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Angst, Zorn und Trauer, aber keine Schuldgefühle

Auf dem Wege zur Versöhnung

 

  Auch ungewollte Grausamkeit tut weh  

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Wenn man sich in die Erziehungsschriften der letzten 200 Jahre vertieft, kann man die systematisch angewandten Mittel entdecken, mit deren Hilfe es den Kindern unmöglich gemacht wurde, zu erkennen und später zu erinnern, wie ihre Eltern mit ihnen umgegangen sind.

Ich habe versucht, aus dem Wiederholungszwang der Machtausübung zu verstehen und zu deuten, warum die alten Erziehungsmittel immer noch so verbreitet angewendet werden. Was ein Mensch an Unrecht, Demütigung, Mißhandlung und Vergewaltigung erfahren hat, bleibt, entgegen der landläufigen Meinung, nicht ohne Wirkung. Das Tragische ist nur, daß die Wirkung der Mißhandlung auf neue, unschuldige Opfer übergeht, auch wenn sich das Wissen davon im Bewußtsein des Opfers nicht erhalten hat. 

Wie läßt sich dieser Teufelskreis durchbrechen? Man müsse das erfahrene Unrecht vergeben, sagt die Religion; erst dann werde man frei für die Liebe und rein vom Haß. Das ist an sich richtig, aber wo findet man den Weg zur echten Vergebung? Kann man von Vergebung sprechen, wenn einer kaum weiß, was ihm eigentlich angetan wurde und warum das geschaht Und in dieser Situation befanden wir uns doch alle als Kinder. Wir konnten nicht begreifen, warum man uns gedemütigt, fallengelassen, bedroht, ausgelacht, wie Holz behandelt, mit uns wie mit Puppen gespielt oder uns blutig geschlagen hat oder abwechselnd beides.

Mehr noch, wir durften nicht einmal merken, daß uns all dies geschah, weil man uns alle Mißhandlungen als zu unserem Wohl notwendige Maßnahmen angepriesen hat. Auch das schlaueste Kind kann eine solche Lüge nicht durchschauen, wenn sie aus dem Mund seiner geliebten Eltern kommt, die ihm doch auch andere, liebevolle Seiten zeigen. Es muß glauben, daß die Art der Behandlung, die ihm zuteil wird, wirklich richtig und gut für es sei, und es wird sie den Eltern nicht nachtragen. Es wird nur als Erwachsener den eigenen Kindern das gleiche zukommen lassen und sich damit beweisen wollen, daß seine Eltern richtig an ihm gehandelt haben.

Ist es nicht das, was die meisten Religionen unter Vergebung verstehen: in der Tradition der Väter das Kind »liebevoll« zu züchtigen und es zum Respekt für seine Eltern zu erziehen? Aber eine Vergebung, die auf der Verleugnung der Wahrheit beruht und ein wehrloses Kind als Ventil gebraucht, ist keine wirkliche Vergebung, und deshalb wird der Haß von den Religionen auf diese Art nicht besiegt, sondern im Gegenteil ungewollt geschürt. Der streng verbotene, intensive kindliche Zorn auf die Eltern wird nur auf andere Menschen und auf das eigene Selbst verschoben, nicht aber aus der Welt geschafft, im Gegenteil, durch die Möglichkeit einer erlaubten Abfuhr auf die eigenen Kinder wird er wie eine Pest in die ganze Welt gestreut. Deshalb muß man sich nicht wundern, daß es religiöse Kriege gibt, obwohl dies doch eigentlich ein Widerspruch in sich sein müßte.

Die echte Vergebung führt nicht am Zorn vorbei, sondern durch ihn hindurch. 

Erst wenn ich mich über das Unrecht, das mir angetan wurde, empören kann, die Verfolgung als solche erkenne, den Verfolger als solchen erleben und hassen kann, erst dann steht mir der Weg offen, ihm zu verzeihen. Der unterdrückte Zorn, die Wut, der Haß werden erst dann nicht mehr ewig fortgezeugt, wenn die Geschichte der Verfolgungen in der frühesten Kindheit entdeckt werden kann. Sie werden sich in Trauer und Schmerz darüber verwandeln, daß es so kommen mußte, sie werden auch in diesem Schmerz dem echten Verständnis Platz machen, dem Verständnis des nun Erwachsenen, der einen Einblick in die Kindheit seiner Eltern bekommt und endlich, vom eigenen Haß befreit, echtes, reifes Mitgefühl haben kann. 

Dieses Verzeihen ist nicht mit Vorschriften und Geboten zu erzwingen, es wird als Gnade erlebt und stellt sich spontan ein, wenn kein unterdrückter, weil verbotener Haß mehr die Seele vergiftet. Die Sonne braucht nicht zum Scheinen gezwungen zu werden, wenn sich die Wolken verzogen haben, sie scheint einfach. Aber es wäre verfehlt, die Wolken als Hindernisse zu ignorieren, wenn sie einmal da sind.

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Hat ein erwachsener Mensch das Glück gehabt, zu den Ursprüngen seines privaten, individuellen Unrechts in seiner Kindheit vorzudringen und es mit bewußten Gefühlen zu erleben, dann wird er mit der Zeit von selber, am besten ohne jeglichen erzieherischen oder religiösen Zuspruch, begreifen, daß seine Eltern ihn nicht aus Freude, Stärke und Lebendigkeit gequält oder mißbraucht haben, sondern weil sie nicht anders konnten, weil sie selber einmal Opfer waren und deshalb an die überlieferten Erziehungsmethoden glaubten.

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Es fällt vielen Menschen sehr schwer, diese einfache Tatsache zu verstehen, daß nämlich jeder Verfolger einmal ein Opfer war. Dabei ist es doch sehr naheliegend, daß ein Mensch, der sich von Kind auf frei und stark fühlen durfte, kein Bedürfnis hat, einen anderen zu erniedrigen. 

In Paul Klees Tagebüchern findet sich die folgende Erinnerung:

Einem kleinen Mädchen, das nicht schön war und gegen verkrümmte Beine Maschinen trug, suchte ich dann und wann kleine Schäden zuzufügen. Die ganze Familie, insbesondere die Frau Mama, für inferior haltend, trat ich mit Verstellung als guter Junge vor die höhere Instanz und bat, mir das herzige Junge zu einem kleinen Spaziergang anzuvertrauen. Eine kurze Strecke gingen wir friedlich Hand in Hand, dann, etwa auf dem nahen Feld, wo die Kartoffeln blühten und Marienkäferchen sich fanden, oder auch schon früher, gingen wir hintereinander. Im geeigneten Moment gab ich meinem Schützling einen gelinden Stoß. Das Ding fiel hin, und heulend führte ich es an der Hand zur Mutter, mit Unschuldsmiene zu berichten: »Es isch umgfalle«. Das Manöver wiederholte ich noch einige Male, ohne daß Frau Enger hinter die Wahrheit kam. Ich muß sie richtig beurteilt haben (fünf bis sechs Jahre) (Klee, 1957, S. 17).

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Zweifellos spielt der kleine Paul hier etwas, das er selber, wahrscheinlich von seinem Vater, empfangen hatte. Über den Vater finden wir im Tagebuch nur eine kleine Stelle:

Eine längere Zeit glaubte ich bedingungslos an den Papa und hielt sein Wort (Papa kann alles) für pure Wahrheit. Nur die spöttischen Momente des alten Herrn konnte ich nicht ausstehen. Einmal machte ich im Glauben, allein zu sein, phantastische, mimische Spiele. Ein plötzliches, belustigtes »pf!« störte mich und verletzte mich. Auch später machte sich dies »pf!« gelegentlich bemerkbar (S. 16).

Der Spott eines geliebten und bewunderten Menschen ist immer schmerzhaft, und wir können uns vorstellen, daß er den kleinen Paul tief getroffen hat. 

Es wäre falsch zu sagen, daß das Leid, das wir dem andern aus Zwang antun, gar kein Leid sei, und daß der kleine Paul Klee dem Mädchen nicht wehgetan habe, weil wir seine Gründe kennen. Beides zu sehen führt uns die Tragik vor Augen, aber es ermöglicht auch eine Wende. Die Einsicht, daß wir trotz besten Willens nicht allmächtig sind, daß wir unter Zwängen stehen, daß wir unser Kind nicht so lieben können, wie wir es möchten, könnte uns eben zur Trauer führen, aber nicht zu Schuldgefühlen, weil diese uns eine Macht und Freiheit zusprechen, die wir nicht haben. Belastet von Schuldgefühlen werden wir unser Kind außerdem mit Schuldgefühlen belasten und es lebenslänglich an uns binden. Mit der Trauer aber können wir es freigeben. 

Die Unterscheidung zwischen Trauer und Schuldgefühlen könnte vielleicht auch dazu beitragen, das Schweigen zwischen den Generationen im Zusammenhang mit den Vergehen der Nazizeit zu brechen. Die Fähigkeit zu trauern ist das Gegenteil von Schuldgefühlen; Trauer ist der Schmerz darüber, daß es so geschehen ist und daß die Vergangenheit durch nichts zu ändern ist. Diesen Schmerz kann man mit den Kindern teilen, ohne sich schämen zu müssen, aber Schuldgefühle versucht man entweder zu verdrängen oder sie den Kindern zuzuschieben, oder beides zusammen.

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Da die Trauer Gefühle aus der Erstarrung löst, kann sie dazu führen, daß junge Menschen realisieren, was ihnen einst ihre Eltern mit der gutmeinenden frühen Erziehung zum Gehorsam angetan haben. Das kann zum Ausbruch von berechtigtem Zorn führen und zur schmerzhaften Erfahrung, daß die eigenen Eltern, die bereits über 50 sind, immer noch ihre alten Prinzipien verteidigen, den Zorn des erwachsenen Kindes nicht verstehen können und auf dessen Vorwürfe verletzt und gekränkt reagieren. Dann möchte man am liebsten das Gesagte zurückziehen und alles ungeschehen machen, weil wieder die altbekannte Angst aufsteigt, man bringe mit den Vorwürfen die Eltern ins Grab. Wenn einem das früh und oft genug gesagt wurde, bleiben solche Sätze manchmal ein Leben lang wirksam. 

Und trotzdem, auch wenn man mit diesem erwachten Zorn wieder allein ist, weil die alternden Eltern ihn genau so wenig wie früher ertragen können, kann bereits das bloße Zulassen dieses Gefühls aus der Sackgasse der Selbstentfremdung herausführen. Da kann endlich das wahre Kind leben, das gesunde Kind, das Kind, das unmöglich verstehen kann, warum seine Eltern ihm wehtun und ihm zugleich verbieten, im Schmerz zu schreien, zu weinen oder gar zu reden. 

Das begabte, angepaßte Kind versuchte immer, diese Absurdität zu verstehen und nahm sie als Selbstverständ­lichkeit hin. Aber für dieses Pseudoverstehen mußte es mit seinem Gefühl, mit dem Sensorium für die eigenen Bedürfnisse, d.h. mit dem eigenen Selbst bezahlen. Der Zugang zum einstigen, normalen, zornigen, nicht verstehenden und rebellierenden Kind war deshalb bisher versperrt geblieben. Wenn dieses Kind im Erwachsenen nun frei wird, dann entdeckt es seine lebendigen Wurzeln und Kräfte.

Das Zulassen und Erleben frühkindlicher Vorwürfe bedeutet nicht, daß man von nun an ein vorwurfsvoller Mensch wird, sondern genau das Gegenteil. Gerade weil man diese Gefühle, die auf die Eltern gerichtet waren, erleben durfte, muß man sie nicht an Ersatzpersonen abreagieren.

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Nur der an Ersatzpersonen empfundene Haß ist unendlich und unersättlich, wie wir am Beispiel von Adolf Hitler gesehen haben, weil im Bewußtsein das Gefühl von der Person, der es ursprünglich galt, getrennt wurde. 

Aus diesen Gründen meine ich, daß der Durchbruch von Vorwürfen an die eigenen Eltern eine Chance ist: Er schafft den Zugang zu der eigenen Wahrheit, löst die Erstarrung, ermöglicht die Trauer und, im glücklichsten Fall, auch die Versöhnung. Auf jeden Fall gehört er zur psychischen Gesundung. Doch man würde mich vollkommen mißverstehen, wenn man meinte, daß ich persönlich diesen alten Eltern Vorwürfe mache. Dazu habe ich weder Recht noch Grund: ich war nicht ihr Kind, bin nicht von ihnen zum Schweigen gezwungen, nicht von ihnen erzogen worden, und als erwachsener Mensch weiß ich, daß sie wie alle Eltern gar nicht anders konnten, als sich so zu verhalten, wie sie es taten. 

Gerade weil ich das Kind im Erwachsenen zu seinen Gefühlen, d.h. auch zu den Vorwürfen ermutigen möchte, diese ihm aber nicht abnehme, gerade weil ich die Eltern nicht beschuldige, scheine ich manchen Lesern Schwierigkeiten zu bereiten. Es wäre so viel einfacher zu sagen, an allem sei das Kind schuld oder die Eltern, oder die Schuld könne aufgeteilt werden. Das möchte ich eben nicht tun, weil ich als Erwachsener weiß, daß es hier gar nicht um Schuld geht, sondern um Nicht-anders-können. Aber da ein Kind das nicht verstehen kann und da es am Versuch, dies zu verstehen, krank wird, möchte ich ihm dazu verhelfen, nicht mehr verstehen zu müssen, als ihm möglich ist. Ich meine, daß seine Kinder davon später profitieren werden, weil sie mit einem echten Vater und einer echten fühlenden Mutter leben werden.

Vermutlich werden auch diese Ausführungen nicht imstande sein, die in diesem Zusammenhang häufig auftretenden Mißverständnisse aufzuklären, denn ihre Wurzeln liegen nicht in der intellektuellen Denkfähigkeit. 

Wenn jemand von klein auf lernen mußte, sich für alles Mögliche schuldig zu fühlen und seine Eltern über jeden Vorwurf erhaben zu erleben, werden ihm meine Gedanken notgedrungen Angst und Schuldgefühle machen. Wie stark diese früh anerzogene Haltung ist, kann man am besten bei älteren Menschen beobachten. Sobald sie in der Situation von körperlicher Hilflosigkeit und Abhängigkeit sind, können sie sich für jede Kleinigkeit schuldig fühlen und sogar ihre erwachsenen Kinder, falls diese nicht mehr wie früher hörig sind, plötzlich als strenge Richter erleben. Das führt wiederum dazu, daß sie geschont werden müssen und daß ihre erwachsenen Kinder aus Rücksicht und aus Angst vor Konsequenzen noch einmal zum Schweigen verdammt werden. 

Da mancher Psychologe keine Gelegenheit hatte, sich von dieser Angst zu befreien und zu erleben, daß Eltern an der Wahrheit ihrer Kinder nicht sterben müssen, wird er bei seinen Klienten und Patienten dazu neigen, ihnen möglichst schnell eine »Versöhnung« mit den Eltern zu ermöglichen. Wenn aber die voran­gegangene Wut nicht erlebt wurde, ist diese Versöhnung illusorisch. Sie überdeckt nur den aufgestauten, unbewußten oder auf andere Menschen verschobenen Haß und unterstützt das falsche Selbst des Patienten, auch auf Kosten seiner Kinder, die dessen wahre Gefühle mit Sicherheit zu spüren bekommen werden. 

Und doch, trotz dieser erschwerenden Umstände gibt es immer mehr Publikationen, in denen sich junge Leute mit ihren Eltern in einer freieren, offeneren und ehrlicheren Art auseinandersetzen, als es bisher je möglich war (vgl. Barbara Frank, Ich schaue in den Spiegel und sehe meine Mutter, 1979, und Margot Lange, Mein Vater. Frauen erzählen vom ersten Mann ihres Lebens, 1979). Das gibt Hoffnung, daß mit kritischen Schriftstellern auch kritische Leser heranwachsen, die sich von der »Schwarzen Pädagogik« in der wissenschaftlichen Literatur (auf dem Gebiet der Pädagogik, Psychologie, Moralphilosophie, Biographik) nicht Schuldgefühle machen oder verstärken lassen.

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