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199-212

Ich saß einmal auf einer Bank im Park einer mir fremden Großstadt. Neben mich setzte sich ein alter Mann, der, wie er mir später sagte, bereits 82 Jahre alt war. Er fiel mir auf, weil er sehr beteiligt und respektvoll mit spielenden Kindern sprach, und ich ließ mich in ein Gespräch mit ihm ein, in dem er mir von seinen Erlebnissen als Soldat im ersten Weltkrieg erzählte. 

»Wissen Sie«, sagte er, »ich habe in mir einen Schutzengel, der mich immer begleitet. So oft erlebte ich, daß alle meine Kameraden, von Granaten oder Bomben getroffen, tot umgefallen sind und ich, obwohl ich daneben stand, am Leben blieb und nicht einmal eine Wunde hatte.«

Es ist unwichtig, ob sich dies in allen Einzelheiten so abgespielt hatte, aber was dieser Mann ausdrückte, war eine Darstellung seines Selbst, des großen Vertrauens in sein Schicksal. 

So erstaunte es mich nicht, daß er auf meine Frage nach seinen Geschwistern antwortete: »die sind alle tot, ich war ein Nesthäkchen«. Seine Mutter hätte »das Leben geliebt«, erzählte er. Sie hätte ihn morgens im Frühling manchmal geweckt, um mit ihm dem Vogelgesang im Wald zu lauschen, noch bevor er in die Schule ging. Das waren die schönsten Erlebnisse.

Auf meine Frage, ob er geschlagen worden wäre, antwortete er: »Geschlagen wurde ich kaum, vielleicht ist dem Vater mal die Hand ausgerutscht, das machte mich jedesmal zornig, aber er tat es nie in Mutters Gegenwart, die hätte das niemals zugelassen. Aber wissen Sie«, berichtete er, »einmal wurde ich grauenhaft geschlagen – vom Lehrer. In den ersten drei Klassen war ich der beste Schüler, in der vierten bekamen wir einen neuen Lehrer. Der hat mich einmal einer Tat beschuldigt, die ich nicht begangen hatte. Dann nahm er mich auf sein Zimmer und schlug und schlug und schrie dauernd wie ein Besessener: Wirst Du jetzt die Wahrheit sagen? Wie konnte ich aber? Ich hätte ja für ihn lügen müssen, und das hatte ich bisher nie getan, weil ich vor meinen Eltern keine Angst zu haben brauchte. Also hielt ich das Schlagen eine Viertelstunde aus, aber danach interessierte ich mich nicht mehr für die Schule und wurde ein schlechter Schüler. Es hat mich später oft geschmerzt, daß ich kein Abitur gemacht habe. Aber ich glaube, ich hatte damals keine andere Wahl.«

 

Dieser Mann schien als Kind von seiner Mutter so geachtet worden zu sein, daß er selbst auch seine Gefühle respektieren und leben konnte. Deshalb merkte er, daß er auf den Vater zornig wurde, wenn diesem »die Hand ausrutschte«, er merkte, daß ihn der Lehrer zur Lüge verführen und erniedrigen wollte, und er spürte auch die Trauer darüber, daß er für seine Würde und Treue zu sich selbst mit dem Verzicht auf die Bildung bezahlen mußte, weil es für ihn damals keinen anderen Weg gab. 

Es fiel mir auf, daß er nicht wie die meisten Menschen sagte: »Meine Mutter hat mich sehr geliebt«, sondern er sagte: »Sie liebte das Leben«, und ich erinnerte mich, daß ich das einmal über Goethes Mutter geschrieben hatte. Die schönsten Augenblicke erlebte dieser alte Mann mit seiner Mutter im Wald, als er ihre Freude an den Vögeln spürte, die sie mit ihm teilte. Diese warme Mutterbeziehung strahlte immer noch aus seinen alten Augen, und der Respekt seiner Mutter für ihn drückte sich unmißverständlich in der Art aus, in der er jetzt mit den spielenden Kindern sprach. In seiner Haltung war nichts Überhebliches, nichts Verniedlichendes, sondern einfach Aufmerksamkeit und Achtung.

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Ich habe mich bei Hitlers Schulschwierigkeiten so lange aufgehalten, weil sie sowohl in ihren Ursachen als auch in den späteren Auswirkungen ein Beispiel für Millionen sind. Hitlers große und begeisterte Anhängerschaft bewies, daß sie ähnlich wie er strukturiert, d.h. ähnlich erzogen, war. Die heutigen Biographien zeigen, wie weit unser Denken noch von der Erkenntnis entfernt ist, daß ein Kind das Recht auf Respekt hat. 

Joachim Fest, der eine immense und gründliche Arbeit auf sich genommen hat, um Hitlers Leben zu schildern, kann dem Sohn nicht glauben, wie sehr er unter seinem Vater gelitten hat, und meint, Adolf »dramatisiere« nur die Schwierigkeiten mit dem Vater, als ob es überhaupt jemandem anstehen würde, darüber mehr zu wissen als Adolf Hitler selber.

Über Fests Perspektive der Elternschonung wird man sich kaum wundern, wenn man bedenkt, wie wenig selbst die Psycho­analyse von ihr frei ist. Soweit ihre Anhänger noch – etwa im Sinne von Wilhelm Reich – meinen, lediglich, um die Befreiung der Sexualität kämpfen zu müssen, übersehen sie ganz entscheidende Aspekte. 

Was ein Kind, das keine Achtung für sich erfahren und deshalb auch in sich nicht entwickeln konnte, mit der »befreiten« Sexualität macht, können wir auf dem »Babystrich« und in der Drogenszene sehen. Dort lernt man u.a. auch, in welche verhängnisvolle Abhängigkeiten (von anderen Menschen und vom Heroin) die »Freiheit« der Kinder führt, die keine ist, solange sie mit der eigenen Entwürdigung einhergeht.

Nicht nur das Schlagen der Kinder, sondern auch dessen Folgen sind so gut in unser Leben integriert, daß diese uns in ihrer Absurdität kaum mehr auffallen.

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Die »heldenhafte Bereitschaft« Jugendlicher, sich in Kriegen zu schlagen und (gerade am Beginn ihres Lebens!) für fremde Interessen zu fallen, mag auch damit zusammenhängen, daß sich in der Pubertät der frühkindliche, abgewehrte Haß nochmals intensiviert. Jugendliche können ihn von ihren Eltern ableiten, wenn sie ein eindeutiges Feindbild bekommen, das sie dann frei und erlaubtermaßen hassen dürfen. Aus diesem Grund sind wohl im ersten Weltkrieg so viele junge Maler und Dichter freiwillig an die Front gegangen. Die Hoffnung auf Befreiung aus den Zwängen des Elternhauses ließ sie die Wonnen der Marschmusik genießen. Das Heroin ersetzt unter anderem auch diese Funktion, nur daß sich hier die Zerstörungswut gegen den eigenen Körper und das eigene Selbst richtet.

 

Lloyd deMause, der sich als Psychohistoriker vor allem für Motivationen interessiert und die ihnen zugrunde­liegenden Gruppen­phantasien beschreibt, ist einmal der Frage nachgegangen, von welchen Phantasien die kriegserklärenden Völker beherrscht werden. 

Bei der Durchsicht seines Materials fiel ihm auf, daß unter den zahlreichen Äußerungen der Staatsmänner dieser Völker immer wieder Bilder auftauchten, die an den Vorgang der Geburt erinnern. Auffallend häufig ist da von Strangulierung die Rede, in der sich das kriegserklärende Volk angeblich befände und aus der es sich mit Hilfe des Krieges endlich zu befreien hoffe. L. deMause meint, in dieser Phantasie spiegle sich die reale Situation des Kindes während der Geburt, die in jedem Menschen als Trauma zurückbleibe und deshalb dem Wiederholungszwang unterworfen ist (vgl. L. de Mause, 1979).

Für die Richtigkeit dieser These könnte die Beobachtung sprechen, daß das Gefühl, stranguliert zu werden und sich befreien zu müssen, nicht bei den wirklich bedrohten Völkern, wie z.B. Polen 1939, vorkommt, sondern da, wo dies nicht real der Fall war, z.B. in Deutschland 1914 und 1939 oder bei Kissinger in der Zeit des Vietnamkrieges.

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Es handelt sich also bei der Kriegserklärung zweifellos um die Befreiung aus einer phantasierten Bedrohung, Beengung, Erniedrigung. Aus dem, was ich jetzt über die Kindheit weiß und was ich unter anderem am Beispiel von Adolf Hitler zu zeigen versuche, würde ich allerdings eher folgern, daß im Kriegswunsch nicht das Geburtstrauma, sondern andere Erfahrungen wiederbelebt werden. Auch die schwerste Geburt ist ein, einmaliges, abgeschlossenes Trauma, das wir trotz unserer Kleinheit und Schwäche meistens aktiv oder mit Hilfe rettender Drittpersonen bewältigt haben. 

Im Gegensatz dazu ist die Erfahrung des Geschlagenwerdens, der seelischen Demütigung und Grausamkeit, die sich immer wiederholt, aus der es kein Entrinnen und in der es keim rettende Hand gibt, weil niemand diese Hölle als Hölle ansieht, ein immerwährender oder immer wieder neu erlebter Zustand, in dem es am Ende keinen erlösenden Schrei geben darf und der lediglich mit Hilfe der Abspaltung und Verdrängung vergessen werden kann. Es sind deshalb genau diese unbewältigten Erlebnisse, die sich im Wiederholungszwang einen Ausdruck verschaffen müssen. Im Jubel der Kriegserklärenden lebt die Hoffnung auf, die einstigen Erniedrigungen endlich rächen zu können, und vermutlich auch die Erlösung über die Erlaubnis zu hassen und zu schreien. Das einstige Kind ergreift die erste Chance, endlich aktiv sein zu können und nicht mehr schweigen zu müssen. Wo die Trauerarbeit nicht möglich war, wird im Wiederholungszwang versucht, die Vergangenheit ungeschehen zu machen und die einstige tragische Passivität mit Hilfe der heutigen Aktivität aus der Welt zu schaffen. Da dies aber nicht gelingen kann, weil Vergangenes nicht zu ändern ist, rühren solche Kriege den Angreifer nicht zur Befreiung, sondern schließlich zur Katastrophe, auch im Falle der vorläufigen Siege.

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Trotz dieser Überlegungen könnte man sich vorstellen, daß die Geburtsphantasie hier eine Rolle spielt. Für ein Kind, das täglich geschlagen wird und dabei schweigen muß, ist die Geburt vielleicht das einzige Ereignis in seiner Kindheit, aus dem es nicht nur in der Phantasie, sondern real als Sieger hervorgegangen ist: sonst hätte es ja nicht überlebt. Es hat sich durch die Enge hindurchgekämpft, durfte nachher schreien und wurde trotzdem von helfenden Händen versorgt. Läßt sich diese Seligkeit mit dem vergleichen, was später kam? 

Es wäre nicht verwunderlich, wenn wir uns mit diesem großen Triumph helfen wollten, über die Niederlagen und die Verlassenheit der späteren Zeit hinwegzukommen. In diesem Sinne wären die Assoziationen zum Geburtstrauma während der Kriegserklärung als Abwehr des tatsächlichen, verborgenen Traumas, das nirgends in der Gesellschaft ernstgenommen wird und deshalb auf Inszenierungen angewiesen ist, zu verstehen. In Adolf Hitlers Leben gehören die »Burenkriege« der Schulzeit, Mein Kamp/und der Zweite Weltkrieg zur sichtbaren Spitze des Eisberges. Die verborgene Vorgeschichte einer solchen Entwicklung kann nicht in der Erfahrung des Durchgangs durch den Geburtskanal gesucht werden, die Hitler mit allen Menschen teilt. Aber nicht alle Menschen wurden als Kinder so wie er gequält.

 

Was hat der Sohn nicht alles unternommen, um das Trauma der väterlichen Schläge zu vergessen: Er hat sich die herrschende Klasse Deutschlands unterworfen, er hat die Massen gewonnen, sich die Regierungen Europas gefügig gemacht. Er besaß eine beinahe unbeschränkte Macht. Aber nachts, im Schlaf, wenn das Unbewußte dem Menschen die frühkindlichen Erfahrungen mitteilt, gab es kein Entrinnen: Da erschien ihm sein furchterregender Vater, und das Grauen breitete sich aus.

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Rauschning schreibt (S. 273):

Aber er hat Zustände, die an Verfolgungswahnsinn und Persönlichkeitsspaltung nahe heranreichen. Seine Schlaf­losigkeit ist mehr als nur die Überreizung seines Nervensystems. Er wacht oft des Nachts auf. Er wandert ruhelos umher. Dann muß Licht um ihn sein. Neuerdings läßt er sich dann junge Leute kommen, die die Stunden eines offenbaren Grauens mit ihm teilen müssen. Zu Zeiten müssen diese Zustände einen besonders bösartigen Charakter angenommen haben. Mir hat jemand aus seiner engsten täglichen Umgebung berichtet: er wache des Nachts mit Schreikrämpfen auf. Er schreie um Hilfe. Auf seiner Bettkante sitzend könne er sich nicht rühren. Die Furcht schüttle ihn, sodaß das ganze Bett vibriere. Er stoße verworrene, völlig unverständliche Worte hervor. Er keuche, als glaube er ersticken zu müssen. Der Mann erzählte mir eine Szene, die ich nicht glauben würde, wenn sie nicht aus solcher Quelle käme. Taumelnd habe er im Zimmer gestanden, irr um sich blickend. Er! Er! Er ist dagewesen«, habe er gekeucht. Die Lippen seien blau gewesen. Der Schweiß habe nur so an ihm heruntergetropft. Plötzlich habe er Zahlen vor sich hergesagt. Ganz sinnlos. Einzelne Worte und Satzbrocken. Es habe schauerlich geklungen. Merkwürdig zusammengesetzte Wort­bildungen habe er gebraucht, ganz fremdartig. Dann habe er wieder ganz still gestanden und die Lippen bewegt. Man habe ihn abgerieben, habe ihm etwas zu Trinken eingeflößt. Dann habe er plötzlich losgebrüllt: »Da, da! in der Ecke! Wer steht da?« Er habe aufgestampft, habe geschrien wie man das an ihm gewohnt sei. Man habe ihm gezeigt, daß da nichts Ungewöhnliches sei, und dann habe er sich allmählich beruhigt. Viele Stunden hätte er danach geschlafen. Und dann sei es für eine Zeit wieder erträglich mit ihm gewesen.

Obwohl (oder weil) die meisten Menschen in Hitlers Umgebung einst geschlagene Kinder waren, hat niemand den Zusammenhang zwischen seiner panischen Angst und den »unverständlichen Zahlen« begriffen. Die in der Kindheit unterdrückten Gefühle der Angst beim Zählen der Schläge überfielen nun den Erwachsenen auf dem Höhepunkt seines Erfolges in Form von Alpträumen, plötzlich und unentrinnbar, in der Einsamkeit der Nacht.

Die ganze Welt hätte als Opfer nicht ausgereicht, um den verinnerlichten Vater von Adolf Hitlers Schlafzimmer fernzuhalten, denn das eigene Unbewußte wird mit der Vernichtung der Welt nicht vernichtet. Aber die Welt hätte trotzdem herhalten müssen, wenn Hitler noch länger am Leben geblieben wäre, denn die Quelle seines Hasses floß ununterbrochen — auch im Schlaf ...

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Für Menschen, denen die Kräfte des Unbewußten nie zum Erlebnis geworden sind, mag es naiv klingen, wenn jemand Hitlers Werk von seiner Kindheit her zu verstehen versucht. 

Es gibt immer noch viele Männer (und Frauen), die der Meinung sind, »Kindersachen seien Kindersachen« und Politik sei etwas Ernsthaftes, etwas für erwachsene Leute, kein Kinderspiel. Diese Menschen finden die Verknüpfungen mit der Kindheit befremdend oder lächerlich, weil sie die Wahrheit dieser Zeit – begreiflicherweise – völlig vergessen möchten. Hitlers Leben eignet sich aber deshalb besonders gut für einen Anschauungs­unterricht, weil die Kontinuität hier so deutlich zu fassen ist. Schon als kleiner Junge lebt er seine Sehnsucht nach Befreiung aus dem väterlichen Joch in den gespielten Kriegen. Er führt zuerst die Indianer, dann die Buren zum Kamp gegen die Unterdrücker: »Nicht lange dauerte es, und der große Heldenkampf war mir zum größten inneren Erlebnis geworden«, schreibt er in Mein Kampf, und an anderer Stelle zeichnet sich der verhängnisvolle Weg vom Spiel aus kindlicher Not zum gefährlichen Ernst: »Von nun an schwärmte ich mehr und mehr für alles, was irgendwie mit Krieg oder mit Soldatentum zusammenhing« (Mein Kampf, zitiert nach Toland, S. 51).

 

Hitlers Deutschlehrer, Dr. Huemer, berichtet, daß Adolf in der Pubertät »Belehrungen und Mahnungen seiner Lehrer ... nicht selten mit schlecht verhülltem Widerwillen entgegengenommen (hatte); wohl aber verlangte er von seinen Mitschülern unbedingte Unterordnung« (vgl. Toland, S. 77).

Die frühe Identifizierung mit dem tyrannischen Vater führte dazu, daß Adolf, nach der Aussage eines Zeugen aus Braunau, schon als ganz kleiner Junge, auf einem Hügel stehend, »lange und leidenschaftliche Reden hielt«.*

* Diese Information verdanke ich einer mündlichen Mitteilung von Paul Moor. 

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Braunau bedeutete die ersten drei Lebensjahre, so früh hat also die Führerlaufbahn begonnen. In diesen Reden spielte das Kind die Reden des großartigen Vaters, so wie es ihn damals gesehen hatte, und erlebte zugleich im Publikum sich selbst als das staunende, bewundernde Kind der ersten Lebensjahre.

Diese Funktion hatten später die organisierten Massenauftritte, in denen der frühkindliche Teil des Führers auch untergebracht war. Die narzißtische, symbiotische Einheit von Führer und Volk kommt sehr klar in den Worten seines Jugendfreundes Kubizek, vor dem Hitler viele Reden hielt, zum Ausdruck. John Toland schreibt:

Sie wirkten auf Kubizek wie »vulkanische Entladungen«; er empfand sie als bühnenreife Darstellung und war »anfangs nicht mehr als ein betroffener und fassungsloser Zuhörer, der vor Staunen am Ende zu applaudieren vergaß«. Erst allmählich erkannte Kubizek, daß es sich nicht im entferntesten um Theater handelte, sondern daß sein Freund dabei »von tödlichem Ernst« erfüllt war. Zugleich wurde ihm klar, daß Hitler von ihm nur eines erwartete: Zustimmung. Kubizek, der mehr von der Art und dem Stil dieser leidenschaftlichen Vorträge als von ihrem Inhalt hingerissen war, geizte nicht damit. ... Adolf schien genau zu spüren, was Kubizek fühlte. »Er empfand alles, was mich bewegte, so unmittelbar, als wäre es ihm selbst geschehen ... Ich hatte manches Mal das Gefühl, als würde er neben seinem eigenen Leben auch meines mitleben« (Toland, S. 41).

Es gibt wohl keinen besseren Kommentar zum Verständnis der legendären Hitlerschen Verführungskunst: Während die Juden den gedemütigten, geschlagenen Teil seines kindlichen Selbst repräsentierten, den er mit allen Mitteln aus der Welt zu schaffen suchte, war das ihm huldigende deutsche Volk, hier von Kubizek dargestellt, der gute und schöne Teil seiner Seele, die den Vater liebt und vom Vater geliebt wird. Das deutsche Volk und der Schulkamerad übernehmen die Rolle des guten Kindes Adolf. 

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Der Vater schützt die reine, kindliche Seele auch vor eigenen Gefahren, indem er »die bösen Juden«, d.h. auch die »bösen Gedanken« vertreiben und vernichten läßt, damit endlich die ungestörte Einheit zwischen Vater und Sohn einziehen kann.

 

Diese Ausführungen sind natürlich nicht für Menschen geschrieben, die »Träume für Schäume« und das Unbewußte für eine Erfindung »des kranken Geistes« halten. Doch ich könnte mir vorstellen, daß auch diejenigen, die sich mit dem Unbewußten bereits befaßt haben, meinem Versuch, Hitlers Handlungen aus seiner Kindheit heraus verstehen zu wollen, mit Mißtrauen oder Entrüstung begegnen, weil sie mit dieser ganzen »unmenschlichen Geschichte« nichts zu tun haben möchten. 

Aber können wir wirklich annehmen, daß der liebe Gott plötzlich die Idee hatte, eine »nekrophile Bestie« auf die Erde herunterzuschicken, etwa im Sinne der Worte von Erich Fromm, der schrieb:

Wie läßt es sich erklären, daß diese beiden gutmeinenden, stabilen, sehr normalen und sicherlich nicht destruktiven Menschen das spätere Ungeheuer Adolf Hitler in die Welt setzten? (zitiert nach Stierlin, 1975, S. 56).

 

Ich zweifle nicht daran, daß sich hinter jedem Verbrechen eine persönliche Tragödie verbirgt. Wenn wir diesen Geschichten und Vorgeschichten der Verbrechen genauer nachgehen würden, könnten wir möglicherweise mehr tun, um neue zu verhindern, als mit unserer Entrüstung und mit Moralpredigten. Vielleicht wird jemand sagen: Nicht jeder, der als Kind geschlagen wurde, muß ein Mörder werden, sonst würden doch fast alle Menschen zu Mördern. Das ist in gewissem Sinn richtig. Doch so friedlich ist es heute nicht um die Menschheit bestellt, und wir wissen nie, was ein Kind aus dem ihm gegenüber begangenen Unrecht machen wird und muß, es gibt unzählige »Techniken«, damit umzugehen.

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Aber vor allem wissen wir noch nicht, wie die Welt aussehen könnte, wenn Kinder ohne Demütigungen, von ihren Eltern als Menschen geachtet und ernstgenommen, aufwachsen würden. Mir ist jedenfalls kein Mensch bekannt, der als Kind diese Achtung* genossen und später als Erwachsener das Bedürfnis gehabt hätte, andere Menschen umzubringen.

Doch der Sinn für die Entwürdigung des Kindes ist noch kaum in uns entwickelt. Der Respekt für das Kind und das Wissen um seine Demütigung sind eben keine intellektuellen Angelegenheiten, sonst wären sie schon längst zum Allgemeingut geworden. Mit dem Kind zu fühlen, was es empfindet, wenn es entblößt, gekränkt, gedemütigt wird, bedeutet zugleich, daß man wie im Spiegel plötzlich dem Leiden der eigenen Kindheit begegnet, was viele Menschen aus Angst abwehren müssen, andere wieder mit Trauer akzeptieren können. Menschen, die diesen Weg der Trauer gegangen sind, verstehen dann von der Dynamik des Seelischen mehr, als sie je aus Büchern hätten erfahren können.

Die Jagd auf Menschen mit jüdischer Herkunft, die Notwendigkeit, eine »reine Rasse« bis zur dritten Generation aufzuweisen, die Abstufung der Verbote je nach nachweisbarer Rassenreinheit sind nur auf den ersten Blick grotesk. Denn sie erschließen erst ihren Sinn, wenn man sich vorstellt, daß sie in der unbewußten Phantasie von Adolf Hitler zwei sehr starke Tendenzen verdichteten: einerseits war sein Vater der gehaßte Jude, den er verachten und jagen, mit Vorschriften bedrohen und ängstigen konnte, denn sein Vater wäre ja auch vom Rassengesetz betroffen worden, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Zugleich aber — und das ist die andere Tendenz — sollten die Rassengesetze die Lossagung Adolfs vom Vater und seiner Herkunft besiegeln. 

* Mit Achtung des Kindes meine ich aber keineswegs die sog. antiautoritäre Erziehung, sofern diese eine Indoktrinierung des Kindes ist und deshalb seine eigene Welt mißachtet (vgl. S. 121).

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Neben der Rache am Vater war auch die quälende Ungewißheit der Hitler-Familie ein wichtiges Motiv der Rassengesetze: das ganze Volk mußte sich bis zur dritten Generation ausweisen, weil Adolf Hitler gerne mit Sicherheit gewußt hätte, wer sein Großvater gewesen war. Und vor allem wird der Jude zum Träger aller bösen und verachtens­werten Eigenschaften, die das Kind je am Vater beobachtet hat. In der für Hitlers Vorstellung vom Judentum charakter­istischen ganz spezifischen Mischung von luziferischer Große und Übermacht (das Weltjudentum und seine Bereitschaft, die ganze Welt zu zerstören) einerseits und der lächerlichen Schwäche und Gebrechlichkeit des häßlichen Juden andererseits spiegelt sich die Allmacht, die auch der schwächste Vater über sein Kind besitzt: der aus Unsicherheit tobende Zollbeamte, der tatsächlich die Welt des Kindes zerstört.

In Analysen kommt es oft vor, daß sich der erste Durchbruch zur Kritik am Vater im Auftauchen einer verdrängten kleinen Lächerlichkeit den Weg bahnt. Der überdimensionierte große Vater sah z. B. in seinem kurzen Nachthemd so komisch aus. Das Kind hatte nie einen nahen Kontakt mit diesem Vater, fürchtete ihn ständig, aber in diesem Bild mit dem kurzen Nachthemd erhielt es sich in der Phantasie ein Stück Rache, das jetzt, wenn die Ambivalenz in der Analyse durchbricht, als Waffe gegen das göttliche Monument verwendet wird. Ähnlich verbreitet Hitler im Stürmer seinen Haß und Ekel gegen den »stinkenden« Juden, um Menschen zum Verbrennen der Werke von Freud, Einstein und unzähliger jüdischer Intellektueller, die wirklich Größe besaßen, animieren zu können. Der Durchbruch zu dieser Idee, die eine Übertragung aufgestauten Hasses vom Vater auf die Juden als Volk ermöglicht, ist sehr aufschlußreich; er wird in der folgenden Stelle aus <Mein Kampf> beschrieben:

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Seit ich mich mit dieser Frage zu beschäftigen begonnen hatte, auf den Juden erst einmal aufmerksam wurde, erschien mir Wien in einem anderen Lichte als vorher. Wo immer ich ging, sah ich nun Juden, und je mehr ich sah, um so schärfer sonderten sie sich für das Auge von den anderen Menschen ab. Besonders die innere Stadt und die Bezirke nördlich des Donaukanals wimmelten von einem Volke, das schon äußerlich eine Ähnlichkeit mit dem deutschen nicht mehr besaß ... 

Dies alles konnte schon nicht sehr anziehend wirken; abgestoßen mußte man aber werden, wenn man über die körperliche Unsauberkeit hinaus plötzlich die moralischen Schmutzflecken des auserwählten Volkes entdeckte. Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein ... Ich begann sie allmählich zu hassen. (Zitiert nach Fest, S. 65)

 

Wenn es gelingt, seinen ganzen aufgestauten Haß auf ein Objekt zu richten, ist es zunächst wie eine große Erlösung. (»Wo immer ich ging, sah ich nun Juden ...«) Die bisher verbotenen, gemiedenen Gefühle bekommen nun freien Lauf. Je mehr man von ihnen erfüllt und bedrückt war. um so glücklicher fühlt man sich. endlich ein Ersatzobiekt gefunden zu haben. Der eigene Vater wird vom Haß verschont, und die Staudämme lassen sich jetzt aufheben, ohne daß man dafür geschlagen wird.

Aber die Ersatzbefriedigung sättigt nicht — an keinem Beispiel läßt sich das besser demonstrieren als an Adolfe Hitler. Es hat wohl kaum je ein Mensch Hitlers Macht besessen, in diesem Maße ungestraft Leben zu vernichten, und all das konnte ihm trotzdem keine Ruhe bringen. Sein Testament zeigt das sehr eindrücklich.

 

Man sieht mit Staunen, wie genau das Kind die Art seines Vaters gespeichert hat, wenn man den Zweiten Weltkrieg erlebt hat und Stierlins Charakteristik des Vaters von Adolf Hitler liest:

Es sieht jedoch so aus, als sei dieser soziale Aufstieg nicht ohne Kosten für ihn selbst und andere möglich gewesen. Alois war zwar gewissenhaft, pflichtbewußt und fleißig, aber auch emotional labil, ungewöhnlich rastlos und möglicherweise zeitweilig geistesgestört.

Zumindest eine Quelle legt nahe, daß er einmal in einem Asyl für Geisteskranke untergebracht war. Auch hatte er nach der Meinung eines Psychoanalytikers psychopathische Züge, die sich etwa in dem Geschick bewiesen, mit dem er Regeln und Dokumente für seine eigenen Zwecke auszulegen und zurechtzustutzen und dabei zugleich die Fassade der Legitimität zu wahren vermochte. Er vereinte, kurz gesagt, großen Ehrgeiz mit einem durchaus flexiblen Gewissen. Als er beispielsweise wegen seiner Heirat mit Klara (die rechtlich seine Cousine war) um päpstlichen Dispens nachsuchte, strich er die zwei kleinen mutterlosen Kinder heraus, die Klaras Fürsorge bedurften, unterließ es aber, Klaras Schwangerschaft zu erwähnen (Stierlin, 1975, S. 68).

Nur das Unbewußte eines Kindes kann einen Elternteil so genau kopieren, daß jeder Zug in ihm später auffindbar ist, auch wenn sich die Biographen nicht darum kümmern.

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