Teil 1
Psychoanalyse zwischen Dogma und Erfahrung
Wird man Francoise einmal erzählen, daß sie fast gestorben wäre? Vielleicht wird sie erfahren, daß sie von ihrem bewundernswürdigen Vater gerettet wurde ... Man wird ihr nicht erzählen, daß er dieses nicht von ihm gezeugte kleine Mädchen töten wollte ... So wird Francoise auch vielleicht wiederholen, daß etwas mit ihr passiert ist, als sie klein war, daß sie nicht weiß, was, und daß sie seitdem wegen ihrer Hüfte, ihres Beines oder ihres Fußes in die Klinik geht, um eines Tages genauso zu gehen, wie die anderen ... übrigens hat sie Fortschritte gemacht, und man hat ihr gesagt, daß sie neue orthopädische Schuhe anziehen könne....
(Aus: Leila Sebbar, Gewalt an kleinen Mädchen, 1980)
1. Zwei Haltungen in der Psychoanalyse 02
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Die Unterdrückung der Frage, wie Eltern mit ihren Kindern in deren ersten Lebensjahren bewußt und meistens unbewußt umgehen, ist selbstverständlich nicht nur innerhalb der klassischen Psychoanalyse anzutreffen, sondern kennzeichnet alle mir bekannten Humanwissenschaften, auch diejenigen, die zu den entsprechenden Fakten freien und täglichen Zugang haben, nämlich die Psychiatrie, Psychologie und verschiedene Richtungen der Psychotherapie.
Warum ich besonderen Wert darauf lege, die Unterdrückung dieser Frage auch innerhalb der Psychoanalyse herauszustellen, mag vor allem gerade damit zusammenhängen, daß meiner Meinung nach die Psychoanalyse den tiefsten und reinsten Einblick in dieses Geschehen hätte, wenn sie sich nicht mit Hilfe ihrer Theorien dagegen abschirmen würde, was ganz automatisch und unbewußt geschieht. Ich muß daher etwas weiter ausholen, um diese Mechanismen zu beschreiben.
Wenn ich z.B. mein Interesse und meine Aufmerksamkeit darauf richte, bei einem Menschen, der zum erstenmal mein Zimmer betritt, herauszufinden, welche Triebwünsche er im Moment unterdrückt, und wenn ich meine Aufgabe darin sehe, ihm das im Laufe des analytischen Prozesses klarzumachen, werde ich zwar freundlich zuhören, wenn er mir von seinen Eltern und von seiner Kindheit erzählt, doch von dem damaligen Geschehen nur das aufnehmen können, was die Triebkonflikte des Patienten erklärt.
Die einstige Realität des Kindes, die meinem Patienten seit jeher nicht mehr emotional zugänglich ist, wird auch für mich nicht zugänglich werden. Sie bleibt ein Teil der »Phantasiewelt« des Patienten, an der ich mit meinen Konzepten und Konstruktionen teilnehmen kann, ohne daß die wirklich geschehenen Traumen aufgedeckt werden.
Wenn ich hingegen den Menschen, der mein Zimmer betritt, von Anfang an mit Fragen konfrontiere, die sich darauf beziehen, was ihm in der Kindheit zugestoßen ist, und wenn ich mich bewußt mit dem Kind im Patienten identifiziere, dann wird sich von der ersten Stunde an ein frühkindliches Geschehen vor uns ausbreiten, das unmöglich hätte auftauchen können, wenn statt der bewußten Identifizierung mit dem einstigen Kind die unbewußte Identifizierung mit den verheimlichenden, erziehenden Eltern meine Haltung bestimmt hätte. Um dieses Auftauchen zu ermöglichen, genügt es nicht, Fragen nach der Vergangenheit zu stellen; es gibt außerdem Fragen, die besser dazu geeignet sind, zuzudecken, als zu öffnen.
Wenn aber das Interesse des Analytikers auf die frühkindlichen Traumen gerichtet ist und er nicht mehr unter dem inneren Zwang steht, die Eltern (die seinen und die des Patienten) schonen zu müssen, wird er in gegenwärtigen Klage des Patienten bereits ohne Schwierigkeiten die Wiederholung einer früheren Situation entdecken. Wenn er z.B. hört, wie der Patient mit unbeteiligtem Gesicht über seine gegenwärtige Partnerbeziehung erzählt, die ihm, dem Analytiker, als äußerst qualvoll vorkommt, wird er sich und den Patienten fragen, welche Qualen er bereits in seiner Kindheit hat aushalen müssen und sie als solche nicht hat erkennen dürfen, um jetzt so ohne jegliche Gemütsbewegung über seine Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und die ständigen Demütigungen in dieser Partnerbeziehung sprechen zu können.
Es kann aber auch sein, daß der Patient mit starken Affekten kommt, die auf andere, neutrale Personen verschoben sind, und völlig affektlos bzw. idealisierend über seine Eltern spricht. Wenn sich der Analytiker für das frühe Trauma interessiert, wird er in kurzer Zeit anhand dessen, wie der Patient sich selber schädigt, realisieren, wie die Eltern einst mit diesem Kind umgegangen sind. Auch die Art, wie der Patient den Analytiker behandelt, ist voll von Hinweisen darauf, wie die Eltern ihn behandelt haben: verachtend, spöttisch, enttäuscht, oder aber Schuldgefühle machend, beschämend, ängstigend, verführend.
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Alle einstigen Register der Kinderstube können sich bereits im ersten Interview zeigen, wenn man darauf hören darf. Ist der Analytiker in seinen eigenen Erziehungszwängen befangen, dann wird er seinem Supervisor oder seinem Kollegen erzählen, wie »unmöglich sich sein Patient benimmt«, wieviele unterdrückte Aggressionen in ihm schlummern, welchen Triebwünschen sie entspringen, und er wird sich bei den erfahrenen Kollegen Rat holen, wie man diese Aggressionen deuten bzw. »hervorholen« könne.
Kann er aber das Leiden des Patienten spüren, das der Patient selber noch nicht spüren darf, dann wird er sich lediglich an seine Voraussetzung halten, daß die demonstrierten Haltungen des Patienten eine Mitteilung und eine Sprache sind, die über Geschehnisse erzählen, von denen dieser vorläufig noch gar nicht anders als eben nur so, wie er es tut, berichten kann und muß. Er wird auch wissen, daß die unterdrückten oder manifesten Aggressionen Antworten und Reaktionen auf Traumatisierungen sind, die zwar vorläufig im Dunkeln bleiben, aber deren bewußtes. emotionales Erlebnis das Ziel der Analyse sein müßte.
Ich habe hier zwei verschiedene, ja ausgesprochen entgegengesetzte Haltungen des Analytikers geschildert. Nehmen wir an, daß ein Patient oder ein Ausbildungskandidat auf der Suche nach einem Behandlungsplatz mit je einem Analytiker dieser verschiedenen Richtungen spricht; nehmen wir ferner an, daß von diesem Erstinterview, sei es für die Klinik oder zu Händen des Unterrichtsausschusses Berichte erstattet werden müssen. Man kann sich leicht vorstellen, daß die beiden Berichte nicht nur voneinander abweichen, sondern von zwei verschiedenen Menschen sprechen. Das ist an sich nicht sehr wichtig, denn solche Berichte bleiben meistens in den Schubladen. Wichtig aber ist der Umstand, daß sich der Interviewte in diesen Gesprächen entweder als Subjekt oder als Objekt erleben kann.
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Im ersten Fall sieht er, manchmal überhaupt zum erstenmal, die Chance, sich selber und seinem Leben zu begegnen und damit seinen unbewußten Traumen näherzukommen, was ihn sowohl mit Angst als auch mit Hoffnung erfüllen kann. Im zweiten Fall ist er in der ihm gewohnten, intellektuellen Selbstentfremdung bereit. sich als Objekt einer weiteren Erziehungsarbeit zusehen. in deren Verlauf er um mit den Worten von Freuds Patientin zu sprechen, sich so schlecht machen darf, wie es für ihn notwendig ist.
Diese Unterschiede in der Haltung des Patienten zu sich selber scheinen mir von weittragender Bedeutung zu sein, nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern für die Gesellschaft. Die Art, wie ein Mensch zu sich selber steht, wirkt sich auch auf seine Umgebung aus, vor allem auf diejenigen, die von ihm abhängig sind, auf seine Kinder und auf seine Patienten. Einer, der sein Innenleben vollständig objektiviert, wird auch die ändern zu Objekten machen. Es ist vor allem diese letzte Konsequenz, die mich dazu bewogen hat, diesen Unterschied in der Haltung deutlich herauszuarbeiten, obwohl ich ja weiß, daß die der zudeckenden Haltung zugrunde liegenden Motive (der Schonung der Eltern, der Verleugnung des Traumas) tiefe, unbewußte Wurzeln haben und kaum mit Büchern oder Argumenten zu ändern sind.
Darüber hinaus haben mich andere Gründe dazu bewogen, über den Unterschied in der Haltung des Analytikers nachzudenken: Ich begegne häufig der Meinung, daß die analytische Arbeit am Selbst, wie ich sie verstehe, nur im Rahmen einer sehr langen klassischen Analyse geleistet werden könne; im Rahmen einer kürzeren Psychotherapie sei dieses Ziel nicht erreichbar. Auch ich war früher davon überzeugt, bin es aber jetzt nicht mehr, weil ich sehe, wieviel Zeit der Patient u.U. verliert, wenn er sich gegen die Theorien seines Analytikers wehren muß, um schließlich nachgeben zu können und sich »sozialisieren« oder »erziehen« zu lassen.
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Ähnliches gilt für Gruppen. Wenn den Mitgliedern der Gruppe zwar das Recht auf ihre Gefühle verbal zugestanden wird, der Therapeut aber vor »Ausbrüchen« gegen die Eltern Angst hat, kann er die Gruppenteilnehmer nicht verstehen und wird u.U. ihre Ratlosigkeit, ihre Aggressionen noch verstärken. Er kann dann entweder diese Gefühle im Chaos enden lassen, oder aber zu mehr oder weniger verschleierten erzieherischen Maßnahmen greifen, indem er an die Vernunft, Moral, Versöhnungsbereitschaft usw. appelliert.
Oft ist das Bemühen des Therapeuten auf die Versöhnung des Patienten mit seinen Eltern ausgerichtet, weil er bewußt davon überzeugt ist und es auch so gelernt hat, daß nur das Verzeihen und Verstehen den inneren Frieden gibt (was in der Welt des Kindes ja auch tatsächlich stimmt!). Unbewußt aber fürchtet der Therapeut möglicherweise den unterdrückten Zorn auf seine eigenen Eltern, wenn er den Patienten zur Versöhnung führt. So rettet er im Grunde (in der therapeutischen Arbeit) seine Eltern vor dem eigenen Zorn, den er — in der Phantasie — für tödlich hält, weil er nie erfahren durfte, daß Gefühle nicht töten. Kann aber der Therapeut seine unbewußte Identifikation mit den erziehenden Eltern ganz aufgeben und sich, als sein Anwalt, mit dem leidenden Kind identifizieren, können dank seines angstfreien Verständnisses in kurzer Zeit Prozesse in Gang kommen, die man früher als Wunder bezeichnet hat. weil ihre Dynamik noch nicht konzeptualisierbar war.
Der Unterschied zwischen den zwei Haltungen könnte auch an einem ganz banalen Beispiel des sogenannten Agierens, das jeder Psychoanalytiker aus seiner Praxis kennt, illustriert werden. Nehmen wir an, ein Patient ruft in einer bestimmten Phase seiner Analyse den Analytiker zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten privat an. Ein unbewußt erziehender Analytiker wird in diesem Verhallen die »mangelnde Frustrationstoleranz« (der Patient kann nicht bis zur nächsten Stunde warten), ein gestörtes Verhältnis zur Realität (der Patient realisiert nicht, daß «ein Analytiker, neben den Stunden mit ihm, auch sein eigenes Leben hat) und andere narzißtische »Defekte« sehen.
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Da der Analytiker selber ein erzogenes Kind ist, wird er Mühe haben, aus seiner eigenen Freiheit heraus dem Patienten Grenzen zu setzen. Er wird nach Regeln suchen, die ihm erlauben, die durch die häufigen Telefonanrufe erzeugten Störungen zu beseitigen, d.h. eigentlich den Patienten zu erziehen.
Kann aber der Analytiker im Verhalten des Patienten die aktive Inszenierung eines passiv erlittenen Schicksals sehen, wird er sich fragen, wie die Eltern mit diesem Kind umgegangen sind und ob das Verhalten des Patienten nicht möglicherweise die Geschichte der Verfügbarkeit des Kindes erzählt, die so weit zurückliegt, daß der Patient sie nicht mit Worten, sondern nur mit seinem unbewußten Verhalten erzählen kann. Dieses Interesse des Analytikers für die frühere Realität wird praktische Konsequenzen haben: er wird nicht versuchen, »richtige Maßnahmen zu treffen«, wird aber auch nicht in Gefahr sein, dem Patienten die Illusion einer ständigen Verfügbarkeit zu geben, die dieser bei den Eltern nie hatte und die er, in illusionärer Weise, seinen Eltern zu geben versuchte. Sobald er mit dem Patienten die frühere Situation sehen kann, braucht er keine erzieherischen Maßnahmen und kann trotzdem oder gerade deshalb seine private Sphäre und Freizeit ernstnehmen und schützen.
Im Begriff des Agierens, das unter den Analytikern beinahe die Bedeutung des »schlechten Benehmens« hat, spiegelt sich die erzieherische Haltung. Ich ziehe es vor, auf diesen Begriff zu verzichten und spreche lieber von Inszenierungen, denen ich eine zentrale Rolle zuschreibe und die für mich nicht eine Unart bedeuten. Es handelt sich dabei vielmehr um eine notwendige, oft dramatische, unbewußte Mitteilung über die frühe Realität.
In einem mir bekannten Fall stellte es sich heraus, daß eine Patientin, die ihren ersten freundlichen und geduldigen Analytiker und seine Familie mit ihren nächtlichen Anrufen zur Verzweiflung brachte, beim nächsten Analytiker sehr schnell herausfinden konnte, daß sie hier unbewußt traumatische Erlebnisse aus ihrer frühen Kindheit inszenierte.
Ihr Vater, der ein erfolgreicher Künstler war, kam oft nach Hause, wenn das Kind schon schlief, nahm es aber dann gerne aus dem Bettchen heraus und spielte mit ihm schöne und spannende Spiele, bis er selber müde wurde und dann das Kind wieder in sein Bettchen zurücklegte. Dieses Trauma des plötzlichen Einbruchs in den ruhigen Schlaf, der starken Stimulierung und des plötzlichen Alleingelassenwerdens inszenierte die Patientin unbewußt mit ihrem Analytiker, und erst, nachdem sie dies beide herausgefunden hatten, konnte sie zum erstenmal ihre aus der damaligen Situation stammenden Gefühle erleben: die Empörung über das Gestörtwerden, die Anstrengung, sich als gute Spielpartnerin zu behaupten, damit der Vater nicht weggehe, und schließlich die Wut und die Trauer über das Verlassenwerden.
In der Inszenierung kam dem Analytiker zuerst die Rolle des geweckten Kindes zu, das sich ja richtig verhalten möchte, um die geliebte Bezugsperson nicht zu verlieren, und zugleich auch die Rolle des realen Vaters, der mit dem Beenden des Telefongespräches das Kind wieder alleine läßt und kränkt. Der erste Analytiker hat dieses sogenannte Agieren nicht in seinem biographischen Sinn verstanden und daher mitagiert. Der zweite ließ sich in der Inszenierung eine frühe Geschichte erzählen, die ihm geholfen hat, im Zuschauerraum mit voller Teilnahme einem Drama beizuwohnen, ohne auf die Bühne zu springen und mitzuspielen. Da er sich von hier aus den Blick auf die Kindheit des Patienten bewahrte, sah er in dessen Übertragungsverhalten nicht den »Widerstand«, sondern die szenische Darstellung des Vaters.
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2. Analysanden beschreiben ihre Analysen
Ich will versuchen, die von mir hier geschilderten zwei verschiedenen Haltungen des Analytikers an drei literarischen Selbstdarstellungen des analytischen Prozesses zu illustrieren: Marie Cardinal: Les mots pour le dire; deutsch: Schattenmund (1977); Tilmann Moser: Lehrjahre auf der Couch, (1974); Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit, (1980).
Sofern ich orientiert bin, handelt es sich bei allen hier betroffenen vier Analytikern um redlich bemühte Persönlichkeiten, die als gut ausgebildete, geschätzte und anerkannte Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gelten. Ich kenne nur zwei von ihnen persönlich, aber zu flüchtig, um daraus etwas über ihre Arbeitsweise zu wissen. So beruht alles, was ich im folgenden über ihre Methoden sagen werde, einzig und allein auf der Lektüre der drei Bücher. Da alle drei Autoren nichts anderes wollen, als ihre subjektive Realität darzustellen, erzählen sie die pure Wahrheit. Wie ich mich in meiner analytischen Arbeit von den Gefühlen des Patienten leiten lasse, so tue ich es auch bei der Lektüre dieser drei Bücher.
Ich bekam aus den Berichten den Eindruck, daß sich alle vier Analytiker (D. v. Drigalski hatte zwei) mit vollem Einsatz um diese Patienten bemühten, sie zu verstehen versuchten und ihnen ihr ganzes fachliches Wissen zur Verfügung stellten. Warum sind die Resultate so verschieden? Kann man sich die Erklärung dafür so leicht machen. daß man einen Analysanden als unheilbar bezeichnet, wenn seine Analyse ein vier Jahre währendes Mißverständnis war? Begriffe wie »negative therapeutische Reaktion« oder »Vorwurfspatienten« erinnern mich an das böse, weil »eigensinnige Kind« der Schwarzen Pädagogik, in der das Kind immer schuld war, wenn die Eltern es nicht verstanden haben.
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Es mag vorkommen, daß wir den Patienten in ähnlicher Weise beschuldigen und ihn als schwierig bezeichnen, wenn wir ihn nicht verstehen können. An diesem Nichtverstehenkönnen ist aber der Patient ebensowenig schuld wie das Kind an den Schlägen seiner Eltern. Wir verdanken es unserer Ausbildung, die genauso irreführend sein kann wie die »altbewährten Prinzipien« unserer Erziehung, die wir von unseren Eltern übernommen haben.
Der Unterschied zwischen der Analyse von Marie Cardinal auf der einen Seite und denjenigen von Tilman Moser und Dörte von Drigalski auf der andern Seite liegt meiner Meinung nach darin, daß im ersten Fall die sehr schwer kranke, unter Lebensbedrohung stehende Patientin im analytischen Raum herausfinden durfte, was ihr ihre Eltern angetan haben, und die Tragik ihrer Kindheit erleben konnte. Dies ist so stark möglich gewesen, daß der Leser diesen Prozeß mitvollzieht und mitfühlt.
Die unbändige Wut und tiefe Trauer über das ihr zugefügte Schicksal führen zur Befreiung von den gefährlichen, chronischen Blutungen in der Gebärmutter, die früher nur chirurgisch und erfolglos behandelt worden waren. Das Aufblühen der vollen Kreativität ist die Folge dieser Trauer. Aus dem Bericht von Marie Cardinal sieht man deutlich, daß hier nicht im Sinne z.B. einer Familientherapie oder einer Transaktionsanalyse gearbeitet wurde, sondern psycho-analytisch, weil sich die Verknüpfungen der tragischen, emotionalen Entdeckungen der kindlichen Realität mit dem Geschehen in der Übertragung für einen fachlich ausgebildeten Leser nachvollziehen lassen.
Auch die andern drei Therapeuten haben sich analytisch verhalten, aber man spürt hier in allen drei Fällen die Bemühung, alles, was der Patient sagt und tut, von der Triebtheorie her zu verstehen. Wenn es in der Ausbildung als Axiom gilt, daß alles, was dem Patienten in der Kindheit geschah, Folge seiner Triebkonflikte war, dann muß der Patient früher oder später dazu erzogen werden, sich als böse, destruktiv, größenwahnsinnig, homosexuell zu erleben, ohne den Grund dafür zu verstehen.
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Denn die als Erziehung bezeichneten narzißtischen Traumen der Kindheit, die Erniedrigung, Verachtung und Mißhandlung, bleiben unberührt und können vom Patienten nicht erlebt werden. Indessen könnte erst das Einbeziehen dieser konkreten Situationen ihm helfen, seine Gefühle der Wut, des Hasses, der Empörung und schließlich der Trauer anzunehmen.
Es gibt zweifellos viele Analysanden, die die Erziehung in der Therapie »gut« überstehen, weil sie sie gar nicht merken. Sie sind durch die Schwarze Pädagogik so daran gewöhnt, daß man sie nicht versteht und häufig noch für ihr Schicksal beschuldigt — sie werden das gleiche in der neuen Situation nicht merken können und sich dem neuen Erzieher anpassen. Mit einem ausgewechselten Überich verlassen sie die Analyse. Doch darüber, daß Menschen wie Tilmann Moser und Dörte von Drigalski, beide schöpferische Persönlichkeiten, daran verzweifelt sind, muß man sich nicht wundern.
Bei Tilman Moser ist die Verzweiflung zwar noch hinter der Idealisierung seines Analytikers verborgen, aber sein nächstes Buch, Gottesvergiftung, zeigt, daß die Aggressionen gegen die Eltern in der Analyse nicht erlebt werden konnten, weil offenbar sowohl der Analytiker als auch die Eltern geschont werden mußten. Bei Dörte von Drigalski führt ihre persönliche Enttäuschung an ihren beiden Analysen zur Ablehnung der Psychoanalyse überhaupt, was begreiflich, aber bedauerlich ist. Denn zumindest am Beispiel von Marie Cardinal (und es gibt deren viel mehr, auch in anderen Ländern) läßt sich zeigen, daß die Psychoanalyse auch zur Entfaltung eines schöpferischen Menschen beitragen kann.
Im Bericht von Dörte von Drigalski sind die tragischen Spuren der Schwarzen Pädagogik besonders deutlich. Abgesehen vom Verhalten der Ausbildungsinstitute, die mancherorts einen wahren Horror vor Originalität zu haben scheinen, stehen wir vor der Tragik der jahrelangen Bemühungen der beiden Analytiker und der Patientin selber, denen es verwehrt war, zu den narzißtischen Traumen der frühen Kindheit Zugang zu bekommen, weil alle drei Menschen unter dem Gebot der Schonung der Eltern und der Beschuldigung des Kindes standen.
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Was die Autorin über ihre Kindheit, ihre Eltern und ihre Brüder berichtet, bleibt deshalb schemenhaft, frei von starken Gefühlen, ähnlich wie bei Tilman Moser und im großen Gegensatz zu Marie Cardinal. Ihre ganze Empörung gilt nun der Psychoanalyse und ihrem letzten Analytiker, der sie nicht verstanden hat. Aber hätte diese Frau vermocht, vier Jahre lang gegen ihre Gefühle anzukämpfen und diese Qual zu ertragen, wenn sie nicht dazu erzogen worden wäre, sich zu überhören und auf die Zähne zu beißen? Doch die Erzieher ihrer ersten Jahre bleiben von ihrer Wut verschont. Das ist auch die Regel, denn das mehr oder weniger bewußte Ziel der Säuglingserzieher ist: das Kindsoll niemals in seinem späteren Leben herausfinden. wie man ihm das Nichtmerken beigebracht hat.
Ohne Schwarze Pädagogik gäbe es keine Schwarze Psychoanalyse, denn die Patienten würden von Anfang an darauf reagieren, wenn man sie nicht verstehen, sie übersehen, überhören oder »verkleinern« würde, damit sie endlich in das Prokrustesbett der Theorien passen.
Ohne Schwarze Pädagogik gäbe es auch vieles andere nicht; es wäre z.B. undenkbar, daß phrasendreschende Politiker auf demokratischem Wege höchste Machtpositionen erlangen könnten. Wenn aber den Wählern in ihrer Kindheit, als sie noch dazu befähigt gewesen wären, das Phrasendreschen mit Hilfe ihrer Gefühle zu entlarven, gerade dies verboten wurde, wird ihnen diese Fähigkeit später abhanden kommen. Die Erlebbarkeit der starken Gefühle der Kindheit und Pubertät (die aber so oft durch Prügel, Erziehung oder gar durch Drogen abgetötet werden) könnte dem Einzelnen eine wichtige Orientierungshilfe bieten. Mit dieser Hilfe würde er schneller durchschauen, ob der andere, z.B. der Politiker, aus eigener, erlebter Erfahrung spricht oder nur bewährte Sprüche klopft, um seine Wähler zu manipulieren.
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Unser Erziehungssystem bietet das fertige Geleise, dem man nur seine Züge anzupassen braucht, um dahin fahren zu können, wohin einen der Machthunger lockt. Man muß nur die Register ziehen, die die einstigen Erzieher eingebaut haben.
Die lähmende Bindung an bestimmte Normen, Bezeichnungen und Etiketten ist auch bei manchen Menschen deutlich zu erkennen, die sich durchaus ehrlich und mit vollem Einsatz im politischen Kampf engagieren. Aber der politische Kampf ist bei ihnen nicht von Partei, Organisation, Ideologie wegzudenken. Da die folgenschwere, unser Leben und den Frieden bedrohende Rolle der Erziehung bisher so lange verborgen geblieben ist, haben die Ideologien diese Tatsache noch nicht aufnehmen bzw. keine intellektuellen Waffen gegen diese Erkenntnis (falls sie sie leugnen müssen) entwickeln können.
Der Tatsache der sehr frühen Konditionierung des Menschen zum Gehorsam, zur Abhängigkeit und zur Gefühlsunterdrückung und deren Folgen hat sich meines Wissens nach, keine Ideologie »angenommen«. Das ist auch verständlich, denn es würde sie vermutlich das Leben kosten. So halten sich viele Menschen für politisch aktiv, wenn sie mit Hilfe des Lüftens versuchen, den aufsteigenden Rauch zu beseitigen, sich allenfalls mit abstrakten Theorien begnügen, die dessen Herkunft erklären, und in aller Ruhe die Tatsache ignorieren, daß es in ihrer Nähe lichterloh brennt. Und solange für dieses Feuer keine Etikette besteht, wird es in bestimmten Kreisen je nachdem als »apolitisch« oder »unanalytisch« bezeichnet.
Meine Hypothese, daß Adolf Hitler seine große Anhängerschaft den unmenschlichen, grausamen Prinzipien der Säuglings- und Kindererziehung verdankte, die damals in Deutschland herrschte, bestätigt sich auch in Ausnahmen. Ich bin der Frage nachgegangen, wie die beiden jungen Widerstandskämpfer im Dritten Reich, Sophie und Hans Scholl, aufgewachsen sind.
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Es hat sich herausgestellt, daß sie es tatsächlich der toleranten und freien Umgebung ihrer Kindheit verdankten, daß sie, bereits in der Hitlerjugend, die Parolen des Führers während des Nürnberger Treffens durchschauten, während ja beinahe alle ihre Altersgenossen vom Führer restlos begeistert waren. Aber die Geschwister Scholl trugen in sich bereits ein anderes, freieres Menschenbild, mit dem sie Hitler vergleichen konnten und das ihren Kameraden fehlte (vgl. A. Miller, 1980). Die Seltenheit dieser Voraussetzung erklärt auch, warum manipulatorische, therapeutische Methoden von den Patienten kaum durchschaut werden können: sie repräsentieren ein System, das dem Patienten ganz selbstverständlich erscheint und daher gar nicht auffallen kann.*
Was wäre mit einer Frau wie Marie Cardinal geschehen, wenn sie zu einem Analytiker gekommen wäre, der ihr ihre Blutungen nur als Abwehr der Weiblichkeit, als Ausdruck des Penisneides, als Wendung der Destruktivität gegen sich selbst gedeutet hätte? Darüber kann man nur spekulieren. Wäre der Analytiker sonst ein netter Mensch gewesen, hätte sie sich vielleicht in ihn verliebt und zunächst die Symptome verloren. Aber wenn sie nicht bis zur Realität ihrer Mutter durchgedrungen wäre, hätte sie ihre unbändige Wut und ihren Haß auf die Mutter niemals in diesem Ausmaß zulassen können, weil sie sich, solange ihr ihre Gefühle nicht als Reaktionen begreiflich geworden wären, wie ein Ungeheuer vorgekommen wäre.
* Inge Aicher-Scholl berichtet: Als mein Bruder aus Nürnberg zurückkam, erschien er uns völlig verändert: müde, deprimiert und verschlossen. Er sagte nichts, aber jeder spürte, daß etwas passiert sein mußte zwischen ihm und der Hitlerjugend. Nach und nach erfuhren wir es. Der unsinnige Drill, die vormilitärischen Aufmärsche, das dumme Geschwätz, die ordinären Witze — das alles hatte ihn fertiggemacht. Von morgens bis abends Antreten, immer wieder Reden, und dann diese künstliche Begeisterung. Zeit für ein vernünftiges Gespräch blieb nicht. Was in Nürnberg passiert war, irritierte Sophie wie uns alle. Nürnberg — das war noch nicht der Bruch, wohl aber der erste Riß, der uns von dieser Welt der Hitlerjugend und des BDM trennte. (Vinkc, 1980, S. 45).
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Das Ergebnis wäre gewesen, daß sie in ihrer Verzweiflung wahrscheinlich die Analyse nach Jahren hätte aufgeben müssen oder mit ihren »unbegründeten«, unverstandenen Haßgefühlen in einer Klinik gelandet wäre. Ihre Falldarstellung hätte nicht sie geschrieben, sondern ihr Analytiker als Beispiel einer unheilbaren Krankheit, einer negativen therapeutischen Reaktion oder so ähnlich. Wenn der Analytiker ihr aber von Anfang an nicht sympathisch gewesen wäre, hätte sich sehr früh eine sado-masochistische Übertragung eingestellt, in deren Verlauf Deutungen immer mehr den Charakter von verkappten Beschuldigungen angenommen hätten. Und doch gibt es immer, häufiger Patientinnen in der Art von Marie Cardinal, denen wir mit den üblichen Etiketten nicht mehr beikommen können.
Der Unterschied zwischen den zwei entgegengesetzten Haltungen, die ich hier anhand der drei Beispiele zu illustrieren versucht habe, läßt sich nicht mit dem Begriff »rekonstruktive Deutungen« umschreiben. Wenn der Analytiker unter dem Tabu des Vierten Gebotes steht, wird er sich bei aller Bemühung um Rekonstruktionen mit den verurteilenden Eltern gegen den Patienten verbünden und ihn früher oder später erziehen wollen, indem er an das Verständnis des Patienten für dessen Eltern appelliert.
Ohne jeden Zweifel waren unsere Eltern auch Opfer, aber primär nicht die ihrer Kinder, sondern ihrer eigenen Eltern. Es ist notwendig, die ungewollte, aber von der Gesellschaft sanktionierte Verfolgung der Kinder durch ihre Eltern, die man Erziehung nennt, zu sehen, damit der Patient von dem ihm von klein auf anerzogenen Gefühl, daß er am Leiden seiner Eltern schuld sei. frei wird. Das setzt beim Analytiker die Befreiung von Schuldgefühlen den eigenen Eltern gegenüber und die Sensibilisierung für narzißtische Kränkungen im frühen Alter voraus. Wenn ihm das letztere fehlt, wird er das Ausmaß der Verfolgung bagatellisieren. Er wird sich nicht in die Demütigungen eines Kindes einfühlen können, da seine eigenen frühkindlichen Demütigungen niemals aus der Verdrängung aufkommen konnten.
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Wenn er gelernt hat, sich nach dem Motto »Du bringst mich noch ins Grab« für alles schuldig zu fühlen, um die Eltern zu schonen, wird er die ihm unverständlichen Aggressionen des Patienten so beruhigen wollen, daß er immer wieder die positiven Seiten der Eltern hervorhebt, was man auch als »die Aufrichtung der guten Objekte« im Patienten bezeichnet.
Wenn die Mutter ihren Säugling als böse und destruktiv erlebt, dann muß sie ihn zähmen und erziehen. Wenn sie aber seine Wut und seinen Haß als Reaktionen auf schmerzhafte Erlebnisse bezieht, deren Bedeutung ihr selber noch verschlossen bleiben mag, dann wird sie nicht versuchen, das Kind zu erziehen, sondern es seine Gefühle erleben lassen. Das gilt auch für den analytischen Prozeß. Das Beispiel von Marie Cardinal zeigt, warum es nicht notwendig ist, ein »gutes Objekt im Patienten aufzurichten« und ihm immer wieder zu sagen, daß seine Eltern auch positive Seiten hatten und sich um ihn bemühten.
Das ist ja nie von ihm in Frage gestellt worden, im Gegenteil: das Kind braucht das Positive nicht im Dienste des Überlebens zu verdrängen (vgl. A. Miller, 1979). Wenn der Zorn der frühen Kindheit und die spätere Trauer erlebt worden sind, können sich die freundlichen Gefühle, die nicht auf Pflichtgefühl, Schuldgefühlen und Verleugnungen gründen, von selber einstellen, sofern Voraussetzungen dafür vorhanden waren. Sie sind aber auf jeden Fall von der bedingungslosen, abhängigen, alles verzeihenden und daher tragischen Liebe des kleinen Kindes zu seinen Eltern zu unterscheiden.
Wir können Sigmund Freud keinen Vorwurf daraus machen, daß er ein Kind seiner Zeit war und daß er als Schöpfer der Psychoanalyse noch keine Möglichkeit hatte, für sich selber eine Couch zu beanspruchen. Das ist kein Fehler, sondern eine Not. Dies anzuerkennen schließt aber wiederum nicht aus, daß man die Grenzen von Freuds Selbstanalyse sieht.
In der verbliebenen Idealisierung der Eltern und in der Zurückführung der Ursache des »neurotischen Elends« auf die Triebkonflikte des Kindes treten diese Grenzen deutlich zu Tage. Die hinter der Idealisierung verborgenen reaktiven Aggressionen als Antworten auf narzißtische Kränkungen konnte Freud mit niemandem erleben. Vielleicht übertrug er sie später auf Anhänger, die ihn nicht gut genug oder, wie er meinte, nicht richtig verstanden, wie Jung und Adler. Begreiflicherweise aber konnte er diese Enttäuschungen nicht im Zusammenhang der frühen Kindheit verarbeiten.
Freuds Situation ist indes nicht die unsere. Wir haben als Analytiker die Möglichkeit, eine Analyse durchzumachen und eine zweite und dritte wenn nötig. Außerdem leben wir mit einer Jugend, die viel offener, ehrlicher und kritischer ihren Eltern gegenübersteht, als es zu Freuds Zeiten je möglich gewesen war. Von dieser Jugend, von unseren Kindern, Schülern und Patienten können wir einiges lernen, sobald wir uns von der ängstlichen Dogmenabhängigkeit freigemacht haben.
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