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Einleitung  

 

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»Mich selbst kann ich so schlecht machen, als es sein muss, aber andere Personen muß ich schonen.«

Diesen Satz einer seiner Patientinnen zitiert Freud in seinem Brief an Wilhelm Fließ vom 28. April 1897. Ich nehme ihn zum Ausgangspunkt bei der Darstellung meiner Gedanken, weil er mir eine Wahrheit auszudrücken scheint, die für sehr viele Menschen - zumindest für viele, die ich kannte - zutrifft. 

In meinen früheren Arbeiten habe ich zu zeigen versucht, wie die Schonung und Idealisierung der Eltern der ersten Lebensjahre einerseits aus der vollständigen Abhängigkeit des Kindes und andererseits aus dem Nachhol­bedarf der Eltern an Achtung, Bejahung und Verfügbarkeit verständlich wird (vgl. A. Miller, 1979). Anhand verschiedener Lebensläufe bin ich auch der Frage nachgegangen, was mit dem in der Kindheit aufgestauten, reaktiven Haß in Extremfällen geschehen mußte, um die Schonung der Eltern zu gewährleisten (vgl. A. Miller 1980). 

Während ich mich in Am Anfang war Erziehung vornehmlich mit der Frage der Entstehungsgeschichte der menschlichen Destruktivität und Selbst­destruktivität befaßt habe und zu Ergebnissen gekommen bin, die sich der Annahme eines Todestriebes im Freudschen Sinn direkt entgegenstellen, will ich in diesem Buch u.a. die Wege schildern, auf denen mir die die Psychoanalyse beherrschenden Vorstellungen von der »infantilen Sexualität« immer fragwürdiger erschienen, bis ich schließlich gewagt habe, die Konsequenzen meiner Erfahrungen zu Ende zu denken.*

*  Es mag sein, daß der Leser vergeblich nach einer Definition des Begriffes »Triebtheorie« suchen wird, den ich in diesem Buch öfters verwende. Da Sigmund Freud an seiner Triebtheorie nicht ohne Grund mehrere Male Änderungen anbrachte, müßte eine solche Definition auch die ganze Entwicklungsgeschichte dieses Begriffes berücksichtigen, was hier unmöglich ist. Statt dessen versuche ich, aus dem Zusammenhang verständlich zu machen, welchen Aspekt der Triebtheorie ich jeweils meine.

Ganz allgemein verstehe ich darunter Sigmund Freuds nach 1897 vertretene und von seinen Schülern übernommene Überzeugung von der infantilen Sexualität des Kindes (orale, anale und phallische Phase), die beim vierjährigen Kind darin gipfelt, daß es den gegen­geschlecht­lichen Elternteil sexuell besitzen und den gleichgeschlechtlichen beseitigen möchte (Ödipuskomplex), was zu Konflikten führen muß, weil das Kind beide Eltern liebt und braucht. Die Art der Lösung dieses Konfliktes, der sich zwischen dem Es und dem Ich bzw. dem Ich und dem Überich abspielt, entscheidet darüber, ob ein Mensch an einer Neurose erkrankt oder nicht. Dieser Lehre zufolge ist alles, was dem Kinde von der Außenwelt her zustößt, »nicht pathogen«, auch wenn es »schwerwiegend für die Ich- und Charakterbildung« ist (vgl. Anna Freud, Das Ich und die Abwehrmechanismen.)

Anna Freud sieht darin keinen Widerspruch, weil sie den charakter­schädigenden Einfluß der Umwelt als Gegenstand der Psychologie und nicht der Psychoanalyse bezeichnet. Diese Auffassung hat wichtige Konsequenzen für die analytische Praxis, die alles, was der Patient über seine Kindheit erzählt, als dessen Phantasien und nach außen projizierte, eigene Wünsche zu betrachten hat. So wird das Kind der Triebtheorie zufolge nicht für die Bedürfnisse des Erwachsenen real mißbraucht, sondern es phantasiert angeblich diesen Mißbrauch, indem es eigene aggressive und sexuelle Wünsche (Triebwünsche) verdrängt und sie projektiv als von außen auf es gerichtet erleben kann.
Dieser Aspekt der Triebtheorie war es, der mich veranlaßt hat, dieses Buch zu schreiben.

Die persönliche Erfahrung der Psychoanalyse anhand des eigenen Unbewußten und die berufliche Möglich­keit, auch dem Unbewußten anderer Menschen zu begegnen, bedeuten zweifellos für jeden werdenden Analytiker zunächst eine große Befreiung. Schon das grundlegende, oft verblüffende Erlebnis der eigenen Abwehrmechanismen (wie Verleugnung, Verdrängung, Projektion usw.) verändert in hohem Maße unsere bisherige Seh- und Denkperspektive. Die einengenden Vorstellungen und Ideen der eigenen Kindheit werden uns klarer bewußt, und verglichen mit ihnen ist die Psychoanalyse, weil sie in der breiten, bürgerlichen Bevölkerung lange bekämpft, verspottet oder kaum wahrgenommen wurde, bereits ein revolutionäres Faktum.

Wenn ein Mensch in einem engen abgelegenen Bergtal aufgewachsen ist und plötzlich in eine breite Ebene kommt, wird er sich zunächst in einer ähnlichen Weise befreit fühlen, wie ein streng religiös erzogenes Kind, das später das Denksystem der Psychoanalyse entdeckt. Es kann hier zunächst alle Richtungen einschlagen, die Welt steht ihm offen, es stößt nicht immer auf die hohen Berge. Was muß aber dieser Mensch empfinden, wenn er feststellt, daß diese wunderbare Ebene, die in die Welt hinaus­führt, von Verbotstafeln umstellt ist und daß das weite Tal nicht der Anfang seines neuen Weges ist, sondern ein endgültiges Ziel sein soll? 

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Die Erfahrung der Ebene weckte in ihm die Lust zum Wandern und machte ihm durch den Gegensatz bewußt, wie eingeengt seine Kindheit gewesen war. Wenn er froh ist, die Enge verlassen zu haben, wird er sich mit dem eingezäunten Flachland nicht lange zufrieden­geben. Sein Bedürfnis nach Freiheit ist geweckt und damit auch der Wunsch, die Welt hinter den Verbotstafeln zu entdecken. Denn nun weiß er aus Erfahrung, daß diese Tafeln, ähnlich wie die hohen Berge, nicht das Ende der Welt bedeuten.

Die Zäune und Verbote ließen sich mit verschiedenen Dogmen der psychoanalytischen Theorie vergleichen, während die große Ebene zunächst mit den ersten Erfahrungen des Unbewußten vergleichbar ist. Allerdings darf sie durch keine Verbotstafeln eingeschränkt werden, wenn der Weg zu neuen Erkenntnissen in alle Richtungen offen bleiben soll; denn auch wenn diese Ebene viele Spaziergänge ermöglicht, gleicht sie einem Gefängnis, solange die Ausflüge aus diesem Areal verboten sind. Das gleiche gilt für die psychoanalytische Theorie, die in Gefahr kommt, durch ihre Dogmatisierung gerade das Wertvollste an ihr, d.h. die schöpferischen, im besten Sinne revolutionären und bewußtseins­erweiternden Elemente im Dienste des Überlieferten, des die Geborgenheit der Gruppen­zugehörigkeit Sichernden, aufzugeben.

 

Die fundamentale Erkenntnis von der Bedeutsamkeit der frühen Kindheit für das ganze spätere Leben verdanken wir Sigmund Freud – eine Erkenntnis, die für alle Gesellschaften und zu allen Zeiten Gültigkeit haben dürfte. Daß die Kindheit das spätere Leben des Individuums prägt, ist freilich eine formale Aussage und nur als solche kann sie Allgemeingültigkeit beanspruchen. Das Wie dieser Prägung ist kulturspezifisch und dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen; es muß in jeder Generation neu untersucht und in jedem einzelnen Leben im Besonderen verstanden werden. 

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Jeder Versuch, dieses Wie für alle Zeiten bestimmen zu wollen, z.B. mit Hilfe des Ödipuskomplexes und der Triebtheorie, trägt für die Psychoanalyse die Gefahr einer Selbstverstümmelung in sich. Denn wie soll ihr Instrumentarium schöpferisch eingesetzt werden, wenn die Frage nach der jeweiligen Kindheitsprägung einer Generation bereits mit dem Ödipus­komplex ein für alle Male beant­wortet worden ist? 

Statt das neue Material in seiner Einmaligkeit zu verstehen, muß sich der Analytiker während seiner Ausbildung darin üben, es nicht als neu, sondern als Beispiel der ein für allemal gültigen Theorien zu sehen. Er lernt so, auf die weittragenden, Wahrheit erschließenden Kräfte seines Instrumentariums zu verzichten, bevor er sie entdecken konnte. Das Bild der eingezäunten Ebene habe ich gezeichnet, um meinen Ansatz verständlich zu machen. Obwohl ich persönlich der Psychoanalyse meine Befreiung verdanke, sehe ich in ihrem entfremdeten Vokabular und in ihren Dogmen die Entwicklung von Theorie und Praxis hemmende Faktoren. Im folgenden möchte ich, auch mit Hilfe von Beispielen, diese These begründen, doch hier schon will ich andeuten, zu welchen Ergebnissen ich gekommen bin, nachdem ich bereit war, die Verbots­tafeln nicht mehr zu beachten und die mir erreichbaren Wege zu beschreiten.

Die Überzeugung von der Bedeutung der frühen Kindheit für das ganze spätere Leben des Individuums war mein Ausgangspunkt. Die Sensibilisierung für das kindliche Leiden verschaffte mir den emotionalen Einblick in die Situation des abhängigen Kindes, das ohne begleitende Person seine Traumatisierungen nicht artikulieren kann und sie daher verdrängen muß. 

Auf der andern Seite öffnete sich mir immer deutlicher der Blick auf die Machtausübung der Erwachsenen über das Kind, die in den meisten Gesell­schaften sanktioniert oder zugedeckt wird, die aber mit Hilfe psychohistorischer Studien, der Psychosen-, Kinder- und Familien­therapien und vor allem dank der psychoanalytischen Behandlung der Eltern in den letzten Jahrzehnten immer offensichtlicher wird.

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So bin ich nach langem Zögern, das wohl mit meiner Loyalität, Dankbarkeit und guter Erziehung zusammen­hing, zu der Annahme gekommen, daß nicht nur die Destruktivität (also die Fehlentwicklung der gesunden Aggression), sondern auch sexuelle und andere Störungen, vor allem narzißtische, besser zu verstehen sind, wenn man den reaktiven Charakter ihres Entstehens mehr berücksichtigt. Das Kind ist in seiner Hilflosigkeit eine Quelle des Machtgefühls des unsicheren Erwachsenen und darüber hinaus in vielen Fällen sein bevorzugtes Sexualobjekt. Wenn man bedenkt, daß jeder Analytiker Bände darüber erzählen könnte, erscheint es auf den ersten Blick seltsam, daß diese Erkenntnis so lange verborgen geblieben ist.

Es gibt dafür mehrere Gründe, von denen ich hier zwei nenne.

1. Das narzißtisch besetzte Kind wird vom Erwachsenen als ein Teil seines Selbst erlebt. Darum kann sich dieser kaum vorstellen, daß das, was ihm Lustgefühle bereitet, für das Kind eine andere Bedeutung haben könnte. Sobald er es aber ahnt, wird er sein Tun vor der Umwelt verbergen. (Pädophile kämpfen neuerdings um ihr(!) Recht, den Kindern offen sexuelle »Liebe« geben zu dürfen. Sie zweifeln nicht daran, daß die Kinder genau das brauchen, was die Erwachsenen ihnen »geben« wollen.)

2. Auch jeder Patient ist daran interessiert, das, was mit ihm geschehen ist, also den narzißtischen und den sexuellen Mißbrauch seiner Person (wenn dieser stattgefunden hat), zu verheimlichen, zu verbergen oder sich selbst deswegen zu beschuldigen. Diese Tatsache wird oft übersehen, läßt sich aber leicht feststellen. Wenn man z.B. die Zwänge eines Menschen als Ausdruck seiner verdrängten Aggressionen deutet, ohne die zu den Aggressionen führenden Traumatisierungen zu berühren, wird sich der Patient wegen seiner Aggressionen nur noch mehr beschuldigen; oder wenn man z.B. das Mißtrauen der Frauen gegenüber Männern als Ausdruck ihrer unterdrückten, »libidinösen Wünsche und Phantasien« deutet, wird man unter Umständen eine gute Kooperation und sogar die Besserung der Symptome, die auf der Übertragungsliebe beruhen, erreichen können.

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Aber beides wiederholt schließlich das ursprüngliche Trauma des Nichtverstehens und des Mißbrauchs, das zu neuen Symptomen führen kann, weil auch das letzte Trauma (die Behandlung) nicht als Trauma, sondern als Hilfe, Wohltat, Heilung angesehen werden soll und vom Patienten meistens auch so angesehen wird.

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Da die psychoanalytische Triebtheorie die Tendenz des Patienten, sein Trauma zu leugnen und sich selbst zu beschuldigen, unterstützt, ist sie eher dazu geeignet, den sexuellen und narzißtischen Mißbrauch des Kindes zu verschleiern, als ihn aufzu­decken. Weshalb geht der Analytiker in den meisten Fällen nicht an die realen Traumatisierungen der Kindheit heran? Seine Gründe mögen ebenfalls vielfältiger Natur sein: (1.) die unaufgelöste Idealisierung seiner eigenen Eltern, (2.) die Einzäunungen durch Theorien, die er gelernt hat, und vor allem vermutlich (3.) die Angst vor der Konfrontation mit dem eigenen Trauma. Dazu kommt bei manchen Analytikern, (4.) daß sie bisher die Verbotstafeln nie gesehen und an der Richtigkeit der Dogmen noch nie gezweifelt haben.

Von diesen vier Gründen kann ein Buch nur den letzten tangieren, denn die Verleugnung des eigenen Kindheits­traumas läßt sich ohne tiefgehende Selbsterfahrung nicht auflösen. Was den Einfluß der angelernten Theorien betrifft, so habe ich in meiner langjährigen Super­visionsarbeit immer wieder feststellen müssen, wie sehr sie den Analytiker hindern können, aus Erfahrungen zu lernen und lehrreiche Erfahrungen zu machen. 

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Auf der andern Seite durfte ich feststellen, daß es emotional offenere Kandidaten gab, die sich nicht zur Loyalität der Triebtheorie gegenüber verpflichtet fühlten, d.h., daß sie das Material des Patienten nicht als Phantasien und als Ausdruck von dessen Triebwünschen sahen, sondern direkt mit der Annahme der frühen Traumatisierungen arbeiteten. Dadurch ermöglichten sie dem Patienten die Artikulierung der Kindheitstraumen, was diesem in viel kürzerer Zeit, als ich es früher für möglich gehalten hatte, zu einer. »strukturellen« Veränderung verhelfen konnte. Diese Kollegen wagten es, neue Erfahrungen zu machen und aus ihnen zu lernen, und machten mich, nachdem sie mir diese Erfahrungen mitteilten, wiederum zur Lernenden. Ich verdanke ihnen daher nicht nur die empirische Überprüfung meiner Theorie, sondern auch die Gewißheit, daß die Ergebnisse meiner Arbeit in einzelnen Fällen vermittelt werden können und sich in schöpferischer, individueller Art anwenden lassen.

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Bei Analytikern, deren Haltung durch ihre Identifizierung mit dem Kind als Opfer (und nicht mit dem Erzieher) geprägt ist, wird sich vermutlich der Schwerpunkt der Ausbildung vom intellektuellen Studium der Fachliteratur auf die emotionalen Erfahrungen der eigenen Analyse verschieben, in der die Trennungsängste der frühen Kindheit erlebt werden müßten (vgl. S. 105 f.). Die Entdeckung der eigenen Subjektivität vermittelt dem Analytiker den Zugang zu der Subjektivität seines Patienten, von dem und mit dem er über dessen Leben lernt. 

Erst die (begrenzte) Erfahrung meines Unbewußten und die Kenntnis des Wieder­holungs­zwanges macht es mir möglich, die Subjektivität eines Menschen zu verstehen. Sie zeigt sich dann für mich in allem, was dieser sagt, tut, schreibt, träumt oder flieht. Die Fähigkeit des Analytikers, seine Subjektivität zu fühlen, ist die Voraussetzung des Verstehens, aber die dabei gewonnenen Erkenntnisse über das Leben des Patienten sind alles andere als subjektive Einfalle. Sie sind Versuche, den Sinn und das verborgene Leiden eines einmaligen Lebens auf dem Hintergrund einer ganz spezifischen Kindheit mit Hilfe der Inszenierungen aus dem Wiederholungszwang in der Übertragung und Gegenübertragung zu verstehen.

Am Beispiel meiner Studien über verschiedene Lebensläufe zeigt sich, daß solche Erkenntnisse überprüfbar sein können. Fühlen braucht wissenschaftliche Genauigkeit nicht auszuschließen; ich meine sogar, daß es Bereiche gibt (wie z.B. den der Psycho­analyse), deren Wissenschaftlichkeit durchs Fühlen sehr viel zu gewinnen hätte; sei es nur, um das Arsenal von falschen Behauptungen aufzudecken, die mit Hilfe unverständlicher Begriffe lange Zeit geschützt werden können. Nur ein fühlender Mensch kann die Macht­funktion einer leeren Begriffsbildung durchschauen, weil er sich nicht durch Unverständlichkeit einschüchtern läßt.

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