Der Vater Hitler
Sein Schicksal und die Beziehung zum Sohn
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Über die Herkunft und das Leben Alois Hitlers vor Adolfs Geburt berichtet Joachim Fest folgendes:
Im Hause des Kleinbauern Johann Trummelschlager in Strones Nr. 15 brachte die ledige Magd Maria Anna Schicklgruber am 7. Juni 1857 ein Kind zur Welt, das noch am gleichen Tag auf den Namen Alois getauft wurde. Im Geburtenbuch der Gemeinde Döllersheim blieb die Rubrik, die über die Person des Kindesvaters Auskunft gibt, unausgefüllt. Daran änderte sich auch nichts, als die Mutter fünf Jahre später den stellungslosen, »vazierenden« Müllergesellen Johann Georg Hiedler heiratete. Vielmehr gab sie ihren Sohn im gleichen Jahr zum Bruder ihres Mannes, dem Bauern Johann Nepomuk Hüttler aus Spital – vermutlich nicht zuletzt, weil sie fürchtete, das Kind nicht gehörig aufziehen zu können; jedenfalls waren die Hiedlers, der Überlieferung nach, so verarmt, daß sie »schließlich nicht einmal mehr eine Bettstelle hatten, sondern in einem Viehtrog schliefen«.
Mit den beiden Brüdern, dem Müllergesellen Johann Georg Hiedler und dem Bauern Johann Nepomuk Hüttler, sind zwei der mutmaßlichen Väter Alois Schicklgrubers benannt. Der dritte ist, einer eher abenteuerlichen, immerhin aus der engeren Umgebung Hitlers stammenden Versicherung zufolge, ein Grazer Jude namens Frankenberger, in dessen Haushalt Maria Anna Schicklgruber tätig gewesen sein soll, als sie schwanger wurde. Jedenfalls hat Hans Frank, Hitlers langjähriger Anwalt und späterer Generalgouverneur in Polen, im Rahmen seines Nürnberger Rechenschaftsberichts bezeugt, Hitler habe im Jahre 1930 von einem Sohn seines Halbbruders Alois in möglicherweise erpresserischer Absicht einen Brief erhalten, der sich in dunklen Andeutungen über »sehr gewisse Umstände« der hitlerschen Familiengeschichte erging. Frank erhielt den Auftrag, der Sache vertraulich nachzugehen, und fand einige Anhaltspunkte für die Vermutung, daß Frankenberger der Großvater Hitlers gewesen sei. Der Mangel an nachprüfbaren Belegen läßt diese These freilich überaus fragwürdig erscheinen, wie wenig Anlaß Frank auch gehabt haben mag, Hitler von Nürnberg aus einen jüdischen Vorfahren zuzuschreiben; jüngere Untersuchungen haben die Glaubwürdigkeit seiner Versicherung weiter erschüttert, so daß die These der ernsthaften Erörterung kaum noch standhält.
Ihre eigentliche Bedeutung liegt denn auch weniger in ihrer objektiven Stichhaltigkeit; weit entscheidender und psychologisch von Bedeutung war, daß Hitler seine Herkunft durch die Ergebnisse Franks in Zweifel gezogen sehen mußte. Eine erneute Nachforschungsaktion, im August 1942 von der Gestapo im Auftrag Heinrich Himmlers unternommen, blieb ohne greifbaren Erfolg, und nicht viel gesicherter als alle übrigen Großvaterschaftstheorien, wenn auch von einigem kombinatorischen Ehrgeiz zeugend, ist die Version, die Johann Nepomuk Hüttler »mit an absolute Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« als Vater Alois Schicklgrubers bezeichnet. Zuletzt endet die eine wie die andere dieser Thesen im Dunkel verworrener, von Not, Dumpfheit und ländlicher Bigotterie geprägter Verhältnisse: Adolf Hitler wußte nicht, wer sein Großvater war.
Neunundzwanzig Jahre, nachdem Maria Anna Schicklgruber an Auszehrung infolge Brustwassersucht in Klein-Motten bei Strones verstorben war, und neunzehn Jahre nach dem Tode ihres Mannes erschien dessen Bruder Johann Nepomuk zusammen mit drei Bekannten beim Pfarrer Zahnschirm in Döllersheim und beantragte die Legitimierung seines inzwischen nahezu vierzigjährigen »Ziehsohnes«, des Zollbeamten Alois Schicklgruber; allerdings sei nicht er selber, sondern sein verstorbener Bruder Johann Georg der Vater, dieser habe das auch zugestanden, seine Begleiter könnten den Sachverhalt bezeugen.
Tatsächlich ließ sich der Pfarrer täuschen oder überreden. In dem alten Standesbuch ersetzte er unter der Eintragung vom 7. Juni 1837 kurzerhand den Vermerk »unehelich« durch »ehelich«, füllte die Rubrik zur Person des Vaters wie gewünscht aus und notierte am Rande fälschlich: »Daß der als Vater eingetragene Georg Hitler, welcher den gefertigten Zeugen wohl bekannt, sich als der von der Kindesmutter Anna Schicklgruber angegebene Vater des Kindes Alois bekannt und um die Eintragung seines Namens in das hiesige Taufbuch nachgesucht habe, wird durch die Gefertigten bestätigt +++ Josef Romeder, Zeuge; +++ Johann Breiteneder, Zeuge; +++ Engelbert
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Paukh.« Da die drei Zeugen nicht schreiben konnten, unterzeichneten sie mit drei Kreuzen, und der Pfarrer setzte ihre Namen hinzu. Doch versäumte er es, das Datum einzutragen, auch fehlten die eigene Unterschrift sowie die der (lange verstorbenen) Eltern. Wenn auch gesetzwidrig, war die Legitimierung doch wirksam; vom Januar 1877 an nannte Alois Schicklgruber sich Alois Hitler.
Der Anstoß zu dieser dörflichen Intrige ist zweifellos von Johann Nepomuk Hüttler ausgegangen; denn er hatte Alois erzogen und war begreiflicherweise stolz auf ihn. Alois war gerade erneut befördert worden, er hatte geheiratet und es weiter gebracht als je ein Hüttler oder Hiedler zuvor: nichts war verständlicher, als daß Johann Nepomuk das Bedürfnis empfand, den eigenen Namen in dem seines Ziehsohnes zu erhalten. Doch auch Alois mochte ein Interesse an der Namensänderung reklamieren; denn immerhin hatte er, ein energischer und pflichtbedachter Mann, inzwischen eine bemerkenswerte Karriere gemacht, so daß sein Bedürfnis einleuchtete, ihr durch einen »ehrlichen« Namen Gewähr und festen Grund zu verschaffen. Erst dreizehn Jahre alt, war er nach Wien zu einem Schuhmacher in die Lehre gegangen, hatte dann jedoch entschlossen das Handwerk aufgegeben, um in den österreichischen Finanzdienst einzutreten. Er war rasch avanciert und am Ende als Zollamtsoberoffizial in die höchste Rangklasse befördert worden, die ihm aufgrund seiner Vorbildung überhaupt offenstand. Mit Vorliebe zeigte er sich als Repräsentant der Obrigkeit, bei öffentlichen Anlässen und legte Wert darauf, mit seinem korrekten Titel angesprochen zu werden. Einer seiner Zollamtskollegen hat ihn als »streng, genau, sogar pedantisch« bezeichnet, und er selber hat einem Verwandten, der ihn um Rat bei der Berufswahl seines Sohnes bat, erklärt, der Finanzdienst verlange absoluten Gehorsam, Pflichtbewußtsein und sei nichts für »Trinker, Schuldenmacher, Kartenspieler und andere Leute mit unmoralischer Lebensführung«. Die photographischen Porträts, die er meist aus Anlaß seiner Beförderungen anfertigen ließ, zeigen unverändert einen stattlichen Mann, der unterm mißtrauischen Amtsgesicht rauhe, bürgerliche Lebenstüchtigkeit und bürgerliche Repräsentationslust erkennen läßt: nicht ohne Würde und Selbstgefallen stellt er sich, mit blitzenden Uniformknöpfen, dem Betrachter.
(J. Fest, 1978, S. 51.)
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Zu diesem Bericht ist noch hinzuzufügen, daß Maria Schicklgruber nach der Geburt ihres Sohnes von dem bei Fest genannten jüdischen Kaufmann 14 (vierzehn) Jahre lang Alimente erhalten hat. Den genauen Wortlaut von Franks Bericht zitiert Fest in seiner Hitler-Biographie von 1973 nicht mehr, wohl aber in seinem früheren, 1965 erstmals erschienenen. Buch. Dieser lautet:
Der Vater Hitlers war das uneheliche Kind einer in einem Grazer Haushalt angestellten Köchin namens Schickelgruber aus Leonding bei Linz ... Diese Köchin Schickelgruber, Großmutter Adolf Hitlers, war in einem jüdischen Haushalt mit Namen Frankenberger bedienstet, als sie ihr Kind gebar (müßte richtig heißen: als sie in die Hoffnung kam; der Verf.). Und dieser Frankenberger hat für seinen damals – die Sache spielt in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts – etwa neunzehnjährigen Sohn (der die Köchin geschwängert hatte – AM), mit der Geburt beginnend, bis in das vierzehnte Lebensjahr dieses Kindes der Schickelgruber Alimente bezahlt. Es gab auch einen jahrelangen Briefwechsel zwischen diesen Frankenbergers und der Großmutter Hitlers, dessen Gesamttendenz die stillschweigende gemeinsame Kenntnis der Beteiligten war, daß das Kind der Schickelgruber unter den Frankenberger alimentenpflichtig machenden Umständen gezeugt worden war ... (J. Fest, 1963, S. 18).
Wenn diese Tatsachen im Dorf so gut bekannt waren, daß sie nach 100 Jahren noch erzählt wurden, ist es undenkbar, daß Alois nichts davon gewußt hätte. Es ist auch nicht gut denkbar, daß Menschen in seiner Umgebung an eine derart unbegründete Großzügigkeit geglaubt hatten. Wie es auch tatsächlich gewesen sein mag, es lastete auf Alois eine mehrfache Schmach
1. der Armut;
2. der unehelichen Geburt;
3. der Trennung von der leiblichen Mutter im Alter von 5 Jahren und
4. des jüdischen Blutes.Über die ersten drei Punkte bestand Gewißheit, der vierte mag bloß ein Gerücht gewesen sein, das machte die Lage nicht leichter. Wie will man sich gegen ein Gerücht wehren, mit dem niemand offen herausrückt, über das nur getuschelt wird?
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Mit Gewißheiten kann man besser leben, auch mit den schlimmsten. Man kann sich z.B. beruflich so hoch hinaufarbeiten, daß von Armut keine Spur mehr bleibt. Das ist auch Alois gelungen. Es ist ihm auch gelungen, seine zwei späteren Ehefrauen vorehelich zu schwängern, um das erlittene Schicksal seiner unehelichen Geburt an seinen Kindern aktiv zu wiederholen und es unbewußt zu rächen. Aber die Frage nach der eigenen Herkunft blieb sein ganzes Leben unbeantwortet.
Die Ungewißheit über die eigene Herkunft, wenn nicht bewußt erlebt und betrauert, kann einen Menschen in eine große Unruhe und Unrast bringen, besonders aber, wenn sie, wie im Fall von Alois, mit einem ominösen Gerücht, das weder nachweisbar noch je vollständig widerlegbar war, verbunden ist.
Ich hörte kürzlich von einem beinahe 80jährigen Mann, Einwanderer aus Osteuropa, der seit 35 Jahren mit Frau und erwachsenen Kindern in Westeuropa lebt. Zu seinem größten Erstaunen erhielt dieser Mann vor kurzem einen Brief von seinem jetzt 53jährigen, unehelichen Sohn aus der Sowjetunion, von dem er seit 50 Jahren glaubte, er wäre tot. Das damals dreijährige Kind befand sich gerade bei seiner Mutter, als diese erschossen wurde. Der Vater des Kindes kam anschließend als politischer Häftling ins Gefängnis, und es ist ihm später nie eingefallen, diesen Sohn zu suchen, so sehr war er von dessen Tod überzeugt. Der Sohn aber, der den Namen der Mutter trug, schrieb in seinem Brief, daß er seit 50 Jahren keine Ruhe gehabt hätte und, von einer Information zur anderen geleitet, immer wieder neue Hoffnungen geschöpft habe, die sich immer wieder zerschlugen. Aber er hat es fertig gebracht, seinen Vater nach 50 Jahren zu finden, obwohl er zunächst nicht einmal seinen Namen kannte.
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Man kann sich vorstellen, wie stark dieser Mann seinen unbekannten Vater idealisiert hat, welche Hoffnungen er an das Wiedersehen geknüpft hat. Denn es mußten ungeheure Energiemengen dafür verwendet werden, um von einer kleinen Provinzstadt in der Sowjetunion aus einen Mann in Westeuropa ausfindig zu machen.
Diese Geschichte zeigt, wie lebensnotwendig es für einen Menschen sein kann, die ungelöste Frage seiner Herkunft zu klären und dem unbekannten Elternteil zu begegnen.
Es ist unwahrscheinlich, daß Alois Hitler bewußt solche Bedürfnisse hätte erleben können, außerdem war es ihm nicht möglich, den unbekannten Vater zu idealisieren, wenn das Gerücht umging, daß dieser ein Jude gewesen .war, was in seiner Umgebung Schmach und Isolierung bedeutete. Der von Joachim Fest beschriebene, an Fehlleistungen reiche Akt der Änderung des Namens im Alter von 40 Jahren zeigt, wie bedeutsam, aber auch wie konfliktreich die Frage der Herkunft für Alois war. Doch emotionale Konflikte lassen sich nicht mit offiziellen Dokumenten aus der Welt schaffen. Das ganze Gewicht dieser mit Leistungen, Beamtenstelle, Uniform und protzigem Verhalten abgewehrten Unruhe bekamen seine Kinder zu spüren.
John Toland berichtet:
Er war streitsüchtig und reizbar geworden. Zum Hauptobjekt der väterlichen Mißstimmung wurde Alois jr. Zeitweise lag der Vater, der absoluten Gehorsam verlangte, mit diesem Sohn in dauerndem Streit, weil der Junge sich weigerte, diese Fügsamkeit zu zeigen. Später beklagte Alois jr. sich bitter darüber, daß sein Vater ihn häufig »unbarmherzig mit der Nilpferdpeitsche geschlagen« habe, aber im damaligen Österreich waren schlimme körperliche Züchtigungen von Kindern keinesfalls unüblich; man erachtete eine solche Behandlung als günstig für die seelische Entwicklung des Kindes. Als der Junge einmal an drei Tagen nicht zur Schule gegangen war, weil er ein Spielzeugboot fertigstellen wollte, wurde er wieder von seinem Vater, der ihn durchaus zu diesem Hobby ermutigt hatte, mit der Peitsche traktiert und dann so lange mißhandelt, bis er das Bewußtsein verlor.
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Einigen Erzählungen zufolge wurde auch Adolf – wenn auch nicht so häufig – mit der Peitsche gezüchtigt, und den Hund schlug der Herr des Hauses »so lange, bis er sich krümmte und den Fußboden näßte«. Gewalttätigkeiten dieser Art mußte, Alois Hitler jr. zufolge, sogar die duldsame Ehefrau Klara Hitler ertragen; wenn diese Angaben stimmen, so müssen solche Auftritte bei Adolf Hitler einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben (J. Toland, 1977, S. 26).
Interessanterweise schreibt Toland: »wenn diese Angaben stimmen«, obwohl er selber eine Information von Adolfs Schwester Paula besitzt, die er zwar in seinem Buch nicht veröffentlicht, die aber in der Monographie von Helm Stierlin mit dem Hinweis auf die Toland Collection zitiert wird. Sie lautet:
Es war vor allem Bruder Adolf, der meinen Vater zu extremer Härte provozierte und jeden Tag sein gehöriges Maß an Prügel bekam. Er war ein etwas unflätiger kleiner Lausbub, und alle Versuche seines Vaters, ihm die Frechheit auszuprügeln und ihn dazu zu bringen, den Beruf eines Staatsbeamten zu wählen, waren vergeblich. (H. Stierlin 1975, S. 25).
Wenn die Schwester Paula John Toland persönlich erzählte, daß ihr Bruder Adolf jeden Tag »sein gehöriges Maß an Prügel« vom Vater bekam, besteht kein Grund, daran zu zweifeln. Es ist aber bezeichnend für alle Biographen, daß sie Mühe haben, sich mit dem Kind zu identifizieren und ganz unbewußt die Mißhandlungen der Eltern bagatellisieren. Sehr aufschlußreich ist die folgende Stelle von Franz Jetzinger:
Man schrieb auch, daß der Bub vom Vater arg geschlagen worden sei. Man beruft sich dabei auf einen angeblichen Ausspruch der Angela, die gesagt haben soll: »Adolf, denk daran, wie ich und die Mutter den Vater am Uniformrock zurückhielten, wenn er dich schlagen wollte!« Dieser angebliche Ausspruch ist sehr verdächtig. Der Vater trug seit der Hafelder Zeit keine Uniform mehr; das letzte Jahr, da er noch die Uniform trug, lebte er nicht bei der Familie; diese Szenen hätten sich also abspielen müssen zwischen 1892 und 1894; da war Adolf erst vier Jahre, und die Angela erst zwölf Jahre, da hätte sie es nie gewagt, den so strengen Vater am Uniformrock zurückzuhalten. Das hat einer erfunden, der in der Zeitrechnung schlecht beschlagen war!
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Der »Führer« selber erzählte seinen Sekretärinnen, denen er überhaupt gern Mätzchen vormachte, der Vater habe ihm einmal dreißig Schläge auf das verlängerte Rückgrat appliziert, aber der Führer erzählte in diesem Kreis manches, was nachweisbar unrichtig ist, und gerade diese Erzählung verdient um so weniger Glauben, weil er sie im Zusammenhang mit Indianergeschichten erzählte und sich brüstete, er habe bei dieser Prozedur nach Indianerart nicht einen einzigen Laut von sich gegeben. Es mag schon sein, daß der recht unfolgsame und widerborstige Bub ab und zu eine appliziert bekam, verdient hätte er es redlich, aber zu den »verprügelten Kindern« gehörte er auf keinen Fall; sein Vater war ein durch und durch fortschrittlich gesinnter Mann. Mit solch erkünstelten Theorien löst man das Rätsel Hitler nicht, kompliziert es nur!
Es hat im Gegenteil weit mehr den Anschein, daß der Vater Hitler, der doch zur Leondinger Zeit schon mehr als 61 Jahre alt war, beim Buben alle fünf grad sein ließ und sich um seine Erziehung überhaupt nicht viel kümmerte. (Jetzinger, 1957, S. 94.)
Wenn Jetzingers historische Belege stimmen, und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, so bestätigt er mit seiner »Beweisführung« meine feste Überzeugung, daß Adolf nicht erst als großer Junge, sondern bereits als sehr kleines Kind, nämlich unter vier Jahren, geschlagen wurde. Eigentlich bedarf es dieser Beweise nicht, denn das ganze Leben Adolfs ist ein Beweis dafür. Er selber schreibt in Mein Kampf nicht zufällig vom »sagen wir« dreijährigen Kind. Jetzinger nimmt offenbar an, daß dies nicht möglich gewesen wäre. Warum eigentlich nicht? Wie oft ist doch das kleine Kind der Träger des im Erwachsenen abgewehrten Bösen.*
* Die von Ray E. Helfer und C. Henry Kempe 1979 unter dem Titel Das geschlagene Kind herausgegebenen Aufsätze unterrichten den Leser mit sehr viel Einfühlung und Kenntnis über die Motive der Züchtigung von Säuglingen.
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In den Erziehungsschriften, die ich oben zitierte, und in den Büchern des Dr. Schreber, die seinerzeit ungemein populär waren, wird ja die Züchtigung des Säuglings eindringlich empfohlen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß man das Böse nie früh genug austreiben könne, damit das »Gute ungestört wachse«. Außerdem wissen wir aus Zeitungsberichten, daß Mütter ihre Säuglinge schlagen, und wir wüßten vielleicht noch viel mehr darüber, wenn Kinderärzte frei erzählen würden, was sie täglich erleben, aber bis vor kurzem hat es ihnen die ärztliche Schweigepflicht (zumindest in der Schweiz) sogar ausdrücklich verboten, und jetzt schweigen sie vielleicht immer noch aus Gewohnheit oder »aus Anstand«.
Sollte also jemand an den frühen Züchtigungen Adolf Hitlers zweifeln, so wäre für ihn die oben zitierte Stelle aus Jetzingers Biographie eine objektive Information, obwohl Jetzinger eigentlich das Gegenteil beweisen möchte – jedenfalls bewußt. Unbewußt hat er einiges mehr wahrgenommen, was sich in dem offenen Widerspruch zeigt. Denn entweder mußte Angela Angst haben vor dem »strengen Vater«, dann war Alois nicht so gutmütig wie Jetzinger ihn darstellt, oder er war so, dann hätte sie keine Angst zu haben brauchen.
Ich habe mich so lange bei dieser Stelle aufgehalten, weil sie mir als Beleg dafür dient, wie Biographien durch die Schonung der Eltern entstellt werden. Bezeichnenderweise spricht Jetzinger von »Mätzchen« da, wo Hitler seine bittere Wahrheit erzählt, behauptet, daß er »auf keinen Fall« zu den »verprügelten Kindern« gehörte und daß »der unfolgsame und widerborstige Bub« seine Schläge »redlich verdiente«. Denn »sein Vater war ein durch und durch (!) fortschrittlich gesinnter Mann«. Über Jetzingers Begriff der fortschrittlichen Gesinnung ließe sich sicher streiten, aber abgesehen davon gibt es Väter, die nach außen tatsächlich fortschrittlich denken und nur bei ihren Kindern oder sogar nur bei einem, dem dazu auserwählten, die Geschichte ihrer Kindheit wiederholen.
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Aus der pädagogischen Haltung, die ihre Hauptaufgabe im Schutz der Eltern vor den Vorwürfen des Kindes sieht, ergeben sich die seltsamsten psychologischen Interpretationen. So meint z. B. Fest, daß erst Franks Bericht von 1958 über die jüdische Herkunft seines Vaters bei Adolf Hitler Aggressionen gegen den Vater ausgelöst hätte. Im Gegensatz zu meiner These, daß Adolf Hitlers begründeter Kindheitshaß auf seinen Vater im Judenhaß ein Ventil gefunden hatte, meinte Fest, daß Adolf Hitler als erwachsener Mann, im Jahre 1938, anfing, seinen Vater zu hassen, nachdem er durch Frank von dessen jüdischer Abstammung erfahren hatte. Er schreibt:
Niemand vermag zu sagen, welche Reaktionen die Aufdeckung dieser Zusammenhänge in seinem Sohn auslöste, der sich soeben zur Eroberung der Macht in Deutschland anschickte; doch spricht einiges dafür, daß die dumpfen Aggressionen, die er dem Vater gegenüber stets empfunden hatte, nun in offenen Haß umschlugen. Schon im Mai 1938, wenige Wochen nach dem Anschluß Österreichs, ließ er die Ortschaft Döllersheim und deren weitere Umgebung in einen Truppenübungsplatz umwandeln. Die Geburtsstätte des Vaters und die Grabstelle der Großmutter wurden von den Panzern der Wehrmacht dem Erdboden gleichgemacht
(J. Fest, 1965, S. 18).Ein solcher Haß auf den Vater kann nicht dem bloßen Gehirn eines erwachsenen Menschen entstammen, einer »intellektuell« antisemitischen Haltung gewissermaßen; ein solcher Haß hat erfahrungsgemäß tiefe Wurzeln im Dunkel der eigenen Kindheitserlebnisse. Bezeichnenderweise meint auch Jetzinger, daß sich der »politische Haß« gegen die Juden nach Franks Nachricht in einen »persönlichen Haß« gegen den Vater und die Familienangehörigen »gewandelt« hätte (vgl. Jetzinger, S. 54).
Nach dem Tod von Alois brachte die Linzer »Tagespost« vom 8.1.1903 einen Nachruf, in dem es hieß:
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»Fiel auch ab und zu ein schroffes Wort aus seinem Munde, unter einer rauhen Hülle barg sich ein gutes Herz. Für Recht und Rechtlichkeit trat er jeder Zeit mit aller Energie ein. In allen Dingen unterrichtet, konnte er überall ein entscheidendes Wort mitsprechen.« Der Grabstein Alois Hitlers trägt ein Bild des einstigen Zollamts-Oberoffizials, auf dem er den Blick entschlossen nach oben richtet (zitiert nach J. Toland, S. 54).
Smith berichtet sogar, daß Alois einen »echten Respekt vor den Rechten der Menschen und eine tiefe Sorge um ihr Wohlergehen zeigte« (Stierlin, S. 20). Was bei »Respektpersonen« als »rauhe Hülle« ankommt, kann beim eigenen Kind die reinste Hölle sein. Dafür gibt auch J. Toland ein Beispiel:
In einer besonders rebellischen Phase beschloß Adolf eines Tages, davonzulaufen. Sein Vater erfuhr jedoch davon und schloß ihn in einem der oberen Räume ein. In der Nacht versuchte der Junge durch eine Fensteröffnung zu entkommen; und nachdem sie sich als zu eng erwiesen hatte, entledigte er sich seiner Kleider. In diesem Augenblick hörte er seinen Vater die Treppe heraufkommen; er gab seinen Versuch auf und bedeckte seine Blößen hastig mit einem Tischtuch. Der alte Herr griff diesmal nicht zur Peitsche; stattdessen brach er in Gelächter aus und rief seine Frau; sie möge doch heraufkommen und sich den »Togajüngling« ansehen. Dieser Spott traf den Sohn härter als jede körperliche Züchtigung. Helene Hanfstaengl bekannte er später, er habe »lange gebraucht, um über diese Episode hinwegzukommen«.
Viele Jahre später erzählte Hitler einer seiner Sekretärinnen, er habe einmal in einem Abenteuerroman gelesen, es sei ein Zeichen von Mut, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Und so »nahm ich mir vor, bei der nächsten Tracht Prügel keinen Laut von mir zu geben. Und als dies soweit war – ich weiß noch, meine Mutter Stand draußen ängstlich an der Tür –, habe ich jeden Schlag mitgezählt. Die Mutter dachte, ich sei verrückt geworden, als ich ihr stolz strahlend berichtete: <Zweiunddreißig Schläge hat mir der Vater gegeben!>« (Toland, S. 30).
Aus diesen und ähnlichen Stellen bekommt man den Eindruck, daß Alois die blinde Wut über die Erniedrigungen seiner Kindheit immer wieder in seinen Sohn hineingeschlagen hat. Offenbar stand er unter dem Zwang, gerade diesem Kind die Erniedrigungen und die Schmerzen seiner Kindheit zukommen zu lassen.
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Eine Geschichte könnte hier helfen, die Hintergründe eines solchen Zwanges zu verstehen. In einer amerikanischen Fernsehsendung wird eine therapeutische Gruppe junger Mütter gezeigt, die berichten, wie sie ihre Säuglinge mißhandelt haben. Eine der Mütter erzählt, daß sie es einmal nicht mehr aushallen konnte, das Schreien des Kindes zu hören, es plötzlich aus seinem Bettchen gerissen und an die Wand geschlagen hätte. Sie vermittelte dem Zuschauer sehr deutlich ihre damalige Verzweiflung und erzählte weiter, daß sie, als sie sich nicht mehr zu helfen wußte, den Telefondienst benutzte, den es in Amerika für diese Zwecke zu geben scheint. Die Stimme am Telefon fragte, wen sie eigentlich hätte schlagen wollen. Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen:
»mich selbst« und brach schluchzend zusammen. Mit dieser Geschichte möchte ich erklären, wie ich das Schlagen von Alois verstehe. Das ändert aber nichts daran, daß Adolf, der ja das alles als Kind nicht wissen konnte, in einer täglichen Bedrohung, ja in einer Hölle lebte, in einer ständigen Angst und im realen Trauma; daß er zugleich gezwungen war, alle diese Gefühle zu unterdrücken und sogar nur so seinen Stolz retten konnte; daß er den Schmerz nicht zeigte und ihn auch abspalten mußte.
Welch unbändigen, unbewußten Neid mußte der kleine Junge schon mit seinem bloßen Dasein in Alois provoziert haben! Geboren als »legales« eheliches Kind, dazu als Sohn eines Zollamtsoffizials, bei einer Mutter, die ihn nicht wegen Armut anderen Leuten abgeben mußte, und mit einem Vater, den er kannte (den er sogar täglich körperlich zu spüren bekam, so deutlich und nachhaltig, daß er ihn das ganze Leben nicht vergessen sollte).
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War es nicht genau das, was Alois so schmerzlich entbehren mußte und was er trotz größter Anstrengung seines ganzen Lebens nicht erreichen konnte, weil man das Schicksal der Kindheit niemals ändern kann? Man kann es nur hinnehmen und mit der Wahrheit der Vergangenheit leben oder aber es vollständig verleugnen und dafür andere leiden lassen.
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Es fällt vielen Menschen sehr schwer, die traurige Wahrheit hinzunehmen, daß Grausamkeit meistens unschuldige Menschen trifft. Man lernt ja schon als kleines Kind, alle Grausamkeiten der Erziehung als Strafen für eigenes Verschulden anzusehen. Eine Lehrerin erzählte mir, daß mehrere Kinder ihrer Klasse meinten, nachdem sie den Holocaust-Film gesehen hatten: »Die Juden mußten doch schuld sein, sonst hätte man sie nicht so bestraft«.
Von dort her sind auch die Bemühungen aller Biographen zu verstehen, die dem kleinen Adolf alle möglichen Sünden zuschreiben, vor allem Faulheit, Widerborstigkeit und Lügenhaftigkeit. Kommt denn ein Kind als Lügner auf die Welt? Und ist die Lüge nicht manchmal die einzige Chance, bei einem solchen Vater zu überleben und einen Rest seiner Würde zu retten? In einer so totalen Auslieferung an die Launen einer anderen Person, wie Adolf Hitler (und nicht nur er!) sie erlebte, sind Verstellung und schlechte Schulzeugnisse manchmal die einzige Möglichkeit, ein Stück Autonomie im Geheimen zu entwickeln. Es ist daher eher anzunehmen, daß Hitlers spätere Schilderungen eines offenen Kampfes mit dem Vater um die Berufswahl nachträgliche Retouchen waren, aber nicht weil der Sohn »von Natur aus« feige war, sondern weil dieser Vater keine Diskussionen zulassen konnte. Eher wird die folgende Stelle aus Mein Kampf dem wahren Sachverhalt entsprechen:
Ich konnte mit meinen inneren Anschauungen etwas zurückhalten, brauchte ja nicht immer gleich zu widersprechen. Es genügte mein eigener fester Entschluß, später einmal nicht Beamter zu werden, um mich innerlich vollständig zu beruhigen (zit. n. K. Heiden, 1936, S. 16).
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Es ist bezeichnend, daß der Biograph, Konrad Heiden, der diese Stelle zitiert, am Schluß bemerkt: »also ein kleiner Duckmäuser«. Wir verlangen eben von einem Kind, daß es sich in einem totalitären Regime offen und ehrlich verhält, zugleich aber aufs Wort gehorcht, gute Noten heimbringt, dem Vater nicht widerspricht, immer seine Pflicht erfüllt.
Auch der Biograph Rudolf Olden schreibt in seiner Biographie (1955) folgendes über Hitlers Schulschwierigkeiten:
Unlust und Unfähigkeit steigern sich schnell. Mit der harten Hand des Vaters, der plötzlich stirbt, fällt ein wichtiger Antrieb (!) weg (R. Olden, 1955, S. 18).
Die Schläge des Vaters sollten also der Antrieb zum Lernen sein. Das schreibt ausgerechnet der gleiche Biograph, der kurz zuvor über Alois folgendes berichtet:
Er hatte auch als Verabschiedeter den typischen Beamtenstolz und verlangte, daß man ihn Herr und mit seinem Titel anredete. Die Bauern und Häusler sagen Du zueinander. Zum Spott gaben sie dem Ortsfremden die Ehren, die er verlangte. In ein gutes Verhältnis kam er nicht zu seiner Umgebung. Dafür hatte er im eigenen Haus eine familiäre Diktatur errichtet. Die Frau sah zu ihm auf, für die Kinder hatte er eine harte Hand. Besonders Adolf verstand er nicht. Er tyrannisierte ihn. Sollte der Junge kommen, so pfiff der alte Unteroffizier auf zwei Fingern (Olden, S. 12).
Diese Szene, 1935 beschrieben, als noch viele Bekannte der Familie Hitler in Braunau lebten und als es noch nicht so schwer war, Informationen zu bekommen, findet sich meines Wissens nicht mehr in den Nachkriegsbiographien. Das Bild des Mannes, der sein Kind mit einem Pfiff wie einen Hund hereinruft, erinnert so stark an die Beschreibungen aus den KZ-Lagern, daß man sich nicht wundern kann, wenn die heutigen Biographen das – aus einer verständlichen Scheu – übersehen haben.
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Dazu kommt die in allen Biographien zu findende Tendenz, die Brutalität des Vaters zu verharmlosen, mit dem Hinweis, daß Schläge damals ganz normal waren, oder sogar mit komplizierten Beweisen gegen solche »Verleumdungen« des Vaters, wie das z.B. Jetzinger tut. Traurigerweise sind gerade Jetzingers sorgfältige Nachforschungen eine wichtige Quelle der späteren Arbeiten. Seine psychologischen Einsichten entfernen sich aber nicht weit von denen eines Alois.
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Wie Hitler als Kind seinen Vater wirklich erfahren haben muß, zeigte er, indem er unbewußt dessen Verhalten übernahm und in der Weltgeschichte aktiv spielte. Der zackige, uniformierte, etwas lächerliche Diktator, wie Chaplin ihn in seinem Film dargestellt hat und wie ihn auch die Feinde gesehen haben, das war Alois in den Augen seines kritischen Sohnes. Der große, geliebte und bewunderte Führer des deutschen Volkes, das war der andere Alois, der bewunderte und geliebte Mann der unterwürfigen Mutter Klara, deren Ehrfurcht und Bewunderung der ganz kleine Adolf zweifellos noch teilte.
Diese beiden verinnerlichten Aspekte seines Vaters lassen sich in Adolfs späteren Inszenierungen an vielen Stellen so deutlich finden (denken wir doch nur an den Gruß »Heil Hitler«, an die Huldigungen der Massen usw.), daß man den Eindruck bekommt, seine künstlerische Begabung hätte ihn mit ungeheurer Wucht dazu gedrängt, im ganzen späteren Leben die ersten, unbewußt gebliebenen, aber tief eingeprägten Eindrücke vom tyrannischen Vater in Szene zu setzen und darzustellen. Sie sind jedem Zeitgenossen unvergeßlich geblieben, wobei ein Teil der Zeitgenossen den Diktator im Entsetzen des mißhandelten und ein anderer ihn in der vollen Hingebung und Bejahung des ahnungslosen Kindes erleben konnte.
Jeder große Künstler schöpft aus dem Unbewußten seiner Kindheit, und Hitlers Werk hätte auch ein Kunstwerk werden können, wenn es nicht Millionen das Leben gekostet hätte, wenn nicht so viele Menschen seine ungelebten, in der Grandiosität abgewehrten Schmerzen hätten ertragen müssen.
Aber trotz der Identifikation mit dem Aggressor gibt es Stellen in Mein Kampf, die auch direkt zeigen, wie Adolf Hitler seine Kindheit erlebte.
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»In einer Kellerwohnung, aus zwei dumpfen Zimmern bestehend, haust eine sechsköpfige Arbeiterfamilie. Unter den Kindern auch ein Junge von, nehmen wir an, drei Jahren [...] Schon die Enge und Überfüllung des Raumes führt nicht zu günstigen Verhältnissen. Streit und Hader werden sehr häufig schon auf diese Weise entstehen [...] Wenn [...] dieser Kampf unter den Eltern selber ausgefochten wird, und zwar fast jeden Tag, in Formen, die an innerer Roheit oft wirklich nichts zu wünschen übriglassen, dann müssen sich, wenn auch noch so langsam, endlich die Resultate eines solchen Anschauungsunterrichtes bei den Kleinen zeigen. Welcher Art sie sein müssen, wenn dieser gegenseitige Zwjst die Formen roher Ausschreitungen des Vaters gegen die Mutter annimmt, zu Mißhandlungen im betrunkenen Zustand führt, kann sich der ein solches Milieu eben nicht Kennende nur schwer vorstellen.
Mit 6 Jahren ahnt der kleine, zu bedauernde Junge Dinge, vor denen ein Erwachsener nur Grauen empfinden kann ... Was der kleine Kerl sonst zu Hause hört, führt auch nicht zu einer Stärkung oder Achtung vor der lieben Mitwelt [...]« - »Übel aber endet es, wenn der Mann von Anfang an seine eigenen Wege geht und das Weib, gerade den Kindern zuliebe, dagegen auftritt. Dann gibt es Streit und Hader, und in dem Maße, in dem der Mann der Frau nun fremder wird, kommt er dem Alkohol näher. Kommt er endlich Sonntag oder Montag nachts selber nach Hause, betrunken und brutal, immer aber befreit vom letzten Heller und Pfennig, dann spielen sich oft Szenen ab, daß Gott erbarm. In Hunderten von Beispielen habe ich dies alles erlebt [...]«
(Stierlin, 1975, S. 24).
Obwohl die tiefe und nachhaltige Verletzung seiner Würde Adolf Hitler nicht erlaubt hätte, die Situation dieses »nehmen wir an« dreijährigen Jungen als die seine in der Ichform zu schildern, kann am Erlebnisgehalt dieser Darstellung kein Zweifel bestehen. Ein Kind, das von seinem Vater nicht mit seinem Namen gerufen, sondern wie ein Hund herbeigepfiffen wird, hat in der Familie den gleichen rechtslosen und namenlosen Status wie »der Jude« im Dritten Reich.
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Es ist Hitler tatsächlich gelungen, aus dem unbewußten Wiederholungszwang sein Familientrauma auf das ganze deutsche Volk zu übertragen. Durch die Einführung der Rassengesetze wurde es für jeden Bürger notwendig, seine Herkunft bis in die dritte Generation zurück legitimieren zu müssen und die daraus resultierenden Konsequenzen zu tragen. Die falsche oder unklare Herkunft konnte einem Menschen zuerst Schmach, Erniedrigung und schließlich den Tod bedeuten — und das mitten im Frieden, mitten im Staat, der sich ein Rechtsstaat nannte. Das ist ein Phänomen, das nirgends sonst in der Geschichte anzutreffen ist, nirgends auch Vorbilder hat. Denn die Inquisition z.B. verfolgte die Juden ihres Glaubens wegen, sie ließ ihnen jedoch die Möglichkeit einer Taufe zum Überleben. Im Dritten Reich haben aber kein Verhalten, keine Verdienste und Leistungen geholfen — als Jude war man von der Herkunft her zur Erniedrigung und später zum Tode verurteilt. Spiegelt sich hier nicht das Schicksal Hitlers in zweifacher Weise?
1. Es war ja auch für Hitlers Vater unmöglich, trotz aller Anstrengungen, Erfolge, beruflicher Aufstiege vom Schuster zum Zollamtsoberoffizial den »Schmutzfleck« in seiner Vergangenheit auszutilgen, wie es später den Juden verboten war, den Davidstern zu entfernen. Der »Schmutzfleck« blieb bestehen und bedrückte ihn sein ganzes Leben. Es mag sein, daß die vielen Umzüge (nach Fest elfmal) neben dem beruflichen auch diesen Grund gehabt haben — Spuren zu verwischen. Diese Tendenz ist ja auch in Adolfs Leben sehr deutlich: »Als ihm 1942 berichtet wurde, daß sich in dem Dorf Spital [der Herkunftsgegend seines Vaters –AM] eine Gedenktafel befände, bekam er einen seiner hemmungslosen Wutanfälle«, berichtet Fest.
2. Zugleich bedeutete das Rassengesetz die Wiederholung des eigenen Kindheitsdramas. So wie der Jude jetzt keine Chance hatte, konnte einst das Kind Adolf den Schlägen seines Vaters nicht entgehen, denn die Ursache der
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Schläge waren ja die ungelösten Probleme des Vaters, die Abwehr seiner Trauer um die eigene Kindheit, nicht aber das Verhalten des Kindes. Solche Väter pflegen auch ihre schlafenden Kinder aus den Betten zu zerren, wenn sie mit einer Stimmung nicht fertig werden (sich vielleicht gerade irgendwo in der Gesellschaft klein und unsicher gefühlt haben), und ihr Kind zu verprügeln, um sich ihr narzißtisches Gleichgewicht wieder zu verschaffen (vgl. Christiane F., S. 19 f.).
Diese Funktion hatte der Jude im Dritten Reich, das sich auf seine Kosten von der Schmach der Weimarer Republik erholen mußte, und diese Funktion hatte Adolf in seiner ganzen Kindheit. Er mußte es wehrlos hinnehmen, daß jeden Moment ein Gewitter über ihn losbrechen konnte, ohne daß er es mit irgendeinem Einfall, irgendeiner Leistung hätte von sich abwenden oder vermeiden können.
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Weil Adolf mit seinem Vater keine Zärtlichkeiten verband (er nennt ihn in Mein Kampf bezeichnenderweise »Herr Vater«), war der aufsteigende Haß in ihm kontinuierlich und eindeutig. Anders ist es bei Kindern, deren Väter Wutausbrüche haben und zwischendurch wieder reizend mit den Kindern spielen können. Da kann der Haß in dieser reinen Form gar nicht so kultiviert werden. Diese Menschen haben es in einer anderen Art sehr schwer, suchen sich Partner mit einer ähnlich zu Extremen neigenden Struktur, sind mit tausend Ketten an diese gebunden, können die Partner nicht verlassen, leben immer in der Erwartung, daß die gute Seite endlich von Dauer sein wird, verzweifeln bei jedem neuen Ausbruch immer aufs Neue. Solche sado-masochistischen Bindungen, die auf das doppelte Gesicht eines Elternteils zurückgehen, sind stärker als eine Liebesbeziehung, sie sind nicht zu trennen und bedeuten permanente Selbstzerstörung.
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Dem Kind Adolf war die Kontinuität der Schläge gesichert. Was er auch getan haben mochte, es konnte auf die täglichen Prügel keinen Einfluß haben. Es blieb ihm nur die Verleugnung der Schmerzen, also die Selbstverleugnung und die Identifikation mit dem Aggressor. Niemand konnte ihm helfen, nicht einmal seine Mutter, die sonst in Gefahr geriet. Denn auch sie wurde geschlagen (vgl. J. Toland. S.26).
Diese ständige Bedrohung spiegelt sich im Schicksal der Juden im Dritten Reich sehr genau wider. Versuchen wir uns eine Szene vorzustellen: Ein Jude geht auf die Straße, vielleicht um Milch zu holen, da stürzt sich ein Mensch mit der SA-Binde um den Arm auf ihn, ein Mensch, der das Recht hat, alles mit ihm zu machen, was er will, was ihm seine Phantasie gerade eingibt und was für sein Unbewußtes im Moment notwendig ist. Auf all das kann der Jude jetzt keinen Einfluß nehmen — so wenig wie einst das Kind Adolf. Wehrt sich der Jude, kann und darf er zu Tode getrampelt werden, wie seinerzeit der 11jährige Adolf, als er mit drei Kameraden verzweifelt von zu Hause weggelaufen war, um sich auf einem selbstgebauten Floß den Fluß heruntertreiben zu lassen und sich vor der Gewalt des Vaters zu retten. Für den bloßen Gedanken an eine Flucht wurde er beinahe zu Tode geprügelt (vgl. H. Stierlin, S. 23). Auch dem Juden steht jetzt keine Fluchtmöglichkeit zur Verfügung, alle Wege sind abgeschnitten und führen in den Tod, wie das Bahngeleise, das vor Treblinka und vor Auschwitz einfach endete, da hörte das Leben auf. So fühlt sich doch jedes Kind, das täglich geschlagen wird und wegen des Gedankens an Flucht fast umgebracht worden wäre.
In der von mir geschilderten Szene, die sich in vielen Varianten zwischen 1935 und 1945 unzählige Male abgespielt hat, muß der Jude alles wie ein hilfloses Kind ertragen. Er muß es über sich ergehen lassen, daß dieses schreiende, außer sich geratene, in ein Monstrum verwandelte Geschöpf mit der SA-Binde ihm die Milch über den Kopf gießt, andere herbeiruft, um sich zu amüsieren (wie Alois über Adolfs Toga lachte), sich jetzt groß und stark fühlt neben einem Menschen, der ganz ihm, ganz seiner Macht ausgeliefert ist.
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Wenn dieser Jude das Leben liebt, wird er es jetzt nicht aufs Spiel setzen, nur um sich Mut und Härte zu beweisen. Er verhält sich also ruhig und ist innerlich voller Widerwillen und Verachtung für diesen Menschen, genauso wie damals Adolf, der die Schwäche seines Vaters mit der Zeit durchschaute und anfing, ihm mit seinem Schulversagen, das den Vater kränkte, wenigstens ein bißchen zurückzuzahlen.
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Joachim Fest meint, der Grund von Adolfs Schulversagen könne nicht in seiner Beziehung zum Vater liegen, sondern in der Erschwerung der gestellten Forderungen in Linz, wo Adolf der Konkurrenz mit den aus bürgerlichen Häusern stammenden Kameraden nicht mehr gewachsen war. Andererseits schreibt Fest, Adolf sei »ein aufgeweckter, lebhafter und offenbar begabter Schüler gewesen« (S. 57). Warum sollte ein solcher Junge in der Schule versagen, wenn nicht aus dem Grund, den er selber angibt, dem Fest aber mißtraut, weil er Adolf »einen Hang zur Bequemlichkeit« und »ein schon frühzeitig hervortretendes Unvermögen zu geregelter Arbeit« vorwirft (S. 57).
So hätte Alois reden können, aber daß der gründlichste Biograph, der auf Tausenden von Seiten Hitlers spätere Leistungsfähigkeit selber unter Beweis stellt, sich mit dem Vater gegen das Kind identifiziert, wäre erstaunlich, wenn es nicht die Regel wäre. Fast alle Biographen übernehmen fraglos die Wertmaßstäbe der Erziehungsideologie, nach der die Eltern immer recht haben und die Kinder faul, verwöhnt, »störrisch« und »launisch« (S. 57) sind, wenn sie nicht unter allen Umständen wie gewünscht funktionieren. Falls die Kinder etwas gegen die Eltern sagen, kommen sie oft in den Verdacht der Lüge. Fest schreibt:
Ihn (den Vater) hat der Sohn später sogar, um einige effektvolle Schwärze ins Bild zu bringen (als ob das noch nötig gewesen wäre! -AM) zum Trunksüchtigen gemacht, den er bettelnd und schimpfend, in Szenen »gräßlicher Scham« aus »stinkenden, rauchigen Kneipen« nach Hause zerren mußte (Fest 1978, S. 57).
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Warum ist das effektvolle Schwärze? Weil sich die Biographen einig darüber sind, daß der Vater zwar gern im Wirtshaus trank und anschließend zu Hause Szenen machte, aber »kein Alkoholiker war«. Mit der Diagnose »kein Alkoholiker« kann alles, was der Vater tat, weggewischt werden und dem Kind die Bedeutung seines Erlebnisses, nämlich der Schmach und Scham im Anblick der furchtbaren Szenen, vollständig ausgeredet werden.
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Ähnliches geschieht, wenn Menschen während ihrer Analyse bei entfernten Familienangehörigen über ihre verstorbenen Eltern nachfragen. Die zu Lebzeiten fehlerlosen Eltern avancieren mit ihrem Tode mühelos zu Engeln und hinterlassen ihre Kinder in einer Hölle von Selbstvorwürfen. Da kaum ein Mensch in der Umgebung die einstigen Wahrnehmungen dieser Kinder bestätigen wird, bleiben sie mit ihnen isoliert und halten sich deswegen für sehr böse. Adolf Hitler wird es nicht anders ergangen sein, als er mit 15 Jahren seinen Vater verlor und von da an in seiner ganzen Umgebung nur dem idealisierten Vaterbild begegnete. Wer hätte ihm damals die Grausamkeit und Brutalität seines Vaters bestätigt, wenn die Biographen noch heute bemüht sind, dessen regelmäßige Schläge als harmlos zu schildern? Sobald es aber Adolf Hitler gelang, seine Erfahrung des Bösen auf den »Juden an sich« zu transponieren, gelang es ihm, die Isolierung zu durchbrechen.
Es gibt wohl kaum ein zuverlässigeres Bindeglied unter den Völkern Europas als den Judenhaß. Er ist seit jeher ein geschätztes Manipulationsmittel der Regierenden und eignet sich offenbar vorzüglich zur Verschleierung von sehr verschiedenen Interessen, so daß auch extrem miteinander verfeindete Gruppierungen sich über die Gefährlichkeit oder Gemeinheit der Juden völlig einig sein können. Der erwachsene Hitler wußte das und sagte einmal zu Rauschning, daß, »wenn es den Juden nicht gäbe, man ihn erfinden müßte«.
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Woher bezieht der Antisemitismus seine ewige Erneuerungsfähigkeit? Das ist nicht schwer zu verstehen. Man haßt den Juden nicht deshalb, weil er das oder jenes tut oder ist. Alles, was die Juden tun oder sind, läßt sich auch bei anderen Völkern finden. Man haßt den Juden, weil man einen unerlaubten Haß in sich trägt und begierig ist, ihn zu legitimieren. Das jüdische Volk eignet sich für diese Legitimierung in ganz besonderem Maße. Weil seine Verfolgung seit zwei Jahrtausenden von höchsten kirchlichen und staatlichen Autoritäten ausgeübt wurde, brauchte man sich des Judenhasses nie zu schämen, nicht einmal dann, wenn man mit strengsten moralischen Prinzipien aufgewachsen war und sich für die natürlichsten Regungen der Seele sonst zu schämen hatte (vgl. S. 115f.).
Ein im Panzer der zu früh geforderten Tugenden aufwachsendes Kind wird gerne nach der einzig erlaubten Abfuhr greifen, sich seinen Antisemitismus (d.h. sein Recht auf den Haß) »holen« und ihn sein Leben lang behalten. Möglicherweise war aber diese Abfuhr Adolf nicht ohne weiteres zugänglich, weil sie ein Tabu der Familie berührt hätte. Später, in Wien, genoß er es, dieses stillschweigende Verbot aufzuheben, und als er zur Macht kam, brauchte er nur den einzigen in der abendländischen Tradition legitimen Haß zur höchsten Tugend des arischen Menschen zu proklamieren.
Meine Vermutung, daß die Abstammungsfrage in Adolfs Elternhaus tabuisiert gewesen war, leite ich von der großen Bedeutung ab, die er später diesem Thema beimaß. Seine Reaktion auf Franks Bericht im Jahre 1950 bestätigt nur diese Vermutung. Sie zeigt die für ein Kind so bezeichnende Mischung von Wissen und Nichtwissen und spiegelt die in der Familie herrschende Verwirrung im Zusammenhang mit diesem Thema. In Franks Bericht heißt es u.a.
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Adolf Hitler selbst wußte, daß sein Vater nicht von dem geschlechtlichen Verkehr der Schicklgruber mit dem Grazer Juden herstammte, er wußte es von seines Vaters und der Großmutter Erzählungen. Er wußte, daß sein Vater herstammte aus den vorehelichen Beziehungen seiner Großmutter mit ihrem späteren Mann. Aber diese beiden waren arm, und der Jude zahlte die Alimente als höchst erwünschte jahrelange Zulage zum armseligen Haushalt. Man hatte ihn, den Zahlungsfähigen, als Vater angegeben, und ohne Prozeß zahlte der Jude, weil er wohl einen prozessualen Austrag und die damit zusammenhängende Öffentlichkeit scheute (zitiert nach Jetzinger, S. 50).
Jetzinger kommentiert Hitlers Reaktion mit folgenden Worten:
In diesem Absatz wird offensichtlich wiedergegeben, was Hitler zu der Enthüllung durch Frank sagte. Er wird natürlich sehr bestürzt gewesen sein, durfte sich aber selbstverständlich vor Frank nichts anmerken lassen und tat daher so, als sei ihm das Berichtete nicht vollkommen neu; er sagte, er wisse aus den Erzählungen seines Vaters und seiner Großmutter, daß sein Vater nicht von dem Grazer Juden stamme. Da hat sich aber Adolf in der momentanen Verwirrung gründlich verrannt! Seine Großmutter lag schon mehr als vierzig Jahre im Grab, als er geboren wurde, die konnte ihm nichts erzählt haben! Und sein Vater? Der hätte es ihm erzählt haben müssen, als Adolf noch nicht vierzehn Jahre alt war, denn dann starb sein Väter; einem solchen Buben erzählt man nicht derartige Sachen und schon gar nicht sagt man ihm: »Dein Großvater war kein Jude«, wenn ohnehin ein jüdischer Großvater nicht in Frage kam! Weiters antwortete Hitler, er wisse, daß sein Vater aus den vorehelichen Beziehungen seiner Großmutter mit ihrem späteren Manne stammt. Warum hatte er dann etliche Jahre vorher in seinem Buche geschrieben, sein Vater sei der Sohn eines armen, kleinen Häuslers? Der Müllergeselle, mit dem allein seine Großmutter, aber erst nachdem sie wieder in Döllersheim lebte, hätte voreheliche Beziehungen haben können, war nie in seinem Leben Häusler! Und die Großmutter der Gemeinheit bezichtigen, ob es nun Hitler tat oder Frank, sie habe einfach einen Zahlungskräftigen als Kindesvater angegeben, entspricht einer Denkungsart, wie sie unter verkommenen Subjekten üblich sein mag, beweist aber nichts für die Abstammung! Adolf Hitler wußte über seine Herkunft rein gar nichts! Man pflegt ja auch Kinder über so etwas nicht aufzuklären
(Jetzinger, S. 50 f.).
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Eine solche unerträgliche Verwirrung im Elternhaus kann dazu führen, daß das Kind Schulschwierigkeiten bekommt (weil das Wissen verboten, also bedrohlich und gefährlich ist). Auf jeden Fall wollte Adolf Hitler es später von jedem Bürger ganz genau, bis in die dritte Generation, wissen, ob nicht doch noch ein jüdischer Ahne »dahinter Steckte«.
Adolfs Schulversagen widmet Fest mehrere Überlegungen, darunter auch die, daß es auch nach dem Tode des Vaters andauerte, womit der Beweis erbracht werden soll, daß es nicht mit dem Vater in Zusammenhang stand. Dagegen läßt sich einiges geltend machen:
1. Die Zitate aus der Schwarten Pädagogik zeigen sehr deutlich, wie gerne die Lehrer die Nachfolge der Väter bei der Züchtigung der Schüler antreten und welchen Gewinn sie zur narzißtischen Stabilisierung ihrer selbst daraus ziehen.
2. Als Adolfs Vater starb, war er ja bereits längst von seinem Sohn verinnerlicht worden, und die Lehrer boten sich nun als Vaterersatz an, bei dem man versuchen konnte, sich mit etwas mehr Erfolg zu wehren. Das Schulversagen gehört zu den wenigen Mitteln, die man hat, um den Lehrer-Vater zu strafen.
3. Mit 11 Jahren wurde Adolf fast zu Tode geprügelt, als er sich aus einer für ihn unerträglichen Situation durch Flucht zu befreien versuchte. Damals starb auch sein Bruder Edmund, an dem er als dem Schwächeren vielleicht noch ein Stück Macht hatte erleben dürfen. Darüber wissen wir nichts. In diese Zeit fällt jedenfalls sein Schulversagen, das im Gegensatz zu den früheren guten Noten stand.
Wer weiß, vielleicht hätte dieses aufgeweckte, begabte Kind noch einen anderen, humaneren Weg gefunden, um mit dem aufgestauten Haß umzugehen, wenn seine Neugier und Vitalität in den Schulen mehr Nahrung hätten finden können. Aber auch die Bekanntschaft mit geistigen Werten wurde ihm durch diese erste, tief gestörte Vaterbeziehung, die sich auf Lehrer und Schule übertrug, unmöglich gemacht.
Das in der Art des Vaters wütende Kind von damals befiehlt später, Bücher von freidenkenden Menschen zu verbrennen. Es sind Bücher, die Adolf haßte und nie gelesen hatte, aber vielleicht hätte lesen und verstehen können, wenn man ihm von Anfang an ermöglicht hätte, seine Fähigkeiten zu entwickeln. Das Verbrennen von Büchern und das Verdammen von Künstlern sind ja auch eine Rache dafür, daß dieses begabte Kind um den Genuß der Schule gebracht worden ist. Was hier gemeint ist, kann vielleicht mit Hilfe einer Geschichte verdeutlicht werden.
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