Teil 2
Die frühkindliche Realität in der Praxis der Psychoanalyse
der gott meiner kindheit trägt schwarze gewänder, hörner auf dem haupt und eine axt in der hand.
wie denn habe ich mich trotzdem an ihm vorbeidrücken können?
ich bin mein leben lang geschlichen.
durch meine landschaft, mit dem bisschen leben unter dem arm, von dem ich immer meine, es gestohlen zu haben.
(Aus: Mariella Mehr, Steinzeit, 1981)
Aus: Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, 1980:
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In den Entbindungsstationen der westlichen Welt besteht kaum Aussicht, von Wölfinnen getröstet zu werden. Das Neugeborene, dessen Haut nach der uralten Berührung durch einen weichen, wärmeausstrahlenden, lebendigen Körper schreit, wird in trockenes, lebloses Tuch gewickelt. Es wird, so sehr es auch schreien mag, in einen Behälter gelegt, und dort einer qualvollen Leere ausgeliefert, in der keinerlei Bewegung ist (zum erstenmal in seiner gesamten Körpererfahrung, während der Jahrmillionen seiner Evolution oder seiner glückseligen Ewigkeit im Uterus). Das einzige Geräusch, das es hören kann, ist das Geschrei anderer Opfer, die die gleiche unaussprechliche Höllenqual leiden. Das Geräusch kann ihm nichts bedeuten. Es schreit und schreit; seine an Luft nicht gewöhnten Lungen werden von der Verzweiflung in seinem Herren überanstrengt. Keiner kommt. Da es seiner Natur gemäß in die Richtigkeit des Lebens vertraut, tut es das einzige, was es kann: es schreit immer weiter. Schließlich schläft es erschöpft ein — ein zeitloses Leben lang später.
Es erwacht in bewußtloser Angst vor der Stille, der Reglosigkeit. Es schreit. Es flammt von Kopf bis Fuß vor Bedürfnis, vor Sehnsucht, vor unerträglicher Ungeduld. Es schnappt nach Luft und schreit, bis sein Kopf von dem Geräusch angefüllt ist und pulsiert. Es schreit, bis ihm die Brust wehtut, bis seine Kehle wund ist. Es kann den Schmerz nicht länger ertragen; sein Schluchzen wird schwächer und hört auf. Es lauscht. Es öffnet und schließt die Fäuste. Es rollt den Kopf von einer Seite zur anderen. Nichts hilft. Es ist unerträglich. Wieder fängt es zu schreien an, aber seiner überanstrengten Kehle wird das zuviel; es hört bald wieder auf. Es versteift seinen von Sehnsucht gefolterten Körper und erfährt eine Andeutung von Erleichterung. Es wedelt mit den Händen und stößt mit den Füßen. Es hört auf, fähig zu leiden, doch unfähig zu denken, unfähig zu hoffen. Es lauscht. Dann schläft es wieder ein.
Plötzlich wird es emporgehoben; die Erwartungen dessen, was ihm zuteil werden muß, melden sich wieder. Die nasse Windel wird entfernt. Erleichterung. Lebendige Hände berühren seine Haut. Seine Füße werden hochgehoben, und ein neues, knochentrockenes, lebloses Stück Stoff wird ihm um die Lenden gewickelt.
Sofort ist es wieder so, als hätte es die Hände nie gegeben, und die nasse Windel auch nicht. Es gibt keine bewußte Erinnerung, keine Spur von Hoffnung. Das Baby befindet sich in unerträglicher Leere, zeitlos, reglos, ruhig, voll endlosen ungestillten Verlangens. Sein Kontinuum probiert seine Notmaßnahmen aus, doch die sind alle nur geeignet, kurze Ausfälle bei ansonsten richtiger Behandlung zu überbrücken oder Erleichterung herbeizurufen durch jemanden, von dem angenommen wird, daß er sie gewähren will. Für den gegebenen Extremfall hat das Kontinuum keine Lösung. Die Situation ist jenseits seiner immensen Erfahrung. Nach nur einigen Stunden Atmens hat das Baby bereits einen Grad von Entfremdung von seiner Natur erreicht, der jenseits der Rettungskräfte des mächtigen Kontinuums liegt. Die Zeit seines Aufenthaltes im Mutterleib war aller Wahrscheinlichkeit nach die letzte in jenem ungebrochenen Wohlgefühl verbrachte, in welchem es der ihm angeborenen Erwartung zufolge das ganze Leben hätte zubringen sollen. Sein Wesen gründet auf der Annahme, daß die Mutter sich angemessen verhält und daß die Motivationen und das darauf abgestimmte Handeln beider einander naturgemäß wechselseitig dienen werden.
Jemand kommt und hebt es sacht in die Höhe. Das Baby lebt auf. Es wird zwar für seinen Geschmack etwas zu zimperlich getragen, aber wenigstens gibt es Bewegung. Jetzt fühlt es sich am richtigen Platz. Alle durchlittene Todesangst ist nicht mehr existent. Es ruht in den umschließenden Armen; und obwohl seine Haut von dem Stoff keine Erleichterungsbotschaft empfängt, keine Nachricht von lebendigem Fleisch dicht an dem seinen, berichten ihm Hände und Mund, daß alles normal sei. Die entschiedene Lebensfreude, die im Kontinuumzustand normal ist, ist fast vollständig. Geschmack und Struktur der Brust sind da, die warme Milch fließt in seinen begierigen Mund, es gibt Herzschlag, welcher ihm ein Bindeglied hätte sein sollen, eine Versicherung des Zusammenhangs mit dem Mutterleib, seine schwache Sehkraft nimmt Bewegung wahr. Auch der Ton der Stimme ist richtig. Einzig der Stoff und der Geruch (seine Mutter gebraucht Cologne) lassen etwas vermissen. Es saugt, und wenn es sich satt und rosig fühlt, schlummert es ein.
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Beim Aufwachen befindet es sich in der Hölle. Keine Erinnerung, keine Hoffnung, kein Gedanke kann ihm die tröstliche Erinnerung an seinen Besuch bei der Mutter in die Öde seines Fegefeuers bringen. Stunden vergehen und Tage und Nächte. Es schreit, ermüdet, schläft ein. Es wacht auf und näßt die Windeln. Jetzt verbindet sich damit kein Wohlgefühl mehr. Kaum wurde ihm von seinen inneren Organen die Freude der Erleichterung vermittelt, da wird diese schon wieder von stetig anwachsendem Schmerz abgelöst, wenn der heiße, säurehaltige Urin seinen schon wundgeriebenen Körper angreift. Es schreit. Seine erschöpften Lungen müssen schreien, um das scharfe Brennen zu übertönen. Es schreit, bis der Schmerz und das Schreien es erschöpfen, ehe es wieder einschläft.
In seiner Klinik, die keineswegs ein Ausnahmefall ist, wechseln die fleißigen Schwestern alle Windeln nach Zeitplan, ob sie nun trocken, feucht oder schon ganz durchnäßt sind; und sie schicken die Kinder völlig wund nach Hause, wo jemand, der Zeit hat für solche Dinge, sie gesundpflegen muß.
Wenn es in das Zuhause seiner Mutter gebracht wird (das seine kann man es wohl kaum nennen), ist es bereits wohlvertraut mit dem Wesen des Lebens. Auf einer vorbewußten Ebene, die all seine weiteren Eindrücke bestimmen wird, wie sie ihrerseits von diesen ihre Prägung erfährt, kennt es das Leben als unaussprechlich einsam, ohne Reaktion auf die von ihm ausgesandten Signale und voller Schmerz.
Aber noch hat es nicht aufgegeben. Solange Leben in ihm ist, werden die Kräfte seines Kontinuums immer wieder versuchen, ihr Gleichgewicht zurückzuerlangen.
Das Zuhause ist im wesentlichen von der Entbindungsstation nicht zu unterscheiden, bis auf das Wundsein. Die Stunden, in denen der Säugling wach ist, verbringt er in Sehnsucht, Verlangen und in unablässigem Warten darauf, daß »Richtigkeit« im Sinne des Kontinuums die geräuschlose Leere ersetzen möge. Für wenige Minuten des Tages wird sein Verlangen aufgehoben und sein schreckliches auf der Haut kribbelndes Bedürfnis nach Berührung, Gehalten- und Herumgetragenwerden wird erfüllt.
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Seine Mutter ist eine, die sich nach viel Überlegung dazu entschlossen hat, ihm Zugang zu ihrer Brust zu gewähren. Sie liebt ihn mit einer bis dahin nicht gekannten Zärtlichkeit. Anfangs fällt es ihr schwer, ihn nach dem Füttern wieder hinzulegen, besonders weil er so verzweifelt dabei schreit. Aber sie ist überzeugt davon, daß sie es tun muß, denn ihre Mutter hat ihr gesagt (und sie muß es ja wissen), daß er später einmal verlogen sein und Schwierigkeiten machen wird, wenn sie ihm jetzt nachgibt. Sie will alles richtig machen; einen Augenblick lang fühlt sie, daß das kleine heben, das sie in den Armen hält, wichtiger ist als alles andere auf Erden.
Sie seufzt und legt ihn sanft in sein Bettchen, das mit gelben Entchen verziert und auf sein ganzes Zimmer abgestimmt ist. Sie hat viel Arbeit hineingesteckt und es mit flauschigen Vorhängen, einem Teppich in der Form eines Riesenpanda, einem weißen Toilettentisch, Badewanne und Wickelkommode eingerichtet. Dazu gehören auch Puder, Öl, Seife, Haarwaschmittel und Haarbürste — alles versehen mit und eingewickelt in besonderen Baby-Farben. An der Wand hängen Bilder von Tierkindern, die als Menschen angezogen sind. Die Kommode ist voll kleiner Unterhemdchen, Strampelanzüge, Schühchen, Mützchen, Handschuhe und Windeln. In ansprechendem Winkel steht oben drauf ein wollenes Spielzeugschaf und eine Vase mit Blumen — die von ihren Wurzeln abgeschnitten wurden, denn die Mutter »liebt« auch Blumen.
Sie glättet dem Baby das Hemdchen und bedeckt es mit einem bestickten Laken und einer Decke, die seine Initialen trägt. Sie nimmt sie mit Befriedigung wahr. Nichts ist ausgelassen worden, um das Babyzimmer perfekt auszustatten, wenngleich sie und ihr junger Ehemann sich all die Möbel, die sie für die anderen Zimmer des Hauses planen, noch nicht leisten können. Sie beugt sich über den Säugling und küßt ihn auf die seidige Wange; dann geht sie zur Tür, während der erste qualvolle Schrei seinen Körper durchschüttelt.
Sacht schließt sie die Tür. Sie hat ihm den Krieg erklärt. Ihr Wille muß über den seinen die Oberhand behalten. Durch die Tür hört sie Töne, als würde jemand gefoltert. Ihr Kontinuum erkennt sie als solche. Die Natur gibt kein eindeutiges Zeichen von sich, daß jemand gefoltert wird, wenn dies nicht wirklich der Fall ist. Es ist genau so ernst, wie es sich anhört.
Sie zögert. Ihr Herz wird zu ihm hingezogen, doch sie widersteht und geht weiter. Er ist soeben frisch gewickelt und gefüttert worden. Deshalb ist sie sicher, daß ihm in Wirklichkeit nichts fehlt; und sie läßt ihn weinen, bis er erschöpft ist.
Er wacht auf und schreit wieder. Seine Mutter blickt kurz durch die Tür, um sich zu vergewissern, daß er richtig liegt; leise, um keine falsche Hoffnung auf ihre Aufmerksamkeit in ihm zu erwecken, schließt sie die Tür wieder. Sie läuft rasch in die Küche zu ihrer Arbeit und läßt diese Tür offen, damit sie das Baby hören kann, falls »ihm irgend etwas zustößt«.
Die Schreie des Säuglings gehen in zitterndes Wimmern über. Da niemand antwortet, verliert sich die Antriebskraft seiner Signale in der Verwirrung lebloser Leere, wo schon lange Erleichterung hätte eintreten müssen. Er blickt um sich. Jenseits der Stäbe seines Gitterbettchens gibt es eine Wand. Das Eicht ist trüb. Er kann sich nicht umdrehen. Er sieht nur die Gitterstäbchen, unbeweglich, und die Wand. Aus einer fernen Welt hört er sinnlose Geräusche. In seiner Nähe ist alles still. Er sieht auf die Wand, bis ihm die Augen zufallen. Wenn sie sich später wieder öffnen, sind Gitterstäbe und Wand genau wie vorher, doch das Eicht ist noch trüber.
(Aus: Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, 1980.)
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1. Einleitung
Ich sehe mich zuweilen sowohl von außen als auch in meinem Innern mit der Frage konfrontiert, wie ich eigentlich meine Zugehörigkeit zur psychoanalytischen Bewegung verstehe. Als ich das Drama geschrieben habe, meinte ich noch, daß sich Freuds Triebtheorie mit meinen Erfahrungen verbinden ließe, und sah meinen Beitrag zur Behandlung narzißtischer Störungen als eine in vielen Fällen notwendige Vorarbeit für die Behandlung von »Konfliktneurosen«. Je intensiver ich mich aber mit den theoretischen Konsequenzen meiner Erfahrungen befasse, je genauer und unvoreingenommener ich andererseits die überlieferten, theoretischen Konzepte auf ihren Erfahrungsgehalt prüfe, je deutlicher mir ihre Funktion im ganzen Gefüge der gesellschaftlichen Verdrängung hervorzutreten scheint, um so mehr zerbröckelt für mich die Gültigkeit der Freudschen Triebtheorie und um so dringlicher wird mein Bedürfnis nach Abgrenzung.
Ich verdanke der Methode Freuds Einblicke in die menschliche Seele, die über all das hinausgehen, was mir das Studium der Philosophie je geboten hat. Aber gerade die konsequente Anwendung seiner Methode konfrontierte mich mit Wahrheiten, die für mich einen Teil seiner Theorien widerlegen. Diese von mir erfahrenen Wahrheiten kann ich nicht aufgeben, ohne mich selbst aufzugeben. So bin ich also genötigt, ihnen treu zu bleiben, auch in denjenigen Punkten, in denen sie sich von den Wahrheiten meiner Lehrer entfernen.
Ich will im folgenden aufzuzeigen versuchen, wo ich meine, daß ich mit der Psychoanalyse als Theorie einen gemeinsamen Boden noch finde und wo ich diesen Boden nicht mehr sehen kann. Ich betrachte mich als Psychoanalytikerin, sofern ich folgende Prämissen anerkenne:
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1. Jeder Mensch ist durch seine Kindheit geprägt (das bedeutet nicht: determiniert).
2. Die neurotische Entwicklung wurzelt in der Kindheit.
3. Die Methode der freien Assoziation und des analytischen Settings (Grundregel, Couch, Abstinenzregel) ermöglichen die Inszenierung des Kindheitsdramas in der Übertragung und das Einsetzen eines Reifungsprozesses, der in der Neurose blockiert war.
4. Die Persönlichkeitsveränderung im analytischen Prozeß beruht nicht auf korrektiven Erfahrungen, sondern auf den Einsichten, die sich durch Wiederholen, Erinnern und Durcharbeiten formen.
Diese vier Punkte mögen entscheidend dabei mitwirken, wenn ich meine Lehrer nicht bei C. G. Jung, Adler und den unzähligen anderen Schulen sehe. Das für mich entscheidende Erlebnis der Bedeutung der frühen Kindheit scheint mir in der analytischen Psychologie von C. G. Jung und seinen Nachfolgern keinen gebührenden Platz zu haben. Auch bei Alfred Adler, der zwar das Ohnmacht-Macht-Problem wie wohl kein anderer gesehen hat, können die vielfältigen Momente eines Kinderschicksals vielleicht nicht ihre volle Würdigung finden, solange sich seine Anhänger mit ihrer Schematisierung (wie z.B. organische Minderwertigkeit) begnügen und vor allem den teleologischen Gesichtspunkt betonen.
In der Logotherapie von Frankl z.B., die auf die »Sinnfindung« ausgerichtet ist, geht es vorwiegend darum, daß der Mensch den auf ihn wartenden Sinn erkennt und danach lebt. Es ist zweifellos richtig, daß ein Mensch Depressionen bekommt, wenn er sein Leben als sinnlos empfindet, aber die Frage, warum ein Mensch sein Leben als sinnlos erfährt, wird in der Logotherapie kaum eine Antwort finden, wenn ihr die Kindheitsdimension fehlt. Doch trotz dieser gemeinsamen Basis mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds sehe ich zwischen ihr und meinen Erkenntnissen entscheidende Unterschiede.
1. Der Ursprung einer Neurose liegt meiner Meinung nach nicht in der Verdrängung des Triebkonfliktes, wie es bei Freud hieß, sondern in der Unmöglichkeit, früh erfahrene Traumatisierungen zu artikulieren, und in der Notwendigkeit, diese Erlebnisse zu verdrängen.
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2. Die Eltern meiner Analysanden sind für mich nicht nur Objekte deren aggressiver und libidinöser Wünsche, sondern auch reale Personen, die ihm, sehr oft ohne es zu wissen und zu wollen, reale und nicht nur phantasierte Schmerzen zugefügt haben.
3. Die Eigenschaften und Handlungen dieser Eltern und die einst ausgebliebene emotionale Antwort darauf finden zu dürfen, führt zu größerer Integrationsfähigkeit des Patienten.
4. Dieses Finden innerhalb der Übertragung und Gegenübertragung und mit Hilfe der Phantasien, Gefühle und Inszenierungen ist nur dann möglich, wenn der Analytiker beim Zuhören des Patienten keine erzieherischen Ziele verfolgt, d.h. wenn er...
a) die Eltern des Patienten nicht vor dessen Vorwurf verteidigt, weil er seine eigenen Eltern nicht mehr schonen muß;
b) das Wissen über die Rechtlosigkeit des Kindes in unserer Kulturgeschichte integriert hat;
c) die reaktive Bedeutung der Destruktionswünsche nicht mit unverbindlichen Theorien über den Todestrieb zudeckt;
d) bei seiner Anwaltsfunktion bleibt und sich weder vom Patienten noch von seinen eigenen anerzogenen Maßstäben zum Richter machen läßt.5. Ich kann das Problem der infantilen Sexualität nicht isoliert betrachten, sondern sehe es im Zusammenhang mit meinem Wissen darüber, für was alles Kinder von ihren Eltern gebraucht werden können (siehe Teil C). Was Freud unter libidinösen Wünschen versteht, kann ich auch kaum von den narzißtischen Bedürfnissen des Kindes nach Echo, Respekt, Achtung, Spiegelung, Angenommen- und Verstandenwerden trennen.
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6. Die Situation des Kindes zwischen Vater und Mutter fuhrt zweifellos zu verschiedenartigen Gefühlen, Affekten, Ängsten, Konflikten und Problemen, die man als ödipal bezeichnen kann, die ich aber anders als Freud verstehe (siehe Teil C 3). Den »ödipalen Konflikt« und die Notwendigkeit seiner Verarbeitung halte ich bei weitem nicht für die einzige Quelle neurotischer Entwicklung.
7. Heilungsprozeß setzt ein, wenn die einst ausgegebenen, unterdrückten Reaktionen auf Traumatisierungen (wie Angst, Wut, Zorn, Verzweiflung, Entsetzen, Schmerz, Trauer) in der Analyse artikuliert werden können. Damit verschwinden die Symptome, deren Funktion darin bestand, das unbewußte Trauma in einer verschlüsselten, entfremdeten und sowohl für den Betreffenden als auch für die Umgebung unverständlichen Sprache auszudrücken. — Dieser Satz widerspricht zwar der Praxis vieler Psychoanalytiker, deren Bemühungen darauf zielen, bei ihren Patienten Einsicht oft nur intellektueller Art in die eigenen Triebkonflikte zu bewirken. Er widerspricht aber nicht dem Vorgehen Sigmund Freuds in der Zeit vor seiner Entdeckung der angeblichen Allgegenwart des Ödipuskomplexes. Wenn ich mich also in diesem Buch von Sigmund Freud abgrenze, so meine ich damit seine Schriften nach 1897. In seiner Arbeit Zur Ätiologie der Hysterie (1896) hingegen sehe ich eine Bestätigung meiner eigenen Erfahrungen.
*
Aus den oben geschilderten Differenzen zwischen meiner Theorie und Praxis und derjenigen der klassischen Psychoanalyse ergibt sich für mich nicht die Notwendigkeit, das Setting der Psychoanalyse zu ändern, obwohl ich jetzt nicht sagen kann, daß sich diese Frage nicht in einigen Jahren für mich neu stellen könnte. Ich könnte mir vorstellen, daß sich kürzere und effizientere Behandlungen ergeben könnten, als dies jetzt der Fall ist und als dies auch mir in meiner langjährigen Praxis möglich war, wenn der Analytiker die Traumatisierungen der frühen Kindheit ernstzunehmen vermag, ohne die Eltern schonen zu müssen.
Die theoretischen Gesichtspunkte, die ich jetzt im Schreiben entwickeln konnte, müßten erst in der Praxis ausprobiert werden. In einigen wenigen Kontrollen mit jüngeren Kollegen, denen es möglich war, die nichtpädagogische Haltung konsequent einzunehmen, drängte sich mir mehrmals die Frage auf, ob mit der radikalen Befreiung der Psychoanalyse von ihren pädagogischen Spuren nicht eine viel wirksamere Behandlungsmöglichkeit erreicht werden könnte.
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(B) 2. Psychoanalyse ohne Pädagogik
Wie ich meine Alternative zur orthodoxen, auf Deutungen der »Triebkonflikte« beruhenden Analyse verstehe, ließe sich von den vielen im Drama beschriebenen Beispielen ableiten. Da ich aber immer wieder um eine noch genauere theoretische Konzeptualisierung gebeten werde, möchte ich dies in aller Kürze versuchen.
1. Der Analytiker ist bestrebt, vollständig und unter allen Umständen, zu seinem Patienten zu stehen, nicht zu urteilen, ihn in allem, was er sagt und tut, zu respektieren, ihn ernstzunehmen und ihn, so weit wie möglich, zu verstehen.
2. Diese Haltung ist nicht mit »Liebe« zu verwechseln. Zunächst muß man sagen, daß Liebenkönnen ein Geschenk ist, dessen wir nicht durch einen Entschluß oder einen Willensakt teilhaftig werden. Dann aber ist Liebe mit der Beziehung des Therapeuten zum Patienten vielleicht sogar unvereinbar, weil sie die so notwendige Abstinenzregel verletzen müßte und die ganze Behandlung damit zerstören würde. Lieben kann ich, wenn ich mich frei fühle, meine Gefühle zu zeigen, und zugleich meine relative Abhängigkeit vom geliebten Menschen akzeptieren kann. Beides schließt die Abstinenzregel aus, die darin besteht, daß die analytische Situation nicht der Tummelplatz für die Gefühle des Analytikers, sondern lediglich für die des Patienten ist — nur dieser hat hier das Recht, alle seine Gefühle zu artikulieren.*
* Ich habe mich bei diesem für mich selbstverständlichen Punkt länger aufgehalten, weil ich auch schon der Auffassung begegnet bin, der Analytiker könne doch nicht acht Stunden am Tag »Liebe geben« und müsse daher eine Technik »zur Hand haben«. Obwohl ich das Wort Technik bewußt nicht gebrauche, ist mir eine Konservenvorstellung der Liebe oder »Mutterliebe« ebenso fremd. Sie enthält die Anmaßung und Verlogenheit der Schwarzen Pädagogik und ist in das Vokabular einiger Therapieformen eingedrungen, nicht aber, soviel ich weiß, in dasjenige der klassischen Psychoanalyse, das sich viel lieber an das Wort »Technik« hält.
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3.) Der Analytiker übernimmt nicht real die Rolle der autoritären Eltern, auch wenn er, in der Übertragung, zu ihnen gemacht wird, d. h. er kränkt den Patienten nicht mit Schweigen, mit autoritären, einseitigen Abmachungen, mit unempathischen, versachlichenden Deutungen, die seine Überlegenheit demonstrieren. Er stellt Fragen und zeigt damit, daß er nicht alles weiß. Wenn der Patient ihn mit Fehlern konfrontiert, gibt er sie zu; er muß nicht die Fehlerlosigkeit der Autoritätspersonen verteidigen.
(4.)Der Patient erfährt, a) daß der Analytiker an der Geschichte seiner Kindheit interessiert ist und in allem, was in der Gegenwart und in der Übertragung geschieht, die Mitteilungen und Inszenierungen der verdrängten Traumen sucht, und b) daß er mit dem Patienten die Sprache seines Wiederholungszwanges erlernen möchte.
All das führt beim Patienten zu folgenden Schritten;
1. Er macht, oft zum erstenmal in seinem Leben, die Erfahrung einer begleitenden Person, eines Anwalts. Damit wird ihm nicht eine »korrektive Erfahrung« vermittelt (denn nichts kann die Vergangenheit korrigieren), sondern der Durchbruch zur eigenen Realität und zur Trauer ermöglicht. Ein Mensch, der diese Begleitung nie erfahren hat, kann ja von seiner früheren Situation kaum berichten, weil er nicht weiß, daß es etwas anderes überhaupt geben kann.
2. Die gegenwärtige und vergangene Realität bekommen immer deutlichere Konturen. Erst durch das Verständnis des Analytikers erfährt er seine Einsamkeit und sein Nie-verstanden-worden-sein, erst durch dessen Redlichkeit entdeckt er die Lüge in seinem Leben, durch dessen Respekt die eigene Selbstverachtung. Erst jetzt, dank des Gegenteils des Gewohnten, fällt ihm das Gewohnte in seiner Zwanghaftigkeit auf. Ohne Begleitung könnte der Patient kaum an die verdrängten Traumen herankommen, und er würde sie auch niemals allein aushalten.
3. Ein empathisches inneres Objekt wird aufgerichtet, das Trauer, aber auch Neugier auf die eigene Kindheit ermöglicht.
4. Patient interessiert sich zunehmend für seine Vergangenheit, und spätestens hier verliert er die Depression und die Suizidgedanken.
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5.) Er kann die Auseinandersetzung mit Partnern und mit Eltern als reale Personen und als Introjekte auf sich nehmen, wobei sich der Analytiker hier für alle diese Personen stellvertretend gebrauchen und verwenden lassen muß.
6.) Dank der Begleitung wird es dem Patienten möglich, seine Aggressionen zu äußern; er tut es aber zunächst so, wie er es als Kind erfahren hat. Er wird den Analytiker u.U. so bedrohen, wie man es mit ihm als Kind gemacht hat, ohne daß er dies erinnern kann (vgl. A. Miller, 1979). Und weil er es nicht erinnern kann, inszeniert er das Trauma und gibt dem Therapeuten die Rolle des Kindes, das er einst war. Das stellt jeden Analytiker auf die Probe, vor allem seine Toleranz für eigene Gefühle der Ohnmacht. Doch diese steigen seltener auf, wenn das »Agieren« als Inszenierung von einst realen Situationen des Patienten verstanden wird (vgl. Kapitel B 4). Wird es aber als Ausdruck des »Penisneides«, des »pathologischen Narzißmus« o.ä. interpretiert, können sich leicht Ohnmachtsgefühle beim Analytiker einstellen, die um so mehr mit dem Gewicht des mächtigen theoretischen Vokabulars abgewehrt werden müssen.
Die zahlreichen Inszenierungen machen oft das Kernstück der Analyse aus. Ich habe aber die einleitenden Phasen genauer beschrieben, weil ich hier u.a. aufgrund der Unterscheidung zwischen der triebtheoretischen und der pädagogikfreien Haltung meinen Ort in der Psychoanalyse zu bestimmen versuche. Ich distanziere mich also von der unbewußten Identifizierung mit dem Erzieher und gehe eine bewußte Identifizierung mit dem stummen Kind im Patienten ein. Dies tue ich nicht aus »Sentimentalität«, sondern um mit ihm anhand des Wiederholungszwanges, der Träume, der Phantasien, der Übertragung und Gegenübertragung seine verdrängten Traumen, die er sein Leben lang inszeniert und die ihn an der Lebendigkeit hindern, auf dem Wege des Bewußtwerdens finden zu können.
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Die Heilwirkung dieses Bewußtwerdens setzt eine emotionale Entwicklung voraus, wie ich sie in meinen Ausführungen über das wahre und falsche Selbst im Drama des begabten Kindes (1979) beschrieben habe. Wenn ich die Erlebbarkeit und Artikulierbarkeit der frühen Traumen als therapeutisches Ziel ansehe, muß ich dem Patienten helfen, die »via regia« zu beschreiten, d.h. seine verlorene Fähigkeit zu fühlen wiederzugewinnen, denn nur auf dem Wege der Gefühle kann er seine Wahrheit finden. Ob dieser Weg immer gangbar ist, kann ich nicht sagen.
In vielen Fällen, in denen die Mutter aus erzieherischen Gründen bestrebt war, im Kind von seinem ersten Lebenstag an die Angst vor dem Fühlen zu statuieren, sind solche Bemühungen so erfolgreich gewesen, daß sie jahrzehntelang wirksam waren. So früh und so erfolgreich erzogene Menschen werden ihr ganzes Leben lang Gefühle vermeiden müssen und diese notfalls ihre Umgebung (vielleicht ihre eigenen Kinder) erleben lassen. Ihre Angst, selber Gefühle erleben zu müssen, die so früh lebensgefährlich waren, wird sie indessen kaum in das Sprechzimmer eines Psychoanalytikers führen, außer wenn sie sich aus irgendwelchen Gründen entschlossen haben, selber diesen Beruf ausüben zu wollen. Dies kommt weniger selten vor, als man meint, denn gerade unser Beruf gibt uns die Gelegenheit, eigene Gefühle auf andere, die Patienten, zu delegieren.
Wenn ein Mensch, der von den eigenen Gefühlen nichts wissen darf, eine Lehranalyse machen muß, wird er sich dankbar mit allen möglichen Theorien eindecken, um ja nicht in die für ihn gefährlichen emotionalen Zonen zu geraten. Seine Hilflosigkeit, Angst, Ohnmacht, möglicherweise auch seinen Zorn wird dafür sein Analytiker zu spüren haben, dem er unter Umständen die grauenhaftesten Schicksalsschläge seiner Kindheit so gleichgültig schildert, als ob es sich um ein Thema seiner Dissertation handeln würde.
Nach dem Abschluß der Ausbildung können diese unerwünschten Gefühle beim eigenen Analysanden untergebracht und dort mit Hilfe des intellektuellen Vokabulars in ungefährliche, aber auch wirkungslose Bahnen gebracht werden. Das ist eine Situation, der ich häufig begegnet bin und deren Tragik die zahlreichen Vorschriften der Unterrichtsausschüsse kaum ändern können. Diese Einsicht u. a. hat mich dazu bewogen, meine Praxis aufzugeben und in meinen Schriften auf die Schäden der Erziehung hinzuweisen, die möglicherweise in schweren Fällen irreversibel bleiben, weil sie so früh verursacht wurden.
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B 3. Warum braucht der Patient einen Anwalt im Analytiker?
Je mehr Distanz ich von den Zwängen der psychoanalytischen Theorie bekomme, um so mehr fällt es mir auf, wie häufig Analytiker moralische Urteile abgeben und wie leicht und unbemerkt es ihnen geschieht, daß sie sich zu Richtern ihrer Patienten machen. In einer Diskussionsgruppe über Das Drama des begabten Kindes hat viele Kollegen die Frage beschäftigt, wem ich eigentlich die Schuld zuschreibe und wen ich für das Leiden des Kindes verantwortlich mache. Sie kamen nicht damit klar, daß ich weder das Kind noch die Eltern beschuldige.
Man könne doch nicht, sagten einige, die Eltern von jeder Verantwortung freisprechen, irgend jemand müsse doch für das Elend verantwortlich sein. Gleichzeitig wurde ich darauf hingewiesen, wie schwer es manche Kinder den Eltern machen, sie zu lieben, mit ihnen nett zu sein und sie zu verstehen. Deshalb könnten doch die Eltern nicht an allem schuld sein, man müsse da gerecht sein und die Schuld auf beide Seiten verteilen.
Alle Gedankengänge, die sich in diesem Kreis drehen, zeigen die Spuren der Schwarzen Pädagogik. Daß die Pädagogen um die Jahrhundertwende so dachten, muß uns nicht wundern, denn sie hatten noch keine Ahnung von den unbewußten Zwängen. Wenn sich aber Psychoanalytiker von heute darum bemühen herauszufinden, wer schuld war, dann lassen sie sich freiwillig etwas nehmen, was im Grunde ihr größter Besitz ist: die Kenntnis des Unbewußten und der dem menschlichen Dasein innewohnenden Tragik. Sigmund Freud hat diese Tragik gespürt; und vielleicht war er auch deshalb so beglückt, als er den Ödipuskomplex »entdeckte«, weil er hoffte, damit einer allgemein menschlichen Tragik Ausdruck geben zu können, ohne die je individuellen Eltern zu beschuldigen.
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Doch diese Theorie ist leider eher dazu geeignet, die Entstehung einer neurotischen Entwicklung zu vernebeln, als sie zu erklären. Da wir alle die Denkkategorien der Schwarzen Pädagogik verinnerlicht haben, geistert in der Psychoanalyse, von allem Fortschritt unbehindert, die Vorstellung des bösen Kindes herum, das lernen muß, seine wilden und bösen Triebe (Libido- und Todestrieb) zu beherrschen bzw. zu sublimieren.
Die Einsicht, daß der Zorn des Kindes eine Antwort auf narzißtische Versagungen und Kränkungen ist (wie das Nichtverstehen, das Verachten, Demütigen, Mißbrauchen, das wiederum unbewußte Gründe hat), ist erst späteren Datums. Die Weichenstellung scheint zwischen Melanie Klein und Winnicott zu liegen. Die »Grausamkeit« des kleinen Kindes entspringt bei Melanie Klein noch der Triebstruktur des Menschen, bei Winnicott und Kohut nicht mehr (vgl. Winnicott, 1949). Diese Analytiker haben viel mehr Verständnis dafür entwickelt, was das Kind in seiner Umwelt vorfindet. Wenn ich auf dieser Linie konsequent weiter fortfahre zu fragen, wie das emotionale Umfeld des Kindes von ihm aus erlebt wird, dann weckt das bei vielen die Angst, ich könnte die Eltern beschuldigen und ihre Schwierigkeiten übersehen. Da ich das aber nicht tue, weckt meine Haltung manchmal Ratlosigkeit, die, wenn nicht verarbeitet, zur Verstärkung der erzieherischen Überzeugungen führen kann.
Deshalb versuche ich immer wieder, mit Hilfe verschiedener Bilder und Begriffe meine analytische Haltung zu erklären: ich verstehe mich immer als Anwalt des Kindes im Patienten. Was er mir auch erzählen mag, ich stehe ganz auf seiner Seite und identifiziere mich vollständig mit dem Kind in ihm, das seine Gefühle meist noch nicht erleben kann und sie auf mich delegiert. Es geschieht sehr selten, daß ein Patient seinen Eltern Vorwürfe macht, er ist ja gerade daran erkrankt, daß er das als Kind nicht machen durfte. Wenn er im Anfangsstadium seiner Analyse seinen Eltern Vorwürfe macht, dann nimmt er das schnell wieder zurück, hat quälende Schuldgefühle und versucht, die Eltern zu verteidigen.
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Falls Aggressionen überhaupt erlebt werden können, dann sind es erwachsene Formen von Aggression (Verachtung, Ironie, intellektuelle Kritik); sie stammen aus einer viel späteren Zeit, denn die Wut des ganz kleinen Kindes (die ambivalente, ohnmächtige Wut) ist immer zunächst nicht erlebbar. Auch bei Jugendlichen, die ein sehr trotziges oder sogar destruktives Verhalten zur Schau tragen, verhält es sich nicht anders. Die frühkindlichen Gefühle sind am Anfang einer Analyse immer unbewußt.
Wenn man sich das vor Augen hält, begreift man, wie wichtig es ist, daß der Analytiker keine Richterfunktion übernimmt, nicht an die Vernunft des Patienten appelliert, keine Objektivität sucht, sondern sich einfach von dem Kind führen läßt, das noch nicht sprechen kann. Es kann auch nicht die Aufgabe des Analytikers sein, dem Patienten zu einer Versöhnung mit den Eltern zu verhelfen. Wenn der Analytiker selber erlebt hat, daß seine Wut seine Eltern nicht getötet hat, steht er nicht mehr unter dem Zwang, die Eltern des Patienten vor der (eigenen ungelebten) Wut zu schützen, indem er auf Versöhnung hinarbeitet. In den meisten Fällen ist der Analytiker die erste Person im Leben des Patienten, der dieser sich anvertrauen kann, und es ist wichtig, daß diese Person das Vertrauen nicht mißbraucht, daß sie nicht erzieht, nicht beschuldigt, nicht befremdet ist, sondern bereit ist, mit dem Patienten über sein Leben Unbekanntes zu erfahren. Denn auch dieser wird hier zum erstenmal sein Leben kennenlernen.
Ich meine, daß die Einbeziehung der Erziehungsideologie, der Machtstrukturen in der Familie und der sich daraus ergebenden Realität des Kindes zu einem tieferen Verständnis für die Aggressionen des Patienten führt als die Annahme des Todestriebes, wie ihn auch die Schule von Melanie Klein postuliert.
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In Melanie Kleins Beschreibungen der früheren Phasen des kindlichen Gefühlslebens begegnen wir einem bösen Säugling, dessen heftige Gefühle wie Haß, Neid, Gier sowohl den Zusammenhang mit den Demütigungen, Mißhandlungen und narzißtischen Kränkungen durch die Eltern als auch den Bezug zum Unbewußten der Eltern vermissen lassen. Das hat Folgen für die Haltung des Analytikers zum Patienten, die man z.B. an Falldarstellungen von Hanna Segal beobachten kann. Wenn ein Patient eine übertriebene Angst vor dem Neid der Umgebung hat, so ist es für sie immer die Projektion seiner eigenen Neidgefühle auf die andern. Daß der Patient aber einst dem Neid eines gewalttätigen Elternteils ausgesetzt gewesen sein konnte, der ihm immer noch Angst macht, wird hier seltsamerweise nicht in Betracht gezogen.
Und doch könnte man sich fragen: Kann es sein, daß nur das Kind (bzw. der Patient) projiziert? Warum sollte nur das Kind neidisch sein und der Erwachsene nicht? Was hat er mit seinem Neid gemacht? Und wenn dieser in der Analyse der Erwachsenen auffindbar ist (wie z.B. in zahlreichen Beispielen von Hanna Segal), warum nimmt man an, daß sich dieser Neid nie auf die eigenen Kinder richtet? Und wenn ja, warum wird dieser reale Faktor (der Neid der Eltern auf das Kind, auf seine größere Freiheit, Spontaneität, kleinere Verantwortung, viel Freizeit, Sorglosigkeit) in der Psychoanalyse übergangen und in die Rekonstruktionen nicht mit einbezogen?
Der Zorn des Säuglings ist adäquat, frei von Übertragung (d. h. auf den Menschen gerichtet, der dem Kind wehtut, und nicht auf Ersatzobjekte, wie der Haß des Erwachsenen), weil er (außer der pränatalen) keine oder auf jeden Fall eine kürzere und durchsichtigere Geschichte hat. Im Gegensatz dazu wird der Haß des Erwachsenen aus seiner Kindheit genährt, ist deshalb schon immer verschoben, trifft meistens die Unschuldigen, sucht sich Ventile und Opfer. Und diese findet er am leichtesten im eigenen Kind, das von Rechts wegen sein Eigentum ist.
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Es ist bedauerlich, daß solche Überlegungen in der klassischen Psychoanalyse als »nicht psychoanalytisch« gelten. Nachdem wir nämlich durch die neuesten Kindheitsgeschichten erfahren haben, was Kindern schon immer angetan wurde, wird es uns eher befremden, wenn jemand den kleinkindlichen Haß als Ausdruck des Todestriebes sieht — so richtig und adäquat wird uns dieser Haß angesichts der erfahrenen Grausamkeit und Brutalität vorkommen.
Wenn wir einmal als Analytiker die reaktive Bedeutung dieses Hasses begriffen haben, so fällt ein großer Ballast von uns ab, und wir gewinnen das Entscheidende:
1. Wir können den Patienten besser verstehen und seine Aggressionen besser tolerieren.
2. Wir brauchen die erzieherische Haltung nicht mehr.
3. Wir gewinnen das Vertrauen, daß sich die destruktive narzißtische Wut von allein in einen gesunden, konstruktiven Selbstschutz wandeln wird, wenn der Patient seine Wut nicht als sinnlos erlebt, sondern sie als adäquate Reaktion auf Grausamkeit verstanden hat. Damit diese Wandlung eintreten kann, braucht der Patient einen Analytiker, der voll und ganz zu ihm steht.
Lange glaubte ich, in meiner Erfahrung die psychoanalytische Theorie bestätigt gefunden zu haben, daß nämlich die Grausamkeit des Überichs des Patienten meistens die Grausamkeiten des elterlichen Verhaltens übersteigt, weil sie durch eigene Aggressionen (das Es) angereichert wird. Seit ich aber den Zugang zu den frühkindlichen Gefühlen bekommen habe, sind mir in dieser Frage ernsthafte Zweifel aufgekommen. Grausamkeit läßt sich objektiv nicht messen. Was dem einen wehtut, läßt den andern kalt. Wie ein Verhalten der Eltern bei einem Kind angekommen ist, läßt sich von außen nicht erkennen, und es selber weiß dies später oft auch nicht. Aber die Strenge seines Überichs kann darüber Auskunft geben, wie sehr das Kind seine Eltern damals fürchten mußte, auch wenn der Erwachsene es bezweifelt und die gegenwärtigen Eltern nach außen gesehen überhaupt keine Angst einzuflößen scheinen. Auch die Selbstzerstörung eines Süchtigen oder Suizidalen berichtet ja nicht über die gegenwärtige Lage, sondern erzählt längst vergangene Geschichten.
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Erst wenn man fühlen darf, wie ohnmächtig ein Kind dem ausgesetzt ist, was man von ihm erwartet (an Triebbeherrschung, an Gefühlsunterdrückung, an Rücksicht auf die Abwehr der Erwachsenen, an Toleranz für ihre Ausbrüche), erst dann kann man begreifen, daß es eine Grausamkeit ist, Unmögliches unter der Drohung von Liebesentzug vom Kind zu verlangen. Und diese Grausamkeit wird im Kind konserviert. Sie braucht gar nicht mehr übersteigert zu werden. Sie zeigt sich auch in den vielfachen Sicherungen %ur Geheimhaltung der elterlichen Macht- und Gewaltausübung. Nach dem überlieferten Erziehungsmuster muß das Kind die Eltern als fehlerlos erleben, muß in ihnen ein Vorbild sehen. Das Ergebnis ist, daß Kinder wirklich überzeugt sind, nur sie hätten das Bedürfnis zu lügen, die Erwachsenen nicht; nur sie müßten gegen Haßgefühle ankämpfen, nicht aber die Eltern.
Weil ein Kind seine Gefühle intensiver erlebt als der Erwachsene, kann es manchmal sein (muß es aber nicht), daß die sadistischen Phantasien eines Kindes viel grausamer sind, als es von den auslösenden Ursachen her zunächst begreiflich scheint. Es kann z. B. vorkommen, daß eine Mutter das Kind immer wieder »einfach« übersieht und daß sich deshalb eine unbändige, narzißtische Wut im Kind aufgestaut hat, die später um so mehr wucherte, je weniger sie zum Ausdruck gebracht werden konnte. Da kann sogar Sadismus die Antwort auf etwas sein, was sich nicht als sadistisch bezeichnen läßt. Aber die subjektive Bedeutung dieses Übersehens, die narzißtische Kränkung und Demütigung des Kindes kann erst ermessen werden, wenn die narzißtischen Bedürfnisse des Kindes nach Achtung, Anerkennung, Ernstgenommenwerden neben den Triebwünschen überhaupt in Rechnung gezogen werden.
Erst wenn das Bewußtsein des Analytikers dafür geschärft ist, daß die Rechtslage in unserer Gesellschaft immer zuungunsten des Kindes ist, wird er seinem Patienten voll beistehen können.
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Es ist nicht Sache des Analytikers zu beurteilen, ob der Patient seinen Eltern gerecht wird oder nicht. Dieser wird es von selber tun, sobald er es kann, sobald er seine kindlichen Vorwürfe voll erlebt hat und von ihnen freigeworden ist. Noch so gut gemeinte »Winke« können diesen Prozeß nicht beschleunigen, sondern ihn höchstens behindern. Es ist nicht die Aufgabe des Therapeuten, sich zum Richter des Patienten zu machen, obwohl dieser das in der Übertragung provozieren mag. Ich habe noch nie erlebt, daß ein Patient seine Eltern schlechter darstellt, als er sie in der Kinderzeit wirklich erlebt hat, sondern immer besser, weil er die Idealisierung der Eltern und nicht die kindliche Kritik und Auflehnung zum Überleben brauchte. Diese kann er erst zulassen, wenn er im Analytiker den Begleiter findet, der ganz zu ihm steht. Sonst wagt er nie, seine Gefühle voll zu erleben, und kann seine Wahrheit (die kindliche Realität) nicht entdecken.
Es kommt zwar häufig vor, daß auch positive Seiten eines Elternteils erst spät im Laufe der Behandlung auftauchen, nachdem zuerst alles nur negativ an ihm gesehen wurde. Aber diese Änderung bedeutet nur, daß sich z.B. das eingefrorene Bild einer »Hexe« oder eines »Tyrannen« in ein menschliches Wesen mit verschiedenen Seiten verwandeln konnte, weil nun der Patient fühlen und auch beide Seiten in sich leben kann.
Zum Prozeß der Analyse gehört auch das vorübergehende Aufleben der ersten bedingungslosen, alles verzeihenden »Liebe« des kleinen Kindes zu seinen Eltern, die jeder Auflehnung noch vorausgeht. Erst dieses Erlebnis macht die Tiefe der schmerzhaften Enttäuschungen an den Elternfiguren sichtbar und damit auch die Ambivalenz verständlich. Denn Kränkungen, Demütigungen, Schläge und andere Mißhandlungen kamen gerade von den Menschen, an denen das kleine Kind am meisten hing. Ob sich die frühkindliche Verklärung der Eltern nach den Stürmen der Analyse in eine reife Liebe oder in eine ruhige, haßfreie Distanz wandeln wird, hängt von unzähligen Faktoren ab, u. a. auch von der Entwicklungsfähigkeit der noch lebenden Eltern.
Wo das Kindliche leben und sich entfalten darf, bedarf es keiner Fremdsteuerung und keiner Erziehung. Diese ist nämlich auch noch in dem Satz »Wo Es war, soll Ich werden« enthalten. Das Strukturmodell (Ich, Es, Überich) erinnert an das überlieferte Familiensystem, in dem die Erwachsenen dem wilden, bösen Kind Lebensweisheit, Beherrschung oder bestenfalls »Zähmung« der bösen Triebe beibringen sollten.
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B 4. Die kastrierende Frau oder das gedemütigte kleine Mädchen?
Die Frage, wie sich ein Analytiker zur frühkindlichen Realität seines Patienten einstellt, ist nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern bestimmt seine Haltung in der Behandlung und seine Fähigkeit, sich als Anwalt des Patienten gebrauchen zu lassen. Er wird anders mit dem Widerstand umgehen, das Geschehen in der Übertragung und Gegenübertragung anders verstehen, je nachdem, ob er die Aggressionen, Ängste und Werbungen des Patienten als Mitteilungen über eine ehemalige, verborgen gebliebene reale Situation oder als Ausdruck seiner libidinö-sen und aggressiven Triebe deutet. Im letzteren Falle erscheinen ihm die gleichen Äußerungen des Patienten als destruktiv, narzißtisch, neurotisch, seine Ängste als übertrieben, gar paranoid, weil der jetzigen Realität, vor allem den Bemühungen des wohlwollenden Therapeuten, unangemessen.
Eine Frau, deren Analyse ich kontrollierte, hatte vorher jahrelang versucht, sich die Meinung ihres ersten Analytikers über ihren Penisneid und ihre kastrierende Haltung zu eigen zu machen, in der Hoffnung, dies würde ihr helfen, eines Tages netter, weiblicher, d. h. den Männern gegenüber weniger mißtrauisch und kritisch zu werden. Aber alle ihre Bemühungen halfen nichts. Sie litt zwar darunter, daß sie sich alle Beziehungen mit Männern ständig verdarb, indem sie sie beinahe zwanghaft sofort auf ihre Schwächen hin durchschaute, aber es gelang ihr nicht, dies zu ändern. Schließlich tat sie es auch mit ihrem Analytiker, der durch die sehr intelligente Patientin noch mehr verunsichert wurde und die Therapie nicht weiterführen wollte.
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In ihrer zweiten Analyse, von der ich einen großen Teil mitverfolgen konnte, entwickelte sich die Übertragung zunächst nach dem gleichen Muster. Aber da sich der zweite Analytiker nicht damit begnügte, die Angriffe der Patientin als Ausdruck ihres Todestriebes bzw. Penisneides zu sehen, sondern nach deren Gründen suchte, da er seine Regungen der Kränkung und Verunsicherung als Signale der Gegenübertragung und als Hinweise auf die Person des Vaters der Patientin verstand, gelangen ihm Rekonstruktionen, die durch neue Erinnerungen der Patientin und die spontane Änderung ihrer Einstellung zu Männern bestätigt wurden.
Ihr Vater war, wie es sich herausstellte, ein unsicherer und schwacher Mann gewesen, seiner Tochter intellektuell nicht gewachsen, seinen Eltern gegenüber hörig, von der Ehefrau nach seiner Rückkehr von der Front verachtet. In der Pubertät teilte die Patientin diese Verachtung der Mutter und kritisierte öfters den Vater, den sie damals als feige erlebte. Das alles war ihr bewußt. Warum war sie dann aber auf diese Haltung fixiert, und warum übertrug sie sie auf andere Männer, so daß sie trotz ihres Wunsches nicht heiraten konnte und sich das Kinderhaben versagen mußte? Der Haß auf ihren Vater war ja nicht unbewußt, so konnte man meinen.
Dank des Interesses des zweiten Analytikers für die Realität der frühen Kindheit stellte es sich heraus, daß es für diesen schwachen, hypochondrischen und kränklichen Vater einmal doch einen einzigen Menschen gegeben hatte, der ihm keine Angst gemacht, ihn nicht verachtet hatte und an dem er sich für all seine Erniedrigungen im Krieg, in der Gefangenschaft und schließlich in der Ehe hatte rächen können: das war seine älteste Tochter, die Patientin, als sie noch ganz klein war. Er konnte zwar mit niemandem über die Erlebnisse in Krieg und Gefangenschaft sprechen, war sehr verschlossen, aber mit dem kleinen Mädchen konnte er manchmal spielen, dann es auch plötzlich anschreien, schlagen, es bloßstellen und demütigen. Er konnte es liebhaben, an sich drücken, wenn er jemanden brauchte, aber es auch wie eine Puppe oder ein Tierchen abstellen, ohne ihm ein Wort der Erklärung zu geben, und sich anderen Dingen und Menschen zuwenden.
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Die Rekonstruktion dieser Zeit wurde durch Inszenierungen in der Übertragung ermöglicht und durch Träume bestätigt; außerdem fing die Patientin an, von Angehörigen Dinge erfahren zu wollen, von denen sie früher nichts hatte wissen wollen. Zum erstenmal konnte sie jetzt Näheres über ihres Vaters Zugehörigkeit zur SA hören, ohne dabei wie früher weglaufen zu müssen. Sie suchte nun ihren Vater als den Menschen, der er wirklich war, und begriff, daß die SA-Binde für sie nichts Neues mehr bedeutete, weil sie ihren Vater (seine tiefe Unsicherheit und die damit zusammenhängenden Entgeltungswünsche) bereits in ihrer eigenen Analyse mit Hilfe der Übertragung entdeckt hatte.
Eine Zeit schwerer Trauer begleitete dieses Wissen; die Patientin erlebte sich immer wieder als liebendes Kind, von einem Vater abhängig, der unberechenbar, manchmal lieb und manchmal grausam war. Sie konnte nun die Unreife ihres Vaters spüren, ihn seinerseits als verletzt und narzißtisch extrem bedürftig erleben, als jemanden, der kein Gefühl dafür hat, was sich in einem anderen abspielt, als einen Vater, der sie als Spielzeug und Ventil gebrauchte, keinen Respekt für ihre Seele und keine Ahnung von ihrem wahren Wesen hatte. Diesen Vater verachtete die Patientin in allen Männern, denen sie begegnete, die sie fürchtete und liebte, die sie aber zugleich immer wieder in ihren Schwächen entlarven mußte, solange der Vater der frühen Kindheit ihrem Bewußtsein unzugänglich war.
Im Wiederholungszwang inszenierte sie unaufhörlich das Drama ihrer Kindheit, teilweise mit umgekehrten Rollen, indem nun sie diejenige war, die den Männern überlegen war, sie kränkte und verließ. Zugleich hoffte sie, in diesen Begegnungen endlich ihren Vater für seine Grausamkeit bestrafen zu können. Nachdem sie in der Analyse ihre kindlichen Rachewünsche erlebt und zu begreifen begonnen hatte, daß diese Rache mit Ersatzpersonen und in der Gegenwart den damaligen Wunsch niemals wird befriedigen können, ergaben sich für sie ganz neue, früher nie geahnte Formen von Beziehungen mit Männern.
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Das alles geschah ohne Erziehung, ohne Mühe, ohne Anstrengungen, »vernünftig« zu sein. Ihre anfängliche unermeßliche Wut auf den ersten Therapeuten, von dem sie sich so stark mißverstanden gefühlt hatte, verwandelte sich allmählich in Trauer über die Grenzen seiner Verstehensmöglichkeiten, die sie mit der Zeit auch, obzwar an anderen Stellen, bei ihrem neuen Therapeuten entdeckte und akzeptierte. Zugleich wurde es dieser im Grunde einfühlsamen und sensiblen Frau möglich, die Vorgeschichte ihres Vaters zu akzeptieren. Sie begriff, jetzt emotional und ohne Verachtung, daß ihr Vater schon als Kind Spielball seiner geschiedenen Eltern gewesen war (die ihn immer wieder holten und abstellten), bevor er im Dritten Reich zum Spielball des Staates und der Partei wurde.
Aber das wahre Verstehen und Verzeihen der erwachsenen Frau wurde erst möglich, nachdem die Wut und die Rachephantasien des kleinen gedemütigten Mädchens vom Analytiker ernstgenommen und nicht als Ausdruck ihres Penisneides gedeutet worden waren. Einen Patienten nicht zu verstehen ist keine Grausamkeit, sondern Schicksal, das eng mit der eigenen Lehranalyse zusammenhängt, daher kann es für beide hilfreich sein, wenn der Analytiker seine Grenzen zugeben kann. Der Patient bekommt aber einen schwierigen Stand, wenn er vom Analytiker hört, daß dieser ihn zwar gut verstünde, doch der Patient »sich weigere«, die Deutungen des Analytikers anzunehmen, weil er gescheiter, größer, mächtiger sein wolle und alle anderen klein und dumm machen möchte. Solche Deutungen führen zu sado-masochistischen Übertragungen oder sind bereits ihr Ausdruck; sie werden mit noch stärkeren Angriffen quittiert, die sich auch in stundenlangem Schweigen ausdrücken können und den Analytiker vollends »die Geduld verlieren« lassen, was sicher seine Einfühlung nicht fördert.
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Was spielt sich hier ab? Ein kleines Kind, das mißbraucht wird, darf es nicht merken und darf es nicht sagen, und gerade dieses Verbot, sich zu erleben und zu artikulieren, nimmt ihm seine Sicherheit. Wenn später der Erwachsene zum Analytiker kommt und hört, daß er »nur meine«, er werde nicht verstanden, werde es in Wirklichkeit aber doch, was geht dann in ihm vor? Wurde gar keine Grundlage für eigene Gefühle aufgebaut, dann bleibt es bei einer perfekten Anpassung, und der Patient wird seinen Analytiker mit Etiketten über sein Verhalten verlassen wie seinerzeit seine Eltern. Besteht aber bereits ein eigener Boden, ein lebendiges, wahres Selbst, dann wird ihm eine solche Versicherung des Analytikers, die im krassen Gegensatz zu seinen eigenen Gefühlen des Nichtverstanden-wordenseins steht, große Schwierigkeiten bereiten, ihn verunsichern, ärgern, ja vielleicht — im besten Fall! — empören. Im Schutze der Analyse wird er aber zum erstenmal wagen, sich gegen das Besserwissen und Rechthabenwollen seiner Eltern im Analytiker aufzulehnen und seine Autonomie zu verteidigen. Das Schicksal dieses Patienten kann nun davon abhängen, ob der Analytiker bereit ist, seine bisher gut verkäufliche Ware als überholt und unbrauchbar wegzuwerfen und sich von den Gefühlen des Patienten leiten zu lassen, oder ob er weiter darauf besteht, ihm seine »Ware« aufzuzwingen. Ein sich daraus entwickelnder Machtkampf ist nicht das Schlimmste; er ist immerhin ein Zeichen, daß der Patient noch am Leben ist und seine Autonomie sucht.
Wie die Methoden der Eltern, so können auch die Methoden der Therapeuten (verschiedener Schulen) ganz besonders raffiniert sein. Manche begnügen sich nicht damit, dem Patienten sein Gefühl, nicht verstanden worden zu sein, auszureden und ihm mit Deutungen zu zeigen, daß dies nur Ausdruck seines »Eigensinns«, seiner »Halsstarrigkeit« usw. sei.
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Es gibt noch ein anderes, durchaus »legales« und wirkungsvolles Mittel, ihn zu verunsichern und gefügig zu machen: dieses Mittel beruht auf der Theorie, daß z.B. die sogenannten paranoiden Ängste, d.h. das Mißtrauen des Patienten seinen Mitmenschen gegenüber nur die Abwehr, nur die Projektion seiner eigenen Wünsche, die anderen zu mißbrauchen, zu betrügen, zu verführen oder zu ermorden, seien. Solche Deutungen können Wahres enthalten, weil dieser Mechanismus der Projektion tatsächlich oft vorzufinden ist.
Wenn wir z.B. von einem Menschen enttäuscht sind und unsere Wut nicht zulassen dürfen, erleben wir zunächst nicht uns als wütend, sondern diesen Menschen als böse. Aber da solche Deutungen nur das Endstück einer langen Geschichte erfassen, sind sie, da das Hauptstück der Tragödie von ihnen unberührt bleibt, in den meisten Fällen unwirksam und kränkend. Es ist schon tragisch genug, daß die Anfänge jedes menschlichen Lebens, die in die frühen Generationen reichen, unzugänglich bleiben müssen. Aber wenn die Realität der frühen Kindheit des Patienten, die sich aus dem Wiederholungszwang und dem Spiel von Übertragung und Gegenübertragung eruieren ließe, als Projektion seiner Phantasien gedeutet wird, dann wird eine neue Tragödie geschaffen.
Was hier am Beispiel der »kastrierenden Frau« und ihres »Penisneides« illustriert wurde, ließe sich an unzähligen, oft recht grausamen Geschichten aufzeigen. Begreiflicherweise werden Frauen, die von ihren Vätern früh gedemütigt und wie Puppen behandelt worden sind, als Erwachsene dazu neigen, die Männer, wenn möglich, ihre Überlegenheit spüren zu lassen und sich zugleich von ihnen hoffnungslos abhängig zu machen. Auch Männer werden sich an den Frauen (und kleinen Mädchen) rächen, wenn ihre Mütter sie nicht respektiert haben. Aber der lebensgeschichtliche Ursprung dieses Verhaltens macht es erst wirklich verständlich, und um diesen Ursprung bemüht sich ja — so müßte man meinen — die Psychoanalyse. Das erzieherische Moralisieren müßte ihr dann fremd bleiben.
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Henry Miller saß einst, damals fünfzigjährig, am Sterbebett seiner Mutter und hoffte von ganzem Herzen, sie würde ihm vor dem Tod sagen, daß sie doch noch etwas von ihm gelesen hätte. Aber seine Mutter starb, ohne ihm das sagen zu können, denn sie hatte offenbar nie etwas von ihm gelesen. Muß man sich wundern, daß er, wie Anais Nin schreibt, »Frauen, die er liebt, unter einem hurenhaften Aspekt (zeigt), um sie dann anzuklagen«? (vgl. A. Nin 1979, Seite 56).
Eine ähnliche Konstellation fand sich bei Beaudelaire, dem seine Haßliebe für die Mutter vielleicht bewußtseinsnäher war. Als Kind erlebt er sie in ihrer zweiten Ehe als seinem verstorbenen Vater und ihm untreu, und deshalb »hurenhaft«, zugleich aber verführend und begehrenswert.
Sein Gedicht »Der Lethe« drückt die Tiefe seiner Ambivalenz aus, in der sich viele Menschen begegnen können.
Der Lethe
Komm an mein Herz, du grausam taube Seele,
Geliebte, mitleidlose Tigerin;
Ich will, daß meine Hand mit Zittern in
Dein aufgelöstes schweres Haar sich stehle;Und daß in deiner Kleider dunklen Duft
Dann meine gramzerfurchte Stirne tauche,
Die atmend, gleich der Blume welkem Hauche,
Verlorner Liebe süßes Sterben ruft.Und schlafen will ich! Schlafen und nicht leben!
In einem Schlummer süßer als der Tod
Verstreu ich Küsse ohn' Gewissensnot
Auf deines Leibes kupferdunkles Beben.Für den, der stille Tränen tilgen muß,
Wird einzig deines Bettes Abgrund taugen;
Von deinem Mund darf ich Vergessen saugen,
Der Trank des Lethe rinnt aus deinem Kuß.
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Dem Schicksal, das mich so gesegnet,
Gehorche ich, ergeben seiner Huld;
Als Märtyrer verurteilt ohne Schuld,
Der voller Inbrunst seinem Tod begegnet,
Will ich, auf daß mein Haßgefühl sich legt,
Nepenthes und den holden Schierling trinken
Aus steilen Brüsten, die mir zärtlich winken,
In denen niemals sich ein Herz geregt.
Zwei Briefe Baudelaires an seine Mutter zeigen die Tragik seiner Mutterbeziehung und die Redlichkeit, aus der die »Blumen des Bösen« hervorgegangen sind.
Wer weiß, ob ich Dir noch einmal meine ganze Seele öffnen kann, die Du niemals weder ermessen noch erkannt hast! Ich schreibe das, ohne zu zögern, so sehr weiß ich, daß es wahr ist. In meiner Kindheit habe ich eine Zeit leidenschaftlicher Liebe zu Dir gekannt; höre und lies ohne Furcht. Niemals habe ich es Dir so offen gesagt. Ich besinne mich auf eine Spazierfahrt im Fiaker; du kamst gerade aus einer Klinik, in der Du einige Zeit hattest verbringen müssen, und um mir zu beweisen, daß Du an Deinen Sohn gedacht hattest, zeigtest Du mir Federzeichnungen, die Du für mich gemacht hattest.
Glaubst Du, daß ich ein entsetzliches Gedächtnis habe? Später der Platz Saint-Andre-des Arts und Neuilly. Lange Spaziergänge, endlose Zärtlichkeiten! Ich besinne mich auf die Kaianlagen, die abends so traurig aussahen. Ah! das war für mich die gute Zeit mütterlicher Zärtlichkeit. Ich bitte Dich um Verzeihung, weil ich eine Zeit gut nenne, die für Dich zweifellos schlecht war. Aber ich war immer lebendig in Dir; Du gehörtest ausschließlich mir. Du warst gleichzeitig ein Idol und ein Kamerad.
Vielleicht wirst Du erstaunt sein, daß ich mit Leidenschaft von einer Zeit sprechen kann, die so weit zurückliegt. Ich bin selbst erstaunt darüber. Vielleicht zeichnen sich die vergangenen Dinge so lebhaft in meinem Geist ab, weil ich wieder Sehnsucht nach dem Tode empfinde. (6. Mai 1861)
Und 17 Jahre früher, als seine Mutter ihm einen Vormund geben wollte (und später auch gab), schrieb Baudelaire:
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Ich bitte Dich, diesen Brief sehr aufmerksam zu lesen, denn er ist sehr ernst und ein höchster Appell an Deine Klugheit wie an Deine große Zärtlichkeit, die Du für mich zu haben behauptest. Vor allen Dingen schreibe ich Dir diesen Brief unter dem Siegel der Verschwiegenheit und bitte Dich, ihn niemandem zu zeigen. Zum anderen bitte ich Dich, um Gottes Willen nichts Pathetisches darin sehen zu wollen und auch mit nichts anderem als mit Vernunftsgründen darauf einzugehen.
Da unsere Diskussionen die merkwürdige Gewohnheit angenommen haben, sich in Bitterkeiten zu bewegen, an denen auf meiner Seite häufig nichts Wahres ist, da ich mich in einem Zustand der Unruhe befinde und Du Dich darauf versteifst, mich nicht mehr anzuhören, sehe ich mich gezwungen, zu einer Briefform zu greifen, die Dich davon überzeugen soll, wie sehr Du trotz Deiner Zärtlichkeit im Unrecht sein kannst.
Ich schreibe Dir dies alles mit ausgeruhtem Kopf, und wenn ich an den Krankheitszustand denke, in dem ich mich seit mehreren Tagen befinde, der durch Zorn und Staunen hervorgerufen ist, dann frage ich mich, wie und durch welches Mittel ich das Angerichtete ertragen werde! Um mich die Pille schlucken zu lassen, hören sie nicht auf, mir zu wiederholen, daß das alles ganz natürlich und keineswegs entehrend sei. Das ist möglich und ich glaube es; aber was wirklich zählt, ist, daß das, was für die meisten Leute richtig ist, für mich etwas ganz anderes ist.
Du hast mir gesagt, daß mein Zorn und mein Kummer bald vorüber gehen werden; Du nimmst an, daß Du mir nur zu meinem Wohle ein Kinder-Wehweh verursacht hast. Aber überzeuge Dich doch bitte von einer Sache, die Du fortwährend zu ignorieren scheinst: ich bin, wirklich zu meinem Unglück, nicht wie andere Menschen gemacht. Was in Deinen Augen eine Notwendigkeit und ein durch die Umstände hervorgerufener Schmerz ist, das kann ich nicht, das kann ich nicht ertragen.
Das läßt sich sehr gut erklären. Du kannst mich so behandeln, wie Du willst, wenn wir alleine sind, aber ich lehne alles wild ab, was meine Freiheit verletzt. Liegt nicht eine unglaubliche Grausamkeit darin, daß ich mich dem Schiedsspruch irgendwelcher Menschen unterwerfen soll, die das ungern tun und die mich gar nicht kennen? Unter uns: wer kann sich brüsten, mich zu kennen, zu wissen, wohin ich gehen will, was ich tun will und zu welcher Dosis von Geduld ich fähig bin?
Ich glaube aufrichtig, daß Du in einen schweren Irrtum verfällst. Ich sage Dir das ganz kalt, weil ich mich als einen von Dir Verdammten betrachte, und ich bin sicher, daß Du mich gar nicht hören wirst; aber halte vor allem folgendes fest: du tust mir bewußt und willentlich eine unendliche Qual an, deren ganzen durchbohrenden Schmerz Du nicht kennst.
(Undatiert, 1844; Zit. nach P. Pascal, 1972, S. ^zf.)
Dieses Flehen um Verständnis blieb erfolglos, aber der Brief gibt einen Einblick in die Realität, die hinter den Blumen des Bösen stand. Durch die Kenntnis des Früheren wird das Spätere, auch wenn es zunächst noch so verworren erscheint, oft mühelos verständlich.
Die Triebtheorie läßt diese Tatsache außer acht. Sigmund Freuds Beschreibung des Falles Schreber zeigt dies sehr eindrücklich. Freud deutet die Wahnvorstellungen und Verfolgungsängste des Patienten als Ausdruck seiner abgewehrten homosexuellen Liebe zum Vater, ohne sich darum zu kümmern, was dieser Vater früher mit seinem Kind gemacht hatte.
Nachdem Morton Schatzmann dieser Geschichte und der Persönlichkeit des Vaters nachgegangen ist, läßt sich der Verfolgungswahn des Sohnes als eine nur leicht verschlüsselte Geschichte seiner Kindheitstragödie verstehen (vgl. Schatzmann, 1973). So hat auch Freud im »Fall Schreber« eigentlich nur den letzten Akt eines ihm völlig verborgenen Dramas beschrieben.
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