3.3 Die Sage von Ödipus
Aus: Gustav Schwab <Die schönsten Sagen des klassischen Altertums> (1840)
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Laios (Sohn des Labdakos aus dem Clan des Kadmos) war König von Theben und lebte mit Jokaste - der Tochter des vornehmen Thebaners Menokeus - lange in kinderloser Ehe.
Da ihn nun sehnlich nach einem Erben verlangte und er darüber den delphischen Apollon um Aufschluß befragte, wurde ihm ein Orakelspruch des folgenden Inhalts zuteil:
»Laios, Sohn des Labdakos, du begehrst Kindersegen. Wohl, dir soll ein Sohn gewährt werden! Aber wisse, daß dir vom Geschicke bestimmt ist, durch die Hand deines eigenen Kindes das Leben zu verlieren. Dies ist das Gebot des Kroniden Zeus, der den Fluch des Pelops erhört hat, dem du einst den Sohn geraubt.«
Laios war nämlich in seiner Jugend landesflüchtig und im Peloponnes am Hofe des Königs als Gast aufgenommen worden. Er hatte aber seinem Wohltäter mit Undank gelohnt und Chrysippos, den schönen Sohn des Pelops, bei den nemeischen Spielen entführt.
Im Bewußtsein dieser Schuld glaubte Laios dem Orakel und lebte lange von seiner Gattin getrennt. Doch führte die herzliche Liebe, mit welcher sie einander zugetan waren, trotz der Warnung des Schicksals beide wieder zusammen, und Jokaste gebar endlich ihrem Gemahl einen Sohn.
Als das Kind zur Welt gekommen war, fiel den Eltern der Orakelspruch wieder ein, und um dem Spruch des Gottes auszuweichen, ließen sie den neugeborenen Knaben nach drei Tagen mit durchstochenen und zusammengebundenen Füßen in das wilde Gebirge Kithäron werfen.
Aber der Hirte, welcher den grausamen Auftrag erhalten hatte, empfand Mitleid mit dem unschuldigen Kind und übergab es einem anderen Hirten, der in demselben Gebirge die Herden Königs Polybos von Korinth weidete.
Dann kehrte er wieder heim und stellte sich vor dem Könige und seiner Gemahlin Jokaste, als hätte er den Auftrag erfüllt.
Diese glaubten das Kind verschmachtet oder von wilden Tieren zerrissen und die Erfüllung des Orakelspruches dadurch unmöglich gemacht. Sie beruhigten ihr Gewissen mit dem Gedanken, daß sie das Kind durch die Aufopferung vor Vatermord behütet hätten, und lebten jetzt erst recht mit erleichtertem Herzen.
Der Hirte des Polybos löste indessen dem Kinde, das ihm übergeben worden war, ohne daß er wußte, woher es kam, die ganz durchbohrten Fersen der Füße und nannte es nach seinen Wunden Ödipus - das heißt: Schwellfuß.
So brachte er den Knaben nach Korinth zu seinem Herrn, dem König Polybos. Dieser erbarmte sich des Findlings, übergab ihn seiner Gemahlin Merope und zog ihn als seinen eigenen Sohn auf, für den er auch am Hofe und im ganzen Lande galt.
Zum Jünglinge herangereift, wurde er dort stets für den höchsten Bürger gehalten und lebte selbst in der glücklichen Überzeugung, Sohn und Erbe des Königs Polybos zu sein, der keine andern Kinder hatte.
Da ereignete sich der Zufall, der ihn aus dieser Zuversicht plötzlich in den Abgrund der Verzweiflung stürmte.
Ein Korinther, der ihm schon längere Zeit aus Neid abhold war, rief bei einem Festmahl, von Wein berauscht, dem ihm gegenüber gelagerten Ödipus zu, er sei seines Vaters echter Sohn nicht. Von diesem Vorwurfe schwer getroffen, konnte der Jüngling das Ende des Mahles kaum erwarten; doch verhehlte er zunächst seinen Zweifel.
Am andern Morgen aber trat er vor seine Eltern - die freilich nur seine Pflegeeltern waren - und verlangte von ihnen Auskunft. Polybos und seine Gattin waren über den Schmäher, dem diese Rede entfallen war, sehr aufgebracht und suchten ihrem Sohn seine Zweifel auszureden, ohne ihm jedoch diese durch eine klare Antwort zu beheben.
Die Liebe, die er in ihrer Äußerung erkannte, tat ihm zwar wohl, aber jenes Mißtrauen nagte doch seitdem an seinem Herzen; denn die Worte seines Feindes waren zu tief eingedrungen.
Schließlich griff er heimlich zum Wanderstab, und ohne seinen Eltern ein Wort zu sagen, suchte er das Orakel zu Delphi auf und hoffte von ihm eine Widerlegung der ehrenrührigen Beschuldigung zu vernehmen.
Aber Phöbos Apollon würdigte ihn dort keiner Antwort auf seine Frage, sondern deckte ihm nur ein neues, weit grauenvolleres Unglück auf, das ihm drohte. ( Phoibos, ein Beiname des griechischen Gottes Apollon )
»Du wirst«, sprach das Orakel, »deines eigenen Vaters Leib ermorden, deine Mutter heiraten und den Menschen eine Nachkommenschaft von verabscheuungswürdiger Art hinterlassen.«
Als Ödipus dies vernommen hatte, ergriff ihn unaussprechliche Angst, und da ihm das Herz doch immer noch sagte, daß so liebevolle Eltern wie Polybos und Merope seine rechten Eltern sein müßten, so wagte er es nicht, in seine Heimat zurückzukehren aus Furcht, er könnte, vom Verhängnisse getrieben, Hand an seinen geliebten Vater Polybos legen und, von den Göttern mit unwiderstehlichem Wahnsinne geschlagen, ein verruchtes Ehebündnis mit seiner Mutter Merope eingehen.
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Von Delphi aufbrechend, schlug er den Weg nach Böotien ein. Er befand sich noch auf der Straße zwischen Delphi und der Stadt Daulia, als er, an einen Kreuzweg angelangt, einen Wagen entgegenkommen sah, auf dem ein ihm unbekannter alter Mann mit einem Herold, einem Wagenlenker und zwei Dienern saß. Der Rosselenker mitsamt dem Alten trieb den Fußgänger, der ihnen in den schmalen Pfad gekommen war, ungestüm aus dem Wege; Ödipus - von Natur jähzornig - versetzte dem trotzigen Wagenführer einen Schlag.
Der Greis aber, der den Jüngling so keck auf den Wagen zueilen sah, zielte scharf mit seinem doppelten Stachelstabe, den er zur Hand hatte, und versetzte ihm einen schweren Streich auf den Scheitel. Jetzt war Ödipus aufs höchste erregt, zum erstenmal bediente er sich der Heldenstärke, die ihm die Götter verliehen hatten, erhob seinen Reisestock und stieß den Alten mit solcher Wucht, daß er rücklings vom Wagensitz kollerte. Ein Handgemenge entstand; Ödipus mußte sich gegen ihrer drei seines Lebens erwehren; aber seine Jugendstärke siegte, er schlug sie alle, bis auf einen, der entrann, und zog davon.
Er hatte nicht die Empfindung, daß er etwas anderes getan habe, als sich aus Notwehr an einem gemeinen Phokäer oder Böotier mit seinen Knechten, die ihm allesamt ans Leben wollten, zu rächen. Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen höherer Würde an sich.
Aber der Ermordete war Laios — König von Theben, der Vater des Mörders — gewesen, der auf einer Reise nach dem pythischen Orakel dieses Weges zog. Und so war die zweifache Weissagung, die Vater und Sohn erhalten und der sie beide entgehen wollten, an beiden vom Geschick erfüllt worden.
Der König von Platäa, mit Namen Damasistratos fand die Leichen der Erschlagenen am Kreuzwege liegen, erbarmte sich ihrer und ließ sie begraben. Ihr Denkmal aus angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege sah der Wanderer noch nach vielen Jahren.
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Bald nach dieser Tat war vor den Toren der Stadt Theben in Böotien die Sphinx erschienen — ein geflügeltes Ungeheuer, vorne wie eine Jungfrau, hinten wie ein Löwe gestaltet. Sie war eine Tochter des Typhon und der Echidna, der schlangengestalteten Nymphe, der fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schwester des Höllenhundes Zerberus, der Hydra von Lerna und der feuerspeienden Chimära.
Dieses Ungeheuer hatte sich auf einen Felsen gelagert und legte dort den Bewohnern von Theben allerlei Rätsel vor, die sie von den Musen erlernt hatte. Erfolgte die Auflösung nicht, so ergriff sie jeden, der es übernommen hatte, das Rätsel zu lösen, zerriß ihn und fraß ihn auf.
Dieser Jammer kam über die Stadt, als sie eben um ihren König trauerte, der — niemand wußte von wem — auf einer Reise erschlagen worden war und an dessen Stelle Kreon, Bruder der Königin Jokaste, die Zügel der Herrschaft ergriffen hatte.
Es kam zuletzt so weit, daß Kreons eigener Sohn, dem die Sphinx auch ein Rätsel aufgegeben und der es nicht gelöst hatte, ergriffen und verschlungen wurde.
Diese Not bewog den Fürsten Kreon, öffentlich bekanntmachen, daß demjenigen, der die Stadt von der Würgerin befreien würde, das Reich und seine Schwester Jokaste als Gemahlin zuteil werden sollten.
Eben als jene Bekanntmachung öffentlich verkündet wurde, betrat Ödipus mit seinem Wanderstab die Stadt Theben. Die Gefahr wie ihr Preis reizten ihn, zumal da er das Leben wegen der drohenden Weissagungen, die über ihm schwebten, nicht hoch genug anschlug.
Er begab sich daher nach dem Felsen, auf dem die Sphinx ihren Sitz genommen hatte, und ließ sich von ihr ein Rätsel vorlegen. Das Ungeheuer dachte dem kühnen Fremdling ein völlig unauflösliches aufzugeben, und ihr Spruch lautete:
»Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Unter allen Geschöpfen wechselt es allein die Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder am geringsten.«
Ödipus lächelte, als er das Rätsel vernahm, das ihm selbst gar nicht schwierig erschien. »Dein Rätsel ist der Mensch«, sagte er, »der am Morgen seines Lebens, solang er ein schwaches und kraftloses Kind ist, auf seinen zwei Füßen und seinen zwei Händen geht; ist er erstarkt, so geht er am Mittag seines Lebens nur auf den zwei Füßen; ist er endlich am Abend seines Lebens als Greis angekommen und der Stütze bedürftig, so nimmt er den Stab als dritten Fuß zur Hilfe.«
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Das Rätsel war glücklich gelöst, und aus Scham und Verzweiflung stürmte sich die Sphinx selbst vom Felsen in den Tod.
Ödipus trug zum Lohn das Königreich Theben und die Hand der Witwe davon — die seine eigene Mutter war. Jokaste gebar ihm nach und nach vier Kinder, zuerst die männlichen Zwillinge Eteokles und Polynikes, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die jüngere Ismene. Aber diese vier waren zugleich sowohl seine Kinder als auch seine Geschwister.
Lange Zeit schlief das grauenhafte Geheimnis und Ödipus — bei manchen Gemütsfehlern ein guter und gerechter König — herrschte glücklich und geliebt an Jokastes Seite über Theben.
Im Laufe der Zeit sandten die Götter eine Pest ins Land, die unter dem Volk grausam zu wüten begann und gegen die kein Heilmittel fruchten wollte. Die Thebaner suchten gegen das fürchterliche Übel, in dem sie eine von den Göttern gesandte Geißel erblickten, Schutz bei ihrem Herrscher, den sie für einen Günstling des Himmels hielten. Männer und Frauen, Greise und Kinder, die Priester mit Ölzweigen an der Spitze erschienen vor dem königlichen Palast, setzten sich um und auf die Stufen des Altars, der vor ihnen stand, und harrten auf das Erscheinen ihres Gebieters.
Als Ödipus, durch den Zusammenlauf herausgerufen, aus seiner Königsburg trat und nach der Ursache fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und Klagelaut erfüllt sei, antwortete ihm im Namen aller der älteste Priester:
»Du siehst selbst, o Herr, welches Elend auf uns lastet: Triften und Felder versengt unerträgliche Hitze, in unsern Häusern wütet die vermehrende Seuche, umsonst strebt die Stadt, ihr Haupt aus den blutigen Wogen des Verderbens emporzutauchen. In dieser Not nehmen wir unsere Zuflucht zu dir, geliebter Herrscher. Du hast uns schon einmal von dem tödlichen Zins erlöst, mit dem uns die grimmige Rätselsagerin knechtete. Gewiß ist dies nicht ohne Götterhilfe geschehen. Und darum vertrauen wir auf dich, daß du, sei es bei Göttern oder Menschen, uns auch diesmal Hilfe finden werdest.«
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»Arme Kinder«, erwiderte Ödipus,
»wohl ist mir die Ursache eures Flehens bekannt. Ich weiß, daß ihr leidet, aber niemand krankt im Herzen so wie ich. Denn mein Gemüt betrauert nicht nur einzelne, sondern die ganze Stadt! Darum erweckt ihr mich nicht wie einen Entschlummerten aus dem Schlaf, sondern ich habe im Geist hin und her nach Rettungsmitteln geforscht, und endlich glaube ich eines gefunden zu haben. Denn mein eigner Schwager Kreon ist von mir zum pythischen Apollon nach Delphi abgesandt worden, damit er frage, welch Werk oder welche Tat die Stadt befreien kann.«
Noch sprach der König, als auch Kreon unter die Menge trat und dem Könige vor den Ohren des Volkes den Bescheid des Orakels mitteilte. Dieser lautete freilich nicht tröstlich: Der Gott befahl, einen Frevel, den das Land beherberge, hinauszuwerfen und nicht das zu pflegen, was keine Säuberung zu sühnen vermöge; denn der Mord des Königs Laios laste als eine schwere Blutschuld auf dem Lande.
Ödipus, ganz ohne Ahnung, daß jener von ihm erschlagene Greis derselbe sei, um dessentwillen der Zorn der Götter sein Volk heimsuche, ließ sich die Ermordung des Königs erzählen. Aber noch immer blieb sein Geist mit Blindheit geschlagen. Er erklärte sich berufen, für jenen Toten Sorge zu tragen, und entließ das versammelte Volk. Sodann ließ er im ganzen Lande bekanntmachen, wem irgendeine Kunde von dem Mörder des Laios zugehe, der solle alles anzeigen; auch wer in fremdem Lande davon wüßte, dem sollte für seine Angabe der Lohn und Dank der Stadt zuteil werden. Der dagegen, der aus Sorge für einen Freund schweigen und die Schuld der Mitwisserschaft von sich abwälzen wollte, der sollte von allem Götterdienst, von Opfermahlen, ja von Umgang und Verkehr mit seinen Mitbürgern ausgeschlossen werden.
Den Täter selbst endlich verfluchte er unter schauerlichen Schwüren, kündete ihm Not und Plage durch das ganze Leben und zuletzt das Verderben an. Und das sollte ihm widerfahren, selbst wenn er am Hofe des Königs verborgen lebte. Zu allem dem sandte er zwei Boten an den blinden Seher Tiresias, dessen Einsicht und Blick ins Verborgene fast dem wahrsagenden Apollon selber glich.
Dieser erschien auch bald, von der Hand eines leitenden Knaben geführt, vor dem Könige und in der Volksversammlung. Ödipus trug ihm die Sorge vor, die ihn und das ganze Land quälte. Er bat ihn, seine Seherkunst anzuwenden und ihnen auf die Spur des Mordes zu verhelfen.
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Aber Tiresias brach in einen Weheruf aus und sprach, indem er seine Hände abwehrend gegen den König ausstreckte: »Entsetzlich ist das Wissen, das dem Wissenden nur Unheil bringt! Laß mich heimkehren, König; trag du das Deine und laß mich das Meine tragen!«
Ödipus drang jetzt um so mehr in den Seher, und das Volk, das ihn umringte, warf sich flehend vor ihm auf die Knie. Als er aber trotzdem keine weiteren Aufschlüsse geben wollte, da entbrannte der Jähzorn des Königs Ödipus, und er schalt den Tiresias als Mitwisser oder gar Handlanger bei der Ermordung des Laios. Ja, wenn er nur sehend wäre, so traute er ihm allein die Untat zu.
Diese Beschuldigung löste dem blinden Propheten die Zunge. »Ödipus«, sprach er, »du hast dein eigenes Urteil gesprochen. Rede nicht, rede keinen aus dem Volk an, denn du selbst bist der Greuel, der diese Stadt besudelt! Ja, du bist der Königsmörder, du bist derjenige, der mit dem Teuersten in fluchwürdigem Verhältnisse lebt.«
Ödipus war nun einmal verblendet: er schalt den Seher einen Zauberer, einen ränkevollen Gaukler; er warf Verdacht auch auf seinen Schwager Kreon und beschuldigte beide der Verschwörung gegen den Thron, von welchem sie durch ihre Lügengespinste ihn, den Erretter der Stadt, stürzen wollten.
Aber nur noch näher bezeichnete ihn jetzt Tiresias als Vatermörder und Gatten der Mutter, weissagte ihm sein nahe bevorstehendes Elend und entfernte sich zürnend an der Hand seines kleinen Führers.
Auf die Beschuldigung des Königs war indessen auch Fürst Kreon herbeigeeilt, und es hatte sich ein heftiger Wortwechsel zwischen beiden entsponnen, den Jokaste, die sich zwischen die Streitenden warf, vergeblich zu beschwichtigen suchte. Kreon schied unversöhnt und im Zorn von seinem Schwager.
Noch blinder als der König selbst war seine Gemahlin Jokaste. Sie hatte kaum aus dem Munde des Gatten erfahren, daß Tiresias ihn den Mörder des Laios genannt, als sie in laute Verwünschungen gegen Seher und Seherweisheit ausbrach.
»Sieh nur, Gemahl«, rief sie,
»wie wenig die Seher wissen, sieh' es an einem Beispiel: Mein erster Gatte Laios hatte auch ein Orakel erhalten, daß er durch Sohneshand sterben werde. Nun erschlug aber den Laios eine Räuberschar am Kreuzweg. Und unser einziger Sohn wurde, an den Füßen gebunden, ins öde Gebirge geworfen und wurde nicht über drei Tage alt. So erfüllen sich die Sprüche der Seher.«
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Diese Worte, die die Königin mit Hohnlachen sprach, machten auf Ödipus einen ganz andern Eindruck, als sie erwartet hatte. »Am Kreuzweg«, fragte er in höchster Gemütsangst, »ist Laios gefallen? O sprich, wie war seine Gestalt, sein Alter?« — »Er war groß«, antwortete Jokaste, ohne die Aufregung ihres Gatten zu begreifen, »die ersten Greisenlocken schmückten sein Haupt; er war dir selbst, mein Gemahl, von Gestalt und Ansehen gar nicht unähnlich.«
»Tiresias ist nicht blind. Tiresias ist sehend!« rief jetzt Ödipus entsetzt; denn die Nacht seines Geistes wurde plötzlich wie durch einen Blitzstrahl erleuchtet.
Doch trieb ihn das Gräßliche selber, weiter danach zu forschen, als müßten auf seine Fragen Antworten kommen, die die schreckliche Entdeckung auf einmal als Irrtum darstellen könnten.
Aber alle Umstände trafen zusammen, und zuletzt erfuhr er, daß ein entronnener Diener den ganzen Mord gemeldet habe. Dieser Knecht aber habe, sobald er den Ödipus auf dem Throne sah, flehentlich gebeten, ihn so weit als möglich von der Stadt weg auf die Weiden des Königs zu schicken. Ödipus wollte ihn sehen, und der Sklave wurde vom Lande hereinbeschieden.
Ehe er jedoch noch ankam, erschien ein Bote aus Korinth, meldete dem Ödipus den Tod seines Vaters Polybos und rief ihn auf den erledigten Thron des Landes.
Bei dieser Botschaft sprach die Königin abermals triumphierend: »Hohe Göttersprüche, wo seid ihr? Der Vater, den Ödipus umbringen sollte, ist sanft an Altersschwäche verschieden!«
Anders wirkte die Nachricht auf den frömmeren König Ödipus, der zwar noch immer gerne geneigt war, den Polybos für seinen Vater zu halten, aber doch nicht begreifen konnte, wie ein Orakel unerfüllt bleiben sollte.
Auch wollte er nicht nach Korinth gehen, weil seine Mutter Merope dort noch lebte und der andere Teil des Orakels, seine Heirat mit der Mutter, immer noch erfüllt werden konnte.
Diesen Zweifel redete ihm freilich der Bote bald aus.
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Er war derselbe Mann, der vor vielen Jahren das neugeborene Kind von einem Diener des Laios auf dem Berge Kithäron empfangen und ihm die durchbohrten und gebundenen Fersen gelöst hatte. Er bewies dem Könige gleich, daß er zwar der Erbe, aber doch nur ein Pflegesohn des Königs Polybos von Korinth sei. Ein dunkler Trieb nach Wahrheit ließ den Ödipus nach jenem Diener des Laios verlangen, der ihn als Kind dem Korinther übergeben hatte.
Von seinem Gesinde erfuhr er, daß dies derselbe Hirt sei, der, dem Morde an Laios entronnen, jetzt an der Grenze das Vieh des Königs weide.
Als Jokaste das hörte, verließ sie ihren Gemahl und das versammelte Volk mit einem lauten Wehruf. Ödipus, der sein Auge absichtlich mit Nacht zu bedecken suchte, mißdeutete ihre Entfernung. »Gewiß befürchtet sie«, sprach er zu dem Volke, »als ein Weib voll Hochmut die Feststellung, daß ich unedlen Stammes sei. Ich aber halte mich für einen Sohn des Glückes und schäme mich dieser Abkunft nicht!«
Jetzt erschien der greise Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und von dem Korinther sogleich als derjenige erkannt wurde, der ihm einst den Knaben auf dem Kithäron übergeben hatte. Der greise Hirt aber war ganz blaß vor Schrecken und leugnete alles.
Nur auf die zornigen Drohungen des Ödipus, der ihn mit Stricken zu binden befahl, sagte er endlich die Wahrheit: daß Ödipus der Sohn des Laios und der Jokaste sei, daß der furchtbare Götterspruch, er werde den Vater ermorden, ihn in seine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid damals am Leben gelassen habe.
Aller Zweifel war nun behoben und das Entsetzliche enthüllt.
Mit einem wahnsinnigen Schrei stürmte Ödipus davon, irrte in dem Palast umher und verlangte nach einem Schwert, um das Ungeheuer, das seine Mutter und Gattin sei, von der Erde zu vertilgen. Da ihm in seiner Raserei alles aus dem Wege ging, suchte er gräßlich heulend sein Schlafgemach auf, sprengte die verschlossene Doppeltür und brach ein. Ein grauenhafter Anblick hemmte seinen Lauf.
Mit fliegendem und zerrauftem Haupthaar erblickte er hier, hoch über dem Lager schwebend, Jokaste, die sich mit einem Strang die Kehle zugeschnürt und sich erhängt hatte.
Lange starrte Ödipus auf die Tote hin, dann trat er mit lautem Aufstöhnen heran, ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß sich die Leiche auf den Boden senkte. Und wie sie nun vor ihm ausgestreckt lag, riß er die goldgetriebenen Brustspangen aus dem Gewande der Frau.
Mit der Rechten die Spangen hoch aufhebend, verfluchte er seine Augen, daß sie nimmer schauen sollten, was er tat und duldete, und wühlte mit dem spitzen Gold in ihnen, bis die Augäpfel durchbohrt waren und ein Blutstrom aus den Höhlen drang.
Dann verlangte er, daß ihm, dem Geblendeten, das Tor geöffnet werde, daß man ihn hinausführe, ihn dem ganzen Thebanervolk als den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch des Himmels und ein Scheusal der Erde vorstelle. Die Diener erfüllten sein Verlangen.
Aber das Volk empfing den einst so geliebten und verehrten Herrscher nicht mit Abscheu, sondern mit innigem Mitleid. Kreon selbst, sein Schwager, den sein ungerechter Verdacht gekränkt hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verspotten, wohl aber um den fluchbeladenen Mann dem Sonnenlicht und dem Auge des Volkes zu entziehen und ihn dem Kreise seiner Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Ödipus rührte so viel Güte.
Er übergab seinem Schwager den Thron, den er seinen jungen Söhnen aufbewahren sollte, und erbat sich für seine unselige Mutter ein Grab, für seine verwaisten Töchter den Schutz des neuen Herrschers.
Für sich selbst aber begehrte er Ausstoßung aus dem Lande, das er mit doppeltem Frevel besudelt, und Verbannung auf den Berg Kithäron, den ihm schon die Eltern zum Grabe bestimmt hatten, und wo er jetzt leben oder sterben wollte, je nach der Götter Willen.
Dann verlangte er nach seinen Töchtern, deren Stimme er noch einmal hören wollte, und legte eine Hand auf ihre unschuldigen Häupter. Den Kreon segnete er für alle Liebe, die er von ihm erfahren, obwohl er es nicht um ihn verdient hätte, und wünschte ihm und allem Volke bessern Schutz der Götter, als er selbst erfahren hatte.
Darauf führte ihn Kreon in das Haus zurück.
Und der jüngst noch verherrlichte Retter Thebens, der mächtige Herrscher, dem viele Tausende gehorchten — der Ödipus, der so tiefe Rätsel erforscht und so spät erst das eigene furchtbare Rätsel seines Lebens gelöst hatte, wanderte nun — einem blinden Bettler gleich — durch die Tore seiner Vaterstadt hinaus bis zu den Grenzen des Königreichs.
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detopia-2014: Hier endet die Sage, Volkssage, Mythologie. Das ist mir wichtig. Das Volk - auch das damalige - verändert seine mündlich erzählten Geschichten immer so, wie sie ihm noch mehr gefallen: Noch ein Mord mehr, noch einen unglücklichen Zufall dazu. Dann erzeugt das bei den Zuhörern im Kreis weitere Schaurigkeit und Spannung. Dennoch blieben auch die großen Themen der nächsten 2000 Jahre erhalten.
wikipedia Gustav_Schwab 1792-1850 (58, Stuttgart) wikipedia Laios
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