Sylvia Plath und das Verbot zu leiden
wikipedia Sylvia_Plath 1932-1963
Du fragst, warum mein Leben Schreiben ist? Sylvia Plath |
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Jedes Leben und jede Kindheit sind reich an Frustrationen — das ist gar nicht anders denkbar, denn auch die beste Mutter kann nicht alle Wünsche und Bedürfnisse ihres Kindes befriedigen.
Aber nicht das Leiden an Frustrationen führt zur psychischen Krankheit, sondern das Verbot, dieses Leiden, den Schmerz über die erlittenen Frustrationen zu erleben und zu artikulieren — das von den Eltern ausgeht und das meistens zum Ziel hat, die Abwehr der Eltern zu schonen.
Der Erwachsene darf mit Gott, mit dem Schicksal, mit den Behörden, mit der Gesellschaft hadern, wenn man ihn betrügt, übergeht, ungerecht bestraft, überfordert, anlügt, aber das Kind darf mit seinen Göttern, den Eltern und Erziehern, nicht hadern. Es darf seine Frustrationen auf keinen Fall zum Ausdruck bringen, muß die Gefühlsreaktionen verdrängen oder verleugnen, die in ihm bis ins erwachsene Alter wuchern, um dort eine bereits transformierte Abfuhr zu erfahren. Die Formen dieser Abfuhr reichen von der Verfolgung der eigenen Kinder mit Hilfe der Erziehung über alle möglichen Grade psychischer Erkrankungen, über Sucht, Kriminalität bis zum Selbstmord.
Die für die Gesellschaft angenehmste und profitabelste Form dieser Abfuhr ist die Dichtung, weil sie niemandem Schuldgefühle macht. Hier darf jeder Vorwurf formuliert werden, weil er hinter einer erfundenen Person versteckt werden kann.
An einem aktuellen Beispiel, dem Leben von Sylvia Plath, kann man das nachvollziehen, weil hier neben der Dichtung und der Realität des psychotischen Zusammenbruchs sowie des späteren Suizids auch noch Selbstzeugnisse in Briefen und Aussagen der Mutter vorliegen.
Der unerhörte Leistungsdruck und der ständige Streß werden stets hervorgehoben, wenn man von Sylvias Selbstmord spricht. Auch ihre Mutter betont es immer wieder, denn Eltern von suizidalen Menschen versuchen begreiflicherweise, sich immer an äußere Gründe zu halten, weil ihnen die Schuldgefühle erschweren, den wirklichen Sachverhalt zu sehen und die Trauer zu erleben.
Sylvia Plaths Leben war nicht schwerer als dasjenige vieler Millionen Menschen. An den Frustrationen ihrer Kindheit litt sie vermutlich aufgrund ihrer Sensibilität intensiver als viele andere Menschen, aber sie erlebte auch intensivere Freuden. Doch der Grund ihrer Verzweiflung war nicht das Leiden, sondern die Unmöglichkeit, dieses Leiden jemandem mitzuteilen.
Sie versichert ihrer Mutter in allen ihren Briefen, wie gut es ihr gehe. Der Verdacht, daß die Mutter negative Briefe zurückbehalten und nicht zur Publikation freigegeben hat, geht an der tiefsten Tragik dieses Lebens vorbei.
Diese Tragik (und damit auch die Erklärung für den Suizid) besteht gerade darin, daß keine anderen Briefe geschrieben werden konnten, weil Sylvias Mutter diese Bestätigung brauchte oder weil Sylvia meinte, daß ihre Mutter ohne diese Bestätigung nicht hätte leben können.
Hätte Sylvia auch aggressive und unglückliche Briefe an ihre Mutter schreiben können, dann hätte sie keinen Selbstmord begehen müssen.
Hätte die Mutter darüber trauern können, daß sie den Abgrund von Sylvias Leben nicht fassen konnte, dann hätte sie diese Briefsammlung nie herausgegeben, weil ihr gerade die Versicherungen, wie es der Tochter gutging, zu sehr wehgetan hätten.
Aurelia Plath kann aber nicht trauern, sondern sie hat Schuldgefühle, und die Briefe dienen ihr als Beweis, daß sie unschuldig ist.
Als Beispiel einer Rechtfertigung mag das vorliegende Zitat dienen:
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Zu dem folgenden Gedicht, das Sylvia mit vierzehn geschrieben hatte, wurde sie inspiriert durch das zufällige Verwischen eines Pastellfarben-Stillebens, das sie soeben beendet und auf dem Verandatisch aufgebaut hatte, um es uns zu zeigen. Als Warren, Grammy und ich es bewunderten, klingelte es an der Haustür. Grammy nahm ihre Schürze ab, warf sie auf den Tisch und ging aufmachen, wobei ihre Schürze das Pastellbild streifte und einen Teil davon verwischte.
Grammy war untröstlich. Sylvia jedoch sagte in leichtem Ton: »Mach dir nichts draus; ich kriege es wieder hin.« An jenem Abend schrieb sie zum ersten Mal ein Gedicht mit tragischem Unterton.
Ich dachte, daß ich unverletzbar sei
Ich dachte, daß ich unverletzbar sei;
dacht, ich sei ein für allemal
unerreichbar für das Leid —
gefeit vor innerm Schmerz,
und Qual.Die Welt war warm von Märzensonne,
mein Denken grün- und golddurchwirkt,
mein Herz voll Freude, doch vertraut
dem schärfen, süßen Schmerz, den nur
die Freude birgt.Mein Geist flog weiter als die Möwe,
die atemlose Höhn durchschweift
und jetzt mit ihren Segelschwingen
scheinbar das blaue Dach
des Himmels streift.(Wie schwach das Menschenherz sein muß —
ein pochender Puls, ein bebend Ding —
ein schimmernd zartes Instrument
aus Glas, das einmal weint und ein-
mal singt.)
Und meine Welt war plötzlich grau,
das Dunkel schob die Freude fort.
Und Leere dumpf und schmerzhaft blieb,
wo achtlos Hände hingefaßt.
Zerstörtwar da mein Silbernetz aus Glück.
Erstaunt hielten die Hände an,
da sie mich liebten, weinten sie,
als sie mein Firmament zerstückt in
Fetzen sahn.(Wie schwach das Menschenherz sein muß —
ein Spiegelteich des Denkens, Instrument
so tief gestimmt und schwingend aus
Kristall, das einmal singt und ein-
mal weint.)Mr. Crockett, ihr Englischlehrer, zeigte es einem Kollegen, der sagte: »Kaum zu fassen, daß jemand, der so jung ist, etwas so Vernichtendes erlebt haben kann.« Als ich wiederholte, was Mr. Crockett mir über dieses Gespräch gesagt hatte, lächelte Sylvia schelmisch und sagte: »Läßt man erst mal ein Gedicht an die Öffentlichkeit, hat jeder, der es liest, das Recht, es nach seiner Weise zu interpretieren«
(Plath, 1975, S. 28).
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Wenn ein sensibles Kind wie Sylvia Plath spürt, daß es für die Mutter lebenswichtig ist, sein Leiden nur als Folge der Zerstörung des Aquarells zu sehen und nicht als Folge der im Aquarell symbolisch erlebten Zerstörung des Selbst und seines Ausdrucks, dann wird es alles daransetzen, die echten Gefühle vor der Mutter zu verbergen.
Die Briefsammlung ist ein Zeugnis dieses aufgebauten, falschen Selbst. Das wahre Selbst spricht in der <Glasglocke> (1978), wird aber im Suizid ermordet, und die Mutter setzt dem falschen Selbst mit der Herausgabe der Briefe ein großes Denkmal.
An diesem Beispiel kann man lernen, was der Suizid eigentlich ist: Die einzig mögliche Artikulation des wahren Selbst auf Kosten des Lebens.
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Vielen Eltern geht es ähnlich wie der Mutter von Sylvia Plath. Sie bemühen sich verzweifelt um das richtige Verhalten, und im Verhalten des Kindes suchen sie die Bestätigung, daß sie die guten Eltern sind. Das Ideal, gute Eltern zu sein, d.h. sich dem Kind gegenüber richtig zu verhalten, es richtig zu erziehen, nicht zu wenig und nicht zu viel zu geben, bedeutet im Grunde nichts anderes, als gute, brave und pflichtgetreue Kinder der eignen Eltern zu sein. Aber in diesem Bemühen muß ja die Not des eigenen Kindes unbemerkt bleiben. Ich kann nicht empathisch meinem Kinde zuhören, wenn ich innerlich damit beschäftigt bin, eine gute Mutter zu sein; ich kann dann nicht dafür offen sein, was es mir zu sagen hat.
Das zeigt sich in verschiedenen Haltungen:
Häufig werden Eltern die narzißtischen Frustrationen eines Kindes nicht merken, nichts davon wissen, weil sie selbst von klein auf gelernt haben, diese bei sich nicht ernstzunehmen. Es kommt aber auch vor, daß sie zwar etwas davon merken, aber meinen, es sei für das Kind gut, wenn es nichts merke. Sie werden versuchen, ihm viele frühe Wahrnehmungen auszureden und es sein Wissen um die frühesten Erfahrungen vergessen zu lassen, alles in der Meinung, daß dies zu seinem Wohl geschehe, weil das Kind die Wahrheit nicht aushalten könne und daran erkranke.
Daß es umgekehrt ist, daß das Kind gerade an der Verleugnung der Wahrheit erkrankt, wissen sie nicht. Das letztere ist mir an einem Fall besonders aufgefallen, wo ein kleines Baby unmittelbar nach der Geburt wegen einer angeborenen schweren Anomalie bei den Mahlzeiten festgebunden und in einer an Folterungen erinnernden Art ernährt worden war. Die Mutter versuchte später, ihrer erwachsenen Tochter gegenüber dieses »Geheimnis« zu wahren und ihr damit etwas zu »ersparen«, was schon geschehen war. Sie konnte ihr deshalb nicht helfen, dieses frühere Wissen, das sich in Symptomen ausdrückte, endlich in sich gelten zu lassen.
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Während die erste Haltung lediglich auf unbewußt gebliebenen Erlebnissen der eigenen Kindheit beruht, mischt sich in die zweite auch die absurde Hoffnung, daß die Vergangenheit mit Hilfe des Verschweigens korrigierbar sei.
Im ersten Fall begegnen wir der Regel: »es kann nicht sein, was nicht sein darf«, und im zweiten: »wenn man nicht darüber spricht, was geschehen war, ist es nicht geschehen.«
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Die Plastizität eines sensiblen Kindes kennt beinahe keine Grenzen, so daß alle diese Gebote von der Seele aufgenommen werden können. Es kann eine perfekte Anpassung an sie erreicht werden, und doch bleibt etwas, das man als Körpergedächtnis bezeichnen könnte, so daß sich die Wahrheit nur in körperlichen Krankheiten oder Empfindungen und manchmal auch in Träumen manifestieren kann. In einer psychotischen oder neurotischen Entwicklung gibt es zwar noch eine andere Möglichkeit, die Seele sprechen zu lassen, aber in einer Form, die niemand verstehen kann, die dem Betroffenen selber, auch der Gesellschaft, so lästig wird, wie einst den Eltern die kindlichen Reaktionen auf die erlittenen Traumen lästig waren.
Es ist, wie ich schon mehrmals betonte, nicht das Trauma, das krank macht, sondern die unbewußte, verdrängte, hoffnungslose Verzweiflung darüber, daß man sich über das, was man erlitten hat, nicht äußern darf; daß man Gefühle von Wut, Zorn, Erniedrigung, Verzweiflung, Ohnmacht, Traurigkeit nicht zeigen darf und auch nicht erleben kann. Das bringt viele Menschen zum Selbstmord, weil ihnen das Leben nicht mehr lebenswert erscheint, wenn sie alle diese starken Gefühle, die das wahre Selbst ausmachen, überhaupt nicht leben können. Man kann natürlich kein Postulat aufstellen, daß die Eltern das ertragen sollten, was sie nicht ertragen können, aber man kann sie immer wieder mit dem Wissen konfrontieren, daß es nicht das Leiden war, das ihre Kinder krank machte, sondern die Verdrängung des Leidens, die den Eltern zuliebe notwendig war.
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Ich habe nicht selten die Erfahrung gemacht, daß dieses Wissen den Eltern Aha-Erlebnisse vermittelt, die die Trauermöglichkeit erschließen und deshalb helfen, Schuldgefühle abzubauen.
Der Schmerz an der erlittenen Frustration ist keine Schande und kein Gift. Er ist eine natürliche, menschliche Reaktion. Wird er aber verbal oder averbal verboten oder sogar mit Gewalt und mit Schlägen wie in der »Schwarzen Pädagogik« ausgetrieben, dann werden die natürliche Entwicklung gehindert und Voraussetzungen für eine krankhafte geschaffen. Adolf Hitler berichtet mit Stolz, daß es ihm eines Tages gelungen ist, die Schläge des Vaters mitzuzählen und dabei nicht zu weinen und nicht zu schreien. Dazu phantasiert er, daß sein Vater ihn nach diesem Erlebnis nie mehr geschlagen habe.
Ich halte das für eine Phantasie, weil es unwahrscheinlich ist, daß die Motive zum Schlagen bei Alois von einem Tag auf den andern verschwunden sind, denn die Motive lagen nicht im Verhalten des Kindes, sondern in seinen eigenen, in der Kindheit erlittenen Erniedrigungen, die ungelöst geblieben sind. Die Phantasie des Sohnes sagt aber soviel aus, daß er von da an die Schläge des Vaters nicht mehr erinnern kann, weil dank der Niederkämpfung der seelischen Schmerzen mit Hilfe der Identifikation mit dem Angreifer auch die Erinnerung an das spätere Geschlagenwerden der Verdrängung anheimgefallen ist. Dieses Phänomen läßt sich oft bei Patienten beobachten, bei denen infolge wiedergewonnener Gefühle Erinnerungen über Vorkommnisse auftauchen, die vorher energisch bestritten wurden.
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Der ungelebte Zorn
Im Oktober 1977 erhielt der Philosoph Leszek Kolakowski den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels-Verbandes. Er sprach in seiner Festrede über den Haß und nahm Bezug auf das Geschehen, das damals viele Menschen bewegte: Die Entführung der Lufthansa-Maschine nach Mogadischu.
Kolakowski meinte, daß es doch immer wieder Menschen gegeben habe, die vollkommen frei von Haß gewesen seien und damit den Beweis geliefert hätten, daß man auch ohne Haß leben könne. Es ist nicht verwunderlich, wenn ein Philosoph so spricht, sofern für ihn das Menschsein mit dem bewußten Sein identisch ist. Aber für jemanden, der täglich mit Manifestationen der unbewußten psychischen Realität konfrontiert wird und der immer wieder erfährt, welche schwerwiegenden Folgen das Übersehen dieser Realität hat, wird die Einteilung der Menschen in gute und böse, in liebende und hassende nicht mehr selbstverständlich sein. Er weiß, daß die moralisierenden Begriffe weniger geeignet sind, die Wahrheit aufzudecken als sie zu verschleiern.
Der Haß ist ein normales, menschliches Gefühl, und ein Gefühl hat noch niemanden umgebracht. Gibt es eine adäquatere Reaktion als Zorn oder auch Haß angesichts der Mißhandlung von Kindern, Vergewaltigung von Frauen, Folterung von Unschuldigen, insbesondere, wenn die Motive des Täters im Dunkeln bleiben? Ein Mensch, der von Anfang an das Glück hatte, auf Enttäuschungen mit Wut reagieren zu dürfen, wird empathische Eltern verinnerlichen und nachher mit allen seinen Gefühlen, auch mit dem Haß, ohne Analyse umgehen können. Ob es solche Menschen schon gibt, weiß ich nicht, ich bin ihnen nie begegnet. Was ich oft gesehen habe, sind Menschen, die tatsächlich das Gefühl des Hassens nicht kannten, ihren Haß aber auf andere delegiert haben, ohne es überhaupt zu wissen, zu wollen oder zu merken.
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Sie entwickelten u.U. eine schwere Zwangsneurose mit destruktiven Vorstellungen, oder, falls dies nicht geschah, hatten ihre Kinder eine solche Neurose. Oft wurden sie jahrelang wegen physischer Krankheiten behandelt, die eine psychische Ursache hatten. Manchmal litten sie an schweren Depressionen. Sobald es ihnen aber möglich wurde, ihren frühkindlichen Zorn in der Analyse zu erleben, verschwanden diese Symptome, und es verschwanden auch die Ängste, daß man mit diesem Gefühl jemanden schädigen könnte.
Nicht der erlebte, sondern der mit Hilfe der Ideologien abgewehrte und aufgestaute Haß führt zu Tätlichkeiten und zur Zerstörung, was man am Fall von Adolf Hitler genau studieren könnte. Jedes erlebte Gefühl macht mit der Zeit einem anderen Platz, und auch der größte bewußte Vaterhaß wird einen Menschen nicht dazu treiben, einen anderen Menschen deshalb umzubringen, geschweige denn ganze Völker zu zerstören. Aber Hitler wehrte seine kindlichen Gefühle vollständig ab und zerstörte Menschenleben, weil »Deutschland mehr Lebensraum brauchte«, weil »die Juden die Welt bedrohten«, weil er »eine grausame Jugend wollte, um Neues zu schaffen« ..... die Liste der angeblichen »Gründe« ließe sich mühelos fortsetzen.
Wie ist es zu verstehen, daß trotz des Zuwachses an psychologischer Erkenntnis in den letzten Jahrzehnten immer noch zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands bei einer Befragung aussagen, es sei notwendig, gut und richtig, Kinder mit Schlägen zu erziehen? Und wie steht es mit dem einen Drittel? Wie viele Eltern gehören dazu, die ihre Kinder zwanghaft schlagen, gegen ihr besseres Wissen und Wollen?
Diese Situation ist nicht unbegreiflich, wenn wir folgendes berücksichtigen:
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1. Damit die Eltern spüren, was sie den Kindern antun, müßten sie auch spüren, was ihnen in der eigenen Kindheit angetan worden ist. Aber gerade das wurde ihnen als Kindern verboten. Wenn der Zugang zu diesem Wissen abgeschnitten ist, können Eltern ihre Kinder schlagen, demütigen oder anders quälen und mißhandeln, ohne zu merken, wie sie ihnen wehtun; ja, sie müssen es sogar.
2. Wenn einem redlichen Menschen die Tragik seiner Kindheit vollständig hinter Idealisierungen verborgen bleibt, dann muß sich die unbewußte Kenntnis des wahren Sachverhalts auf Umwegen durchsetzen. Dies geschieht mit Hilfe des Wiederholungszwangs. Dieser Mensch wird aus ihm unbegreiflichen Gründen immer wieder Situationen herstellen und Beziehungen anknüpfen, in denen er den Partner quält oder von ihm gequält wird oder beides zusammen.
3. Da das Quälen der eigenen Kinder als Erziehung legitimiert ist, finden die gestauten Aggressionen hier ihr naheliegendes Ventil.
4. Da die aggressiven Antworten auf psychische und physische Mißhandlungen durch die Eltern in fast allen Religionen verboten sind, ist der Mensch auf solche Ventile angewiesen.
Es gäbe kein Inzesttabu, sagen die Soziologen, wenn die sexuelle Anziehung unter Familienverwandten nicht zu den natürlichen Regungen gehören würde. Deshalb ist dieses Tabu bei allen Kulturvölkern anzutreffen und von Anfang an in der Erziehung verankert. Es muß da eine Parallele geben, was die aggressiven Gefühle des Kindes seinen Eltern gegenüber betrifft. Ich habe keine genaue Kenntnis davon, wie andere Völker, die nicht wie wir mit dem Vierten Gebot aufwachsen, dieses Problem gelöst haben, doch wohin ich schaue, sehe ich das Gebot, die Eltern zu respektieren, nirgends aber ein Gebot, das Respekt für das Kind verlangt.
Könnte das in Analogie zum Inzestverbot bedeuten, daß dieser Respekt so früh wie möglich dem Kind anerzogen werden muß, weil die natürlichen Reaktionen des Kindes seinen Eltern gegenüber so heftig sein können, daß die Eltern fürchten müßten, von ihren Kindern geschlagen oder gar umgebracht zu werden?
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Aber das Schlagen des Säuglings muß nicht wehtun. Wir hören dauernd über die Grausamkeiten unserer Zeit, und doch scheint mir ein Hoffnungsschimmer in der Tendenz zu liegen, sich überlieferten Tabus zu nähern und sie in Frage zu stellen. Wenn das Vierte Gebot dazu gebraucht wird, daß Eltern die natürlichen, legitimen aggressiven Äußerungen ihres Kindes von klein auf unterbinden, so daß das Kind nur die Möglichkeit hat, es in der nächsten Generation weiterzugeben, dann läge im Durchbrechen dieses Tabus ein großer Fortschritt. Wenn dieser Mechanismus bewußt wird, wenn Menschen merken dürfen, was ihnen ihre Eltern angetan haben, würden sie doch versuchen, nach oben statt nach unten zu antworten. Das würde zum Beispiel heißen, daß Hitler nicht Millionen von Menschen hätte umbringen müssen, wenn es ihm als Kind möglich gewesen wäre, sich direkt gegen die Grausamkeiten seines Vaters aufzulehnen.
Meine Behauptung, daß die unzähligen, schweren Demütigungen und Mißhandlungen, die Adolf Hitler als Kind durch seinen Vater erlitten hat, ohne sie beantworten zu dürfen, sich auf seinen unersättlichen Haß ausgewirkt haben, kann leicht mißverstanden werden. Man kann mir entgegenhalten, daß ein einzelner Mensch nicht ein ganzes Volk zur Vernichtung dieses Ausmaßes führen kann, daß die wirtschaftliche Krise und die Demütigungen der Weimarer Republik mitbedingt haben, daß eine solche Katastrophe hat stattfinden können. Daran ist natürlich gar nicht zu zweifeln, aber es waren nicht »Krisen« und »Systeme«, die getötet haben, sondern es waren Menschen, Menschen, deren Väter auf den Gehorsam ihrer Kleinen schon sehr früh stolz sein durften.
Viele Tatsachen, denen man seit Jahrzehnten mit moralischer Entrüstung und verständnislosem Abscheu begegnet, lassen sich von hier aus verstehen.
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Ein amerikanischer Professor z.B. macht seit Jahren Versuche mit Hirntransplantationen. In einem Interview für die Zeitschrift »Tele«, erzählt er, daß es ihm bereits gelungen ist, das Gehirn eines Affen auf einen anderen zu übertragen. Er zweifelt nicht daran, daß es in absehbarer Zeit möglich sein wird, dies auch bei Menschen durchzuführen. Der Leser hat hier die Wahl: er kann begeistert sein über soviel Fortschritt in der Wissenschaft oder sich fragen, wie solche Absurditäten überhaupt möglich sind, wozu eine solche Beschäftigung gut sein soll.
Er kann aber auch, durch eine nebensächliche Information stutzig gemacht, ein Aha-Erlebnis haben. Professor White spricht nämlich von »religiösen Gefühlen«, die ihn bei seiner Beschäftigung begleiten. Vom Interviewer darauf angesprochen, erklärt er, daß er sehr streng katholisch und nach Meinung seiner 10 Kinder wie ein Dinosaurier erzogen worden sei. Ich weiß nicht, was damit gemeint ist, aber ich könnte mir vorstellen, daß mit diesem Ausdruck vorsintflutliche Erziehungsmethoden gemeint sind. Was hat es für eine Bewandtnis mit seiner Beschäftigung? Möglicherweise geschieht im Unbewußten des Herrn Professor White folgendes: Indem er seine ganze Energie und Vitalität für das Ziel einsetzt, einmal Gehirne bei Menschen auswechseln zu können, erfüllt er sich den langgehegten Kinderwunsch, das Gehirn seines Vaters oder seiner Eltern auswechseln zu können. Der Sadismus ist keine Infektionskrankheit, die einen Menschen plötzlich überfallen kann, er wird lange in der Kindheit vorbereitet und entsteht immer aus den verzweifelten Phantasien eines Kindes, das in seiner ausweglosen Situation einen Ausweg sucht.
Jeder erfahrene Analytiker kennt die ehemaligen Pfarrerskinder, denen es nie erlaubt war, sogenannte »böse Gedanken« zu haben, und die es fertigbrachten, keine zu haben, wenn auch um den Preis einer schweren Neurose. Wenn dann in der Analyse die kindlichen Phantasien endlich leben dürfen, so haben sie regelmäßig einen grausamen, sadistischen Inhalt.
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In diesen Phantasien verdichten sich die ehemaligen Rachephantasien des pädagogisch gequälten Kindes mit der introjizierten Grausamkeit der Eltern, die das Vitale im Kind mit undurchführbaren moralischen Vorschriften abzutöten versuchten oder abgetötet haben.
Jeder Mensch muß seine Form der Aggressivität finden, wenn er sich nicht zur gehorsamen Marionette anderer machen lassen will. Nur jemand, der sich nicht zum Instrument eines fremden Willens reduzieren läßt, kann seine persönlichen Bedürfnisse durchsetzen und seine legitimen Rechte verteidigen. Aber diese angemessene, adäquate Form der Aggression bleibt vielen Menschen verschlossen, die als Kinder in dem absurden Glauben aufgewachsen sind, ein Mensch könne ständig nur liebe, gute und fromme Gedanken haben und dabei gleichzeitig ehrlich und wahrhaftig sein.
Allein diese unmögliche Forderung erfüllen zu wollen, kann ein begabtes Kind an den Rand des Wahnsinns treiben. Kein Wunder, wenn es versucht, sich mit sadistischen Phantasien aus seinem Gefängnis zu befreien. Aber auch dieser Versuch ist ja verboten und muß verdrängt werden. So bleibt der verständliche und einfühlbare Teil dieser Phantasien dem Bewußtsein völlig verborgen, mit dem Grabstein der befremdenden, abgespaltenen Grausamkeit zugedeckt. Dieser Grabstein, im allgemeinen zwar weniger verborgen, wird aber im ganzen Leben gründlich gemieden und gefürchtet. Und doch ist auf der ganzen Welt kein anderer Weg zum wahren Selbst zu finden als ausgerechnet dieser einzige, der an dem so lange gemiedenen Grabstein vorbeiführt. Denn bevor ein Mensch seine eigene, ihm angemessene Form der Aggression entwickeln kann, muß er die alten verdrängten, weil verbotenen, Rachephantasien in sich entdecken und erleben können. Erst diese führen ihn zu seiner echten kindlichen Empörung und Wut, die der Trauer und Versöhnung Platz machen können.
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Die Entwicklung von Friedrich Dürrenmatt, die sich wahrscheinlich ohne Analyse abgespielt hat, kann dafür als Beispiel angeführt werden. Als Kind in einem Pfarrhaus aufgewachsen, wirft er zunächst als junger Schriftsteller die groteske Absurdität, Verlogenheit und Grausamkeit der Welt dem Leser ins Gesicht. Selbst die zur Schau getragene Gefühlskälte, selbst der perfideste Zynismus können hier die Spuren des früh Erlebten kaum verwischen. Wie bei Hieronymus Bosch wird da eine erfahrene Hölle geschildert, auch wenn der Autor keine direkte Kenntnis mehr davon haben sollte.
Den Besuch der alten Dame könnte niemals jemand geschrieben haben, der nicht selber erfahren hat, daß der Haß da am stärksten und grausamsten wüten kann, wo auch die Bindung am intensivsten ist. Und trotz aller dieser tiefen Erfahrungen behält der junge Dürrenmatt konsequent das Prinzip der Kaltschnäuzigkeit, das sich ein Kind zulegt, dessen Gefühle für seine Umgebung vollständig verborgen bleiben müssen. Um sich von der Moral des Pfarrhauses zu befreien, muß er zuerst die gepriesenen und für ihn suspekt gewordenen Tugenden wie Mitleid, Nächstenliebe, Erbarmen ablehnen und endlich die verbotenen grausamen Phantasien laut und verzerrt zum Ausdruck bringen.
In reiferen Jahren scheint er es weniger nötig zu haben, seine wahren Gefühle zu verbergen, und man spürt in den späteren Werken Dürrenmatts weniger die Provokation als das unstillbare Bedürfnis, die unbequemen Wahrheiten der Menscheit zumuten zu können, womit er ihr eigentlich einen Dienst erweist. Denn ein Kind wie Dürrenmatt hat seine Umgebung unheimlich gut durchschauen müssen. Da er in seinem schöpferischen Prozeß schildern kann, was er gesehen hat, hilft er auch dem Leser, aufmerksamer und wacher zu werden. Und weil er mit eigenen Augen gesehen hat, hat er es nicht nötig, sich durch Ideologien korrumpieren zu lassen.
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Das ist eine Form der Verarbeitung des kindlichen Hasses, die schon an sich der Menschheit zugutekommt, sie braucht nicht erst »sozialisiert« zu werden. Auch die ehemaligen Analysanden werden es nicht nötig haben, Menschen zu schädigen, wenn sie einmal ihrem kindlichen »Sadismus« begegnet sind. Ganz im Gegenteil, sie werden im Grunde weniger aggressiv, wenn sie mit ihren Aggressionen und nicht gegen sie leben können. Das ist keine Triebsublimierung, sondern eine normale Reifung, die einsetzen kann, wenn die Hindernisse beseitigt worden sind. Da braucht es keine Anstrengung, weil der abgewehrte Haß erlebt und nicht abreagiert wurde.
Diese Menschen werden mutiger, als sie es früher waren, d.h. sie wehren sich nicht mehr wie früher »nach unten«, sondern direkt »nach oben«. Sie haben keine Angst mehr, ihren Vorgesetzten Grenzen zu setzen, und haben es nicht mehr nötig, ihre Partner oder Kinder zu demütigen. Sie haben sich als Opfer erlebt und müssen nicht das unbewußte »Opfersein« abspalten und auf andere projizieren. Aber unzählige Menschen brauchen diesen Weg der Projektion. Sie können ihn als Eltern mit Kindern, als Psychiater mit Geisteskranken, als Forscher mit Tieren gehen. Niemand wundert sich, niemand empört sich darüber. Was Professor White mit Affengehirnen macht, wird als Wissenschaft gepriesen, und er selber ist nicht wenig stolz darauf.
Wo ist da die Grenze zu Dr. Mengele, der in Auschwitz Experimente mit Menschen gemacht hat? Da Juden als Nicht-Menschen bezeichnet wurden, waren seine Experimente sogar »moralisch« legitimiert. Um zu verstehen, wie Mengele das hat tun und aushalten können, müßten wir nur wissen, was mit ihm in seiner Kindheit getan worden ist. Ich bin überzeugt, daß da ein für Außenstehende kaum faßbares Grauen zum Vorschein käme, das aber von ihm selber als die beste Erziehung aufgefaßt worden ist, der er, nach seiner Überzeugung, »vieles zu verdanken hat«.
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Die Wahl der verfügbaren Objekte, an denen man für das eigene Kinderleiden Rache nehmen kann, ist fast unbeschränkt, aber bei den eigenen Kindern ergibt sich das wie von selbst. Fast in allen alten Erziehungsbüchern wird an erster Stelle erörtert, wie man den Eigensinn und die Tyrannei des Säuglings bekämpfen und wie man die »Halsstarrigkeit« des Kleinkindes mit schärfsten Mitteln bestrafen müsse. Die einst nach diesen Ratschlägen tyrannisierten Eltern haben es begreiflicherweise eilig, sich bei einem Ersatzobjekt so schnell wie möglich zu befreien, und erleben im Zorn ihres Kindes den eigenen tyrannischen Vater, den sie aber hier endlich — wie Professor White seine Affen — zur Verfügung haben.
In den Analysen fällt es oft auf, daß sich Patienten bei ihren kleinsten, aber vital wichtigsten Bedürfnissen als sehr anspruchsvoll erleben und sich dafür hassen. So darf z.B. ein Mann, der für seine Frau und Kinder ein Haus gekauft hat, in diesem Haus keinen eigenen Raum haben, wohin er sich zurückziehen könnte, was er sich sehnlichst wünscht. Das wäre anspruchsvoll oder »bürgerlich«. Da er aber ohne diesen Raum erstickt, denkt er daran, die Familie zu verlassen und in die Wüste zu fliehen. Eine Frau, die nach einer Reihe von Operationen in die Analyse kam, erlebt sich als besonders anspruchsvoll, weil sie für das Viele, das sie vom Leben bekommen hat, nicht dankbar genug sei und immer noch mehr möchte.
In der Analyse stellt sich heraus, daß sie seit Jahren unter einem Zwang stand, immer neue Kleider zu kaufen, die sie kaum brauchte und auch selten trug, daß dieses Verhalten aber u.a. ein Ersatz war für ihre Autonomie, die sie sich bisher nie gestattet hatte. Schon als kleines Mädchen hörte sie von ihrer Mutter, sie sei so anspruchsvoll, schämte sich deswegen sehr und versuchte ihr Leben lang, bescheiden zu sein. Deshalb kam auch eine Psychoanalyse für sie zunächst nicht in Frage. Erst als ihr die Chirurgen einige Organe hatten entfernen müssen, durfte sie sich die Behandlung leisten.
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Und da wurde es langsam klar, daß diese Frau das Spielfeld abgegeben hat, auf dem sich ihre Mutter gegen den eigenen Vater durchzusetzen versuchte. Bei deren tyrannischem Vater war überhaupt kein Widerstand möglich gewesen. Aber die Tochter ließ sich von Anfang an so konstellieren, daß alle ihre Wünsche und Bedürfnisse als übertriebene, maßlose Forderungen und Ansprüche bezeichnet wurden, gegen die sich die Mutter mit moralischer Entrüstung wehrte. So entwickelte die Tochter bei allen Regungen zur Autonomie Schuldgefühle und versuchte, sie vor der Mutter zu verbergen. Ihr sehnlichster Wunsch war, anspruchslos und bescheiden zu sein, während sie unter dem Zwang litt, unnötig Sachen zu kaufen und anzuhäufen, womit sie sich ihre einst von der Mutter zugeschriebene Ansprüchlichkeit bewies.
Sie hat viel Schweres in ihrer Analyse erleben müssen, bis es ihr möglich wurde, die Rolle ihres tyrannischen Großvaters abzulegen. Aber dann stellte sich heraus, daß diese Frau im Grunde sehr wenig an materiellen Gütern interessiert war — jetzt, da sie ihre wahren Bedürfnisse realisieren und kreativ sein konnte. Sie mußte nicht mehr unnötiges Zeug kaufen, um der Mutter eine tyrannische Ansprüchlichkeit vorzuweisen oder sich eine geheime Autonomie zu ertrotzen und durfte endlich ihre wahren, geistigen und seelischen Ansprüche ernstnehmen, ohne Schuldgefühle zu haben.
Dieses Beispiel illustriert einige der im ganzen Kapitel ausgeführten Thesen:
1. Das Kind kann auch beim Ausdruck seiner harmlosesten, normalsten Bedürfnisse von seinen Eltern als anspruchsvoll, tyrannisch, bedrohlich erlebt werden, wenn diese z.B. unter einem tyrannischen Vater gelitten haben, ohne sich gegen ihn wehren zu können.
2. Das Kind kann diese »Zuschreibungen« mit einer Ansprüchlichkeit beantworten, die seinem falschen Selbst entstammt, und so seinen Eltern den von ihnen gesuchten aggressiven Vater verkörpern.
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Diesem Verhalten des Kindes oder des späteren Patienten auf der Triebebene zu begegnen und ihm gar erzieherisch helfen zu wollen, »Triebverzichte« zu leisten, hieße, die wahre Geschichte dieser tragischen Stellvertretung zu ignorieren und den Patienten damit allein zu lassen.
Es braucht kein »Triebverzicht« und keine »Sublimierung« des »Todestriebes« angestrebt zu werden, wenn man die lebensgeschichtlichen Wurzeln einer aggressiven oder gar destruktiven Handlung verstanden hat, weil sich dann die psychischen Energien von selbst in Kreativität umwandeln, vorausgesetzt, daß keine erzieherischen Maßnahmen angewendet wurden.
Die Trauer über das einst Geschehene, Irreversible, ist die Voraussetzung dieses Prozesses.
Diese Trauer, wenn in der Analyse mit Hilfe der Übertragung und Gegenübertragung erlebt, führt zu einer intrapsychischen, strukturellen Veränderung und nicht nur zu neuen Formen der Interaktion mit gegenwärtigen Partnern. Darin unterscheidet sich die Psychoanalyse von anderen Therapieformen, wie z.B. Transaktionsanalyse, Gruppen- oder Familientherapie.
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Die Erlaubnis zu wissen
Eltern sind selbstverständlich nicht nur Verfolger, aber es ist wichtig zu wissen, daß sie es in vielen Fällen auch sind, und sehr oft, ohne es selber zu merken. Dieses Faktum ist im allgemeinen sehr wenig bekannt, es ist im Gegenteil sehr umstritten, auch unter den Analytikern, und deshalb lege ich so viel Nachdruck darauf, es zu beschreiben. Gerade liebende Eltern müßten ja daran interessiert sein, zu erfahren, was sie unbewußt mit ihren Kindern tun. Wenn sie nichts darüber erfahren wollen und sich auf ihre Liebe berufen, dann haben sie nicht das Leben ihrer Kinder im Sinn, sondern die Sorge um eine gewissenhafte Buchhaltung im eigenen Sündenregister.
Diese Sorge aber, die sie von klein auf mit sich tragen, hält sie davon ab, die Liebe zu ihren Kindern frei zu entfalten und aus ihr zu lernen. Man kann die Haltung der »Schwarzen Pädagogik« nicht nur auf bestimmte ausgefallene Erziehungsschriften der vergangenen Jahrhunderte beschränken. Dort wurde sie zwar unverhohlen und bewußt vertreten, während sie heute weniger laut und weniger offen verkündet wird, aber sie durchzieht immer noch die wichtigsten Bereiche unseres Lebens. Ihre Allgegenwart ist es gerade, die es so schwer macht, sie zu erkennen. Sie ist wie ein zerstörender Virus, mit dem zu leben wir von klein auf gelernt haben.
Wir ahnen deshalb oft kaum, daß man auch ohne ihn leben kann, und zwar besser und glücklicher. Menschen von hohen Qualitäten und besten Absichten wie z.B. der Vater von Herrn A. (vgl. S. 113E) können von ihm befallen sein, ohne es zu ahnen. Wenn sie nicht zufällig die Erfahrung einer Analyse machten, hatten sie keinen Anlaß, ihn zu entdecken, d.h. keine Gelegenheit, emotional gefärbte Überzeugungen, die sie in den ersten Jahren von ihren Eltern übernommen haben, später je in Frage zu stellen.
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Trotz ihres ehrlichen Strebens nach der Verwirklichung eines demokratischen Zusammenlebens bleibt die Diskriminierung und Rechtlosigkeit des Kindes im Grunde eine Selbstverständlichkeit für sie, denn aufgrund ihrer eigenen Kindheitserfahrung können sie sich kaum etwas anderes vorstellen. Die frühe Verankerung dieser Haltung im Unbewußten garantiert ihre Stabilität.
Dazu kommt noch ein anderer stabilisierender Umstand. Die meisten erwachsenen Menschen sind selber Eltern. Sie haben ihre Kinder aus dem unbewußten Schatz ihrer eigenen Kindheitserfahrungen erzogen und hatten gar keine andere Möglichkeit, als es ähnlich zu tun, wie es einst ihre Eltern taten. Wenn sie nun aber mit dem Wissen darüber konfrontiert werden, daß man das Kind gerade im zartesten Alter am meisten und am nachhaltigsten schädigen kann, bekommen sie begreiflicherweise Schuldgefühle, die oft unerträglich sind.
Gerade für Menschen, die nach den Prinzipien der »Schwarzen Pädagogik« erzogen worden sind, können bei dem Gedanken, daß sie vielleicht nicht perfekte Eltern waren, Qualen entstehen, weil sie ihren verinnerlichten Eltern schuldig sind, keine Fehler gemacht zu haben. Deshalb werden sie dazu neigen, neues Wissen nicht an sich heranzulassen und um so mehr bei den alten Erziehungsregeln Schutz zu suchen. Sie werden verstärkt darauf bestehen, daß die Unterdrückung der Gefühle, Pflicht und Gehorsam die Pforten zum guten und ehrbaren Leben öffnen, daß man nur mit »Auf-die-Zähne-beißen« erwachsen wird; sie werden jede Information über die frühkindliche Erlebnis weit abwehren müssen.
Die richtigen Informationen liegen manchmal ganz nahe, manchmal einfach »auf der Straße«. Wenn man die etwas freier aufwachsenden heutigen Kinder beobachten kann, lernt man vieles über die wahre Gesetzmäßigkeit des Gefühlslebens, die der älteren Generation verborgen blieb.
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Nehmen wir ein Beispiel: Auf dem Spielplatz steht eine Mutter mit ihrer 3jährigen Marianne, die sich an ihre Beine klammert und herzzerreißend schluchzt. Sie will nicht mit den anderen Kindern spielen. Auf meine Frage nach dem Grund erzählt mir die Mutter sehr verständnis- und teilnahmsvoll, daß sie gerade beide vom Bahnhof zurückkämen und der Papi, den sie dort erwartet hätten, nicht angekommen sei. Nur der Papi von Ingrid sei ausgestiegen. Ich sage: »Oh, da warst du aber schön enttäuscht!« Das Kind schaut mich an, große Tränen kullern über sein Gesicht, aber bald schielt es zu den anderen Kindern, und bereits nach zwei Minuten rennt es mit ihnen fröhlich herum.
Da der tiefe Schmerz erlebt und nicht aufgestaut wurde, konnte er nun anderen, heiteren Gefühlen Platz machen. Wenn der Betrachter offen genug ist, aus dieser Szene zu lernen, wird er traurig dabei werden. Er wird sich fragen: Könnte es sein, daß die vielen Opfer, die er selber hat erbringen müssen, nicht nötig gewesen wären? Wut und Schmerz können offenbar so schnell vergehen, wenn man sie zugelassen hat. Könnte es sein, daß man gegen Neid und Haß gar nicht lebenslang hätte kämpfen müssen, daß deren feindliche Macht im eigenen Innern schon eine Wucherung und in ihrem Ausmaß Folge der Unterdrückung war? Könnte es sein, daß die Unterdrückung der Gefühle, die beherrschte ruhige »Ausgeglichenheit«, die man sich so mühsam zugelegt hat und auf die man stolz ist, im Grunde eine traurige Verarmung und nicht ein »kultureller Wert« ist, obwohl man bisher gewohnt war, es so zu sehen?
Wenn der Betrachter der geschilderten Szene bisher auf seine Beherrschung stolz war, so könnte sich hier etwas von diesem Stolz in Wut verwandeln, in Wut, daß er sein Leben lang um die Freiheit seiner Gefühle betrogen wurde. Und diese Wut, wenn wirklich zugelassen und erlebt, kann das Gefühl der Trauer über die Sinnlosigkeit und Zugleich die Unumgänglichkeit eigener Opfer ermöglichen. Dieser Prozeß von der Wut zur Trauer macht es möglich, den Teufelskreis der Wiederholungen zu durchbrechen.
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Wem sein Opfersein nie zum Erlebnis wurde, weil er in der Ideologie der Tapferkeit und Beherrschung aufgewachsen ist, ist leicht in Gefahr, an der nächsten Generation für sein unbewußt gebliebenes Opfersein Rache zu nehmen. Wer aber nach einer zornigen Phase über sein Opfersein trauern kann, kann auch über das Opfersein seiner Eltern trauern und wird nicht mehr zum Verfolger seiner Kinder. Die Fähigkeit zu trauern wird ihn mit seinen Kindern verbinden.
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Dies gilt auch für die Beziehungen mit erwachsenen Kindern. Ich habe einmal mit einem sehr jungen Mann nach seinem zweiten Suizidversuch gesprochen, der mir sagte: »Seit meiner Pubertät leide ich an Depressionen, mein Leben hat keinen Sinn. Ich habe gemeint, das Studium sei daran schuld, weil so mancher sinnlose Stoff dabei war. Jetzt bin ich aber mit allen Prüfungen fertig, und die Leere ist noch schlimmer. Aber diese Depressionen haben nichts mit meiner Kindheit zu tun, meine Mutter sagte mir, daß ich eine sehr glückliche und behütete Kindheit gehabt hätte.«
Wir sahen uns einige Jahre später wieder; seine Mutter hatte unterdessen eine Analyse gemacht. Der Unterschied zwischen diesen beiden Begegnungen war gewaltig. Dieser Mann hatte in der Zwischenzeit nicht nur im Beruf, sondern in seinem ganzen Habitus seine Kreativität entwickelt; er lebte jetzt zweifellos sein Leben. Im Gespräch sagte er mir: »Als meine Mutter mit Hilfe der Analyse aus ihrer Erstarrung herauskam, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und sie sah, was sie beide als Eltern mit mir gemacht hatten. Sie hat mich zwar zuerst damit belastet, daß sie mir — offenbar um sich zu erleichtern oder um meine Absolution zu bekommen — immer mehr davon erzählte, wie sie mich beide als kleines Kind mit ihrer gutmeinenden Erziehung im Grunde am Leben gehindert haben. Zunächst wollte ich das alles nicht hören, ich wich ihr aus, bekam auch einen Zorn auf sie.
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Aber mit der Zeit merkte ich, daß das, was sie mir jetzt erzählte, leider die volle Wahrheit war. Etwas in mir wußte das alles schon lange, aber ich durfte es nicht wissen. Jetzt, da meine Mutter die Kraft zeigte, das Geschehene mit seinem ganzen Gewicht auszuhalten, nichts zu beschönigen, zu verleugnen, zu verdrehen, weil sie spürte, daß sie auch selber einst ein Opfer gewesen war, jetzt durfte ich mein Wissen um meine Vergangenheit zulassen.
Es war eine große Erleichterung, sich nichts mehr vormachen zu müssen. Und das Erstaunliche ist, daß ich meine Mutter mit ihrem ganzen Versagen, von dem wir beide wissen, jetzt viel menschlicher, lebendiger, näher und warmherziger erlebe als je zuvor. Auch ich bin jetzt viel echter und freier mit ihr. Die falsche Anstrengung ist weg. Sie muß mir nicht mehr Liebe beweisen, um ihre Schuldgefühle zuzudecken; ich spüre, daß sie mich mag und liebt. Sie muß mir auch nicht mehr Vorschriften über mein Verhalten machen, läßt mich so sein, wie ich bin, weil sie es selber darf und weil sie selber weniger unter Vorschriftenzwang steht.
Es ist eine große Last von mir abgefallen. Ich habe Freude am Leben, und das alles ist mir ohne eine längere Analyse möglich geworden. Aber jetzt würde ich nicht mehr sagen, daß meine Suizidversuche keinen Bezug zu meiner Kindheit hatten. Er durfte nur nicht gesehen werden, und das muß meine Ratlosigkeit noch mehr verstärkt haben.« Dieser junge Mann beschrieb hier einen Sachverhalt, der am Entstehen vieler seelischer Erkrankungen beteiligt ist: die Unterdrückung des frühkindlichen Wissens, das sich nur in körperlichen Symptomen, im Wiederholungszwang oder im psychotischen Zusammenbruch manifestieren kann. John Bowlby schrieb eine Arbeit unter dem Titel »On knowing what you are not supposed to know and feeling what you are not supposed to feel« (1979) in der er von ähnlichen Erfahrungen berichtet.
Im Zusammenhang mit der Geschichte der hier beschriebenen Suizidgefahr war es für mich lehrreich zu sehen, daß sich sogar in schweren Fällen eine Analyse bei jungen Menschen erübrigen kann, wenn die Eltern die Möglichkeit haben, den Bann des Schweigens und der Leugnung aufzuheben und dem erwachsenen Kind zu bestätigen, daß seine Symptome nicht aus der Luft gegriffen sind, nicht Folgen der Überanstrengung, des »Spinnens«, der Verweichlichung, der falschen Lektüre, der schlechten Freunde, der inneren »Triebkonflikte« usw. sind.
Wenn diese Eltern nicht mehr krampfhaft gegen eigene Schuldgefühle kämpfen und sie deshalb nicht auf das Kind abladen müssen, sondern das eigene Schicksal hinzunehmen lernen, geben sie ihren Kindern die Freiheit, nicht gegen, sondern mit ihrer Vergangenheit zu leben. Das emotional-körperliche Wissen des erwachsenen Kindes kann dann mit dem intellektuellen zur Übereinstimmung kommen. Wo solche Trauerarbeit möglich ist, fühlen sich die Eltern mit ihren Kindern verbunden und nicht von ihnen getrennt — eine Tatsache, die wenig bekannt ist, weil solche Erfahrungen selten riskiert werden. Aber da, wo sie möglich sind, verstummen die falschen Informationen der Pädagogik, und eine Kenntnis des Lebens hält Einzug, die auch jedem anderen nachvollziehbar ist, sobald er sich auf eigene Erfahrungen verlassen kann.
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Ende