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2.5  Gisela und Anita 

 

 

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Aus dem, was ich als Anwaltsfunktion des Analytikers bezeichne, ergeben sich weitverzweigte Konsequenzen, wenn man diese Bezeichnung nicht nur oberflächlich versteht. Auch im juristischen Bereich erwarten wir von einem Anwalt, daß er sich nicht darauf beschränkt, das, was ihm sein Klient berichtet, in eine vom Gericht geforderte Sprache zu übersetzen und dorthin weiterzuleiten. Wir erwarten von ihm mehr, nämlich, daß er die ihm angebotenen Fakten in einem Zusammenhang sieht, der seinem Klienten noch verborgen bleibt, daß ihm daher neue, bisher unbemerkte Tatsachen auffallen und er so in die Lage kommt, die Interessen seines Klienten besser wahrzunehmen als dieser selber. 

Ähnliches bedingt die Anwaltsfunktion des Analytikers, doch mit dem entscheidenden Unterschied, daß sein Wissen einer emotionalen Grundlage bedarf, die ihm die Erfahrung seiner eigenen Lehranalyse vermittelt. Mit diesem Sensorium ausgestattet, wird der Analytiker nicht nur theoretisch wissen, daß die Kindheit eine entscheidende Rolle im Leben seines Patienten spielt, sondern er wird auch spüren dürfen, was es für ein kleines Kind heißt, den Bedürfnissen und Ansprüchen der Erwachsenen vollständig ausgeliefert zu sein. Da ihm Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht nicht mehr fremd sind, ist seine Phantasietätigkeit nicht gehemmt; er wird die frühkindliche Situation des Patienten auch da schon erfassen, wo dieser sie noch mit Hilfe von Allmachtsphantasien oder grandiosem Verhalten, das mit Verachtung sich selber gegenüber gepaart sein kann, abwehren muß.

Die Phantasie des Analytikers kann dem blockierten Wissen des Patienten vorangehen, ohne daß die Gefahr einer Suggestion, wie bei der Vermittlung des intellektuellen Wissens, besteht. Denn die Vermutungen des Analytikers sind durchaus überprüfbar, solange sie sich auf Konkretes beziehen. Die spontane Änderung im Verhalten des Patienten kann ihren Wahrheitsgehalt bestätigen oder widerlegen.

Dies könnte durch eine Geschichte verdeutlicht werden, deren Kenntnis ich einer in der Frauen­bewegung engagierten Kollegin namens Gisela verdanke.

Gisela hatte seinerzeit intensive Kontakte mit antipsychiatrischen Gruppen vor allem in Italien, die ihr zunächst persönlich eine große Befreiung bedeuteten. Sie fühlte sich stärker, bewußter, weniger manipulierbar und hatte begreiflicherweise den Wunsch, dies auch anderen Menschen zu vermitteln. Sie arbeitete in Gruppen mit Prostituierten und gefangenen Frauen und sah überall das Unrecht, das Frauen von der Männergesellschaft zugefügt wird. Sie kämpfte gegen die Erniedrigung, Mißhandlung, Ausnützung der Frau, versuchte andere Frauen für einen Kampf zu gewinnen, der ihnen, so hoffte sie, das Bewußtsein ihrer eigenen Kraft und Würde geben könnte.

Bis zu einem gewissen Grad konnte dieses Ziel dank der Gruppenarbeit auch erreicht werden, aber die hellhörige und redliche Psychiaterin Gisela sah sich immer wieder mit Phänomenen konfrontiert, die sie zur Verzweiflung brachten. Jahrelang setzte sie sich dafür ein, daß sich Prostituierte organisierten, um nicht mehr der Diskriminierung in der Gesellschaft und der Bedrohung durch die Zuhälter ausgesetzt zu sein. Nachdem früher eine Prostituierte mit der Rache einer Zuhälter-Mafia zu rechnen hatte, wenn sie sich durch eine Anklage vor Gericht von einer quälenden und bedrohlichen Beziehung befreien wollte, so stand ihr dies nun dank der Gruppenarbeit der Frauen mehr oder weniger offen.

Doch kaum eine dieser Frauen, die in den Gruppensitzungen ihren unbändigen Haß auf die Unterdrücker unverhüllt äußerten, war dazu imstande, die ihr nun gebotene Chance der Befreiung zu nutzen. 

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Immer dann, wenn es ernst wurde, wenn das Verlassen des brutalen Mannes keine Gefahr mehr in sich schloß, kamen bei den Frauen Gefühle und Verhaltensweisen zum Vorschein, denen mit der normalen Logik, mit dem gesunden Menschenverstand und mit den besten Vorsätzen der Sozialpsychologie nicht mehr beizukommen war. 

Es genügte, daß der verhaßte Zuhälter, dessen Tod man sich so sehnlichst wünschte, den man auch mehrmals umbringen wollte, um endlich aufatmen zu können — es genügte, daß dieser Mann hilflos war, z.B. weinte oder ins Gefängnis kam, damit sein Opfer alle erdenklichen Anstrengungen machte, um dem Verfolger helfen zu können, ihn im Gefängnis zu besuchen und ähnliches mehr. Gisela war verzweifelt. Die Sklavennatur der Frau, meinte sie, gehe auf Jahrtausende ihrer Unterdrückung zurück und werde kaum je geändert werden können.

Dann aber geschah es, daß Gisela im Rahmen ihrer psychoanalytischen Ausbildung, in ihrer Lehranalyse, der eigenen Kindheit begegnete. Je genauer sie hier den frühkindlichen Ursprung ihrer ambivalenten Vaterbeziehung entdecken konnte, um so deutlicher sah sie den Wiederholungszwang der Frauen, mit denen sie in den Gruppen gearbeitet hatte. Eine dieser Frauen, nennen wir sie Anita, nahm sie in Behandlung, nachdem diese von einem Selbstmordversuch in der Klinik gerettet worden war. 

Anita arbeitete 15 Jahre lang als Prostituierte, ohne psychische Symptome, hielt ihre Gefühle hinter der Maske der Milieuanpassung auf Sparflamme, funktionierte also recht gut und bot der männlichen Gesellschaft damit gute Leistungen, ohne mit Schwierigkeiten aufzufallen. Erst nachdem sie in der Gruppe ihre Haßgefühle hatte artikulieren können, kam das Gebäude ins Wanken. Zwei Selbstmordversuche begleiteten dieses Erwachen. Das konnte Gisela zunächst nicht verstehen. Warum gerade jetzt? Jetzt, da Anita endlich spüren konnte, daß sie auch als Prostituierte, zumindest in ihrer Gruppe, geachtet wurde; jetzt, da sie um ihre Rechte kämpfen, ihren Haß zulassen konnte, ausgerechnet jetzt fing sie an, wie die Fachleute sagen, zu »dekompensieren«; in kurzer Zeit wurde sie zweimal mit einer Überdosis von Tabletten in ihrem Zimmer aufgefunden.

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Dieses Verhalten paßte in keine Theorie, und die Frage, warum und warum gerade jetzt, ließ Gisela nicht in Ruhe. Sie benutzte viele ihrer analytischen Stunden, um über Anita zu sprechen, was ihrem Analytiker zunächst den Eindruck von Ausfluchten, Ausreden, Widerständen vermittelte. Aber mit der Zeit wurde es auch ihm klar, daß Gisela im Begriffe war, etwas Wichtiges über das Frauenschicksal zu entdecken, etwas, das ihr zwar an der Grenzsituation von Anita besonders deutlich wurde, für sie selber aber ebenfalls Geltung hatte. 

Die Entdeckung begann damit, daß Gisela Anita eine psychoanalytische Behandlung anbot, in der Anita zum ersten Mal an die Schmerzen ihrer Kindheit herankam, die sie ihr ganzes Leben erfolgreich von sich hatte fernhalten können. Doch gerade die partielle Befreiung ihrer erwachsenen Gefühle von berechtigtem Zorn und Empörung in der Gruppe lösten sie von der Erstarrung und bedrohten die Abwehr gegen die frühkindlichen, aufgestauten Wutgefühle, die nie hatten leben dürfen und in denen andere Gefühle gebunden blieben, die eigentlich den wahren Menschen Anita ausmachten. 

Folgendes Schicksal stellte sich heraus: 

Während der Geburt Anitas im Jahre 1944 galt ihr Vater als tot, eine Meldung, die sich später als unwahr erwies. Die Mutter lebte zu dieser Zeit mit einem Freund zusammen, der selber zwei Söhne hatte und mit Anita abwechselnd brutal oder zärtlich war. Anita erzählte zu Beginn ihrer Behandlung, wie sie unter ihrem Stiefvater gelitten habe; daß ihre Mutter, die damals schwer arbeiten mußte, um Nahrung zu beschaffen, sie nie vor ihm in Schutz genommen habe; daß sie als kleines Mädchen oft davongelaufen sei, um bei fremden Leuten ein anderes Heim zu finden und daß sie bei dieser Gelegenheit als Vierjährige von einem Mann sexuell mißbraucht und mißhandelt worden sei. Die ganze Vorgeschichte ihres Daseins als Prostituierte schien offen dazuliegen.

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Und doch, alles, was hier erzählt wurde, war zwar dem Bewußtsein zugänglich, aber nur in der Qualität von sachlichen Informationen, wie man sie in der Zeitung lesen kann. Anita erzählte von ihrer Kindheit ohne jegliche Erregung, manchmal lachend — die gleiche Frau, die in der Gruppe in eine unbändige Wut geraten konnte, wenn sie von ihren Mordgedanken den Zuhältern gegenüber sprach. Doch diese nun freigewordenen Gefühle waren immer noch, getrennt von den Erlebnissen der Kindheit. Die Meinung ihrer Eltern, daß man dem Kind alles straflos zufügen dürfe, war in ihr so stark verinnerlicht, daß sie zunächst gar keinen Sinn darin sah, ihre kindlichen Gefühle erleben zu dürfen. Nachdem dies aber in der Analyse geschehen konnte, nachdem Anita während vieler Stunden auf der Couch über ihre Kindheit geweint hatte, kam in ihren Erinnerungen etwas Neues zum Vorschein: ihr leiblicher Vater.

Sie hatte zwar ihrer Analytikerin schon früher erzählt, daß der Vater in ihrem fünften Lebensjahr unerwartet aus der Gefangenschaft heimkehrte, nachdem er so lange als gestorben gegolten hatte, daß er zwar schwach und kränklich, aber mit der Tochter zärtlich gewesen sei, ihr schöne Lieder gesungen und Handharmonika gespielt habe, daß das Glück aber nur zwei Jahre dauerte, weil der Vater dann an Krebs gestorben sei. Diese idealisierte Version des leiblichen Vaters blieb in der Analyse sehr lange unangetastet. Auch sie tönte wie eine sachliche Information, die lediglich das Gefühl einer vagen Schwärmerei zuließ. Doch mit der Zeit wurde dieses ideale Gebäude durch echte Gefühle unterminiert. Anita fing an zu spüren, wie sie auf ihren Vater in all diesen Jahren gewartet, sich von ihm Rettung erhofft hatte, wie sie immer phantasiert hatte: »Wenn mein Papi kommt, wird er mit Mutti und dem Stiefvater schon fertig werden, er wird meine Rechte verteidigen, er wird mich beschützen, er wird nicht erlauben, daß mir Menschen so wehtun«. 

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Und nun fühlte Anita in der Analyse den Schmerz ihrer Enttäuschung: der Vater hatte sie nicht beschützt, das war nur ein schönes Märchen. Der Vater, von der Mutter verachtet, hat sich mit dem Stiefvater — mit Anitas größtem Feind — arrangiert, und auch er schlug Anita, wenn sie nicht brav war, wenn sie nicht als Püppchen funktionierte. Diese Erinnerungen kamen sehr zaghaft, Anita mußte gegen den größten Widerstand ankämpfen, und es schien zuerst, als ob sie mit dieser Illusion das Teuerste, das sie im Leben besaß, hätte aufgeben müssen. Sie zweifelte, ob sie das je würde verkraften können. 

Aber gerade der Abbau der Illusionen gab ihr ihre volle Kraft zurück und ermöglichte ihr schließlich, die tief verdrängte Wahrheit zuzulassen: daß nämlich auch der Vater nicht nur daran interessiert war, ihr Zärtlichkeit zu geben, sondern gelegentlich masturbierte, wenn er sie auf dem Schoß hatte und ihren Körper für seine Bedürfnisse gebrauchte. Dieses letzte Geheimnis hütete Anita vor ihrem eigenen Bewußtsein, um den idealisierten Vater nicht zu verlieren, aber als die Träume ihr unmißverständlich ihr Wissen von diesen Erlebnissen und die Gefühle der Empörung, Trauer und Angst vermittelten, erlebte sie eine wirkliche Befreiung von ihrem Wiederholungszwang und verstand von daher ihr ganzes Leben.

Der Prostituiertenberuf erwies sich nun bei dieser Frau als eine zwanghaft wiederholte Inszenierung ihres frühen Kindheitstraumas, in der alle unbewußten Elemente nachträglich zu finden waren: da war zunächst die Hoffnung auf die Umkehr der Rollen, auf die Rache an dem »geilen Mann«. Anita bot sich zwar, wie in der Situation des Kindes, als Spielobjekt des Mannes an, aber nun hatte sie es in der Hand, die Kontrolle über das Geschehen zu behalten, den Mann zu enttäuschen oder zu befriedigen, ihn fortzuschicken oder ihm die Gunst zu erweisen, ihn zu demütigen oder gelegentlich als einen Menschen zu behandeln. Sie verachtete die »Masochisten« unter ihren Kunden, doch — oder gerade daher — machte es ihr keine Mühe, den sadistischen Gegenpart im perversen Spiel zu übernehmen und hier ihre Macht auszukosten.

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Bewußt dachte sie: jetzt ist alles anders, ihr könnt euch das Vergnügen bei mir holen, aber dafür müßt ihr zahlen, mich kann man nicht mehr ohne Gegenleistung haben. Aber unbewußt setzte sich die frühe Tragödie an einem andern Ort fort, denn Anita hat die Hoffnung auf den beschützenden Vater ihrer ersten Jahre nie aufgeben können. Je grauenhafter die Gegenwart sich zuspitzte, je perfider sie von ihren Zuhältern belogen, je brutaler sie geschlagen wurde, um so weniger konnte sie die Hoffnung aufgeben, daß ihre Liebe diesen Mann verändern könnte oder daß der nächste der erwartete Erlöser sein werde. 

Man kann nur bewußte Erwartungen aufgeben, aber Haltungen, die so tief in unbewußten Gefühlen der frühen Kindheit wurzeln, kann man erst aufgeben, wenn man sie bewußt und nicht nur in der Gegenwart, sondern im Zusammenhang mit der Vergangenheit erlebt hat. Das ist in Anitas Analyse insofern gelungen, als es ihr möglich war, mit Hilfe der Übertragung die intensiven Gefühle der ohnmächtigen Wut, des totalen, hoffnungslosen Ausgeliefertseins an die gehaßten und geliebten Zuhälter im Zusammenhang mit ihrem leiblichen Vater zu erleben. Dazu kam die Trauer über die Unerfüllbarkeit der einstigen Rachewünsche, die trotz der fünfzehnjährigen Triumphe über die Männer niemals befriedigt werden konnten, weil das kleine Mädchen von damals und ihre damalige Situation nicht mehr existierten. 

Erst diese Trauerarbeit ermöglichte Anita den Verzicht auf die ihr Leben durchziehende Hoffnung, die Hoffnung auf einen sie beschützenden Mann. Und erst dieser Verzicht hatte eine angstfreie, nicht selbstdestruktive Loslösung von der sado-masochistischen Beziehung mit dem letzten Zuhälter zur Folge. In diesem Stadium wurde es Anita zur Gewißheit, was in den Selbstmordversuchen nur eine schwache Ahnung gewesen war: daß die Befreiung ihrer echten Gefühle mit ihrem Beruf für sie nicht mehr vereinbar war. 

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Das bewußte Motiv der Selbstmordversuche war: »ich kann nicht mehr arbeiten, bin lebensuntüchtig«; das unbewußte aber war die Ahnung, daß mit dem Befreien des wahren Selbst Gefühle von Demütigung nicht mehr zu vermeiden waren, daß sie sich natürlicherweise einstellen, wenn man sich als Objekt der Sexualspiele des andern bzw. als Manipulator seiner Not und nicht als gleichwertiger Partner erlebt. Es ist nicht erstaunlich, daß Anita am Ende dieser Entwicklung nicht vor einem beruflichen Vakuum stand, sondern sogar Mühe hatte, zwischen verschiedenen beruflichen Möglichkeiten zu wählen. Nachdem sie eine Weile mit dem Gedanken an Sozialarbeit gespielt hatte, entschloß sie sich schließlich für den »egoistischen« Beruf der Dekorateurin, in dem sie ihre kreativen Möglichkeiten ausgiebiger leben konnte. Schon als kleines Kind wollte sie immer ein schönes Heim haben, hatte immer sehr viel Geschmack im Einrichten gehabt, und nun durfte sie ihr Hobby zum Beruf ausbauen.

Gisela, ihre Analytikerin, fragte sich nach dem Abschluß dieser Behandlung: Was geschieht eigentlich, wenn wir so tun, als ob es sich bei der Prostitution um einen Beruf wie jeden anderen handele? Helfen wir nicht in gutem Glauben eine ganze Menge gesellschaftlicher Verleugnungen aufrechtzuerhalten? Was ist das für ein Beruf? Ist er überhaupt ohne Erniedrigung der Frau möglich? Und beruht der ehrlich gemeinte Kampf um die soziale Anerkennung dieses Berufes nicht auf der Verleugnung der natürlichsten menschlichen Gefühle und Bedürfnisse von Würde, sexueller Gleichberechtigung und Partnerschaft? Sind Ideale wie Gleichberechtigung der Geschlechter und sexuelle Freiheit mit der Prostitution vereinbar? Ist der Kampf um den sozialen Status einer Prostituierten nicht eine Vernebelung der eigentlichen sozialen Ungerechtigkeit? Und was steht hinter dem Schicksal eines Zuhälters? Was bewegt einen Mann dazu, sich Frauen gefügig zu machen, von ihrer Sexualität mit anderen Männern zu profitieren, sie zu erniedrigen, zu belügen, zu bedrohen?

Welche Rache an der Mutter muß der Zuhälter mit Hilfe seiner weiblichen Opfer vollziehen? Ein Mann, der von seiner Mutter als Kind ausgebeutet wurde, kann verschiedene Wege finden, um diese Ausbeutung mit umgekehrten Vorzeichen unbewußt neu zu inszenieren. Es hängt von seiner Persönlichkeit und seinem Bildungsgrad ab, ob er ein charmanter Verführer wird oder ein brutaler Zuhälter, in beiden Fällen bleibt er heimatlos. Er kennt keine Partnerschaft, weil er das Vertrauen nicht kennt. Er hält sich an das Manipulieren, weil für ihn nur die Alternative des Manipuliert­werdens existiert. Um diesem Horror zu entrinnen, muß er der Herr sein und bleiben. 

 

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B  6. TRENNUNGSSCHMERZ UND AUTONOMIE 

(NEUAUFLAGEN DER FRÜHKINDLICHEN ABHÄNGIGKEIT)

 

Was geschieht, wenn ein Mensch nicht das Glück hatte, seine sehr frühe Abhängigkeit von den Eltern und die dazu gehörenden Trennungsängste zu erleben, um sich von den Ansprüchen der verinnerlichten Eltern trennen zu können — sei es, weil er keine Analyse machte, sei es, weil sein Analytiker dieses Glück nicht hatte und es daher auch seinem Analysanden nicht ermöglichen konnte? 

Diese Menschen bleiben meistens auf Neuinszenierungen der alten Verhältnisse in der passiven oder aktiven Rolle angewiesen. Das ist eine tragische Situation, für die wir allzuschnell moralische Urteile zur Hand haben, und wir werfen sehr leicht diesen Menschen Mangel an Zivilcourage oder gar Feigheit vor. Solche Urteile tragen der Tatsache kaum Rechnung, daß die Ursachen dieser »Feigheit« manchmal in den ersten Wochen oder Tagen eines Lebens wurzeln. An der Problematik des Verführers ließe sich das aufzeigen.

Die Gestalt des Don Juan übt auf Dichter, Musiker und bildende Künstler eine große Faszination aus, und dies mag an der Tatsache liegen, daß sie etwas von ihrem Leben verkörpert. Es handelt sich um die Geschichte und die Motivation des Verführers, der immer wieder eine neue Frau braucht, um in ihr Hoffnungen zu wecken, die er enttäuschen muß. Dieser Mann kann von außen, gewissermaßen von der Perspektive des Opfers, der enttäuschten Frau, erlebt und geschildert werden oder von innen, falls der Künstler die Scheu überwunden hat, sich mit diesem Mann zu identifizieren. Fellinis Casanova könnte als Beispiel für das erste und La città delle donne für das zweite dienen. Die Fähigkeit zur offenen Identifikation mit der Gestalt des Don Juans zeigt sich nicht unbedingt im Gebrauch der Ichform. Der Verführer von Sören Kierkegaard schreibt zwar in der ersten Person, wird aber mit moralisierender Distanz geschildert.

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Andererseits ist z.B. Frederic Moreau in der Education sentimentale von Flaubert eine erfundene Roman­figur, und doch spürt man, daß Gustave Flaubert hier — wie auch in der Madame Bovary — z.T. die Qualen seiner eigenen Seele beschreibt. Der Verführer wird von vielen Frauen geliebt, bewundert, gesucht, weil er mit seiner Haltung in ihnen Hoffnungen und Erwartungen weckt. Es sind die Hoffnungen, daß die in ihnen seit der frühen Kindheit aufgespeicherten, weil unerfüllten Bedürfnisse nach Spiegelung, Echo, Achtung, Respekt, Zuwendung, Verständnis und Austausch nun, durch ihn, erfüllbar sein könnten. Aber der Verführer wird von den Frauen nicht nur geliebt, er wird von ihnen auch gehaßt, weil er ihre Bedürfnisse nicht erfüllen kann und schließlich die Frau verläßt. Sie empfindet diese Enttäuschung als Betrug und als Entwertung ihrer Person, weil sie seine Gründe höchstens spüren, aber nicht verstehen kann, denn er selbst versteht sich nicht. Könnte er das, müßte er nicht die gleiche Inszenierung immer neu wiederholen.

Was ich über das Schicksal des Verführers von meinen Patienten aus ihrer Perspektive gelernt habe, kann ich nur anhand des Flaubertschen Romans anzudeuten versuchen. In allen diesen Fällen war das Damoklesschwert der frühen Kindheit die Zerbrechlichkeit der Mutter, d. h. die Gewißheit, daß jede Weigerung des Kindes eine totale Ablehnung seitens der Mutter, also ihren Verlust zur Folge gehabt hätte. Diese erste Abhängigkeit versucht der Verführer als erwachsener Mann mit seinen Partnerinnen aufzuheben und durch das Verlassen der Frau das Verlassenwerdenkönnen durch die Mutter beim »Nein« des Kindes ungeschehen zu machen. Er schenkt ihr die Bewunderung und die affektive Zuwendung, die er einst auch bekam, und läßt sie dann plötzlich fallen. 

Aber diese Umkehrung des passiv Erlittenen in aktives Verhalten schöpft die Problematik nicht aus. 

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Das Besondere, das mir bisher nur bei Flaubert begegnet ist, liegt in dessen wohl unbewußter Einsicht, daß hinter dem, was sich als Freiheit geben möchte, eine tiefe, sehr frühe Abhängigkeit verborgen bleibt. Es ist die Abhängigkeit eines Menschen, der nicht »nein« sagen darf, weil seine Mutter es nicht ertrug und der sich zugleich sein Leben lang verweigert, in der Hoffnung, das nachholen zu können, was ihm bei der Mutter nie möglich war, nämlich sagen zu können: »Ich bin Dein Kind, aber Du hast keinen Anspruch auf meine ganze Person und mein ganzes Leben.« Da der Verführer diese Haltung erst als erwachsener Mann mit Frauen annehmen kann, nicht aber in der frühen Mutterbeziehung, können diese Siege die erste Niederlage nicht ungeschehen machen; und da die Siege den Schmerz der ersten Kindheit zudecken, können die alten Wunden nicht heilen. Der Wiederholungszwang wird perpetuiert.

In Frederic Moreau hat Flaubert einen Menschen geschaffen, den man wohl leicht als feige bezeichnen könnte — einen Mann, dem es nicht gelingen will, sich den Wünschen der Frauen zu entziehen und der sich daher in die Lüge rettet. Die Mutter Frederics erscheint zwar nur am Rande der Handlung, aber ihre Charakteristik genügt, um zu sehen, daß die verschiedenen Frauen des Romans verschiedene Seiten der Mutter verkörpern. Madame Arnoux ist die idealisierte, aber unzugängliche, Rosanette die naive und anspruchsvolle und Madame Dambreuse schließlich die grausame, demütigende und zugleich verführende, verliebte Mutter. Die Feigheit von Frederic Moreau ist die Tragik eines narzißtisch mißbrauchten Kindes, er kann sich nicht wehren, außer wenn man ihn offen sadistisch behandelt. In allen anderen Situationen, besonders wenn die Frau schwach und abhängig ist, ist er ihr völlig ausgeliefert. Er kann sich ihr nicht entziehen, er bringt das Geld, das sie braucht, er gibt ihr die Versprechen, auf die sie wartet, auch wenn er sie nicht einlösen wird. Das Interesse der Frau geht dem seiner Bedürfnisse immer vor. Das muß natürlich zu einer Lebenslüge führen, denn man muß seine Wahrhaftigkeit verlieren, wenn man in den entscheidenden Momenten des Lebens nicht »nein« sagen darf.

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Möglicherweise spiegelt sich in der Person Frederic Moreaus die Situation vieler Männer, die als Verführer bezeichnet werden. Die Sehnsucht nach Liebe und Verständnis, nach Verstehen und Verstandenwerden führt den Verführer, den klassischen Don Juan, zu den verschiedenen Frauen, mit denen er aber seine Enttäuschungen nicht offen austragen kann, weil er eine Mutter hatte, die Offenheit nicht ertrug, und er damit keine Erfahrungen machen konnte. So muß er die Frauen, wie einst seine Mutter, mit Hilfe der Lüge schonen, und er flüchtet von einer zur anderen. Da er sich nicht abgrenzen kann, solange die Frau hilflos ist, muß er sie dazu provozieren, mit ihm grausam zu werden, damit er wieder ein Stück Freiheit gewinnen kann. 

Doch auch diese Provokation kann nicht offen geschehen, sie entsteht gegen seinen Willen und ist ihm selber peinlich, sie ist nun einmal von selber da, in dem Moment, in dem die Frau seine Unaufrichtigkeit entdeckt. Verhält sich die Frau liebevoll, so ist er zerknirscht und voller Schuldgefühle, wird sie aber bei der nächsten Gelegenheit wieder betrügen müssen, um sich ein Stück Illusion der Freiheit, d.h. der Abgrenzung von der Mutter, zu verschaffen. Diese Gelegenheit bekommt er, wenn die Frau mit Rache und Grausamkeit auf seine Unehrlichkeit reagiert. Dann kann er sie verlassen, u.U. für immer, und wird sich einer anderen Frau zuwenden, die zunächst wie alle früheren handelt, von seiner Empfindsamkeit, Einfühlungsgabe, Anpassungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft so bezaubert ist, daß sie bereit ist, die anfänglichen Unaufrichtigkeiten um jeden Preis zu übersehen. Aber der Preis steigt immer mehr, sofern die Geliebte im Unbewußten des Verführers ein Substitut der einstigen Mutter ist, die vom kleinen Kind unbedingte Anpassung forderte. Dann wird auch das subtilste Verständnis der Partnerin das Vergangene nicht ungeschehen

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machen können, und die neue Partnerin wird mit allen unbewußten Mitteln dazu gezwungen werden, grausam und verständnislos zu werden, denn sie kann tatsächlich nicht verstehen, was vor sich geht und warum sie immer wieder belogen wird.

Die Feigheit Frederic Moreaus ist eine Tragödie, wie wahrscheinlich jede Feigheit. Ob ein Mensch ehrlich werden durfte, hängt vermutlich davon ab, wieviel Wahrheit seine Eltern ertragen konnten und welche Sanktionen sie dem Kind dafür aufgebürdet haben. Gerade anhand der Geschichte Frederic Moreaus ist es mir aufgegangen, wie untauglich die moralischen Kategorien von Feigheit und Tapferkeit sind und wieviel mehr der Mut im Grunde mit dem Kinderschicksal des Einzelnen zu tun hat. 

Wo es darum ging, seine politischen Zweifel zu äußern, auch wenn diese in krassem Gegensatz zu den herrschenden Ansichten standen, durfte z.B. Gustave Flaubert sehr viel Mut entwickeln. Die Schärfe seiner Beobachtungen ist beinahe unübertrefflich, und seine Analyse der Anpassung im politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben spiegelt seine Verachtung für jede Form der Lüge. Hinter dieser Verachtung verbirgt sich aber möglicherweise der unbewußte Schmerz des Kindes, das einst seine scharfen Beobachtungen im Dienste der notwendigen Anpassung verleugnen mußte und für das daher die letzte Ehrlichkeit, nämlich die Offenheit mit dem nächsten Menschen, im Grunde das höchste, aber unerfüllbare Ideal geblieben ist. Denn dieses Ideal zu verwirklichen hätte einst zur Voraussetzung gehabt, vor der eigenen Mutter ehrlich sein zu können und sie verlassen zu dürfen, als die Zeit dafür reif war. Es hätte auch bedeutet, ihr den echten Grund seiner Tränen nicht verheimlichen zu müssen (vgl. G. Flaubert, 1971, S. 656), nicht immer zuerst auf ihre Hilfsbedürftigkeit und ihre Depressionen Rücksicht nehmen und nicht mit der Krankheit für die Freiheit zum Schreiben bezahlen zu müssen. Um zu verstehen, warum all dies Flaubert verwehrt blieb, genügte es Jean Paul

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Sartres Charakteristik der Mutter Flauberts zu lesen (vgl. J. P. Sartre, 1977, Band I) oder sich die ehrgeizige, materialistische, bigotte Mutter Frederic Moreaus vorzustellen. Der Leser des Romans wird sich nicht wundern, daß der Sohn seine Gefühle von ihr fernhalten und sie weder lieben noch hassen kann. Die intensiven Gefühle seiner frühen Kindheit sind ihm nur in der Transposition auf die späteren geliebten und gehaßten Partnerinnen zugänglich. Dieses traurige Schicksal teilt mit Frederic Moreau nicht nur Gustave Flaubert, sondern eine große Anzahl von Männern.

Frederic Moreau erzählt am Schluß des Romans, daß er einst als Halbwüchsiger einen großen Blumenstrauß im Garten seiner Mutter pflückte, um ihn »anderen Frauen« zu bringen, den Frauen, die »für Geld Liebe verkauften«, aber im letzten Moment floh er vor ihnen aus Angst, »weil er glaubte, daß sie sich über ihn lustig machten« (G. Flaubert, 1971, S. 684/5). Diese Jugenderinnerung, mit ihrem ganzen symbolischen Gehalt verstanden, gibt den Schlüssel nicht nur zur psychologischen Interpretation der Edu-cation sentimentale, sondern auch zum Verständnis des Lebens von Gustave Flaubert: Die Blumen aus dem Garten seiner Mutter, die Gesamtheit der Gefühle, die Flaubert mit seiner Mutter verbanden: die Liebe und der Haß, die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und die Auflehnung, die Intensität der inneren Welt und die Wut auf das Mißbrauchtwerden, die Bindung und das Bedürfnis nach Freiheit, alles das mußte zurückgehalten werden, durfte nur in Romangestalten leben, führte zu großer Vorsicht den Frauen gegenüber, zu quälenden körperlichen Symptomen und zu einer lebenslangen, aber gefühlsarmen Bindung an die Mutter.

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Der Weg von der kindlichen Idealisierung der Eltern zur wirklichen, reifen Eigenständigkeit ist ein langer Prozeß und führt gewöhnlich durch tiefe Auseinandersetzungen mit den Eltern der ersten Lebensjahre, die an Gruppen,

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theoretischen Schulen, Ideologien, Partnern, an eigenen Kindern und schließlich gegebenenfalls an der Person des Analytikers zum erstenmal mit Gefühlen erlebt werden, deren Heftigkeit zwar aus der Kindheit stammt, die aber niemals in der Kindheit haben gelebt werden dürfen (vgl. A. Miller, 1979).

Schauen wir uns die Inszenierungen der ersten Abhängigkeit noch genauer an.

Wenn wir in der Pubertät oder Adoleszenz die Gedankenwelt unserer Eltern verlassen, so tun wir das nicht, um allein zu bleiben. Wir schließen uns Gruppen an, wir finden andere Ideen, neue Vorbilder, deren Gedanken uns mehr einleuchten als diejenigen unserer Eltern. Bei diesen Vorbildern kann es sich um Menschen handeln, die wir kennen und bei denen wir überzeugt sind, daß sie klüger und erfahrener als wir selber sind. Es kann sich auch um Zeitgenossen handeln, die wir nicht kennen und von weitem verehren und schließlich auch um Träger von sehr berühmten Namen, um Gründer von politischen Bewegungen, Schöpfer großer Theorien und dergleichen. Oft gibt uns erst die geistige Trennung vom Elternhaus die Möglichkeit, von dieser neuen Bereicherung zu profitieren, d. h. uns eine Horizonterweiterung zu verschaffen, ohne auf die Geborgenheit der vorgefundenen Theorien verzichten zu müssen. Denn ein solcher Verzicht ist im Adoleszenzalter kaum möglich.

Es hängt nun von der Art der frühesten Eltern-Kind-Beziehung ab,' welche Formen die ursprüngliche Befreiung der Adoleszenzzeit im späteren Leben annehmen wird und ob sich die neue Geborgenheit nicht zu einem zweiten, diesmal endgültigen Gefängnis entwickelt. Da es den meisten Menschen nicht wie Goethe geschenkt wird, »mehrere Pubertäten zu erleben«, wird in der Postadoleszenz die Geborgenheit höher bewertet als die Freiheit. Vor allem wird es aber von den frühesten Erfahrungen eines Menschen abhängen, ob er mit den neuen Theorien kreativ umgehen darf, um schließlich seinen eigenen

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Standpunkt zu finden, oder ob er sich an die Orthodoxie einer Schule ängstlich klammern muß. Wenn der Betreffende als Kind zum unbedingten Gehorsam erzogen wurde, ohne je dem Auge des Erziehers entkommen zu können, wird er in Gefahr sein, als Erwachsener Theorien zu verabsolutieren, ihnen hörig zu bleiben, auch wenn die Inhalte dieser Theorien von Worten wie Freiheit, Autonomie, Fortschritt geradezu strotzen. Jede Theorie verträgt sich ohne weiteres mit einem hörigen Verhalten ihr gegenüber, weil der emotionale Bereich des Menschen auch von den richtigsten Gedanken unberührt bleiben kann. Die Verfechtung freiheitlicher Gedanken mit autoritären, orthodoxen Mitteln, das Heranzüchten von Hörigkeit und Konformismus im Namen des geistigen Fortschritts gehören bereits so stark zu unserem normalen Leben, daß uns der Widerspruch kaum mehr auffällt. 

Wie ist es aber psychologisch zu erklären, daß der gleiche Mensch, der den vermeintlichen und realen Feinden gegenüber viel Scharfsinn und Kritikfähigkeit an den Tag legt, zugleich eine rührende, kleinkindliche Treue und Hörigkeit bewahrt hat, wenn es sich um Diktate seiner eigenen Gruppe handelt? Jeder, der Gruppenerfahrung hat, weiß, wie lebenswichtig ihm zuweilen eine solche Zugehörigkeit erscheinen kann. Schon ein ganz kurzer Aufenthalt in einer Gruppe kann einem das Gefühl des mütterlichen Bodens, der guten, nie gehabten Symbiose mit der Mutter verschaffen, in der man sich nicht nur geborgen, sondern auch frei und wohl fühlt und sich adäquat artikulieren kann. So wäre es tatsächlich gewesen, wenn man die gute Symbiose mit der Mutter gehabt hätte. Da die Gruppe aber ein Ersatz ist, kann sie die Suche nach dem Vermißten nie zum Abschluß bringen, weil hier die Trauerarbeit notwendig wäre. Jede Sucht schafft die alte Sehnsucht nicht ab, sondern perpetuiert in der Wiederholung die ehemalige Tragik. Die Alkoholflasche oder die Zigarette, die man in der Hand halten kann, bei Nichtbedarf abstellen und bei Bedarf sofort holen, schafft das

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Wohlbefinden, das eine verfügbare Mutter geben kann. Da die reale Mutter aber nicht verfügbar war (sonst wäre das einstige Kind nicht süchtig geworden), durfte das Kind weder eine gute Symbiose noch eine befreiende Trennung erfahren und bleibt sein Leben lang von der nie gehabten Wunschmutter abhängig. Das Suchtmittel verschafft deshalb nicht nur das Wohlbefinden, sondern die Qualen des Abhängigseins.

 

Wenn die Gruppe diese Ersatzfunktion übernommen hat, dann schafft sie zwar die Illusion einer besseren Mutter, fordert aber gnadenlos Anpassung wie einst die reale. Da sich die Vorgeschichte dieser Situation sehr früh im Leben abgespielt hat, ist diese für den Betreffenden kaum durchschaubar. Seine Anpassung fällt ihm gar nicht auf, weil er die Fähigkeit zur Kritik nicht vollständig eingebüßt hat und sie außerhalb der Gruppe, auch den gegenwärtigen Eltern gegenüber, frei ausüben kann. Nur die eigene Gruppe, die einst in der Adoleszenz frei gewählte und so viel versprechende Gruppe, übt inzwischen den gleichen, nicht verbalisierten Terror aus, wie es die Erwartungen der Mutter im ersten Lebensjahr taten. 

Der Gedanke, Meinungen zu haben, die ganz von den in der Gruppe herrschenden abweichen, kann so starke Existenzängste hervorrufen, daß sich solche Meinungen erst gar nicht bilden können. Diese Ängste sind meistens real nicht begründet, stammen aber aus einer Zeit, in der es tatsächlich für den Säugling lebensgefährlich gewesen wäre, mit seinem unangepaßten Verhalten den Liebesverlust, d. h. den Verlust der Mutter zu riskieren. Sie sind es, die einen Menschen mit einer solchen Vorgeschichte, auch bei hervorragenden intellektuellen Fähigkeiten, hindern können, sich von der Diktatur der Gruppe zu befreien. Diese Gruppe muß nicht räumlich überschaubar sein, es kann sich auch um eine gewählte Ideologie, Partei oder bestimmte Theorien vertretende Schule handeln.

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Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, daß die Analysanden tiefste Verlassenheits-, ja sogar Todesängste ausstehen müssen, wenn sie innerhalb der Gruppe, zu der sie sich zugehörig fühlen, Ansichten vertreten müssen, die von denen in der Gruppe herrschenden divergieren. Dieses Bedürfnis, sich in der eigenen Gruppe echt artikulieren, also auch kritisch sein zu können, kann aber noch größer werden als die Angst davor und taucht regelmäßig auf, wenn man in der Analyse voll realisiert hat, wie stark man sich als kleines Kind hat anpassen müssen. Häufig, aber nicht immer, reagiert die Gruppe ähnlich wie die Eltern der frühen Kindheit mit Ablehnung und Feindseligkeit, weil die Abwehrmechanismen der anderen Mitglieder in Gefahr geraten, wenn einer aus der Konformität aussteigt. Doch auch in solchen Fällen kann es geschehen, daß der Analysand glücklich in die Stunde kommt und erzählt: »Jetzt verstehe ich meine Angst, es war nicht Feigheit, die Angst war begründet. Sie haben mich alle voll Haß angeschaut und über mich gespottet, nur weil ich das sagte, was ich empfand und dachte und was einige von ihnen auch empfinden, davon bin ich überzeugt, aber es nicht formulieren können oder dürfen. Obwohl es sehr schmerzhaft war zu sehen, daß ich auf einmal alle Sympathien verloren habe, ahnte ich vage, daß ich nicht nur der Verlierer war.«

Doch der Gewinn kommt erst viel später. Zunächst leidet der Patient sehr unter der Erkenntnis, daß er für das, was er als Zuwendung hielt, sein ganzes Leben lang mit Anpassung bezahlte. Er realisiert das Ausmaß seiner Vereinsamung erst, als es ihm klar wird, daß er sich bisher an das Lächeln einer Maske geklammert hatte. Nun, da die Masken auf beiden Seiten gefallen sind, braucht er sich nicht mehr anzustrengen und gewinnt zunehmend an Freiheit. Die Anerkennung der Gruppe aufs Spiel zu setzen, kann sehr frühe Verlassenheitsängste mobilisieren und hat oft den Sinn, diese Ängste im Schutz der Analyse zu erleben. Der Patient kann auch in der Neuinszenierung mit dem Analytiker das Trauma des Ausgestoßenseins als Strafe für die Treue zu sich selbst erleben, die zu vermeiden er als Kind erlernt hat. 

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Diese Erfahrung gibt ihm schließlich die Kraft, die letzte Einsamkeit in der Auflehnung gegen den Analytiker durchzustehen und zu überleben — nun begleitet vom empathischen inneren Objekt, das inzwischen stark genug wurde, um das Kind im Patienten zu begleiten und zu beschützen.

 

Diese Entwicklung bleibt sehr oft auf halbem Wege stecken, dann nämlich, wenn sich der Analysand von den in der Jugend idealisierten Systemen, Schulen, Parteien, Ideologien distanzieren kann, aber in ihnen immer noch die eigenen Eltern bekämpft, die ihn enttäuscht haben. Solange diese Enttäuschung, das Gefühl von Mißbraucht-, Ausgenutzt-, Irregeleitetwordensein nicht im Zusammenhang mit der eigenen frühen Kindheit erlebt worden ist, ist die Analyse nicht abgeschlossen, und die Verfügbarkeit für Ideologien bleibt bestehen. 

Ich möchte mit Hilfe einer Stelle von C. G. Jung aus dem Jahre 1934 diesen Gedanken illustrieren:

Das arische Unbewußte.... enthält Spannkräfte und schöpferische Keime von noch zu füllender Zukunft.... Die noch jungen, germanischen Völker sind durchaus imstande, neue Kulturformen zu schaffen, und diese Zukunft liegt noch im Dunkeln des Unbewußten in jedem Einzelnen als energiegeladene Keime, fähig zu gewaltiger Flamme. Der Jude als relativer Nomade hat nie und wird voraussichtlich auch nie eine eigene Kulturform schaffen, da alle seine Instinkte und Begabungen ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk zu ihrer Entfaltung voraussetzen . . . Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische . . . Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, daß sie jüdische Kategorien, die nicht einmal für alle Juden verbindlich sind, unbesehen auf den christlichen Germanen oder Sklaven verwandte. Damit hat sie nämlich das kostbarste Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferischen ahnungsvollen Seelengrund, als kindisch-banalen Sumpf erklärt, während meine warnende Stimme durch Jahrzehnte des Antisemitismus verdächtigt wurde. Diese Verdächtigung ist von Freud ausgegangen.

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Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf die eine ganze Welt mit erstaunten Augen blickt, eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grund, der alles andere ist, als der Kehrichtkübel unerfüllter Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments; eine Bewegung, die ein ganzes Volk ergreift, ist auch in jedem einzelnen reif geworden. (C. G. Jung, G. W. X, 1974, S. 190/191)

 

Von einer notwendigen Anpassung an das Naziregime kann hier keine Rede sein, weil C. G. Jung ein Schweizer war und diese Sätze aus eigener Überzeugung schrieb. Auch die affektive, persönliche Beteiligung ist hier un-überhörbar und gibt dem, was man als ideologischen Unsinn ansehen könnte, den eigentlichen, weil aus der Kindheit stammenden und dem Schreiber selber unbewußten Sinn. Damit meine ich nicht Jungs Empörung über den Juden Freud, von dem er sich in seiner schöpferischen Potenz nicht verstanden fühlte und dessen Grenzen als Vaterersatz er schmerzlich erlebte. 

Ich kann mir kaum vorstellen, daß Jung über den Zusammenhang dieser verworrenen Stelle mit seiner Ambivalenz Freud gegenüber, die ihm ja nicht unbewußt war, nichts geahnt hat. Doch wie sehr hier seine frühkindlichen Gefühle dem eigenen Vater gegenüber durchbrechen, hat er vermutlich nicht geahnt, sonst hätte er diese Stelle nicht so geschrieben. Freud war die Vaterfigur der Adoleszenz, und dessen Triebtheorie erlebte Jung vielleicht wie die Einschränkungen der religiösen Erziehung seines Vaters. Aus der oben zitierten Stelle kann ich die Klage eines Kindes herauslesen, das ruft: »Du hast meine Seele nie verstanden, auf meine Kräfte nie vertraut, wolltest mich in die Enge Deiner Vorschriften und Deines Weltbildes einsperren. Das habe ich immer vage gespürt, ohne es sagen zu können; jetzt endlich sagen es auch die andern, jetzt endlich kommt die Befreiung.«

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Hätte Jung diese Gefühle in einer eigenen Analyse erleben und akzeptieren dürfen, wären sie nicht in dieser unkontrollierten und für den Leser von heute so peinlichen Form zum Ausdruck gekommen. Aber moralisierende Urteile führen auch hier nicht weiter. Es scheint mir aufschlußreicher, in diesem Text durch die Enttäuschung des jungen Mannes an seinem bewunderten Lehrer Freud hindurch bis zur kindlichen Verzweiflung des hochbegabten, lebendigen Kindes an seinem Vater vorzudringen. Dann läßt sich die Stelle anders verstehen, z.B. so: »Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen religiösen Erziehung (= medizinischen Psychologie) gewesen, daß sie protestantische (= jüdische) Kategorien, die nicht einmal für alle Pfarrer verbindlich sind, unbesehen auf das Kind (= christliche Germanen und Sklaven) verwandte. Damit hat sie nämlich das kostbarste Geheimnis des Menschen (= germanischen Menschen), seinen schöpferisch ahnungsvollen Seelengrund, als kindischbanalen Sumpf erklärt, während meine warnende Stimme durch Jahrzehnte der Sünde (— des Antisemitismus) verdächtigt wurde. Diese Verdächtigung ist vom Vater (= Freud) ausgegangen.«

Wenn man bedenkt, daß die durch die Bekanntschaft mit Freud und durch die Berührung mit dem Unbewußten ausgelösten Gedanken C. G. Jungs in seiner Umwelt nur als äußerst fremd und bedrohlich erlebt werden konnten, bekommt man einen zusätzlichen Einblick in den Wiederholungszwang. Auf seine Begeisterung für den Nationalsozialismus dürften viele Menschen, die er schätzte, vermutlich mit dem gleichen Unwillen, zumindest innerlich, reagiert haben wie früher seine Umgebung auf die Ideen seiner Jugend. Aber nun mußte er nicht das Ausgestoßensein fürchten, weil er sich Ideen anschloß, die gerade an die Herrschaft kamen.

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Die nie gelebte und daher nicht gelöste frühkindliche qualvolle Abhängigkeit muß nicht unbedingt in der Hörigkeit von Gruppen und Ideologien, die das Abreagieren der früh verdrängten Wut auf die äußeren Feinde ermöglicht, perpetuiert werden. Der Kompromiß zwischen der Notwendigkeit, die Eltern zu schonen, und dem Bedürfnis, seine wahren Gefühle auszudrücken, kann sich verschiedener Abwehrmechanismen bedienen. So konnte z.B. eine streng pietistisch erzogene Patientin ihre Eltern schonen, indem sie zunächst ihre erwachte Wut auf Gott richtete. In Gott, an den ihre Eltern glaubten, hoffte Inge zunächst den starken Vater gefunden zu haben, der ihre Gefühle ertragen könnte, der nicht wie ihr eigener Vater unsicher, kränkbar und kränklich war, dem man Enttäuschungen, Verzweiflung und Vorwürfe zumuten konnte, ohne Angst haben zu müssen, ihn dabei zu töten. Sie las Nietzsche, genoß den Satz »Gott ist tot« und schrie einmal auf der Couch auf: »Die Geschichte der Eva im Paradies ist eine Gemeinheit, warum hat Gott ihr den Baum der Erkenntnis vor die Nase gestellt und ihr verboten, davon zu essen?« Sie brachte mir einmal Grimms Märchen »Marienkind«, das ihr ihre Mutter öfters erzählt und das sie selber als Kind so sehr gemocht hatte. 

 

Der Text dieses Märchens:

Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau, der hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Eines Morgens ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm »ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins: du bist arm und dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter sein und für es sorgen.« Der Holzhacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold, und die Englein spielten mit ihm. 

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Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau Maria zu sich und sprach »liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schlüssel zu den dreizehn Türen des Himmelreichs in Verwahrung: zwölf davon darfst du aufschließen und die Herrlichkeiten darin betrachten, aber die dreizehnte, wozu dieser kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten: hüte dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich.« Das Mädchen versprach, gehorsam zu sein, und als nun die Jungfrau Maria weg war, fing es an und besah die Wohnungen des Himmelreichs: jeden Tag schloß es eine auf, bis die zwölfe herum waren. In jeder aber saß ein Apostel und war von großem Glanz umgeben, und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit, und die Englein, die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm. Nun war die verbotene Tür allein noch übrig; da empfand es eine große Lust zu wissen, was dahinter verborgen wäre, und sprach zu den Englein »ganz aufmachen will ich sie nicht und will auch nicht hineingehen, aber ich will sie aufschließen, damit wir ein wenig durch den Ritz sehen.« — »Ach nein«, sagten die Englein, »das wäre Sünde: die Jungfrau Maria hat's verboten, und es könnte leicht dein Unglück werden.« Da schwieg es still, aber die Begierde in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern nagte und pickte ordentlich daran und ließ ihm keine Ruhe. Und als die Englein einmal alle hinausgegangen waren, dachte es »nun bin ich ganz allein und könnte hineingucken; es weiß es ja niemand, wenn ich's tue.« Es suchte den Schlüssel heraus, und als es ihn in der Hand hielt, steckte es ihn auch in das Schloß, und als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch um. Da sprang die Türe auf, und es sah da die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen. Es blieb ein Weilchen stehen und betrachtete alles mit Erstaunen, dann rührte es ein wenig mit dem Finger an den Glanz, da ward der Finger ganz golden. Alsbald empfand es eine gewaltige Angst, schlug die Türe heftig zu und lief fort. Die Angst wollte auch nicht wieder weichen, es mochte anfangen, was es wollte, und das Herz klopfte in einem fort und wollte nicht ruhig werden: auch das Gold blieb an dem Finger und ging nicht ab, es mochte waschen und reiben, soviel es wollte. 

Gar nicht lange, so kam die Jungfrau Maria von ihrer Reise zurück. Sie rief das Mädchen zu sich und forderte ihm die Himmelsschlüssel wieder ab. Als es den Bund hinreichte, blickte ihm die Jungfrau in die Augen und sprach »hast du auch nicht

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die dreizehnte Türe geöffnet?« — »Nein«, antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf sein Herz, fühlte, wie es klopfte, und merkte wohl, daß es ihr Gebot übertreten und die Türe aufgeschlossen hatte. Da sprach sie noch einmal »hast du es gewiß nicht getan?« — »Nein«, sagte das Mädchen zum zweitenmal. Da erblickte sie den Finger, der von der Berührung des himmlischen Feuers golden geworden war, und wußte nun gewiß, daß es schuldig war, und sprach zum drittenmal »hast du es nicht getan?« — »Nein«, sagte das Mädchen zum drittenmal. Da sprach die Jungfrau Maria »du hast mir nicht gehorcht und hast noch dazu gelogen, du bist nicht mehr würdig, im Himmel zu sein.« Da versank das Mädchen in einen tiefen Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde, mitten in einer Wildnis. Es wollte rufen, aber es konnte keinen Laut hervorbringen. Es sprang auf und wollte fortlaufen, aber wo es sich hinwendete, immer ward es von dichtem Gebüsch zurückgehalten, das es nicht durchbrechen konnte. In der Einöde, in welche es eingeschlossen war, stand ein alter hohler Baum, der mußte ihm als Wohnung dienen. Darin schlief es nachts, und wenn es stürmte und regnete, fand es darin Schutz. Wurzeln und Waldbeeren waren seine einzige Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Im Herbst sammelte es die Blätter des Baumes und trug sie in die Höhle, und wenn es dann im Winter schneite und fror, bedeckte es sich damit. Auch verdarben seine Kleider und fielen vom Leib herab. Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. So saß es lange Zeit und fühlte den Jammer und das Elend der Welt. 

Einmal, als die Bäume wieder in frischem Grün standen, jagte der König des Landes in dem Wald und verfolgte Wild, und als es in das Gebüsch geflohen war, das den Waldplatz einschloß, stieg er ab, riß das Gestrüpp auseinander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er endlich hindurchgedrungen war, sah er unter dem Baum ein wunderschönes Mädchen sitzen, das von seinem goldenen Haar bis zu den Fußzehen bedeckt war. Er stand still und betrachtete es voll Erstaunen, dann redete er es an und sprach »wie bist du in die Einöde gekommen?« Es schwieg aber still, denn es konnte seinen Mund nicht auftun. Der König sprach weiter »willst du mit mir auf mein Schloß gehen?« Da nickte es bloß ein wenig mit dem Kopf. 

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Der König nahm es auf seinen Arm, trug es auf sein Pferd und führte es heim, wo er ihm schöne Kleider anziehen ließ und ihm alles im Überfluß gab. Und ob es gleich nicht sprechen konnte, so war es doch schön und freundlich, daß er es von Herzen lieb gewann, und es dauerte nicht lange, da vermählte er sich mit ihm. 

Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach »willst du die Wahrheit sagen und gestehen, daß du die verbotene Tür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mund öffnen und dir die Sprache wiedergeben: verharrst du aber in der Sünde und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugeborenes Kind mit mir.« Da war der Königin verliehen zu antworten, sie blieb aber verstockt und sprach »nein, ich habe die verbotene Tür nicht aufgemacht«, und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen sagen, der König aber wollte es nicht glauben, weil er sie so lieb hatte.

Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. In der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach »willst du gestehen, daß du die verbotene Türe geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.« Da sprach die Königin wiederum »nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet«, und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz laut, die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räte verlangten, daß sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb, daß er es nicht glauben wollte, und befahl den Räten bei Leibes- und Lebensstrafe, nichts mehr darüber zu sprechen.

Im nächsten Jahr gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da erschien ihr zum drittenmal nachts die Jungfrau Maria und sprach »folge mir.« Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. 

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Als sich die Königin darüber freute, sprach die Jungfrau Maria »ist dein Herz noch nicht erweicht? Wenn du eingestehst, daß du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein zurückgeben.« Aber die Königin antwortete zum drittenmal »nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet.« Da ließ sie die Jungfrau wieder zur Erde hinabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.

Am andern Morgen, als es ruchbar ward, riefen alle Leute laut »die Königin ist eine Menschenfresserin, sie muß verurteilt werden«, und der König konnte seine Räte nicht mehr zurückweisen. Es ward ein Gericht über sie gehalten, und weil sie nicht antworten und sich nicht verteidigen konnte, ward sie verurteilt, auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Das Holz wurde zusammengetragen, und als sie an einen Pfahl festgebunden war und das Feuer ringsumher zu brennen anfing, da schmolz das harte Eis des Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt, und sie dachte »könnte ich nur noch vor meinem Tode gestehen, daß ich die Tür geöffnet habe«, da kam ihr die Stimme, daß sie laut ausrief »ja, Maria, ich habe es getan!« Und alsbald fing der Himmel an zu regnen und löschte die Feuerflammen, und über ihr brach ein Licht hervor, und die Jungfrau Maria kam herab und hatte die beiden Söhnlein zu ihren Seiten und das neugeborene Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach freundlich zu ihr »wer seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben«, und reichte ihr die drei Kinder, löste ihr die Zunge und gab ihr Glück für das ganze Leben. 

*  

 

Als mir Inge auf der Couch dieses Märchen vorlas, bekam sie plötzlich einen Wutanfall und schrie: »Sie haben das Kind immer wieder in Versuchung gebracht, um es kleinzukriegen und zu bestrafen. Genau wie die Jungfrau Maria! Was für ein grausames Spiel treibt sie da eigentlich mit ihrem Pflegekind!« Es stellte sich heraus, daß diese Methode zu den bevorzugten Erziehungsmustern ihrer Eltern gehört hatte, wie es ein von mir zitierter Pädagoge empfahl (A. Miller, 1980, S. 41). Ihre eifrigen Erzieher haben Inge immer wieder bewußt in Versuchungssituationen gebracht, um ihr ihre Schwächen zu beweisen. Nachdem wir allmählich den Zugang zu der ganzen Palette der Erziehungsprinzipien ihrer Eltern bekamen, schwächte sich der Affekt gegen Gott ab, und die bisher in ihrem Gottesbegriff eingefrorenen eigenen Eltern wurden lebendig, zuerst im Zorn und dann in der tiefen Trauer.

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Aber die Kritikfähigkeit der Patientin blieb ihr erhalten, auch im theologischen Bereich. Sie konnte dann, allerdings mit viel mehr Ruhe, Fragen stellen wie z.B.: »Es steht in der Bibel, man solle sich kein Bild machen. Warum eigentlich nicht? Warum darf Gott alle unsere Schwächen sehen, ungehindert in unseren geheimsten Gedanken lesen, uns dafür strafen und verfolgen, nur seine Schwächen müssen unsichtbar bleiben? Hat er denn keine Schwächen? Wenn Gott Liebe ist, wie ich gelernt habe, dann könnte er sich doch ruhig zeigen. Wir würden von seiner Liebe lernen. Versteckt er sich selber, oder verstecken ihn die, die sich nach den Mustern ihrer Väter ein Bild von ihm machten und es uns weitervermittelt haben? Denn die Bibel gibt doch ein ganz klar ausgeprägtes Gottesbild, wenn man nur wagt, genauer hinzuschauen. Dieses Bild kann man aus den Taten ablesen, es ist das Bild eines kränkbaren, empfindlichen, erzieherischen, autoritären Vaters. Die Bibel spricht von der Allmacht Gottes, aber die göttlichen Taten, die sie beschreibt, widersprechen diesem Attribut. Denn jemand, der die Allmacht besäße, wäre nicht auf den Gehorsam seiner Kinder angewiesen, ließe sich nicht durch deren Götzen verunsichern und müßte sein Volk deswegen nicht verfolgen. Aber vielleicht sind die Theologen nicht in der Lage, ein Idealbild der wahren Güte und Allmacht zu schaffen, das im Gegensatz zur Realität ihrer Väter steht, solange sie diese Realität nicht durchschauen. So schaffen sie sich ein Gottesbild nach dem erfahrenen Muster. Ihr Gott ist wie ihre Väter: unsicher, autoritär, machthungrig, rachsüchtig, egozentrisch. Man könnte sich vielleicht andere, auch antropomorphe Gottesbilder vorstellen, wenn man eine andere Kindheit gehabt hätte.«

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Die ethnologisch interessierte Patientin entwickelte Phantasien von einem Gott, der vielleicht einmal die Macht besessen hatte, die Welt zu erschaffen, nun aber den Leiden des Menschen ebenfalls leidend und ohnmächtig gegenübersteht, ohne diese Ohnmacht mit Autorität und Gesetzen zudecken zu müssen. Wenn Gott wirklich Liebe ist, sagte Inge, müßte es ihm gelingen, Liebe zu schenken, ohne dafür einen Preis zu erwarten, keine Gewalt im Namen dieser Liebe anzuwenden und von seinen Kindern Unmögliches nicht zu verlangen. Vielleicht haben andere Völker ein solches Gottesbild. Es ist unwahrscheinlich, daß friedliche Völker einen Gott anbeten würden, der die Züge des alttestamentarischen Gottes hätte. 

Inge hatte schon vor Beginn ihrer Analyse viele ethnologische Bücher gelesen, aber diese Fragen waren bei ihr früher nie aufgetaucht, nicht einmal in der Periode ihres Gotteshasses. Erst das Erleben ihrer Eltern der frühen Kindheit ermöglichte die Verknüpfung ihres Wissens mit ihren Gefühlen und das Zulassen von Fragen, die früher Todesängste in ihr ausgelöst hätten. Das Kind, das in der frommen Familie keine Fragen stellen durfte, konnte es zunächst nicht glauben, daß die Welt durch seine ketzerischen Gedanken nicht einstürzte. Es genoß diese Erfahrung immer wieder von neuem und lange Zeit, bis es voll und ganz glauben konnte, daß seine Gedanken weder Gott noch die Eltern umbrachten.

Inges Entwicklung hat auch bei mir einen Prozeß ausgelöst. Ich mußte mich fragen: Könnte es sein, daß die Sanktionen der Schwarzen Pädagogik weniger Macht über uns hätten, wenn sie nicht in unserer Kultur mit Hilfe der jüdisch-christlichen Religion verankert wären? Es sind immer die Isaaks, deren Opferung Gott von den Abrahams verlangt und nie umgekehrt. Es ist die Tochter Eva, die dafür bestraft wird, daß sie der Versuchung nicht widersteht und ihre Neugier nicht dem Gehorsam unterwirft. Es ist der fromme und treue Sohn Hiob, dem Gott Vater immer noch mißtraut, solange er nicht unter größ-

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ten Qualen seine Treue und Unterwürfigkeit bewiesen hat. Es ist Jesus, der für die Gültigkeit der väterlichen Worte am Kreuze stirbt. Auch die Psalmisten werden nicht müde, die Bedeutung des Gehorsams als Bedingung jeglicher Existenz zu preisen. Mit diesem Kulturgut sind wir aufgewachsen, aber dieses Kulturgut hätte sich nicht so lange erhalten können, wenn wir nicht durch Erziehung gelernt hätten, uns nicht darüber zu wundern, daß ein liebender Vater es nötig hat, seinen Sohn zu quälen, daß er dessen Liebe nicht spürt und wie bei Hiob Beweise dafür braucht.

Was ist das aber für ein Paradies, in dem es unter Sanktionen des Liebesverlustes und des Verlassenwerdens, des sich Schuldig- und sich Beschämtfühlens verboten ist, vom Baum der Erkenntnis zu essen, d.h. neugierig zu sein?

Wer war dieser widerspruchsvolle Gott-Vater, der es nötig hatte, eine neugierige Eva zu erschaffen und ihr gleichzeitig zu verbieten, ihr wahres Wesen zu leben? 

Es ist denkbar, daß die entfremdete, perverse und destruktive Seite unseres heutigen Wissenschaftsbetriebes eine Spätfolge dieses Verbotes ist. Wenn Adam nicht sehen darf, was sich täglich vor seinen Augen ereignet, wird er seine Neugier auf Ziele richten, die so weit wie möglich von ihm entfernt sind. Er wird Forschungen im Weltall betreiben, mit Maschinen, Computern, Affengehirnen oder Menschenleben spielen, um so seine Neugierde zu befriedigen, wird aber immer ängstlich darauf bedacht sein, ja nicht »den Baum der Erkenntnis« anzublicken, der ihm vor seine Augen gepflanzt wurde. 

Das Gebot der Pädagogik »Du sollst nicht merken« geht also den Zehn Geboten zeitlich weit voraus. In unserer Kultur wird es bereits im Zusammenhang mit der Weltschöpfung gesehen. Muß man sich denn wundern, daß wir lieber die Hölle der Blindheit, der Entfremdung, des Mißbrauchtwerdens, der Täuschung, der Unterwerfung und des Selbstverlustes auf uns nehmen, um ja nicht den Ort zu verlieren, der sich Paradies nennt und für dessen Geborgenheit wir so viel bezahlen müssen?

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Mit der Vertreibung aus dem Paradies soll die Leidensgeschichte der Menschheit begonnen haben. Aber müssen wir diesen phantasierten Anfang nicht noch weiter zurückversetzen? Können wir uns heute nach einem Paradies zurücksehnen, in dem es dem Menschen geboten wurde, Widersprüche fraglos und gehorsam hinzunehmen, d.h. eigentlich immer im Säuglingsstadium zu bleiben? Da jeder in seiner Kindheit gelernt hat, die Widersprüchlichkeit seiner Eltern zu übersehen, fallen ihm ähnliche Dinge später kaum mehr auf. Wenn ja, dann versucht er, sie in philosophische oder theologische Systeme einzubauen. Die Geschichte vom verlorenen Paradies verdichtet die Sehnsucht des Menschen, sich am Ursprung seines Daseins in leidenslosem Zustand zu sehen, mit der unbewußt gebliebenen, aber doch registrierten Erfahrung, daß dieser doch nicht ganz vollkommen gewesen sein konnte, wenn dafür der Preis des Selbstverlustes zu bezahlen war.

Was unsere leiblichen Väter betrifft, so sind sie selber um so unsicherere Kinder, je massiver, je autoritärer sie auftreten. Aber einen solchen Gott aus Angst zu verehren, käme wieder den Folgen der Schwarzen Pädagogik gleich. Wenn es wirklich einen liebenden Gott geben sollte, dann wird er uns nicht unter Sanktionen stellen. Er wird uns lieben, wie wir sind, wird nicht Gehorsam von uns verlangen, wird sich nicht verunsichern lassen durch Kritik, wird uns nicht mit der Hölle drohen, uns nicht Angst machen, unsere Treue nicht auf die Probe stellen, wird uns nicht mißtrauen, wird uns unsere Gefühle und Triebe leben lassen — im Vertrauen darauf, daß wir gerade auf diesem Boden fähig sein werden, starke und echte Liebe zu lernen, eine Liebe, die das Gegenteil ist von Pflichterfüllung und Gehorsam und nur aus der Erfahrung des Geliebtwerdens wächst. Zur Liebe kann man ein Kind nicht erziehen, weder mit Schlägen noch mit gut-

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meinenden Worten; keine Ermahnungen, Predigten, Erklärungen, Vorbilder, Drohungen, Sanktionen können ein Kind liebesfähig machen. Ein Kind, dem man predigt, lernt nur predigen, und ein Kind das man schlägt, lernt schlagen. Erziehen kann man einen Menschen zu einem guten Bürger, zu einem tapferen Soldaten, zu einem frommen Juden, Katholiken, Protestanten, Atheisten, ja sogar zu einem frommen Psychoanalytiker, nicht aber zu einem lebendigen und freien Menschen. Und nur das letztere, Lebendigkeit und Freiheit, nicht aber erzieherische Zwänge, öffnet die Quelle der echten Liebesfähigkeit. 

Vieles, was Jesus in seinem ganzen Leben gesagt, aber vor allem getan hat, zeigt, daß er nicht nur diesen einen Vater (Gott) hatte, den fordernden, auf Gesetzen bestehenden, auf Opfer angewiesenen, fernen, unsichtbaren, unbeirrbaren, den Vater, »dessen Wille geschehen muß«. Aus seiner frühen Erfahrung kannte Jesus auch einen anderen Vater, nämlich Josef, der sich nirgends in den Vordergrund drängte, der Maria und das Kind beschützte und liebte, der es förderte, in den Mittelpunkt stellte, es bediente. Es muß dieser wirklich bescheidene Josef gewesen sein, der dem Kinde ein Maß für Wahrheit und die Erfahrung der Liebe vermittelt hat. Deshalb konnte Jesus die Verlogenheit seiner Zeitgenossen durchschauen. Ein nach den herkömmlichen Prinzipien erzogenes Kind, das von Anfang an nichts anderes kennt, kann Verlogenheit nicht durchschauen; es fehlt ihm eine Vergleichsmöglichkeit. Ein Mensch, der nur diese Atmosphäre von Kind auf kennt, wird sie überall als das Normale empfinden und vielleicht darunter leiden, aber sie nicht in ihren Konturen fassen können. Falls er als Kind keine Liebe erfahren hat, wird er sich danach sehnen, aber nicht wissen, was Liebe sein kann. Jesus hat es gewußt.

Es gäbe zweifellos mehr liebesfähige Menschen, wenn die Kirche, statt an den Gehorsam für die Obrigkeit zu appellieren und von daher die Gefolgschaft Christi zu erwarten, die entscheidende Bedeutung der Haltung Josefs einsehen würde. 

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Er diente seinem Kind, weil er es als Kind Gottes angesehen hat. Wie wäre es denn, wenn wir alle unsere Kinder als Kinder Gottes ansehen würden, was man ja auch tun könnte? In seiner Weihnachtsansprache 1979 sagte Johannes Paul IL zum Jahr des Kindes, daß man dem Kinde Ideale vermitteln sollte. Dieser Satz ist im Munde eines liebesfähigen Menschen zweifellos gut gemeint. Wenn aber kirchliche und weltliche Pädagogen sich anschicken, dem Kind vorgeschriebene Ideale vermitteln zu wollen, greifen sie zu den Mitteln der Schwarzen Pädagogik und erziehen Kinder höchstens zu erziehenden Erwachsenen, aber nicht zu liebenden Menschen. 

Kinder, die man respektiert, lernen Respekt. Kinder, die man bedient, lernen dienen, lernen dem Schwächeren dienen. Kinder, die man so liebt, wie sie sind, lernen auch Toleranz. Auf diesem Boden entstehen ihre eigenen Ideale, die gar nicht anders als menschenfreundlich sein können, weil sie aus der Erfahrung der Liebe hervorgehen. 

Ich bin mehr als einmal mit dem Gedanken konfrontiert worden, daß ein Mensch, dem es möglich gewesen wäre, in der Kindheit sein wahres Selbst zu entwickeln, in unserer Gesellschaft ein Martyrium auszustehen hätte, weil er ihr die Anpassung an einige ihrer Normen verweigern würde. Es spricht einiges für diesen Gedanken, den man oft als Argument für die Notwendigkeit der Erziehung gebraucht. Die Eltern möchten ihr Kind, wie sie sagen, so früh wie möglich anpassungsfähig machen, damit es später in der Schule und im Berufsleben nicht zu sehr leiden müsse. Da das Leiden der Kindheit und dessen Auswirkungen auf die Charakterbildung bisher noch wenig bekannt sind, behält diese Argumentation scheinbar ihr Gewicht. Die Beispiele aus der Geschichte scheinen ihr sogar recht zu geben, denn viele Menschen, die sich den herrschenden Normen ihrer Gesellschaft verweigert hatten und der Wahrheit, d. h. auch sich selbst treu geblieben waren, mußten als Märtyrer sterben. 

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Doch wer ist es eigentlich, der eifrig dafür sorgt, daß die Normen der Gesellschaft eingehalten werden, der die Andersdenkenden verfolgt, ans Kreuz schlägt — wenn nicht die »richtig« erzogenen Menschen? Es sind Menschen, die ihren seelischen Tod schon in ihrer Kindheit zu akzeptieren lernten und ihn erst spüren, wenn sie in den Kindern oder Jugendlichen dem Leben begegnen. Dann muß dieses Lebendige umgebracht werden, damit es sie nicht an ihren eigenen Verlust erinnert. 

In Kunstwerken verschiedener Zeiten sind immer wieder Massenmorde von Kindern dargestellt. Nehmen wir als Beispiel den Befehl König Herodes, die kleinen Kinder in seinem Land umzubringen. Er fühlt sich von ihnen bedroht, weil sich unter ihnen der neue König befinden könnte, der ihm einmal seinen Thron streitig machen würde, und richtet in Bethlehem ein Blutbad an: er läßt »alle Knäblein töten, die zweijährig und darunter« sind. Der Tod der Kinder gehörte damals so sehr zum normalen Leben, daß der Überlieferung zufolge außer Maria und Josef kein anderes Ehepaar die Heimat verließ, um sein Kind zu retten. Die Liebe seiner Eltern rettet Jesus nicht nur das nackte Leben, sondern ermöglicht ihm auch, den Reichtum seiner Seele zu entwickeln, was letztlich zum frühen Tod führt. Nun könnte man mit Recht sagen, daß Jesus gerade seiner Wahrhaftigkeit den frühen Tod verdankte, vor dem ihn das falsche, angepaßte Selbst gerettet hätte. Aber läßt sich ein sinnerfülltes Leben mit quantitativen Maßstäben messen? Wäre Jesus glücklicher gewesen, wenn seine Eltern, statt ihm Liebe und Verehrung zu geben, ihn sehr früh dazu erzogen hätten, ein treuer Untertan von Herodes zu werden oder als alter Schriftgelehrter zu sterben?

Die Tatsache, daß Jesus bei Eltern aufgewachsen ist, die nichts anderes mit ihm vorhatten, als ihm Liebe und Achtung zu erweisen, wird auch von gläubigen Christen, die in Jesus den Gottessohn sehen und an die Überlieferung glauben, kaum bestritten werden können. Gerade dieses Ereignis der Verehrung des Kindes wird ja in der

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ganzen christlichen Welt alljährlich zu Weihnachten gefeiert. 

Trotzdem hat sich die christlich-religiöse Pädagogik niemals an dieser Tatsache orientiert. Auch wenn man annimmt, daß Jesus seine Liebesfähigkeit, Wahrhaftigkeit und Güte nicht der außergewöhnlich liebevollen Haltung von Maria und Josef, sondern der Gnade seines göttlichen Vaters verdankte, könnte man sich fragen, warum Gott gerade diesen irdischen Eltern die Aufgabe anvertraute, die Kindheit seines Sohnes zu betreuen. Es ist eigentlich erstaunlich, daß in der ganzen Nachfolge Christi diese Frage, die den Pädagogen neue Impulse hätte geben können, niemals aufgetaucht ist. Die dienenden Eltern des Jesuskindes sind niemals zum Vorbild gemacht worden, es werden im Gegenteil in den religiösen Büchern Maßnahmen zur Beherrschung des Kindes bereits im Säuglingsalter empfohlen. Sobald es aber kein Geheimnis mehr ist, daß sich dieses Vorbild mit einer psychologischen Gesetzmäßigkeit deckt, sobald mehrere Eltern merken, daß nicht das Predigen der Liebe, sondern Achtung und Verstehenwollen des Kindes seine Liebesfähigkeit unterstützen, werden Menschen, die so aufwachsen durften, keine Ausnahme mehr bilden und nicht den Märtyrertod sterben müssen.

Wenn wir Herodes als ein Symbol der Gesellschaft auf unsere heutige Gesellschaft übertragen können, dann lassen sich in der Geschichte Jesu Elemente finden, die wir (je nach der gemachten Erfahrung) als Argumente sowohl für als auch gegen die Erziehung gebrauchen können: einerseits der Kindermord und die Normen der Gesellschaft und andererseits ungewöhnliche Eltern, Diener ihres Kindes, die dem Glauben der Pädagogen zufolge einen Tyrannen hätten heranziehen müssen. Die in Herodes personifizierte Gesellschaft fürchtet die Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit der Kinder und versucht, sie zu vernichten, aber die gelebte Wahrheit ist nicht umzubringen, auch wenn die staatlichen und kirchlichen Funktionäre der Gesellschaft sich der Verwaltung der Wahrheit »an-

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nehmen«, um sie zu beseitigen. Die stets wiederkehrende Auferstehung der Wahrheit läßt sich nicht unterdrücken, sie wird immer wieder von einzelnen Menschen gelebt und bezeugt werden. Die Kirche als gesellschaftliche Institution hat mehrmals versucht, diese Auferstehung zu verhindern, indem sie z. B. im Namen Christi zu Kriegen aufrief und den Eltern das Abtöten der kindlichen Seele (der kindlichen Gefühle) im Namen der heiligen Erziehungswerte (Gehorsam, Unterwerfung, Selbstverleugnung) mit Hilfe strenger Sanktionen eindeutig geboten hat (vgl. z.B. M. Mehr, 1981).

In dem angeblich gottgewollten Kampf der Kirche mit dem lebendigen Kind, der sich täglich in der Erziehung zum Gehorsam, zur Blindheit gegenüber Respektpersonen, zum Gefühl der eigenen Schlechtigkeit abspielt, spiegelt sich eher das Erbe von Herodes (die Angst vor der Auferstehung der Wahrheit im Kind) als das von Jesus gelebte Vertrauen in die menschlichen Möglichkeiten. Der in der frühkindlichen Reaktion auf eine solche Erziehung wurzelnde Haß breitet sich aus ins Unermeßliche, und die Kirche unterstützt (teilweise unbewußt) diese Ausbreitung des Bösen, das sie bewußt zu bekämpfen glaubt (vgl. A.Miller, 1980).

Es bedarf keiner großen Anstrengungen mehr, um in unserem Jahrhundert apokalyptische Züge zu entdecken: Weltkriege, Massenmorde, das Gespenst der Atombombe, die Versklavung des Menschen durch Technik und totalitäre Herrschaftsregime, Bedrohung des biologischen Gleichgewichts, Versiegen der Energiequellen, Zunahme der Drogensucht — die Liste ließe sich noch verlängern. Aber das gleiche Jahrhundert brachte uns auch eine Erkenntnis, die in der Menschheitsgeschichte völlig neu ist und die eine entscheidende Wende in unser Leben bringen könnte, wenn sie in ihrer vollen Tragweite in die Öffentlichkeit durchdringen würde. Ich meine Freuds Entdeckung, daß die Zeit der frühen Kindheit von entscheidender Bedeutung für die emotionale Entwicklung eines Menschen ist. 

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Je deutlicher wir sehen müssen, daß die verhängnisvollsten Ereignisse unserer jüngsten Vergangenheit und Gegenwart nicht das Werk der reifen Vernunft sind, je klarer uns die Absurdität und die Unberechenbarkeit des Rüstungswettrennens vor Augen treten, um so dringlicher stellt sich die Frage nach der Entstehung und dem Wesen dieses gefährlichen menschlichen Potentials, dem wir so ohnmächtig ausgeliefert sind.

Das ganze Ausmaß an Destruktivität, von der wir täglich in den Zeitungen lesen, ist eigentlich immer der letzte Teil langer Geschichten, die uns meistens unbekannt bleiben. Wir sind Opfer, Beobachter, Berichterstatter oder stumme Zeugen einer Gewalttätigkeit, deren Wurzeln wir nicht kennen, die uns oft überrascht, überfällt, empört oder einfach nachdenklich macht, ohne daß wir die inneren Möglichkeiten (d. h. die elterliche, bzw. die göttliche Erlaubnis) haben, die einfachsten, naheliegendsten und bereits erschlossenen Erklärungen wahr- und ernstzunehmen.

 

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Aus dem Buche Genesis  

 

Dann sprach Gott: »Lasset uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich; sie sollen herrschen über des Meeres Fische, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über alle iMndtiere und über alle Kriechtiere am Boden!« So schuf Gott den Menschen nach seinem Abbild, nach Gottes Bild schuf er ihn, als Mann und Weib erschuf er sie. Gott segnete sie und sprach %u ihnen: »Seid fruchtbar und mehret euch, füllet die Erde und machet sie Untertan und herrschet über des Meeres Fische, die Vögel des Himmels und über alles Getier, das sich auf Erden regt.« Gott sprach weiter: »Seht, ich gebe euch alles Grünkraut, das auf der ganzen Erde Samen trägt, und alle Bäume mit samentragenden Früchten; dies diene euch als Nahrung! Da bildete Gott der Herr den Menschen aus dem Staub der Ackerscholle und blies in seine Nase den Odem des Lebens; so ward der Mensch f(u einem lebendigen Wesen. Darauf pflanzte Gott der Herr einen Garten in Eden gen Osten und versetzte dorthin den Menschen, den er gebildet hatte. Und Gott der Herr ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume aufsprießen, lieblich zum Anschauen und gut zur Nahrung, den Lebensbaum aber mitten im Garten und auch den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse . . .

Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaue und erhalte...

Gott der Herr gebot dem Menschen: » Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, nur vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn am Tage, da du davon issest, mußt du sterben.« Gott der Herr sprach: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen als sein Gegenstück.« . . .

Da ließ Gott der Herr einen Tief schlaf auf den Menschen ( = Adam) fallen, so daß er einschlief, nahm ihm eine seiner Rippen und verschloß deren Stelle mit Fleisch. Gott der Herr baute die Rippe, die er dem Menschen entnommen hatte, zu einem Weibe aus und führte es ihm %u. Da sprach der Mensch: »Das ist nun endlich Bein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Diese soll man Männin heißen; denn vom Manne ist sie genommen.« Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und beide werden zu einem Fleisch. Beide aber, der Mann und sein Weib, waren nackt; aber sie schämten sich nicht voreinander.....

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Die Schlange aber war listiger als alle anderen Tiere des Feldes, die Gott der Herr gebildet hatte. Sie sprach %um Weibe: »Hat Gott wirklich gesagt: >Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?<« Da sprach das Weib %ur Schlange: » Von den Früchten der Gartenbäume dürfen wir essen. Nur von den Früchten des Baumes in der Mitte des Gartens hat Gott gesagt: >Esset nicht davon, ja rühret sie nicht an, sonst müßt ihr sterben!<« Die Schlange sprach zum Weibe: »O nein, auf keinen Fall werdet ihr sterben! Vielmehr weiß Gott, daß euch, sobald ihr davon esset, die Augen aufgehen, und ihr wie Gott sein werdet, indem ihr Gutes und Böses erkennt« Da sah die Frau, daß der Baum gut sei %um Essen und eine Lust zum Anschauen und begehrenswert, um weise %u werden. Sie nahm von seiner Frucht, aß und gab auch ihrem Manne neben ihr, und auch er aß. Da gingen beider Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Sie hefteten Feigenlaub zusammen und machten sich Schürten daraus. Da vernahmen sie das Geräusch Gottes des Herrn, der im Garten beim Windhauch des Tages einherging. Und es versteckte sich der Mann und sein Weib vor dem Angesichte Gottes des Herrn mitten unter den Bäumen des Gartens. Gott der Herr aber rief dem Menschen %u und sprach zu ihm: »Wo bist du?« Er antwortete: »Dein Geräusch hörte ich im Garten; ich hatte Scheu; denn nackt bin ich ja; daher versteckte ich mich.« Er sprach: »Wer tat dir kund, daß du nackt bist? Hast du etwa von jenem Baume gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?« Der Mensch entgegnete: »Das Weib, das du mir als Gefährtin gegeben, hat mir vom Baume gereicht, und ich aß.« Da sprach Gott der Herr %um Weibe: »Was hast du getan?« Das Weib erwiderte: »Die Schlange hat mich betört, und ich aß!« Da sprach Gott der Herr zur Schlange: » Weil du dies getan hast, sei verflucht aus allem Vieh und allem Getier des Feldes! Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang! Feindschaft will ich stiften ^wischen dir und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst nach seiner Ferse schnappen.« 

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Zum Weibe sprach er: »Zahlreich will ich deine Beschwerden machen und deine Schwangerschaften: unter Schmerzen sollst du Kinder gebären. Und doch steht dein Begehren nach deinem Manne, er aber soll herrschen über dich.« Zum Manne sprach er: »Du hast auf deines Weibes Stimme gehört und vom Baume gegessen, von dem zu essen ich dir streng verboten habe; darum soll der Ackerboden verflucht sein um deinetwillen; mühsam sollst du dich von ihm nähren alle Tage deines Lebens! Dornen und Gestrüpp soll er dir sprießen, und Kraut des Feldes sollst du essen! Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot verzehren, bis du zum Ackerboden wiederkehrst, von dem du genommen bist. Denn Staub bist du, und zum Staube sollst du heimkehren!« 

Adam nannte seine Frau Eva, denn sie ward zur Mutter aller Lebendigen. Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Fellröcke und bekleidete sie. Dann sprach er: »Ja, der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, daß er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baume des Thebens vergreife, davon esse und ewig lebe!« So wies Gott der Herr ihn aus dem Garten Eden fort, daß er den Ackerboden bearbeite, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen, ließ ihn östlich vom Garten Eden wohnen und stellte die Kerubim und die flammende Schwertklinge auf, den Weg zum Baum des Lebens zu behüten ... Der Mensch erkannte seine Frau Eva; sie empfing und gebar den Kain. Sie sprach: »Ich habe einen Sohn erworben mit Hilfe des Herrn.« 

Weiter gebar sie seinen Bruder Abel. Abel ward Kleinviehhirt, Kain ein Ackerbauer. Nach geraumer Zeit begab es sich, daß Kain von den Früchten des Bodens dem Herrn ein Opfer darbrachte. Aber auch Abel opferte von den Erstlingen seiner Herde und ihrem Fett. Der Herr blickte auf Abel und seine Opfergabe, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht. Da ward Kain sehr zornig, und sein Angesicht verfinsterte sich. Da sprach der Herr zu Kain: » Warum bist du zornig, und warum ist dein Angesicht finster? Ist es nicht so: Wenn du gut bist, so kannst du es frei erheben, bist du aber nicht gut, so lauert die Sünde vor der Türe. Nach dir steht ihr Begehren; du aber sollst herrschen über sie!« Kain sprach zu seinem Bruder Abel: »Komm, wir wollen aufs Feld gehen!« 

Als sie auf dem Felde waren, stürzte sich Kain auf seinen Bruder Abel und erschlug ihn. Der Herr sprach zu Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?« Er antwortete: »Ich weiß es nicht. Bin ich denn meines Bruders Hüter?« Er aber sprach: »Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir vom Erdboden empor. Und nun sollst du verflucht sein vom Erdboden her, der seinen Rachen aufgerissen hat, deines Bruders Blut aus deiner Hand aufzunehmen! Wenn du den Ackerboden bebaust, wird er dir fortan seine Frucht nicht mehr bringen; ziel- und heimatlos sollst du sein auf Erden!«

 

(Aus dem Buche Genesis)

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