Teil 3
Warum wird die Wahrheit zum Skandal?
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Galilei Galileo, italienischer Naturforscher, geboren in Pisa 15.02.1564, gestorben in Arcetri bei Florenz, 8.1.1642, wurde 1589 Professor der Mathematik in Pisa, 1592 in Padua; 1619 nach Pisa zurückberufen, wurde er zugleich Mathematiker am großherzoglichen Hof zu Florenz. Galileis Begabung lag vor allem auf dem Gebiet der praktischen Physik und angewandten Mathematik.
Wissenschaftsgeschichtlich ist er (...) dadurch bedeutsam, daß er grundsätzlich und völlig die bis dahin herrschende Verkettung der Physik mit vorgegebenen philosophischen Grundsätzen sprengte und sie auf Beobachtung statt auf Spekulation gründete; ebenso erklärte er die Naturvorgänge nicht philosophisch oder theologisch durch das Wirken Gottes, sondern aus Naturgesetzen. Damit brach er der modernen Naturwissenschaft als einer Erfahrungswissenschaft Bahn, geriet aber zugleich in einen scharfen Gegensatz, zur herrschenden kirchlichen Lehre, der sich an der Frage des kopernikanischen Weltsystems zu offenem Konflikt entzündete.
Galilei vertrat dieses, nachdem er es schon 1597 in einem Brief an Kepler anerkannt hatte, in seiner Schrift über die Sonnenflecken (1613) auch öffentlich und zog sich damit einen ersten Prozeß vor dem Heiligen Offizium zu. Dieser endete 1616 mit der Verurteilung der beiden Sätze, daß die Sonne der Mittelpunkt der Welt sei und daß die Erde sich bewege, als absurd, philosophisch falsch, theologisch häretisch und irrig; Galilei wurde Schweigen auferlegt.
Als er 1632 in seiner Schrift über das ptolemäische und kopernikanische Weltsystem seine Lehre wiederholte, wurde er in einem zweiten Prozeß 1633 unter Androhung der Folter zum Widerruf gezwungen; die ihm zugeschriebene Äußerung »eppur si muove« (sie bewegt sich doch) ist legendär. Außerdem wurde er zu kirchlicher Haft verurteilt, die er zuerst beim Erzbischof von Siena, später in seiner Villa zu Arcetri verbüßte, seit 1637 erblindet. Die kirchliche Verurteilung der kopernikanischen Schriften wurde erst 1835 zurückgezogen.
(Aus: Der große Brockhaus, 16. Auflage, 1954.)
1. Die Einsamkeit des Entdeckers
In der 1896 publizierten Arbeit Zur Ätiologie der Hysterie, deren große Klarheit, Direktheit und unmittelbare Überzeugungskraft (zumindest für einen Leser von heute) nicht zu verkennen sind, berichtet Sigmund Freud, daß in allen von ihm behandelten 18 Fällen hysterischer Erkrankungen (6 Männer und 12 Frauen) in sämtlichen Fällen während der analytischen Arbeit die Verdrängung eines sexuellen Mißbrauchs durch Erwachsene oder ältere Geschwister, die ihrerseits früher von Erwachsenen mißbraucht worden waren, vorlag.
Alle 18 Patienten wußten nichts über diese Tatsachen, als sie in die Behandlung kamen, und Freud meint, sie hätten ihre Symptome gar nicht entwickeln können, wenn diese frühen Erinnerungen bewußt geblieben wären. Freud beschreibt hier Tatsachen, deren Auftauchen ihn selber überrascht hat, deren Evidenz er sich aber als redlicher und neugieriger Forscher kaum entziehen konnte, und er wirbt beim Leser um Verständnis, trotz der moralischen Entrüstung, die er selber empfindet. Man hat manchmal den Eindruck, daß er in diesem Leser auch sich selbst noch überzeugen möchte, weil ihm die Tatsachen so ungeheuerlich vorkommen.
Wie soll ein Mensch der Jahrhundertwende, der gelernt hat, alle Erwachsenen als Respektpersonen anzusehen und noch nicht unser heutiges Wissen von der Zwiespältigkeit, der verhängnisvollen Kindheitsprägung, der Gewalt des Wiederholungszwanges im Unbewußten des Erwachsenen ahnen konnte, mit einer solchen Entdeckung fertig werden können? Begreiflicherweise empfand er Entsetzen und neigte zu moralischer Verurteilung, die wir vielleicht erst aufgeben können, wenn wir selber als Analytiker eines Erwachsenen, der seine Kinder mißhandelt, die Not und die Tat dieses Menschen von innen heraus miterleben durften.
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Doch Freud stand erst vor dieser Entwicklung, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Erwachsenen als pervers zu bezeichnen. Da aber diese Menschen Eltern waren, die es auf jeden Fall zu achten galt, war Freud immer wieder versucht, das bei den Patienten Vorgefundene nicht zu glauben.
In der Studie Zur Ätiologie der Hysterie spürt man dieses Ringen des genialen Entdeckers mit den Geboten seiner eigenen Erziehung. Der imaginäre Leser, an den sich Freud wendet und der zum Teil er selber ist, möchte sagen: »Es kann nicht sein, was nicht sein darf«. Und der Wissenschaftler sagt: »Aber ich habe es gefunden«. Er weiß, daß man ihm alles Mögliche entgegenhalten wird. Man wird sagen, sexuelle Verführungen sind so selten, sie können unmöglich die Ursache von hysterischen Erkrankungen sein, die so oft vorkommen. Oder man wird umgekehrt behaupten, der sexuelle Mißbrauch sei, besonders in den untersten sozialen Schichten, so häufig anzutreffen, daß noch viel mehr und gerade dort hysterische Erkrankungen auftreten müßten. Bekanntlich ist das aber nicht der Fall, denn es sind gerade die privilegierten Schichten, die einen viel höheren Prozentsatz dieser Erkrankungen aufweisen.
Auf diesen imaginären Einwand antwortet Freud mit einer Überlegung, die mir noch heute richtig zu sein scheint: daß nämlich die sozial höheren Schichten dank ihrer Bildung und der oft einseitig intellektuellen Entwicklung mehr Abwehrmöglichkeiten gegen das Trauma haben, und es ist ja gerade die Abwehr des Traumas (wie z. B. Verdrängung, Abspaltung des Gefühls vom erinnerten Inhalt, Verleugnung mit Hilfe der Idealisierung), die die Neurose verursacht. Den 1896 von Freud formulierten Widerständen gegen seine Verführungstheorie kann man noch heute in der gleichen widerspruchsvollen Form begegnen; doch läßt sich die narzißtische Besetzung des Kindes durch den Erwachsenen, in der auch der sexuelle und agressive Mißbrauch eine große Rolle spielen, bei allem, was wir heute wissen, kaum mehr ernsthaft leugnen.
Bevor Sigmund Freud seine Funde mit der Triebtheorie zudecken mußte, schrieb er die folgenden Sätze:
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Alle die seltsamen Bedingungen, unter denen das ungleiche Paar sein Liebesverhältnis fortführt: der Erwachsene, der sich seinem Anteil an der gegenseitigen Abhängigkeit nicht entziehen kann, wie sie aus einer sexuellen Beziehung notwendig hervorgeht, der dabei doch mit aller Autorität und dem Rechte der Züchtigung ausgerüstet ist und zur ungehemmten Befriedigung seiner Launen die eine Rolle mit der anderen vertauscht; das Kind, dieser Willkür in seiner Hilflosigkeit preisgegeben, vorzeitig zu allen Empfindlichkeiten erweckt und allen Enttäuschungen ausgesetzt, häufig in der Ausübung der ihm zugewiesenen sexuellen Leistungen durch seine unvollkommene Beherrschung der natürlichen Bedürfnisse unterbrochen — alle diese grotesken und doch tragischen Mißverhältnisse prägen sich in der ferneren Entwicklung des Individuums und seiner Neurose in einer Unzahl von Dauereffekten aus, die der eingehendsten Verfolgung würdig wären.
Wo sich das Verhältnis zwischen zwei Kindern abspielt, bleibt der Charakter der Sexualszenen doch der nämliche abstoßende, da ja jedes Kinderverhältnis eine vorausgegangene Verführung des einen Kindes durch einen Erwachsenen postuliert. Die psychischen Folgen eines solchen Kinderverhältnisses sind ganz außerordentlich tiefgreifende; die beiden Personen bleiben für ihre ganze Lebenszeit durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft. Gelegentlich sind es Nebenumstände dieser infantilen Sexualszenen, welche in späteren Jahren zu determinierender Macht für die Symptome der Neurose gelangen. So hat in einem meiner Fälle der Umstand, daß das Kind abgerichtet wurde, mit seinem Fuß die Genitalien der Erwachsenen zu erregen, hingereicht, um Jahre hindurch die neurotische Aufmerksamkeit auf die Beine und deren Funktion zu fixieren und schließlich eine hysterische Paraplegie zu erzeugen. (S. Freud, 1896c, S. 452 f.)
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Mit diesen wenigen Worten hat Freud die Situation des Kindes beschrieben, wie sie zumindest in unserer Kultur seit Jahrtausenden unverändert besteht. Die Verknüpfung der Bedürftigkeit der Eltern nach hiebe mit ihrem Recht auf den Gebrauch und zugleich auf die Züchtigung des Kindes ist ein in unserer Kultur so stark integrierter Faktor, daß seine Berechtigung bisher nur von ganz wenigen Menschen in Frage gestellt wurde.
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Nun hat uns aber die psychoanalytische Methode mit den Folgen dieses Faktors konfrontiert: mit dem Phänomen der Verdrängung und dem damit in Zusammenhang stehenden Verlust der Lebendigkeit in der Neurose. Diese Enthüllung hat die Aufnahmefähigkeit der Menschen offenbar sehr stark überfordert. Die Erschütterung, Verwirrung und Ratlosigkeit, die sie hervorrief, konnte nur t durch das Negieren der Tatsachen oder, sofern dies nicht mehr möglich war, durch den Aufbau von verschiedenen Theorien bewältigt (abgewehrt) werden. Je komplizierter, unverständlicher und rigider diese Theorien waren, desto besser konnten sie garantieren, daß der an sich klare, aber schmerzliche Sachverhalt verborgen blieb.
Es besteht in der Öffentlichkeit eine seltsame Diskrepanz in der Verträglichkeit von Nachrichten und Informationen. So kann ein Mensch allerlei Seltsames in seiner Zeitung an einem Abend finden, ohne daß ihn das aus seiner gewohnten Ruhe bringen würde. Da steht z. B. etwas von einem Vater, der seine Frau und drei kleine Kinder erstochen hat und sich dann selber das Leben nahm. Dieser Mann galt bisher als ein gewissenhafter Angestellter und fiel durch sein Verhalten kaum auf.
Möglicherweise wird unser Zeitungsleser je nach Bildungsgrad und Ideologie denken: »Dieser Mann war eben doch ein geborener Psychopath, auch wenn er das bisher verheimlichen konnte.« Oder: »Die Wohnungsnot und die Überforderung am Arbeitsplatz haben den Mann dazu getrieben, seine drei Kinder und die Frau umzubringen.« In der gleichen Zeitung kann man einen Bericht aus einem Terroristenprozeß lesen, in dem der des mehrfachen Mordes beschuldigte junge Mann einen einstündigen ideologischen Vortrag hält, sowie ein Interview mit seiner Mutter, die in sehr überzeugender Weise berichtet, daß dieser ihr Sohn, in seiner ganzen Kindheit und Jugend bis zur Universitätszeit niemals Schwierigkeiten gemacht hätte. So kommt der Leser auf die »naheliegende« Erklärung, daß der »schlechte Einfluß« der anderen Studenten diesen
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Mann zum Terroristen gemacht habe.
Beim weiteren Blättern findet sich noch eine Nachricht über die Zunahme der Selbstmordrate in einem Luxusgefängnis, in dem die Gefangenen in Einzelzellen isoliert sind, die dem Leser den Ausruf entlocken könnte: »Da sieht man ja, wie die Menschen heutzutage verwöhnt sind. Der Wohlstand und der materielle Überfluß macht sie noch unzufriedener, und an allen Gewaltakten der heutigen Jugend ist möglicherweise die antiautoritäre Erziehung schuld.« Solche Erklärungen beruhigen den Leser und bestätigen sein Wertsystem. Das. Geschehen bleibt außerhalb von ihm selber. Er möchte im Grunde lieber nicht wissen, wie es dazu kommen kann, daß ein liebender Vater plötzlich seine drei Kinder umbringt, daß ein gehorsamer Sohn zum Terroristen wird, ein Gefangener zum Selbstmörder. Wenn er sich diese Fragen stellen würde, wäre seine Ruhe dahin. Denn wer kann ihm garantieren, daß seine bisher erfolgreiche Anpassung nicht auch eine gefährliche Kehrseite hat und daß es ihm immer gelingen wird, diese von sich fernzuhalten?
Ein wirkliches Verstehenwollen schließt diese Garantie aus, weil das Verständnis für das fremde Unbewußte eine Vertrautheit mit dem eigenen voraussetzt. Wie soll der Ausbruch einer Geisteskrankheit, der Drogensucht oder Delinquenz verstanden werden, wenn der unbewußte Teil der eigenen und fremden Seele ignoriert wird? Mit diesem Widerstand der Öffentlichkeit ringt Freud in seiner Studie Zur Ätiologie der Hysterie. Er weiß, daß er auf eine Wahrheit gestoßen ist, die alle Menschen betrifft, nämlich auf die Folgen der Kindheitstraumen im späteren Leben des Menschen (was nicht mit kausaler Determinierung identisch ist), und er weiß zugleich, daß die überwiegende Mehrheit der Menschen gegen ihn sein wird, gerade weil er die Wahrheit sagt.
Der Gehalt der Freudschen Entdeckung kann von vielen bestritten werden, weil die meisten Menschen ihr Unbewußtes ignorieren, auch gerade wenn sie von ihm in verhängnisvoller Weise beherrscht werden.
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Und doch ist es das gute Recht eines jeden Menschen, seine Träume als Schäume zu bezeichnen und sein Unbewußtes zu leugnen. So kommt es zu der paradoxen Situation, daß der oben beschriebene Zeitungsleser auch die unverständlichsten, seltsamsten menschlichen Handlungen ohne Verwunderung hinnehmen kann, die absurdesten Erklärungen dafür ohne Gemütsbewegung und bereitwillig gelten läßt, sofern sie ihn selber draußen lassen. Gleichzeitig wird er aber mit Wut oder Spott reagieren, wenn jemand ihn auf unbewußte Gründe der unverständlichen Handlungen aufmerksam macht, weil diese Erklärungen auf Möglichkeiten hinweisen, deren Wahrnehmung seine notwendigen, komplizierten Abwehrmechanismen bedroht.
Die Triebtheorie kommt diesen Abwehrmechanismen entgegen, wenn sie in den infantilen, sexuellen Phantasien und Konflikten den Ursprung der Neurose sieht, weil so die geforderte Idealisierung der Eltern erhalten bleiben kann. Das kann man verstehen und — im Hinblick auf die Herrschaft der Schwarzen Pädagogik im Jahre 1897 — auch akzeptieren. Nur kann man die empirischen Funde, die Freud zur Verführungstheorie geführt haben und die er 1896 dargelegt hat, nicht mehr in diese Theorie einbauen, auch wenn sich Freud darum, wie es scheint, sein Leben lang immer wieder bemüht hat. Das 1896 beschriebene und 1897 wieder verlassene, sexuell (und nichtsexuell) mißhandelte Kind ist in der Triebtheorie logischerweise nicht mehr auffindbar, denn das Vokabular der Schwarzen Pädagogik und der Blick für die Realität des geopferten Kindes schließen einander notwendigerweise aus. Ein Analytiker, der weiß, was Kindern unbewußt angetan werden kann, wird nicht wie ein Erzieher versuchen, die Realität des Machtmißbrauchs damit zuzudecken, daß er die vagen, zaghaften Erinnerungen des Patienten auf seine infantilen Phantasien zurückführt. Selbstverständlich kann das Kind ein reiches Phantasieleben haben, aber dieses dient immer der Bewältigung der Realität, d.h. meistens der Beschönigung im Dienste der Abwehr (des Überlebens) und niemals der Anschwärzung der geliebten Bezugspersonen.
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Der Mann, der als Entdecker des Ödipuskomplexes in die Geschichte einging, schrieb 1896 die folgenden Sätze: Die allgemeinen Bedenken gegen die Verläßlichkeit der psychoanalytischen Methode können erst gewürdigt und beseitigt werden, wenn eine vollständige Darstellung ihrer Technik und ihrer Resultate vorliegen wird; die Bedenken gegen die Echtheit der infantilen Sexualszenen aber kann man bereits heute durch mehr als ein Argument entkräften. Zunächst ist das Benehmen der Kranken, während sie diese infantilen Erlebnisse reproduzieren, nach allen Richtungen hin unvereinbar mit der Annahme, die Szenen seien etwas anderes als peinlich empfundene und höchst ungern erinnerte Realität. Die Kranken wissen vor Anwendung der Analyse nichts von diesen Szenen, sie pflegen sich zu empören, wenn man ihnen etwa das Auftauchen derselben ankündigt; sie können nur durch den stärksten Zwang der Behandlung bewogen werden, sich in deren Reproduktion einzulassen, sie leiden unter den heftigsten Sensationen, deren sie sich schämen und die sie zu verbergen trachten, während sie sich diese infantilen Erlebnisse ins Bewußtsein rufen, und noch, nachdem sie dieselben in so überzeugender Weise wieder durchgemacht haben, versuchen sie es, ihnen den Glauben zu versagen, indem sie betonen, daß sich hiefür nicht wie bei anderem Vergessen ein Erinnerungsgefühl eingestellt hat.
Letzteres Verhalten scheint nun absolut beweiskräftig zu sein. Wozu sollten die Kranken mich so entschieden ihres Unglaubens versichern, wenn sie aus irgend einem Motiv die Dinge, die sie entwerten wollen, selbst erfunden haben? Daß der Arzt dem Kranken derartige Reminiszenzen aufdränge, ihn zu ihrer Vorstellung und Wiedergabe suggeriere, ist weniger bequem zu widerlegen, erscheint mir aber ebenso unhaltbar. Mir ist es noch nie gelungen, einem Kranken eine Szene, die ich erwartete, derart aufzudrängen, daß er sie mit allen zu ihr gehörigen Empfindungen zu durchleben schien; vielleicht treffen es andere besser.
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Es gibt aber noch eine ganze Reihe anderer Bürgschaften für die Realität der infantilen Sexualszenen. Zunächst deren Uniformität in gewissen Einzelheiten, wie sie sich aus den gleichartig wiederkehrenden Voraussetzungen dieser Erlebnisse ergeben muß, während man sonst geheime Verabredungen zwischen den einzelnen Kranken für glaubhaft halten müßte. Sodann, daß die Kranken gelegentlich wie harmlos Vorgänge beschreiben, deren Bedeutung sie offenbar nicht verstehen, weil sie sonst entsetzt sein müßten, oder daß sie, ohne Wert darauf zu legen, Einzelheiten berühren, die nur ein Lebenserfahrener kennt und als feine Charakterzüge des Realen zu schätzen versteht (S. Freud, 1896c, S. 440 f.).
War es Freuds »Naivität«, wie er selber später meinte, oder war es seine geniale Intuition, die ihn diese einfachen und klaren Zeilen schreiben ließ?
Jede Religion hat ihre Tabus, die von ihren Angehörigen akzeptiert werden müssen, wenn sie nicht aus der Glaubensgemeinde ausgestoßen werden wollen. Das schließt zwar eine immanente Entwicklung aus, kann aber nicht verhindern, daß es immer wieder Menschen gibt, die einzelne Tabus angreifen, damit den vertrauten Boden verlassen und so zu Gründern neuer Bekenntnisse werden. Doch den alten Glauben zu verändern oder zu bereichern vermögen sie nicht. Immerhin bekommt der Einzelne dann noch die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Glaubensbekenntnissen zu wählen, falls er nicht als Kind für ein bestimmtes streng konditioniert wurde. Was geschieht aber, wenn eine große, wissenschaftliche Entdeckung, die für jeden Menschen Geltung hat, für eine Schule usurpiert und mit Dogmen und Tabus belegt wird? Dann entsteht die paradoxe Situation, daß die ursprüngliche Entdeckung, die den Anfang neuer Entdeckungen und einer grundlegenden Bewußtseinsvertiefung hätte werden können, dieser Möglichkeit beraubt wird, weil die inzwischen aufgestellten Dogmen durch neue Entdeckungen gefährdet wären. In dieser Situation scheint sich mir die Psychoanalyse zu befinden.
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Freuds Berührung mit dem frühkindlichen Leiden im Unbewußten des Erwachsenen ist von noch lange nicht voll erkannter, unausschöpflicher Bedeutung.
Doch schon die erste naheliegende Konsequenz dieser Entdeckung zog mit sich die Gefahr einer gefährlichen Tabu-Überschreitung. Die von Freud zunächst mit Hypnose und dann mit der Methode der freien Assoziation behandelten Patienten schienen durchwegs daraufhinzuweisen, daß diese Menschen als Kinder von ihren Eltern, Erziehern oder ihren weiteren Familienangehörigen sexuell mißbraucht worden waren. Diese Mitteilungen der Patienten trotz des Widerstandes der Öffentlichkeit voll und ganz ernstzunehmen, hätte zur Voraussetzung gehabt, daß Freud nicht im patriarchalischen Familienbild gefangen, nicht unter dem Zwang des Vierten Gebotes gestanden und frei von Schuldgefühle machenden Elternintrojekten gewesen wäre. Da diese Freiheit in jener Zeit völlig unmöglich war, mußte sich Freud dazu entscheiden, die Berichte seiner Patienten als Phantasien zu betrachten und eine Theorie aufzubauen, die es erlaubte, die Erwachsenen zu schonen und die Symptome der Kranken auf die Verdrängung ihrer eigenen infantilen sexuellen Wünsche zurückzuführen.
In einem Brief an Fließ vom 21.9.1897 zählt Freud die Gründe auf, die ihn bewogen haben, die Verführungstheorie aufzugeben. Unter anderem heißt es dort:
... die Einsicht in die nicht erwartete Häufigkeit der Hysterie, wo jedesmal dieselbe Bedingung erhalten bleibt, während doch solche Verbreitung der Perversion gegen Kinder wenig wahrscheinlich ist. (Die Perversion muß unermeßlich häufiger sein als die Hysterie, da ja Erkrankung nur eintritt, wo sich die Ereignisse gehäuft haben und ein die Abwehr schwächender Faktor hinzugetreten ist).« (S. Freud, 1950a, S. 230.)
Das Schicksal wollte es, daß wir gerade dank der Methode, die Sigmund Freud entwickelt und der Menschheit als Instrument der Erkenntnis gegeben hat, eine Vielzahl von Tatsachen feststellen können, die ihm seinerzeit noch unwahrscheinlich vorkamen. Seit der oben zitierte Satz geschrieben wurde, sind nun 84 Jahre vergangen.
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In dieser Zeit wurden in zahlreichen Ländern sehr verschieden geartete Patienten analysiert und bekamen die Gelegenheit, ihre Wünsche, Phantasien und Gedanken in der Analyse offen auszusprechen. Aus diesen Analysen wissen wir, wie oft die eigenen Kinder das Objekt sexueller Erregung sein können und daß es gerade da nicht zu verstecktem Mißbrauch kommt, wo diese Wünsche zugelassen und ausgesprochen werden können. Die Tendenz, das Kind für alle seine Bedürfnisse optimal zu benützen, ist so verbreitet und in der ganzen Weltgeschichte so selbstverständlich, daß ich auch beim sexuellen Mißbrauch nicht von einer Perversion sprechen möchte, sondern von einer der vielen Formen von Machtausübung des Erwachsenen über das Kind.
Es gab mehrere, auch persönliche, Motive, die Sigmund Freud dazu bewogen haben, seine Verführungstheorie aufzugeben. Im genannten Brief an Fließ zählte er sie alle auf, soweit sie ihm bewußt waren, und später hat die Entdeckung seines Ödipuskomplexes eine große Rolle dabei gespielt. Diese Entwicklung hat der Menschheit geholfen, die für sie wohl unbequemste und sehr kränkende Wahrheit nicht zu sehen oder nicht ernstzunehmen, wie es die Kirche auch angesichts der Entdeckungen von Galilei und Kopernikus lange Zeit vermochte. Doch eine einmal ausgesprochene Wahrheit kann nicht vollständig verschwinden, sie wird sich früher oder später durchsetzen, auch wenn ihr Entdecker seine Mitteilung zurückziehen sollte.
Sigmund Freud hat sein Leben lang versucht, das, was er vorgefunden hat, nämlich den sexuellen Hintergrund der damaligen Neurosen, den er für den einzig möglichen hielt, zu retten, indem er diese Tatsache mit Theorien verkleidete, die die Aufmerksamkeit vom Tun des Erwachsenen auf die Phantasien des Kindes ablenkten und die damit der von der Schwarzen Pädagogik geprägten Generation entgegenkamen.
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Selbstverständlich halte ich diesen Schritt nicht für die Folge einer bewußten Überlegung, sondern vielmehr für einen unbewußten, ja vielleicht sogar kreativen Versuch, die Wahrheit um jeden Preis zu retten. Auch wenn der Preis dieser Rettung hoch war, so konnte er doch nicht verhindern, daß dank der Ausübung der Psychoanalyse in den letzten 80 Jahren Menschen immer wieder auf Zusammenhänge gestoßen sind (nämlich u. a. in der Familientherapie, in der Kinderanalyse, in der Schizophreniebehandlung und in der Psycho-historie), die zumindest die partielle Gültigkeit der ersten Freudschen Funde empirisch bestätigen, auch wenn oder gerade weil bis jetzt keine Theorie darüber ausgearbeitet wurde. Im Jahre 1896 schrieb Sigmund Freud:
Wenn wir die Ausdauer haben, mit der Analyse bis in die frühe Kindheit vorzudringen, so weit zurück nur das Erinnerungsvermögen eines Menschen reichen kann, so veranlassen wir in allen Fällen den Kranken zur Reproduktion von Erlebnissen, die infolge ihrer Besonderheiten sowie ihrer Beziehungen zu den späteren Krankheitssymptomen als die gesuchte Ätiologie der Neurose betrachtet werden müssen. Diese infantilen Erlebnisse sind wiederum sexuellen Inhalts, aber weit gleichförmigerer Art als die letztgefundenen Pubertätsszenen; es handelt sich bei ihnen nicht mehr um die Erweckung des sexuellen Themas durch einen beliebigen Sinneseindruck, sondern um sexuelle Erfahrungen am eigenen Leib, um geschlechtlichen Verkehr (im weiteren Sinne). Sie gestehen mir zu, daß die Bedeutsamkeit solcher Szenen keiner weiteren Begründung bedarf; fügen Sie nun noch hinzu, daß Sie in den Details derselben jedesmal die determinierenden Momente auffinden können, die Sie etwa in den anderen, später erfolgten und früher reproduzierten Szenen noch vermißt hätten.
Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich — durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalles — ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili der Neuropa-thologie (S. Freud, 1896c, S. 438f.).
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Und einige Seiten weiter lesen wir:
Schließlich sind die Ergebnisse meiner Analyse imstande, für sich selbst zu sprechen. In sämtlichen achtzehn Fällen (von reiner Hysterie und Hysterie mit Zwangsvorstellungen kombiniert, sechs Männer und zwölf Frauen) bin ich, wie erwähnt, zur Kenntnis solcher sexueller Erlebnisse des Kindesalters gelangt. Ich kann meine Fälle in drei Gruppen bringen, je nach der Herkunft der sexuellen Reizung. In der ersten Gruppe handelt es sich um Attentate, einmaligen oder doch vereinzelten Mißbrauch meist weiblicher Kinder von Seiten erwachsener, fremder Individuen (die dabei groben, mechanischen Insult zu vermeiden verstanden), wobei die Einwilligung der Kinder nicht in Frage kam und. als nächste Folge des Erlebnisses der Schreck überwog.
Eine zweite Gruppe bilden jene weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind wartende erwachsene Person — Kindermädchen, Kindsfrau, Gouvernante, Lehrer, leider auch allzuhäufig ein naher Verwandter — das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein - auch nach der seelischen Richtung ausgebildetes — förmliches Liebesverhältnis, oft durch J ahre, mit ihm unterhielt. In die dritte Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinderverhältnisse, sexuelle Beziehungen zwischen zwei Kindern, verschiedenen Geschlechtes, zumeist zwischen Geschwistern, die oft über die Pubertät hinaus fortgesetzt werden, und die nachhaltigsten Folgen für das betreffende Paar mit sich bringen. In den meisten meiner Fälle ergab sich kombinierte Wirkung von zwei oder mehreren solcher Ätiologien; in einzelnen war die Häufung der sexuellen Erlebnisse von verschiedenen Seiten her geradezu erstaunlich.
Sie verstehen aber diese Eigentümlichkeit meiner Beobachtungen leicht, wenn Sie in Betracht ziehen, daß ich durchwegs Fälle von schwerer neurotischer Erkrankung, die mit Existenzunfähigkeit drohte, zu behandeln hatte. Wo ein Verhältnis zwischen zwei Kindern vorlag, gelang nun einige Male der Nachweis, daß der Knabe — der auch hier die aggressive Rolle spielt — vorher von einer erwachsenen weiblichen Person verführt worden war, und daß er dann unter dem Drucke seiner vorzeitig geweckten Libido und infolge des Erinnerungszwanges an dem kleinen Mädchen genau die nämlichen Praktiken zu wiederholen suchte, die er bei der Erwachsenen erlernt hatte, ohne daß er selbständig eine Modifikation in der Art der sexuellen Betätigung vorgenommen hätte.
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Ich bin daher geneigt anzunehmen, daß ohne vorherige Verführung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression nicht zu finden vermögen. Der Grund zur Neurose würde demnach im Kindesalter immer von Seiten Erwachsener gelegt, und die Kinder selbst übertragen einander die Disposition, später an Hysterie zu erkranken (S. Freud, 1896c, S. 444 f.).
Was hätte das praktisch bedeutet, wenn Freud dieser Erkenntnis treu geblieben wäre? Wenn wir uns die Frauen des damaligen Bürgertums in den knöchelbedeckenden, eleganten Roben und die Männer mit ihren steifen, weißen Kragen und tadellos geschnittenen Anzügen als Freuds Leser vorstellen (denn es ist kaum anzunehmen, daß seine Bücher in Arbeiterkreisen verbreitet waren), dann können wir uns unschwer ausmalen, welches Potential an Empörung und Entrüstung den hier dargestellten Tatsachen entgegengebracht worden wäre.
Die Entrüstung hätte sich nicht gegen den Mißbrauch der Kinder gerichtet, sondern gegen den, der es wagte, darüber zu sprechen. Denn die meisten dieser eleganten Leute waren von klein auf fest davon überzeugt, daß man nur von schönen, edlen, mutigen und erbaulichen Taten (Dingen) in der Öffentlichkeit reden dürfe, daß aber niemals das, was sie selber unter den Bettdecken ihrer eleganten Schlafzimmer als Erwachsene taten, in gedruckte Bücher gehöre. Sich sexuelle Lustbefriedigungen mit den Kindern zu verschaffen, konnte in ihren Augen nichts Böses sein, solange darüber geschwiegen wurde, denn sie waren davon überzeugt, daß das Kind keinen Schaden daran nehmen würde, ausgenommen, man würde über diese Handlungen mit ihm sprechen. So vollzogen sich diese Handlungen sprachlos, wie an Puppen, in der festen Überzeugung, daß eine Puppe niemals wird wissen und erzählen können, was man mit ihr gespielt hat. Um diese Diskretion zu garantieren, hat man Kinder auch nicht aufgeklärt und ihnen ihre eigenen erotischen Aktivitäten, die Berührungen des Genitale, das Onanieren und jedes Interesse für sexuelle Thematik verboten.
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Zugleich wurden die Kinder im Vierten Gebot erzogen, und alles in ihrem Leben mußte vom höchsten Prinzip der Achtung für die Eltern durchdrungen sein. Das Kind mußte also ohne jede Hilfe mit dem unauflösbaren Widerspruch fertig werden, daß es schmutzig und verdorben sei, wenn es sein eigenes Genitale berühre, daß es aber gleichzeitig böse wäre, das Spiel mit seinem Körper dem Erwachsenen zu verweigern. Schon Fragen darüber zu stellen, war gefährlich. Freuds Fall »Dora« zeigt, welche unendlichen Hindernisse eine in dieser Atmosphäre aufgewachsene Frau zu überwinden hat, wenn sie die Kluft zwischen dem, was man ihr bewußt mitgegeben, und dem, was sie halbbewußt wahrgenommen hat, aufheben möchte, weil sie mit dieser Kluft nicht mehr leben kann. Weil die ersten Traumen nicht in bewußten Erinnerungen, sondern höchstens in unbewußten Rückständen, Symptomen und Träumen, existieren, weil sie im Widerspruch stehen zu dem idealisierten Bild der Eltern, das aus inneren und äußeren Gründen (z. B. denen der Schwarzen Pädagogik) erhalten bleiben muß, wehren sich diese Menschen mit allen Mitteln gegen das Bewußtwerden des Traumas. Freud beschreibt in einem Brief an Fließ vom 28. 4. 1897, wie eine seiner neuen Patientinnen diesen Konflikt formuliert.
Ich habe gestern eine neue Kur mit einer jungen Frau begonnen, die ich aus Zeitmangel eher abschrecken möchte. Sie hatte einen Bruder, der geisteskrank gestorben ist, und ihr Hauptsymptom - Schlaflosigkeit — trat zuerst auf, als sie den Wagen mit dem Kranken aus dem Haustor in die Anstalt wegfahren hörte. Seither Angst vor Wagenfahren, Überzeugung, daß ein Wagenunglück geschehen werde. Jahre später scheuten während einer Spazierfahrt die Pferde, sie benutzte die Gelegenheit, aus dem Wagen zu springen und sich einen Fuß zu brechen. Heute kommt sie und berichtet, daß sie viel an die Kur gedacht und ein Hindernis gefunden habe. Welches? - Mich selbst kann ich so schlecht machen, als es sein muß, aber andere Personen muß ich schonen. Sie müssen mir gestatten, keinen Namen zu nennen. -An Namen liegt es wohl nicht. Sie meinen die Beziehung zu Ihnen. Da wird sich wohl nichts verschweigen lassen. -
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Ich meine überhaupt, ich wäre früher leichter zu kurieren gewesen als heute. Früher war ich arglos, seither ist mir die kriminelle Bedeutung mancher Dinge klar geworden, ich kann mich nicht entschließen, davon zu sprechen. — Ich glaube umgekehrt, das reife Weib wird toleranter in sexuellen Dingen. - Ja, da haben Sie Recht. Wenn ich mir sage, daß es ausgezeichnet edle Menschen sind, die sich solcher Dinge schuldig machen, muß ich denken, es ist eine Krankheit, eine Art Wahnsinn und muß sie entschuldigen. — Also sprechen wir deutlich. In meinen Analysen sind es die Nächststehenden, Vater oder Bruder, die die Schuldigen sind. - Ich habe nichts mit meinem Bruder. - Also mit dem Vater.
Und nun kommt heraus, daß der angeblich sonst edle und achtenswerte Vater sie von 8-12 Jahren regelmäßig ins Bett genommen und äußerlich gebraucht (»naß gemacht«, nächtliche Besuche). Sie empfand dabei bereits Angst. Eine sechs Jahre ältere Schwester, mit der sie sich Jahre später ausgesprochen, gestand ihr, daß sie mit dem Vater die gleichen Erlebnisse gehabt. Eine Kusine erzählte ihr, daß sie mit 15 Jahren sich der Umarmung des Großvaters zu erwehren hatte. Natürlich konnte sie es nicht unglaublich finden, als ich ihr sagte, daß im frühesten Kindesalter ähnliche und ärgere Dinge vorgefallen sein müssen. Es ist sonst eine ganz gemeine Hysterie mit gewöhnlichen Symptomen (S. Freud, 1950a, S. 207 f.).
Nur wenige Monate später, im September 1897, distanzierte sich Sigmund Freud von seiner Verführungstheorie, die niemand, nicht einmal Breuer mit ihm teilen konnte, und fand dann »die Lösung« in der infantilen Sexualität und dem Ödipuskomplex, mit anderen Worten: in seiner Triebtheorie.
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C 2. GIBT ES EINE »INFANTILE SEXUALITÄT«?
Ich mußte einen langen Weg zurücklegen, um meine seit meiner Ausbildungszeit immer wieder auftauchenden Zweifel an der Triebtheorie endlich ernstzunehmen und mich von dem Zwang, sie als Kernstück der Psychoanalyse zu sehen, zu befreien. Aber ich mußte diesen Weg gehen, wenn ich meinen Grundsatz nicht aufgeben wollte, von den Patienten zu lernen und sie nicht meinen Theorien anpassen zu wollen.
Was ich in den von mir durchgeführten und kontrollierten Analysen über »infantile Sexualität« gelernt habe, ließe sich in den folgenden Thesen umschreiben:
1. Sexuelle Ängste, Verwirrungen und Unsicherheiten .waren tatsächlich in der Kindheit jedes Patienten zu finden, wenn .auch keineswegs ausschließlich diese. Aber ich verstehe jetzt die sexuellen Schwierigkeiten nicht, wie ich es gelernt hatte, als Abwehr der eigenen, kindlichen Sexualwünsche, sondern u. a. als Reaktionen auf die Sexualwünsche der Erwachsenen, deren Objekt das Kind selbst war. Wie ich schon sagte, braucht das kleine Kind, um zu überleben, die Liebe, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit des Erwachsenen. Es wird alles tun, um sie zu bekommen und sie nicht zu verlieren. Wenn es bei seinen nächsten, wichtigsten Bezugspersonen spürt, daß ihr Interesse an ihm bewußt oder unbewußt sexuellen Charakter trägt, was oft vorkommt, weil die Eltern unserer Patienten häufig ein sexuell unbefriedigendes Leben führen, dann wird es zwar verunsichert, manchmal verängstigt und in krassen Fällen völlig desorientiert, aber es wird alle seine Fähigkeiten einsetzen, um diese Wünsche zu befriedigen, sie zumindest nicht allzusehr zu frustrieren, den Erwachsenen nicht zu verärgern, um keinen Preis seine Abwendung zu riskieren.
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2. Was die Eltern vom Kind brauchen, gehört zum bestimmenden Gesetz seiner Existenz, dem es sich nie entziehen kann, und darin bildet die Sexualität keine Ausnahme. Das Kind wird in sich pseudosexuelle Empfindungen produzieren, um dem bedürftigen Elternteil ein würdiger Partner zu sein und seine Aufmerksamkeit nicht zu verlieren. Pierre Bourdier hat in einer sehr aufschlußreichen Studie dieses Problem bei Kindern von psychotischen Müttern untersucht (vgl. Bourdier, 1972).
3. Die eigene, genuine Geschlechtsreife erwacht mit der körperlichen Reifung in der Pubertät. Was Sigmund Freud als »infantile Sexualität« vom ersten bis zum fünften Lebensjahr beschreibt, setzt sich nach meiner Auffassung aus verschiedenen Elementen zusammen, denen ich hier im einzelnen nachgehen möchte:
a) die Autoerotik — das Interesse am eigenen Körper und am eigenen Selbst;
b) die gesunde, intensive, noch nicht durch falsche und ausweichende Auskünfte verdrängte Neugier eines kleinen Kindes, das an allem, was es umgibt, interessiert ist und das auch auf Geschlechtsunterschiede und
"die »Urszene« (den elterlichen Geschlechtsverkehr) lebhaft reagiert;
c) die intensive Eifersucht auf die Gemeinsamkeiten der beiden erwachsenen Eltern, an denen man nicht teilnehmen kann (ödipales Dreieck);
d) die Freude an der Manipulierbarkeit des eigenen Gliedes und die Angst, die Erwachsenen würden dieser Freude ein Ende machen (Kastrationsangst);
e) der Neid des kleinen Mädchens auf diese Möglichkeit, besonders wenn die Erwachsenen bei der Aufklärung über die Geschlechtsmerkmale vom »Haben« und »Nichthaben« sprechen und die Bedeutung der Männlichkeit überbewerten (Penisneid);
f) die Intensität und Heftigkeit der sinnlichen Erlebnisse im Kindesalter im allgemeinen, zu denen auch Sensationen im oralen und analen Bereich gehören; (doch die Verknüpfung dieser Bereiche mit sexuellen Sensationen wird an das Kind von außen herangetragen);
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g) der in der Reinlichkeitserziehung übliche (Macht-) Kampf um die Ausscheidungen des Kindes, die zu sog. analen Fixierungen führen und mehr von der Entmachtung des Kindes als von triebhaft-sinnlichen Wünschen erzählen; h) die ständige Ausrichtung auf die Wünsche der Erwachsenen, die in ihrer negativen Form auch im Trotz zu finden ist, und die volle Bereitschaft, sie zu beantworten. Die Abnahme des Interesses für die Sexualität in der Latenzzeit führt Freud auf die Verdrängung des Ödipuskomplexes zurück. Es gibt aber möglicherweise auch andere Gründe für diese Wendung. Wenn man das kleine Kind nicht als Subjekt, nicht als den Träger, sondern als das Objekt der Sexualwünsche des Erwachsenen sieht, dann drängen sich nämlich noch andere Überlegungen auf: Das kleine Kind ist den Berührungen des Erwachsenen viel mehr ausgesetzt als das größere. Es lebt viel näher mit den Eltern zusammen, oft teilt es mit ihnen das Schlafzimmer. Es ist auch in der ersten Lebenszeit viel anziehender und erregender als zur Zeit des Zahnwechsels und in der Schulzeit. Außerdem kann man sich besser auf die Diskretion eines kleinen als auf die eines größeren Kindes verlassen, und man war ja bis vor kurzem bzw. man ist heute noch davon überzeugt, daß das, was den ganz kleinen Kindern geschieht, überhaupt keine Folgen habe und niemals Drittpersonen bekannt werden könnte.
4. Es ist ganz natürlich, daß das Kind im Erwachsenen Sexualbedürfnisse weckt, weil es schön, anschmiegsam, zärtlich ist und weil es den Erwachsenen so bewundert wie wohl niemand sonst in dessen ganzer Umgebung. Wenn ein Erwachsener mit seinem gleichaltrigen Partner ein befriedigendes Sexualleben führt, wird er sich die Befriedigung seiner beim Kind aufgetauchten Wünsche versagen können, ohne sie abzuwehren. Wenn er sich aber bei seinem Partner erniedrigt und nicht ernstgenommen fühlt, wenn sich seine eigenen Bedürfnisse nie entfalten, wenn sie nie reifen durften, oder wenn er selber ein verführtes, ein vergewaltigtes Kind war, dann wird dieser Erwachsene besonders stark dazu neigen, an sein Kind seine sexuellen Bedürfnisse heranzutragen, bevor das Kind die Möglichkeit hat, mit ihnen umzugehen.
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5. Die als sexuell erlebten Wünsche des Erwachsenen haben oft narzißtischen Charakter. Ich bin in einem anderen Zusammenhang (vgl. A. Miller, 1979) auf den narzißtischen Ursprung sexueller Perversionen näher eingegangen. Es würde mich nicht wundern, wenn in den krassesten Fällen von ausgesprochen pädophilen Annäherungen ganz andere als sexuelle Hintergründe, nämlich u. a. Macht-Ohnmachtprobleme, zu entdecken wären.
6. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ich therapeutisch viel weiter komme, wenn ich die sexuelle Verwirrtheit der Patienten als Ausdruck des sexuellen Mißbrauchs durch Erwachsene zu verstehen versuche. Das Verführungsverhalten einer sog. hysterischen Patientin verstehe ich nicht als Ausdruck ihrer sexuellen Wünsche, sondern als eine unbewußte Mitteilung über eine Geschichte, an die jede andere Erinnerung fehlt und an die nur der Weg dieser Inszenierung heranführen kann. Ich meine, daß die Patientin in der aktiven Rolle immer wieder darstellt, was ihr einmal oder mehrmals geschehen ist, was sie aber nicht erinnern kann, weil dies zu traumatisch war, um es ohne eine einfühlende Begleitperson in Erinnerung zu behalten. Sie inszeniert also das unbewußte Trauma ihrer Kindheit, an dem sie krank geworden ist (vgl. die Geschichte von Anita und den Fall von Thomas, oben S. 43 f.).
Die Geschichte des frühen traumatischen Mißbrauchs muß nicht in der hysterischen, verführenden Form erzählt werden. Die Umkehr des passiv Erlittenen in aktives Verhalten ist ein häufig vorkommender, aber nicht der einzige Abwehrmechanismus. Frigidität, Schlaflosigkeit, Ruhelosigkeit, Sucht können den gleichen Ursprung haben, ohne die für die Hysterie als typisch bezeichnete theatralische Note mitzutragen, in der der sexuelle Mißbrauch — wenn auch unter anderen Vorzeichen — unmittelbarer zur Inszenierung kommt.
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Die sechs angeführten Thesen, die in krassem Gegensatz zu Freuds Theorie über die infantile Sexualität stehen, gehören nicht zum theoretischen Rüstzeug, mit dem ich schon immer gearbeitet habe. Sie ergaben sich vielmehr als Folge meiner praktischen Arbeit mit Patienten, unzähliger Beobachtungen, Träume und schließlich aus den Erfahrungen, daß diese Sicht dem Patienten mehr hilft, sich selbst und sein Schicksal zu verstehen, als die Suche nach seiner infantilen Sexualität, der er meistens bereitwillig zustimmt, in der er sich aber nicht wirklich verstanden fühlen kann. Wenn ich diese meine neugewonnene Sicht unter Psychoanalytikern äußere, stoße ich oft auf die bereits erwähnte Frage, warum dies so radikal anders zu sehen sei und warum man nicht beides gelten lassen könne, nämlich sowohl die sexuellen Traumatisierungen als auch die kindlichen sexuellen Wünsche. Wenn meine Thesen nur auf abstrakten, theoretischen Überlegungen beruhten, ließe sich vermutlich leicht alles verbinden und auseinandernehmen, denn der »psychische Apparat« als Denkmodell ist ja beliebig formbar. Doch eine solche Abstraktion liegt mir fern. Die hier entwickelten Überlegungen beruhen auf konkreten Erfahrungen, die nicht neu sind, die aber für mich erst einen Sinn bekamen, als ich sie im Zusammenhang mit der verborgenen, aber ubiquitären Machtausübung des Erwachsenen über das Kind zu sehen lernte. Von daher verstehe ich die Vorstellung von der »infantilen Sexualität« als Ausdruck einer pädagogischen Gedankenwelt, die die realen Machtverhältnisse zudeckt. So ist es begreiflich, daß ich nicht versuche, Brücken zwischen dem Verleugnenden und dem Verleugneten herzustellen, sondern vielmehr das Phänomen des kollektiven Verleugnens sichtbar zu machen und es, soweit es mir möglich ist, zu erklären.
Da das Kind zum Überleben die Idealisierung der Eltern braucht und da ihm die Erziehung verbietet, das ihm
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zugefügte Unrecht überhaupt zu merken, wahrzunehmen und zu artikulieren, andererseits aber die Gefühle des Kindes sehr heftig und intensiv sind, muß man sich nicht wundern, daß die Theorie der infantilen Sexualität so lange überdauerte.
Und doch kann man sich wundern, daß es uns keine Mühe mehr macht anzunehmen, ein Kind wolle mit einem erwachsenen Menschen Sexualverkehr haben, während in der ganzen psychoanalytischen Theorie äußerst selten davon die Rede ist, wie das Kind auf die sexuell bedürftigen Eltern wirkt. Es wird auch selten gefragt, was es für ein kleines Kind bedeutet, wenn es mitten in der Zärtlichkeit in den Augen seiner Mutter oder seines Vaters die sexuellen Bedürfnisse spürt, die es beantworten möchte, aber nicht beantworten kann. Die Begegnung mit diesem Blick ist aber die sanfteste Form der Desorientierung. Eine ganze Skala von unverständlichen und beängstigenden Berührungen bis zu Vergewaltigungen ist viel öfter anzutreffen als man gewöhnlich anzunehmen geneigt ist (vgl. L. Sebbar, 1980). Der Unterschied zwischen dem Neurosenbild unserer Zeit und demjenigen Sigmund Freuds wird von Heinz Kohut (1979) darauf zurückgeführt, daß die heutigen Patienten überhaupt keine Nähe zu den Eltern erfahren durften, während die frühere Generation unter sexueller Überstimulierung gelitten habe. Eine solche Unterscheidung verkennt die Aussagekraft des klinischen Materials, von dem auch Kohuts Beispiele keine Ausnahme bilden und in dem man immer wieder beobachtet, wie sexuelle Stimulierung je nachdem von Wutausbrüchen oder Gleichgültigkeit abgelöst werden kann. Gerade der Kohutsche Begriff des Selbstobjektes hilft, diese Kombination zu verstehen, wenn man die ubiquitäre Tatsache ernstnehmen kann, daß Kinder sehr oft von ihren Eltern als Ersatz der einst vermißten Selbstobjekte benutzt werden.
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Es ist bekannt, daß Väter manchmal ihre Töchter vergewaltigen, und in der letzten Zeit sind solche Berichte zugänglicher, weil die Töchter mehr Chancen haben, Verborgenes preiszugeben, sofern sich das Trauma im späteren, erinnerbaren Alter abspielt (vgl. L. Sebbar, 1980). Das hat oft nichts mit der sogenannten »Inzestliebe« zu tun, es ist für die Väter, wie es in einer italienischen Zeitung einmal stand, »die billigste Form, sich Lust zu verschaffen«.
Wenn ich vom unbewußten Trauma spreche, so meine ich nicht, daß ein bestimmtes Ereignis die Ursache der neurotischen Entwicklung sein muß. Es handelt sich vielmehr um die ganze Atmosphäre der frühen Kindheit, die in der Übertragung und Gegenübertragung zum Vorschein kommt. Was zu einer gestörten psychischen Entwicklung führt, sind nicht erlittene Entbehrungen, sondern narzißtische Kränkungen — zu denen auch sexueller Mißbrauch gehört — zur Zeit der größten Hilflosigkeit des Kindes und im Schutze seiner Verdrängung, die dem Erwachsenen die Diskretion sichert, aber dem Kind mit der Auflage des Nichtwissens den Zugang zu seinen Gefühlen und seiner Lebendigkeit versperrt. Es ist dieses Nichtsagen-und Nichtwissendürfen, das später zu krankhaften Entwicklungen führt.
Von der bekannten Schriftstellerin Virginia Woolf, die von ihrem dreizehnten Lebensjahr an immer wieder an psychotischen Schüben litt und sich im reifen Alter das Leben nahm, berichtet ihr Biograph, Quentin Bell, sie hätte an »einer krebsartigen Zersetzung des Geistes« gelitten und »Stimmen des Wahnsinns« gehört. Er schreibt: »Ich weiß nicht genug über Virginias psychische Erkrankungen, um sagen zu können, ob ihnen ein psychisches Trauma zugrunde lag« (S. 69). Doch zwei Seiten früher berichtet Bell ausführlich, daß der viel ältere Halbbruder George die kleinen Mädchen Vanessa und Virginia jahrelang für seine sexuellen Spiele benutzt hatte (S. 67).
Nicht ohne Einfühlung erzählt er:
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Den Schwestern kam das Ganze vor, als verwandle sich George vor ihren Augen in ein Ungeheuer, einen Tyrannen, gegen den es keine Verteidigung gab; denn wie hätten sie über den heimlichen, dem Verräter selbst halb unbewußten Verrat sprechen oder etwas dagegen unternehmen können? Dazu erzogen, im Zustand unwissender Reinheit zu verharren, werden sie zuerst gar nicht begriffen haben, daß aus Zuneigung Begierde wurde, und erst ihr wachsender Ekel brachte sie wohl darauf. Dem und ihrer großen Schüchternheit ist es zuzuschreiben, daß Vanessa und Virginia so lange schwiegen. George war betont gefühlvoll und verschwenderisch mit seinen Liebkosungen und Zärtlichkeiten; zu sehen, daß sie vielleicht weitergingen, als selbst dem liebevollsten Bruder erlaubt ist, hätte es schon eines wissenden Blicks bedurft; die Gutenachtfummeleien konnten durchaus als normale Fortsetzung seiner auch tagsüber bewiesenen Anhänglichkeit gelten. Jedenfalls war es schwer für die Schwestern, zu entscheiden, wo sie hätten die Grenze ziehen, Protest anmelden und einen Skandal riskieren sollen; noch schwerer, überhaupt jemanden zu finden, mit dem sie darüber hätten sprechen können. Stella, Leslie, die Tanten - alle würden mit Entsetzen, Entrüstung und Ungläubigkeit reagiert haben. Der einzige Ausweg schien demnach die stumme (AM) Flucht; aber auch der blieb ihnen versagt: sie mußten in das Lob ihres Verfolgers einstimmen; denn seine Avancen wurden mit begeistertem Applaus quittiert, und immer wieder bekamen sie zu hören, man hoffe, »der liebe George« werde sie nicht undankbar finden. (Qu. Bell, 1978, S. 67).
Diese Spiele dauerten mehrere Jahre an, bis zu Virginias zwölftem Lebensjahr.
In der ganzen liebevollen Umgebung gab es also keinen Menschen, dem sich Virginia hätte anvertrauen können, ohne Angst haben zu müssen, daß sie selber beschuldigt werde, weil ihr Halbbruder schon erwachsen war und im Schutz der andern Erwachsenen stand. Ihre Unsicherheit wäre vielleicht weniger groß gewesen, wenn nicht schon früher, im Alter von vier und fünf Jahren, ein anderer Halbbruder ähnliches mit ihr gemacht hätte. In einem Brief an Ethel Smith vom 12. Januar 1941 (das Todesjahr!) schreibt Virginia: »Ich zittere noch immer vor Scham, wenn ich daran denke, wie mich mein Halbbruder, als ich sechs war, auf ein Sims stellte und meine Geschlechtsteile untersuchte« (Qu. Bell, 1978, S. 84).
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Aus einem erst später entdeckten Dokument (Monk's House Papers, A 5 a) geht hervor, daß der hier erwähnte Halbbruder nicht George, sondern Gerald war. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß in späteren Stadien der Analysen oft Erinnerungen auftauchen, in denen die Patientin als Kind von einem Onkel oder einem fremden Mann, nicht selten Priester, betastet wurde und weder gewagt hat, sich zu wehren, noch, irgend jemandem von diesem Erlebnis zu erzählen. Auf dem Boden der Triebtheorie wäre es naheliegend, die Patientin auf ihre damaligen angeblichen Lustgefühle anzusprechen. Solche Deutungen werden oft widerstandslos hingenommen, weil die Patientinnen an das Nichtverstandensein längst gewöhnt sind.
Das Beispiel von Virginia Woolf zeigt indessen, wie sehr solche Triebdeutungen an der eigentlichen Not und Einsamkeit des Kindes vorbeigehen können. Häufig zeigt sich auch, daß die Erinnerung mit dem »Onkel« eine Deckerinnerung war. Und erst wenn diese erlebt und vom Analytiker einfühlend aufgenommen wurde, kann die noch frühere Erinnerung mit dem Vater oder dem größeren Bruder aus der Verdrängung auftauchen. Sie wird oft mit zahlreichen Träumen ähnlichen Inhalts und mit Erlebnissen in der Übertragung einhergehen. Immer wieder taucht dann in der Übertragung und in den Beziehungen mit aktuellen Partnern das Bedürfnis auf, sich abzugrenzen, einen eigenen Raum zuhaben, den man beschützt*, sich nicht mehr für alles mögliche gebrauchen tu lassen, nein sagen tu können, sich als getrennte Person tu erleben. Auch Mißtrauen taucht auf, über das, was der andere mit einem vorhat, gepaart mit einer großen Angst, daß man die geliebte Person verliere, wenn man nicht vollständig zu ihrer Verfügung steht. In dieser Zeit der Analyse träumen z.B. Patientinnen oft, daß sie endlich zum erstenmal die Badezimmertüre zumachen konnten. Es stellt sich heraus, daß sie dies auch in der
* Vgl. den Titel eines Buches von Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein.
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Pubertät nie gewagt hätten und daß es dem Vater immer freistand, in das Badezimmer 2u kommen, wann es ihm paßte. Sich abzuschließen hätte Mißtrauen bedeutet, und das hätte geheißen, den Vater zu kränken. Ein Patient träumt z. B., daß er wieder die engen Durchgänge seiner früheren Träume gesehen hat, aber diesmal nicht mehr Lust hatte, sich durch die engen Löcher durchzuzwängen und sich zu bücken, um in den nächsten Raum zu kommen, sondern auf diese Wege verzichtete und neue große Räume entdeckte. Eine Patientin träumt, daß sie in ihrer Wohnung ein Zimmer entdeckt hat, das gut abschließbar war und das von jetzt an nur ihr allein gehörte. Solche Träume haben symbolischen Charakter, weil es um die Befreiung des Selbst aus der fremden Gewalt geht, aber sehr oft bringen sie auch frühe reale Situationen zum Vorschein (wie im Falle des Badezimmers z. B.), die natürlich bereits in der Realität eine in bezug auf das Selbst eminente Bedeutung hatten.
Dieses Bedürfnis, aus der Verwobenheit mit den Wünschen des Anderen herauszutreten und sich als getrennte Person zu erleben, steht oft (wenn auch nicht immer) im Zusammenhang mit dem Bewußtwerden und dem emotionalen Erlebnis des sexuellen Mißbrauchs in der Kindheit. Das Entdecken der eigenen inneren Räume im Traum entspricht dem Entdecken des Selbst, das nicht mehr Instrument des Anderen ist und erst jetzt wirklich frei wird, sich dem Anderen zuzuwenden. Sehr oft verschwindet zu diesem Zeitpunkt eine chronische Schlaflosigkeit oder Frigidität. Obwohl der Biograph von Virginia Woolf zu berichten weiß, sie hätte »das Gefühl gehabt, George habe ihr Leben verdorben, noch bevor es überhaupt richtig begonnen hatte«, bleibt ihm der Zusammenhang dieser Tatsache mit der »rätselhaften« Psychose verborgen. Virginias Mann war der große Verleger Freuds in London, der Besitzer von Hogarth Press. Vielleicht hatte diese Bekanntschaft das Leben seiner Frau, der begabten Schriftstellerin, retten können, wenn Freud damals noch voll zu seiner Verführungstheorie hätte stehen können.
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Vielleicht hätte diese Frau Verständnis und daher Hilfe von ihm bzw. von seinen Schülern bekommen? Serge Lebovici erzählte einmal in einem Vortrag über drei Fälle von Schlaflosigkeit bei Kleinkindern, die alle auf Verführungen durch die Mütter zurückzuführen waren. Die Kinder schliefen bei ihm in der Sprechstunde ein, sobald es ihm gelungen war, die Situation mit der Mutter und dem Kind so zu gestalten, daß das Kind keine Angst mehr haben mußte, die geliebte Person zu verlieren, wenn es sorglos in Schlaf versinken und sich nicht weiter um die Mutter kümmern würde. Um sich dem Schlaf anvertrauen zu können, muß der Säugling in der symbiotischen Phase seiner guten Symbiose sicher sein, und ein Kind in der späteren Zeit muß sich darauf verlassen können, daß sein Selbst ihm während des Schlafs nicht verlorengeht. Sexuell stimulierte Kinder können dieses wichtige Vertrauen nicht entwickeln, sie sind außenzentriert, immer bereit mitzumachen, wenn etwas von ihnen erwartet wird, unruhig, übererregt, irgendwie heimatlos und ohne das Recht auf »das eigene innere Zimmer.« Der psychoanalytische Sprachgebrauch bedient sich des Wortes »Verführung« für recht verschiedene Phänomene, die ich aber hier auseinanderhalten möchte. Daher spreche ich eher vom sexuellen Mißbrauch des Kindes, der grobe und feine Formen der Mißhandlungen einschließt. Im Wort »Verführung« schwingt das Wunschdenken des Erwachsenen mit, der annimmt, daß das Kind seine Bedürfnisse teilt, im Wort »Mißbrauch« fallen solche Projektionen weg.
Franz Kafka schildert in der Erzählung Der Heiner den Mißbrauch des kindlichen Körpers, wie er in der Perspektive des Kindes erlebt und nicht in der Theorie des Erwachsenen verstanden wird:
Einmal aber sagte sie »Karl« und führte ihn, der noch über die unerwartete Ansprache staunte, unter Grimassen seufzend in ihr Zimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte sie seinen Hals, und während sie ihn bat, sie zu entkleiden, entkleidete sie
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in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett, als wolle sie ihn von jetzt niemandem mehr lassen und ihn streicheln und pflegen bis zum Ende der Welt. »Karl, o du mein Karl!« rief sie, als sähe sie ihn und bestätige sich seinen Besitz, während er nicht das geringste sah und sich unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für ihn aufgehäuft zu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine sagen, und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich, daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen herausschüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einige Male gegen ihn - ihm war, als sei sie ein Teil seiner selbst, und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen
(F. Kafka, 1954, S. 57; vgl. hierzu auch M. Mehr, 1981).
Wir verdanken der Psychoanalyse die Entdeckung der Abwehrmechanismen, darunter auch des Mechanismus der Projektion. Ohne seine Kenntnis wäre die Arbeit an der Übertragung, die für uns eine zentrale Bedeutung hat, ganz unmöglich. Aber wir haben noch nicht alle Konsequenzen aus dieser Entdeckung gezogen. Aus der Gegenübertragung wissen wir, wie schwer es sogar für einen erfahrenen Analytiker sein kann, als Träger der Projektionen zu fungieren. Wenn wir also keine Schwarzen Pädagogen sind und die »Sünde« der Projektion nicht nur dem Kind ankreiden, dann müssen wir uns doch vorstellen können, daß auch die Eltern auf das Kind projizieren; und zwar je jünger es ist, um so stärker, weil es ihnen dann noch nicht die Absurdität dieser Projektionen nachweisen kann. Schlagende Eltern sehen sehr oft eigene Elternfiguren in den Säuglingen, die sie schlagen. Was geschieht aber in einem Kleinkind, vielleicht in einem Säugling, wenn es zum Träger von Projektionen wird, die sogar dem erfahrenen Analytiker das Leben schwer machen können?
Gerade wenn die Eltern latent oder manifest psychotisch sind, muß das fürs ganze Leben
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des Kindes eine schwere Hypothek sein. Vielleicht liegt es auch an der Tragik dieser unabänderlichen Situation, daß Freud sich darüber keine Gedanken mehr machte, sondern auf dem Boden der Trieb- und Strukturtheorie eine Behandlungstechnik entwickelte, die sich darauf beschränkt, die Projektionen des Kindes und des Patienten zu sehen, die, sofern sie da sind, in einer Behandlung tatsächlich aufgehoben werden können. Aber die eigentliche Wurzel der Störung wird damit nicht tangiert. Heroard, der Arzt am französischen Hof zur Zeit, als Ludwig XIIL noch ein kleines Kind war, berichtet in seinen Memoiren über die Spiele der Erwachsenen mit diesem Kind. Was in der viktorianischen Epoche verborgen werden mußte, geschah hier noch in völliger, leutseliger Offenheit. Ich zitiere ein langes Stück aus dem Bericht von Aries, der auf diesen Memoiren gründet:
Eines der ungeschriebenen Gesetze unserer heutigen Moral, ein kategorisches und allgemein beachtetes, verlangt, daß die Erwachsenen sich vor Kindern jeglicher Anspielung, insbesondere jeglicher scherzhaften, auf sexuelle Dinge enthalten. Diese Einstellung war der alten Gesellschaft ziemlich fremd. Der moderne Leser von Heroards Tagebuch, worin die kleinen Begebenheiten aus dem Leben des jungen Ludwig XIIL verzeichnet sind, ist seltsam berührt von der Freizügigkeit, mit der man die Kinder behandelte, von der Grobheit der Scherze, der Unschicklichkeit der Gesten, deren Anblick niemanden schockierte und die natürlich erschienen. Nichts könnte uns eine bessere Vorstellung davon vermitteln, daß die moderne Einstellung zur Kindheit in den letzten Jahren des 16. und am Beginn des 17. Jahrhunderts gänzlich unbekannt war.
Ludwig XIIL ist noch kein Jahr alt: »Er lacht aus vollem Halse, als die Kinderfrau mit den Fingerspitzen seinen Piephahn hin und her bewegt.« Ein reizender Scherz, den das Kind sich unverzüglich zunutze macht: »Mit einem Heh! (macht er einen Pagen auf sich aufmerksam), hebt seinen Rock hoch und zeigt ihm seinen Piephahn.«
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Er ist ein Jahr alt: »Sehr lustig«, notiert Heroard, »übermütig; läßt jeden seinen Piephahn küssen.« Er ist sich sicher, daß das jedem Freude macht. So hat man denn auch großen Spaß an seinem Auftritt vor zwei Besuchern, dem Herrn de Bonieres und seiner Tochter: »Er hat ihn aus vollem Halse angelacht, hebt seinen Rock hoch, zeigt ihm seinen Piephahn, vor allem aber seiner Tochter, denn als er ihn ihr vorzeigt und dazu sein kleines Lachen lacht, schüttelt es ihn am ganzen Leibe.« Man fand das so drollig, daß das Kind sich dazu ermuntert fühlte, die Geste zu wiederholen, die ihm soviel Erfolg eingebracht hatte. Vor »einem kleinen Fräulein . . . hat er seinen Rock hochgehoben, und ihr mit einem solchen Eifer seinen Piephahn gezeigt, daß er darüber außer sich geriet. Er legte sich auf den Rücken, um ihn ihr zu zeigen.«
Er ist gerade ein Jahr alt, da ist er schon mit der Infantin von Spanien verlobt; seine Umgebung macht ihm begreiflich, was das bedeutet, und er versteht sie recht gut. Man sagt zu ihm: »Wo ist der Liebling der Infantin?« Da legt er die Hand auf seinen Piephahn.
Während der ersten drei Jahre seines Lebens findet niemand etwas dabei, zum Scherz das Geschlechtsteil dieses Kindes zu berühren: »Die Marquise (de Verneuil) steckt oft die Hand unter sein Kleid; er läßt sich auf das Bett seiner Amme legen, wo sie mit ihm schäkert, indem sie die Hand unter sein Kleid steckt. . . Madame de Verneuil will mit ihm schäkern und nimmt seine Hoden in die Hand; er stößt sie zurück und sagt: Weg, weg, lassen Sie das, gehen Sie weg. Er will um keinen Preis zulassen, daß die Marquise seine Hoden berührt; seine Amme hatte ihm das eingeschärft: Monsieur, lassen Sie nur niemanden Ihre Hoden anrühren, auch Ihren Piephahn nicht, sonst wird er Ihnen abgeschnitten. Er vergaß diese Worte nicht.« »Als er aufgestanden ist, will er sein Hemd nicht nehmen und sagt: nicht mein Hemd [Heroard gibt gerne den Jargon und selbst den Akzent des Kindes wieder, das der Sprache noch nicht recht mächtig ist], ich will erst noch Milch aus meinem Piephahn geben; man streckt die Hand aus, er macht, als wenn er daran zöge, mit dem Mund macht er >pss, pss<, gibt dann jedoch allen davon, dann läßt er sich sein Hemd geben.« Ein klassischer, oft wiederholter Scherz besteht darin, daß man zu ihm sagt: » >Monsieur, Sie haben keinen Piephahnc er antwortet heiter, indem er ihn mit dem Finger hochhebt: >Heh, siehst Du ihn denn nicht.<«
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Diese Scherze waren nicht etwa der Dienerschaft, einfältigen Jugendlichen oder leichtlebigen Frauen wie der Maitresse des Königs vorbehalten. So heißt es über die Königin, seine Mutter: »Die Königin legt ihre Hand auf seinen Piephahn und sagt: >Mein Sohn, ich habe Ihren Schnabel weggenommene « Erstaunlicher noch ist folgender Abschnitt: »Entblößt sich ebenso wie Madame [seine Schwester]; sie werden nackt zum König ins Bett gelegt, wo sie sich küssen, miteinander flüstern und dem König großes Vergnügen bereiten. Der König fragt ihn: >Mein Sohn, wo ist das Paket für die Infantin?< Er zeigt es vor und sagt: >Es hat keinen Knochen, Papa.< Da es ein wenig steif ist, sagt er dann: > Jetzt hat es gerade einen, das ist manchmal so.< «
Tatsächlich vergnügt man sich damit, seine ersten Erektionen zu beobachten: »Als er um acht Uhr aufwacht, ruft er Mlle. Bethou-zay und sagt zu ihr: >Zezai, mein Piephahn spielt Zugbrücke; jetzt steht er hoch, jetzt hat er sich wieder gesenkte Und er hob und senkte ihn.«
Als er vier Jahre alt ist, ist seine sexuelle Aufklärung so gut wie abgeschlossen: »Ist zur Königin geführt worden; Madame de Guise zeigt ihm das Bett der Königin und sagt zu ihm: >Sehen Sie, Monsieur, da sind Sie gemacht wordene Er antwortet: >Mit Maman?< ... Er fragt den Gatten seiner Amme: >Was ist das?< >Das ist mein Seidenstrumpf<, sagt er. >Und das?< [wie es bei Gesellschaftsspielen gemacht wird]. >Das sind meine Kniehosen.< >Woraus sind sie?< >Aus Samte >Und das?< >Das ist mein Hosenlatze >Und was ist da drin?< >Ich weiß nicht, Monsieure >Na, das ist ein Piephahn. Wozu ist der?< >Ich weiß nicht, Monsieure >Na, er ist für Madame Doundoun [seine Amme]e « »Er stellt sich zwischen die Beine Madame de Montglats [seiner Gouvernante, einer sehr würdigen, hochgeachteten Frau, die sich — wie Heroard - über diese ganzen Scherze, die wir heute für untragbar halten, nicht aufzuregen scheint]. Der König sagt zu ihm: >Da haben wir ja den Sohn von Madame de Montglat, sie kommt grade niedere Da macht er sich plötzlich los und drängt sich zwischen die Beine der Königin.«
Als er dann fünf, sechs Jahre alt ist, macht man keine Scherze mehr über sein Geschlechtsteil; dafür fängt er an, sich über die Geschlechtsteile anderer zu amüsieren. Mlle. Mercier, eine seiner Kammerfrauen, die über Nacht bei ihm gewacht hatte, lag noch im Bett, das dicht bei seinem stand (seine Diener, die
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manchmal verheiratet waren, schliefen in demselben Zimmer wie er, und seine Gegenwart brauchte sie nicht sehr zu genieren). »Er treibt seine Spaße mit ihr«, läßt sie die Zehen bewegen, die Beine hochheben, »sagt seiner Amme, sie solle Ruten holen, um sie durchzuhauen, läßt diesen Auftrag ausführen . . . Seine Amme fragt ihn: >Monsieur, was haben Sie bei der Mercier gesehen?< Er antwortet ungerührt: >Ich habe ihren Hintern gesehene >Was haben Sie noch gesehen?< Er antwortet ebenso ungerührt und ohne zu lachen, daß er ihr Loch gesehen habe.« Ein anderes Mal, so Heroard, »treibt er seine Spaße mit Mlle. Mercier, ruft mich und erklärt mir, das sei die Mercier, die ein so großes (zeigt seine zwei Fäuste) Loch habe, und daß darin Wasser sei«.
Ab 1608 kommen solche Scherze nicht mehr vor; er wird ein kleiner Mann - er befindet sich im entscheidenden Alter von sieben Jahren —, und da ist es an der Zeit, daß man ihm anständiges Betragen und eine manierliche Sprache beibringt. So antwortet er, wenn man ihn fragt, wo die Kinder herkommen, von nun an wie Molieres Agnes, daß sie aus dem Ohr kämen. Madame de Montglat tadelt ihn, als er »der kleinen Ventelet seinen Piephahn zeigt«. Und als man fortfährt, ihn morgens nach dem Aufwachen ins Bett Madame de Montglats, seiner Gouvernante, d. h. zwischen sie und ihren Gatten zu legen, entrüstet sich Heroard und bemerkt am Rande: »insignis impudentia.«
Man forderte dem zehnjährigen Jungen eine Zurückhaltung ab, die von dem fünfjährigen Kind zu verlangen einem nicht eingefallen wäre. Die Erziehung begann kaum vor dem siebten Geburtstag. Auch diese verpätete Besorgnis um die Schicklichkeit ist wieder den ersten Anfängen einer Sittenreform zuzuschreiben, erstes Anzeichen der religiösen und moralischen Erneuerung des 17. Jahrhunderts. Es war, als habe man eine Erziehung erst angesichts des herannahenden Mannesalters für sinnvoll gehalten. Als er vierzehn wurde, brauchte Ludwig XIII. gleichwohl nichts mehr hinzuzulernen, denn bereits mit vierzehn Jahren und zwei Monaten drängte man ihn nahezu gewaltsam ins Bett seiner Frau. Nach der Trauungszeremonie »legt er sich hin und ißt um dreiviertel sieben zu Abend. M. de Gramont und einige junge Herren erzählen ihm deftige Geschichten, um ihm Selbstvertrauen einzuflößen. Er läßt sich seine Pantoffeln geben, nimmt seinen Hausmantel und geht um acht Uhr in das Zimmer
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der Königin, wo er in Gegenwart der Königinmutter zur Königin, seiner Gemahlin, ins Bett gebracht wird; um viertel nach zehn kommt er zurück, nachdem er ungefähr eine Stunde geschlafen und es, so teilt er uns mit, zweimal gemacht hat; es schien zu stimmen, sein P . . . war rot.«
Mag sein, daß die Heirat von vierzehnjährigen Jungen seltener zu werden begann. Die Heirat dreizehnjähriger Mädchen war immer noch an der Tagesordnung.
Wir haben keinen Anlaß anzunehmen, daß das moralische Klima in anderen adligen oder in nichtadligen Familien anders war: diese familiäre Art, die Kinder in die sexuellen Spaße der Erwachsenen einzubeziehen, war allgemein üblich, und die öffentliche Meinung fand daran nichts Anstößiges. Auch in der Familie Pascal dürfte es nicht anders zugegangen sein: Jacqueline Pascal schrieb mit zwölf Jahren Verse über die Schwangerschaft der Königin.
Thomas Platter d. J. berichtet in seinen Erinnerungen an seine Medizinstudentenzeit in Montpellier am Ende des 16. Jahrhunderts: »Die Zauberei [des Nestelknüpfens] wird inzwischen . . . auch von kleinen Knaben verrichtet, wie ich einen gekannt habe, der seines Vaters Dienstmagd diesen Schalk getan [bei der Hochzeit ihren Mann mit Impotenz zu schlagen] und auf der Magd dringliches Bitten [den Nestel] wieder aufgelöst hat, so daß ihr Mann alsbald wieder zurecht gekommen und kuriert worden ist.«
Pater de Dainville, Historiker der Jesuiten und der humanistischen Pädagogik, stellt ebenfalls fest: »Der schuldige Respekt gegenüber dem Kinde war damals [im 16. Jahrhundert] etwas gänzlich Unbekanntes. Ihm gegenüber erlaubte man sich alles: rohe Redensarten, schmutzige Handlungen und Situationen; sie hatten bald alles gehört, alles gesehen.«
Dieser Mangel an Zurückhaltung gegenüber den Kindern, die Art, sie in Spaße einzubeziehen, die sich um sexuelle Themen drehten, überrascht uns; zügellose Reden, mehr noch, gewagte Gesten, Berührungen - es fällt einem nicht schwer, sich vorzustellen, was der moderne Psychoanalytiker dazu sagen würde! Doch hätte dieser Psychoanalytiker unrecht. Die Einstellung zur Sexualität und zweifellos auch die Sexualität selbst ist von Milieu zu Milieu und infolgedessen auch von Epoche zu Epoche und von Mentalität zu Mentalität verschieden.
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Heute scheinen uns Berührungen, wie Heroard sie uns beschrieben hat, hart an sexuelle Anomalie zu grenzen, und niemand würde sie öffentlich wagen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts sah das noch anders aus. Ein Stich von Baidung Grien aus dem Jahre 1511 stellt eine heilige Familie dar. Die Geste der hl. Anna erscheint uns merkwürdig: sie öffnet die Schenkel des Kindes, als wolle sie sein Geschlecht entblößen und kitzeln. Zu Unrecht würde man darin eine recht kecke Anspielung erblicken wollen. Diese Sitte, mit dem Geschlechtsteil des Kindes zu spielen, gehörte zu einer weitverbreiteten Tradition, die man heute noch in mohammedanischen Gesellschaften findet.
Ebenso wie die naturwissenschaftlichen Techniken so ist auch die große Sittenreform an ihnen vorbeigegangen, die, anfänglich christlich, später dann weltlich, die verbürgerlichte Gesellschaft des 18. und insbesondere des 19. Jahrhunderts in England oder auch in Frankreich Disziplin gelehrt hat. So findet man in diesen mohammedanischen Gesellschaften Merkmale, die uns befremdlich erscheinen, den trefflichen Heroard jedoch nicht überrascht hätten. Sehen wir uns beispielsweise einen Auszug aus dem Roman ha Statue de sei an. Verfasser ist der tunesische Jude Albert Memmi, und sein Buch ist ein merkwürdiges Zeugnis für die traditionale tunesische Gesellschaft und die Mentalität der halbverwestlichten jungen Generation. Der Held des Romans schildert eine Szene in der Straßenbahn, die zur Oberschule in Tunis fährt: »Vor mir ein Mohammedaner und sein Sohn, ein winziges Bürschlein mit der Miniaturausgabe einer rotgefärbten chechia in der Hand; zu meiner Linken, den Korb zwischen den Beinen und den Bleistift hinter dem Ohr, ein djerbischer Krämer, der unterwegs war, um Vorräte zu beschaffen. Die brütende Stille innerhalb des Wagens ließ den DJ erben unruhig werden. Er lächelte dem Kind zu, das mit den Augen zurücklächelte und seinen Vater ansah. Der dankbare und geschmeichelte Vater ermunterte den Jungen und lächelte den Djerben an. >Wie alt bist du?< fragte der Krämer das Kind. Zweieinhalb Jahre< antwortete der Vater [das Alter des kleinen Ludwig XIII.]. >Hat die Katze ihn Dir schon abgebissen?< fragte der Krämer das Kind. >Nein< antwortete der Vater, >er ist noch nicht beschnitten, aber bald ist es soweit.< >Sieh an, sieh an<, sagte der andere. Er hatte ein Gesprächsthema gefunden. >Verkaufst Du's mir, Dein Tierchen?< >Nein!< sagte das Kind heftig.
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Offensichtlich kannte es die Szene; es war nicht das erstemal, daß ihm jemand diesen Vorschlag machte. Auch ich [das jüdische Kind] kannte sie, hatte sie früher, von anderen Provokateuren attackiert, mit demselben Gemisch aus Scham und Begehrlichkeit, Auflehnung und komplizenhafter Neugier mitgespielt. Dem Kind strahlte die Freude über die aufkeimende Männlichkeit [Memmi zeigt hier die moderne Einstellung des aufgeklärten Menschen, dem die Erkenntnisse der Forschung hinsichtlich des frühzeitigen Erwachens der kindlichen Sexualität geläufig sind; früher glaubten die Menschen dagegen, daß das Kind vor der Geschlechtsreife keine Sexualität kenne] und die Auflehnung gegen diesen unerhörten Angriff aus den Augen. Es sah seinen Vater an. Sein Vater lächelte, es war ein altbekanntes Spiel [Hervorhebung vom Verf.].
Unsere Nächbarn verfolgten die traditionelle S^ene mit wohlwollendem, billigendem Interesse. >Ich gebe Dir zehn Francs dafür<, schlug der Djerbe vor. >Nein<, sagte das Kind. >Na los, komm schon, verkauf mir Deinen kleinen Schw . . .<, fing der Djerber wieder an. >Nein, nein!< >Ich biete Dir fünfzig Francs dafür.< >Nein!< >Ich will mich nicht lumpen lassen: tausend FrancsU >Nein!< Der Djerbe setzte eine gespielt genießerische Miene auf: >Und obendrein noch einen Sack Bon-bons!< >Nein! Nein!< >Du sagst nein? Ist das Dein letztes Wort?< schrie der Djerbe und spielte den Wütenden, >Zum letzten Mal: Du sagst nein?< >Nein!< Da sprang der Erwachsene unvermittelt mit schreckenerregendem Gesichtsausdruck auf das Kind zu und machte sich in brutaler Weise an dessen kleinem Hosenlatz zu schaffen. Das Kind verteidigte sich mit Fausthieben. Der Vater schüttelte sich vor Lachen, der Djerbe wich nach Kräften aus, unsere Nachbarn lächelten breit.«
Hilft uns diese Szene des zwanzigsten Jahrhunderts nicht, das 17. Jahrhundert vor der Reform der Sitten besser zu verstehen? (Ph. Aries, 1975, S. 175-180)
Es scheint sich niemand daran gestoßen zu haben, daß das Sexualorgan des Kindes von seiner ganzen Umgebung als Spielzeug der Erwachsenen benutzt wird. Wir dürfen nicht vergessen, daß es derjenige Körperteil ist, auf dessen Schutz und Intimität jeder dieser Erwachsenen ein Recht beansprucht. Es ist in unserer Kultur nicht üblich, daß man das Sexualorgan entblößt und es dem Zugriff anderer
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Leute in der Öffentlichkeit freistellt. Nur mit dem Kind kann man das machen. Wenn das einem König geschieht, wird es einem Bürger- oder einem Bauernkind nicht anders ergangen sein, aber darüber haben Ärzte keine Memoiren geschrieben. Auf jeden Fall hat sich keiner darüber Gedanken gemacht, was sich in der Seele eines kleinen Kindes ereignet, das auf diese Art mißbraucht wird, dem in eben dem Bereich der Respekt verweigert wird, in dem die Erwachsenen ganz besonders auf diesen Respekt pochen. Wahrscheinlich wird dieses Kind später kaum eine andere Form der Verarbeitung finden, als diese Mißhandlung weiterzugeben. Wird aber ein kleines Kind mit den Maleraugen eines Hieronymus Bosch zum Spielzeug der zahlreichen Angestellten und des herumziehenden Volkes, dann finden sich diese Geschichten später in seinen Bildern.
Wenn man annimmt, daß die Kindheitsgeschichte Ludwigs XIII. keine Ausnahme bildet, daß aber solche Spiele in der viktorianischen Epoche vielmehr im Dunkeln und Verborgenen stattfanden, dann wird man verstehen, welcher Thematik Freud in erster Linie begegnen mußte, als er anfing, sich dem Unbewußten zu nähern. Es ist auch begreiflich, daß er angesichts seiner Entdeckungen die Linie von Jung und Adler als ein Ausweichen vor den unbequemsten, verborgensten Wahrheiten empfand, die natürlich die größte Abwehr der Öffentlichkeit zu Tage förderten.
Nur Freud hat den Mut gehabt, im tiefsten Dunkel der vergessenen, abgewehrten Kindheit die Bedeutung der sexuellen Thematik zu erkennen. Aber nachdem er den sexuellen Mißbrauch des Kindes entdeckt hatte, distanzierte er sich von dieser Erkenntnis und sah später das Kind als Subjekt der sexuellen (und aggressiven) Wünsche, die auf den Erwachsenen gerichtet werden. Damit konnten die sexuellen Spiele der Erwachsenen mit ihren Kindern weiterhin im Dunkeln verborgen bleiben. Die auf Triebkonflikte des Patienten spezialisierte Psychoanalyse bleibt mit dem letzten Akt eines längeren Dramas beschäftigt, dessen ganze Kenntnis sich nicht mit dem Vierten Gebot vereinbaren läßt. Die Kindheit von Laios, also auch die Vorgeschichte der Kindheit von Ödipus, blieb ihr daher verborgen bzw. weckte nicht ihr Interesse.
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