geschaffen. Man kann sich auch vorstellen, daß die spät heimkehrenden Eltern gerne noch ein wenig mit ihrem Kind spielen, es vielleicht wecken, denn sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Mit dem Valium wird nicht nur die natürliche Einschlaffähigkeit des Kindes verunsichert, sondern auch die Entwicklung seiner Wahrnehmungsfähigkeit behindert. Dieses Kind darf sehr früh nicht wissen, daß es allein in der Wohnung ist, es darf keine Angst erleben und wird vielleicht später, im Erwachsenenalter, auch keine wichtigen Signale für Gefahren in sich vorfinden können.
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Um ein absurdes, selbstzerstörerisches Verhalten im Erwachsenenleben zu verhindern, brauchen die Eltern gar keine ausgedehnten Studien über Psychologie. Wenn es ihnen gelingt, das ganz kleine Kind nicht für ihre Bedürfnisse zu manipulieren, zu mißbrauchen, es also nicht in seinem vegetativen Gleichgewicht zu verunsichern, dann wird das Kind schon in seinem Körper den besten Schutz gegen ungebührende Zumutungen finden. Die Sprache seines Körpers und dessen Signale werden ihm von Anfang an vertraut sein.
Wenn es den Eltern außerdem gelingen sollte, ihrem eigenen Kind den gleichen Respekt und die Toleranz entgegenzubringen, die sie immer für ihre eigenen Eltern aufgebracht haben, dann werden sie ihm sicher die besten Voraussetzungen für sein ganzes späteres Leben geben. Nicht nur sein Selbstwertgefühl, sondern auch die Freiheit, seine angeborenen Fähigkeiten zu entwickeln, hängt von diesem Respekt ab. Wie ich sagte, brauchen wir für diesen Respekt keine psychologischen Bücher, wohl aber die Revision der Erziehungsideologie.
Wie man als kleines Kind behandelt worden ist, so behandelt man sich später sein ganzes Leben lang. Und die qualvollsten Leiden sind oft diejenigen, die man sich selber zufügt. Dem Verfolger im eigenen Selbst, der sich auch oft als Erzieher tarnt, kann man nirgends mehr entfliehen. In Krankheiten, wie z.B. der Magersucht, übernimmt er die vollständige Herrschaft. Eine grausame Versklavung des Körpers und Ausbeutung des Willens sind die Folgen. Die Drogensucht beginnt mit dem Versuch, sich der Herrschaft der Eltern zu entziehen, die Leistung zu verweigern, führt aber im Wiederholungszwang am Ende doch zur dauernden Anstrengung, Unmengen von Geld auftreiben zu müssen, um den nötigen »Stoff« zu beschaffen, also zu einer recht »bürgerlichen« Form von Versklavung.
Als ich von Christianes Problemen mit der Polizei und den Dealern las, sah ich plötzlich vor mir das Berlin von 1945, die mannigfachen Wege der illegalen Nahrungsbeschaffung, die Angst vor den Besatzungssoldaten, den schwarzen Markt — die damaligen »Dealer«.
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Ob das nur meine rein private Assoziation ist, weiß ich nicht. Für viele Eltern der heutigen Fixer war dies einst die einzig mögliche Welt, denn ihre Kinderaugen kannten keine andere. Es ist nicht ausgeschlossen, daß vor dem Hintergrund der inneren Entleerung infolge der Gefühlsunterdrückung das Bühnenbild der Drogenszene auch etwas mit dem schwarzen Markt der vierziger Jahre zu tun hat.
Dieser Gedanke beruht im Gegensatz zu vielem in diesem Buch Gesagten nicht auf wissenschaftlich belegbarem Material, sondern auf einem Einfall, auf einer subjektiven Assoziation, der ich nicht weiter nachgegangen bin. Ich erwähne sie aber, weil jetzt an vielen Orten psycho-analytische Studien über die Spätfolgen des Krieges und des Naziregimes in der zweiten Generation durchgeführt werden und man immer wieder vor der erstaunlichen Tatsache steht, daß Söhne und Töchter das Schicksal ihrer Eltern um so intensiver unbewußt inszenieren, je ungenauer sie es kennen.
Aus den wenigen Brocken, die sie in ihrer Kindheit über die frühen Traumatisierungen durch den Krieg bei ihren Eltern aufgeschnappt haben, entwickeln sie aufgrund ihrer eigenen Realität Phantasien, die sie dann oft in Gruppen während der Pubertät ausagieren. So berichtete z.B. Judith Kestenberg von Jugendlichen, die in den sechziger Jahren mitten im Wohlstand und Frieden in Wäldern verschwanden, und es stellte sich später in der Therapie heraus, daß ihre Eltern als Partisanen in Osteuropa den Krieg überlebt hatten, aber nie mit ihren Kindern genau darüber gesprochen haben (vgl. Psyche 28, S. 249-265).
Ich wurde einmal von einer siebzehnjährigen Magersüchtigen konsultiert, die sehr stolz darauf war, daß sie jetzt das gleiche Gewicht hatte wie ihre Mutter vor 30 Jahren, als sie in Auschwitz gerettet wurde. Im Gespräch stellte sich heraus, daß dieses Detail das einzige war, was die Tochter über die Vergangenheit ihrer Mutter wußte, denn die Mutter weigerte sich, über diese Zeit zu sprechen, und bat die Familie, ihr keine Fragen zu stellen.
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Es ist gerade das Geheimnisvolle, das im Elternhaus Verschwiegene, das an die Scham-, Schuld- und Angstgefühle der Eltern Rührende, das die Kinder beunruhigt. Eine wichtige Möglichkeit, mit dieser Bedrohung umzugehen, ist die Phantasietätigkeit und das Spiel. Mit den Requisiten der Eltern spielen zu können, gibt dem Jugendlichen das Gefühl, an deren Vergangenheit teilhaben zu dürfen.
Könnte es also sein, daß die von Christiane beschriebene seelische Ruinenwelt auf die Ruinen von 1945 zurückgeht? Wenn ja, wie ist es zu dieser Wiederholung gekommen? Die Brücken führen vermutlich über die psychische Realität der Eltern, die in einer Zeit der extremen materiellen Entbehrungen groß geworden sind und denen die Sicherung der materiellen Existenz deshalb zum obersten Prinzip ihres Lebens wurde,
Die immer weitere Bereicherung diente der Abwehr der Angst, je wieder wie ein hungerndes, hilfloses Kind auf Ruinen sitzen zu müssen. Aber diese Angst kann mit keinem noch so groß aufgebauten Luxus vertrieben werden. Solange sie unbewußt bleibt, treibt sie ihr Eigenwesen.
Und nun verlassen die Kinder diese luxuriösen Wohnungen, in denen sie sich nicht verstanden fühlen, weil Gefühle und Ängste hier keinen Platz haben dürfen; sie gehen in die Drogenszene und entwickeln entweder eine Geschäftigkeit im Dealen wie ihre Väter in der großen Wirtschaft, oder sie setzen sich apathisch auf die Steine und sitzen da, wie kleine hilflose, gefährdete Kinder auf Ruinen, die ihre Eltern einmal real waren, die aber mit niemandem über diese Realität sprechen durften. Dieses Ruinenkind wurde aus ihrer Luxuswohnung auf ewig verbannt, und nun erscheint es wie ein bedrohlicher Geist in den verwahrlosten Söhnen und Töchtern, in ihrer zerrissenen Kleidung, ihrem apathischen Gesicht, ihrer Hoffnungslosigkeit, ihrer Fremdheit, ihrem Haß auf den ganzen angesammelten Luxus.
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Es ist allzugut begreiflich, daß Eltern diesen Jugendlichen verständnislos gegenüberstehen, denn ein Mensch wird eher die strengsten Gesetze befolgen, die größten Mühen auf sich nehmen, unerhörte Leistungen vollbringen, die tollste Karriere machen, als daß er die Möglichkeit hat, dem hilflosen, unglücklichen Kind, das er einst gewesen ist und später für immer verbannte, mit Liebe und Verständnis entgegenzutreten. Wenn dieses Kind aber doch in der Gestalt seiner eigenen Söhne und Töchter auf dem schönen Parkettboden seines teuren Wohnzimmers unvermittelt erscheint, dann kann es begreiflicherweise kaum auf Verständnis zählen. Was ihm da entgegenkommen wird, ist Befremden, Empörung, Ratschläge oder Sanktionen, vielleicht auch Haß, vor allem aber ein ganzes Arsenal von Erziehungswaffen, mit denen die Eltern jede auftauchende Erinnerung an ihre eigene unglückliche Kindheit in der Kriegszeit abwehren müssen.
Es gibt auch Fälle, in denen sich die durch unsere Kinder veranlaßte Konfrontation mit der eigenen unbewältigten Vergangenheit auf die ganze Familie segensreich auswirkt:
Brigitte, eine 1936 geborene, hochsensible, verheiratete Frau, Mutter von zwei Kindern, suchte wegen Depressionen einen zweiten Analytiker auf. Ihre Katastrophenängste standen deutlich in thematischem Zusammenhang mit den Flugangriffen in ihrer Kinderzeit, aber sie blieben resistent, allen analytischen Bemühungen zum Trotz, bis die Patientin — mit Hilfe ihres Kindes — an eine wunde Stelle geführt wurde, die so lange nicht hatte vernarben können, weil sie bisher nie gesehen und deshalb nie behandelt worden war.
Als ihr Sohn 10 Jahre alt wurde, also genau in das Alter kam, in dem die Patientin die Rückkehr ihres Vaters von der Ostfront erlebt hatte, fing er an, mit einigen Kameraden in der Schule Hakenkreuze zu malen und mit anderen Requisiten des Hitlerdramas zu spielen.
In der Art, wie diese »Aktionen« einerseits verheimlicht wurden und andererseits eine Entdeckung nahelegten, äußerte sich klar ihr Appellcharakter, und die Not des Kindes war dabei deutlich zu spüren.
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Trotzdem fiel es der Mutter schwer, auf diese Not einzugehen und sie im Gespräch mit dem Kind zu verstehen. Diese Spiele waren ihr unheimlich, sie wollte nichts damit zu tun haben, fühlte sich als ehemaliges Mitglied einer antifaschistischen Studentengruppe von ihrem Kind verletzt und reagierte entgegen ihrem Willen autoritär und feindselig. Die bewußten, ideologischen Gründe ihrer Haltung reichten nicht aus, um die starken Gefühle der Ablehnung zu erklären, die sie für ihr Kind empfand. In der Tiefe fand hier etwas seine Fortsetzung, das ihr bisher — auch in der ersten Analyse — völlig unzugänglich gewesen war. Dank der in ihrer zweiten Analyse entwickelten Fähigkeit zu fühlen, konnte sie sich dieser Geschichte emotional nähern.
Zunächst spielte sich folgendes ab: je verständnisloser und entsetzter die Mutter war, je mehr sie sich Mühe gab, die Spiele ihres Kindes zu »liquidieren«, desto mehr nahmen diese an Intensität und Häufigkeit zu. Der Junge verlor zunehmend das Vertrauen zu seinen Eltern und schloß sich enger seiner Gruppe an, was zu verzweifelten Ausbrüchen der Mutter führte. Mit Hilfe der Übertragung ließen sich die Wurzeln dieser Wut letztlich entdecken, womit sich die ganze Situation in der Familie änderte. Es begann damit, daß die Patientin plötzlich von quälenden Fragen, die sich mit der Person und mit der Vergangenheit ihres Analytikers befaßten, wie überfallen wurde. Sie wehrte sich verzweifelt gegen diese Fragen, in der panischen Angst, sie müßte ihn verlieren, wenn sie sie aussprechen würde. Oder sie befürchtete, Antworten zu bekommen, nach denen sie ihn würde verachten müssen.
Der Analytiker ließ sie geduldig ihre Fragen formulieren, deren Gewicht und Bedeutung er respektierte, ohne sie zu beantworten; da er spürte, daß sie im Grunde nicht ihn betrafen, mußte er sie nicht mit voreiligen Deutungen abwehren.
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Und da kam deutlich das 10jährige Mädchen zum Vorschein, das seinerzeit ihrem heimgekehrten Vater keine Fragen hatte stellen dürfen. Die Patientin meinte, dies wäre ihr damals gar nicht in den Sinn gekommen. Und doch wäre es ja naheliegend, daß ein zehnjähriges Kind, das in den vielen Jahren auf die Rückkehr seines geliebten Vaters gewartet hatte, ihn fragt: »Wo warst du? Was hast du gemacht? Was hast du gesehen? Erzähl mir doch eine Geschichte! Eine wahre Geschichte.«
Nichts von all dem sei vorgefallen, meinte Brigitte — es war ein Tabu in der Familie, über »diese Dinge« wurde mit den Kindern nie gesprochen, und diese spürten, daß sie über die Vergangenheit des Vaters nichts wissen durften. Das damals bewußt unterdrückte, aber schon in den früheren Phasen mit Hilfe der sogenannten »guten Erziehung« eingefrorene Gefühl der Neugier stellte sich nun in ihrer Beziehung zum Analytiker in seiner ganzen Lebendigkeit und Dringlichkeit ein. Es war zwar eingefroren gewesen, aber doch nicht ganz erfroren. Und als es voll leben durfte, verschwand auch die Depression. Nun konnte die Patientin, zum ersten Mal nach 30 Jahren, mit ihrem Vater über seine Kriegserlebnisse sprechen, was auch ihn sehr erleichterte. Denn jetzt war die Situation anders: sie war stark genug, sich seine Ansichten anzuhören, ohne sich dabei aufgeben zu müssen, und sie war nicht mehr das kleine, abhängige Kind.
Aber damals wären diese Gespräche nicht möglich gewesen. Brigitte begriff, daß ihre Kinderangst, den geliebten Vater durch Fragen zu verlieren, nicht unbegründet gewesen war, denn der Vater hätte damals nicht über seine Erlebnisse im Osten sprechen können. Er hatte immer versucht, sich mit Hilfe des Vergessens von jeder Erinnerung an diese Zeit freizumachen. Die Tochter hatte sich diesem Bedürfnis vollständig angepaßt und brachte es fertig, über die Geschichte des Dritten Reiches sehr dürftig und rein intellektuell informiert zu bleiben. Sie vertrat den Standpunkt, man müsse diese Zeit »emotionslos« und objektiv beurteilen können, wie ein Computer, der die Toten auf beiden Seiten zählt, der keine Bilder und keine Gefühle des Entsetzens heraufbeschwören kann.
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Brigitte war eben kein Computer, sondern ein sehr sensibler Mensch mit einem hochdifferenzierten Denkvermögen. Und da sie alles das zu unterdrücken versuchte, litt sie an Depressionen, Gefühlen der inneren Leere (sie fühlte sich oft wie »vor einer schwarzen Wand«), Schlaflosigkeit und Abhängigkeit von Tabletten, die ihre natürliche Vitalität unterdrücken sollten.
Die Neugier und der Forschungstrieb des intelligenten Mädchens, die auf rein intellektuelle Probleme verschoben worden waren, meldeten sich zuerst fast wörtlich als »der Teufel im Garten ihres Sohnes«, den sie auch von dort zu verjagen versuchte, und all das nur, weil sie, im Wiederholungszwang, ihren introjizierten, emotional unsicheren Vater damit schonen wollte.
Jedes Kind bildet sich Vorstellungen vom Bösen nach den Abwehrhaltungen seiner Eltern: »böse« kann alles sein, was die Eltern noch unsicherer macht. Daraus entstehen Schuldgefühle, die gegen jede spätere Einsicht resistent bleiben, wenn ihre Geschichte nicht bewußt erlebt worden ist. Brigitte war beglückt, daß dieser »Teufel« in ihr, d.h. das lebendige, wache, interessierte und kritische Kind stärker als ihre Anpassung war, und sie konnte diesen ureigensten Teil in ihre Persönlichkeit integrieren.
In dieser Zeit verloren die Hakenkreuze die Faszination für ihren Sohn, und es wurde deutlich, daß ihnen eine mehrfache Funktion zukam. Sie hatten einerseits Brigittes unterdrücktes Wissenwollen »ausagiert« und andererseits ihre Enttäuschung über den Vater auf das Kind abgeleitet. Nachdem sie die Möglichkeit hatte, alle diese Gefühle mit dem Analytiker zu erleben, mußte sie das Kind nicht mehr dafür gebrauchen.
Brigitte erzählte mir ihre Geschichte, nachdem sie einen Vortrag von mir gehört hatte. Auf meine spätere Anfrage gab sie mir gerne die Zustimmung zu dieser Publikation, weil sie, wie sie sich ausdrückte, das Bedürfnis hat, ihre Erfahrungen anderen zu vermitteln »und nicht mehr zu schweigen«.
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Wir waren beide davon überzeugt, daß sich in ihrer Not die Situation einer ganzen Generation spiegelte, die zum Schweigen erzogen worden war und die bewußt oder (häufiger) unbewußt darunter litt. Da sich auch die Psychoanalyse in Deutschland bis zur Tagung der deutschsprachigen psychoanalytischen Gesellschaften in Bamberg (1980) wenig mit diesem Problem beschäftigt hat, war es bisher nur vereinzelten Menschen möglich, die Befreiung von diesem Schweige-Tabu nicht nur intellektuell, sondern, wie es z.B. Klaus Theweleit vergönnt war (vgl. Männerphantasien), auch emotional zu vollziehen.
So kamen die starken Reaktionen der zweiten Generation auf den im Fernsehen ausgestrahlten Film Holocaust dem Ausbruch aus einem Gefängnis gleich. Es war das Gefängnis des Schweigens, des Nicht-fragen-Dürfens, des Nicht-fühlen-Könnens, der wahnwitzigen Vorstellung, man könne ein solches Grauen »emotionslos bewältigen«.
Wäre es denn erstrebenswert, in unseren Kindern Menschen aufzuziehen, denen es leichtfiele, über die Vergasung von einer Million Kinder zu hören, ohne je Gefühle von Empörung und Schmerz über diese Tragödie bei sich zuzulassen? Was nützen uns Wissenschaftler, denen es möglich ist, darüber Geschichtsbücher zu schreiben und sich dabei lediglich um die historische, objektive Genauigkeit zu bemühen? Wozu sollte eine solche Fähigkeit zur kalten Objektivität angesichts des Grauens gut sein? Wären unsere Kinder nicht in Gefahr, jedem neuen faschistischen Regime hörig zu werden? Sie hätten ja gar nichts dabei zu verlieren als die innere Leere.
Im Gegenteil: ein solches Regime gäbe ihnen ja die Chance, die jetzt in der wissenschaftlichen Objektivität abgespalteten und nicht gelebten Gefühle auf ein neues Opfer zu richten und als Mitglieder einer grandiosen Gruppe diese ungezähmten, archaischen, weil im Gefängnis eingesperrten Gefühle endlich zu entladen.
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Die kollektive Form des absurden Verhaltens ist wohl die gefährlichste, weil die Absurdität niemandem mehr auffällt und weil sie als »Normalität« sanktioniert wird. Es war für die meisten Nachkriegskinder in Deutschland selbstverständlich, daß es unanständig oder zumindest unangebracht sei, den Eltern zu genaue Fragen über die Wirklichkeit des Dritten Reiches zu stellen; oft war es sogar regelrecht verboten. Das Verschweigen dieser Zeit, d.h. auch der elterlichen Vergangenheit, gehörte genauso zu den gewünschten »guten Manieren« wie die Verleugnung der Sexualität um die Jahrhundertwende.
Obwohl der Einfluß dieses neuen Tabus auf die Entwicklung der heutigen Neurosenformen empirisch ohne Schwierigkeiten nachzuweisen wäre, bleibt das System der überlieferten Theorie gegen diese Erfahrungen resistent, weil nicht nur Patienten, sondern auch Analytiker Opfer der gleichen Tabuisierung sind. Es fällt ihnen leichter, mit den Patienten die von Freud längst aufgedeckten sexuellen Zwänge und Verbote, die oft nicht mehr die unseren sind, zu verfolgen, als Verleugnungen unserer Zeit, d.h. auch diejenigen ihrer eigenen Kindheit aufzudecken. Doch aus der Geschichte des Dritten Reiches konnten wir u.a. lernen, daß das Ungeheuerliche nicht selten gerade im »Normalen«, in dem von der großen Mehrheit als »ganz normal und selbstverständlich« Empfundenen liegt.
Deutsche, die als Kinder oder als Pubertierende die Siegeszeiten des Dritten Reiches erlebten und sich im späteren Leben um die eigene Redlichkeit bemühten, mußten es mit diesem Anliegen besonders schwer haben. Als Erwachsene erfuhren sie von den schrecklichen Wahrheiten des nationalsozialistischen Systems und haben dieses Wissen intellektuell integriert.
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Und doch leben in diesen Menschen — von all dem späteren Wissen oft unberührt — die ganz früh empfangenen und mit intensiven Gefühlen der Kindheit verbundenen Stimmen der Lieder, der Reden, der jubelnden Massen fort. In den meisten Fällen waren diese Eindrücke mit Stolz, Begeisterung und beglückender Hoffnung verknüpft.
Wie soll ein Mensch diese zwei Welten — sein emotionales Wissen aus der Kindheit und seine dem widersprechenden späteren Erkenntnisse — miteinander in Einklang bringen, ohne einen wichtigen Teil seines Selbst zu verleugnen? Ein Einfrieren der Gefühle, wie es Brigitte versuchte, und der Verlust der Wurzeln scheinen oft der einzige Ausweg zu sein, um diesen Konflikt und diese tragische Ambivalenz nicht zu spüren.
Mir ist kein Kunstwerk bekannt, in dem diese Ambivalenz eines großen Teils dieser Generation in Deutschland deutlicher zum Ausdruck käme als in dem siebenstündigen Film von Hans-Jürgen Syberberg »Hitler — ein Film aus Deutschland«. Syberberg wollte nichts anderes, als seine subjektive Wahrheit darstellen, und weil er sich seinen Gefühlen, Phantasien und Träumen überließ, schuf er ein zeitgeschichtliches Bild, in dem sich viele Menschen finden werden, weil es beide Perspektiven, die des Sehenden und die des Verführten, vereinigt.
Die Faszination des begabten Kindes von der Wagnerschen Musik, von dem Prunk der Aufmärsche, von den emotionsgeladenen, unverständlichen Schreien des Führers im Rundfunk; die Vorstellung von Hitler als von einer machtvollen und doch harmlosen Puppe — alles das hat in diesem Film Platz. Aber es hat Platz neben dem Entsetzen und dem Grauen und vor allem neben dem echten Schmerz des Erwachsenen, wie er in den bisherigen Filmen zu diesem Thema kaum spürbar war, weil er die Befreiung vom pädagogischen Schema des Beschuldigens und Entschuldigens zur Voraussetzung hat.
In mehreren Szenen des Filmes ist der Schmerz spürbar — sowohl über die Opfer der Verfolgung als auch über die Opfer der Verführung und nicht zuletzt über die Absurditäten von Ideologien überhaupt, die die Erbschaft der erziehenden Eltern der frühesten Jahre antreten.
Nur einer, der sein Verführtsein erleben konnte, ohne dies zu verleugnen, wird es in dieser Intensität von Trauer schildern können, wie Syberberg es tut. Aus der Erfahrung der Trauer lebt dieser Film und vermittelt dem Zuschauer emotional mehr über die Hohlheit der nationalsozialistischen Ideologie — zumindest in einigen starken Szenen —, als manche gut dokumentierte, objektive Bücher es vermocht haben. Er ist auch einer der seltenen Versuche, mit einer unfaßbaren Vergangenheit zu leben, statt ihre Realität zu leugnen.
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