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3.3    Ödipus / Das schuldige Kind  

 

 

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In der Tragödie von Sophokles bestraft sich Ödipus mit Blindheit, indem er sich die Augen aussticht. Obwohl er in Laios seinen Vater nicht erkennen konnte, obwohl Laios für dieses Nichterkennen verantwortlich war, obwohl dieser ihn bei ihrer Begegnung zum Zorn provoziert hatte, obwohl er Jokaste gar nicht begehrte, sondern dank seiner Klugheit, die ihm half, den Orakelspruch zu lösen und Theben zu retten, zu ihrem Mann bestimmt wurde, obwohl Jokaste, seine Mutter, ihren Sohn an den Schwellfüßen hätte erkennen können, scheint bis heute niemand an der Beschuldigung des Ödipus Anstoß genommen zu haben. 

Es war schon immer selbstverständlich, daß Kinder für das, was man ihnen antat, die Verantwortung zu tragen hatten; und es war wichtig, daß diese Kinder auch noch im Erwachsenenalter nichts von diesen Zusammenhängen merken durften. Dafür bekamen sie das Recht, mit ihren Kindern das gleiche zu tun. Es ist eigentlich logisch, daß Ödipus sich die Augen ausstach, als er zu ahnen begann, welch grausames Spiel die Götter mit ihm getrieben hatten. Die Götter fürchten die sehenden Menschen, daher muß Ödipus seine Sehkraft opfern, um nicht von den Göttern und den Menschen ausgestoßen oder vernichtet zu werden. Seine Blindheit rettet ihm das Leben, weil sie dazu dient, die Götter zu beruhigen und zu versöhnen.

Die Grenzen des Ödipuskomplexes werden auch innerhalb der psychoanalytischen Literatur immer deutlicher gesehen und mit zunehmender Offenheit diskutiert. Folgenden Tatsachen gegenüber kann man sich nicht länger verschließen:

 

1. Der einleuchtendste Teil dieser Theorie (der Kampf um das Primärobjekt, die Mutter, mit dem Rivalen, dem Vater) ist so offensichtlich auf die männliche Entwicklung zugeschnitten, daß vieles, was auf diesem Boden über die weibliche Sexualität geschrieben wurde, künstlich klingt und zum Mißverstehen und Mißdeuten der weiblichen Entwicklung führen muß.

2. Das sich verändernde Bild der heutigen Familie und die Erweiterung unserer Kenntnis über verschiedene, sehr von den unsrigen abweichende Formen von Kinderaufzucht, lassen die Verknüpfung der Ödipustheorie mit dem patriarchalischen System immer deutlicher werden.

3. Die erwachte und zunehmende Aufmerksamkeit des Analytikers für die narzißtischen Bedürfnisse wie Achtung, Spiegelung, Verstanden- und Ernstgenommenwerden, läßt erkennen, daß ein großer Teil der bisher als triebhaft bezeichneten Wünsche in anderen Zusammenhängen tiefer und adäquater verstanden werden kann. Traumatisierungen, die sich aus der Frustrierung der narzißtischen Bedürfnisse ergeben, führen oft zu Gefühlen, die jetzt viel differenzierter als mit dem Wort »ödipal« verstanden und beschrieben werden können.

4. Man kann sich nicht länger der Tatsache verschließen, daß viele Menschen, darunter auch zahlreiche Analytiker, erst in ihrer zweiten Analyse eine wirkliche Besserung, bzw. Befreiung von Symptomen erfahren haben. Möglicherweise durften sie sich ihrem Selbst erst widmen, nachdem sie in der ersten Analyse die Freudsche Theorie »absolviert« hatten.

5. Mochten sich die meisten Psychoanalytiker noch so gründlich gegen die Realität der Eltern verschließen, die jüngeren unter ihnen erfuhren früher oder später von den Psychose- und Familientherapeuten entscheidende Tatsachen über Verführungen, Überführungen und Vergewaltigungen der Kinder, gegen die sie nicht länger mit dem ödipalen Konzept der phantasierten Eltern ankämpfen konnten.

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Angesichts dieser, unter Analytikern wohlbekannten, Tatsachen könnte man sich fragen, warum das Freudsche Konzept des Ödipuskomplexes so lange überdauert hat und warum dieses Thema nicht nur bei der Ausbildung eine centrale Rolle spielt, sondern auch auf Kongressen und in Publikationen als unentbehrlicher Bestandteil des analytischen Denkens gilt oder während langer Zeit zumindest galt. 

Dafür gibt es einige wichtige Gründe: 

1. Als Freud am Ende des letzten Jahrhunderts das Konzept des Ödipuskomplexes entwickelte, war er damit seiner Zeit weit voraus. Die Entdeckung, daß ein vier- bis fünfjähriges Kind von starken Gefühlen hin- und hergerissen werde, unter Eifersucht, Ambivalenz und Angst vor dem Liebesverlust leiden kann und daß die Verdrängung all dieser Gefühle zur Entwicklung einer Neurose führt, diese Entdeckung - das darf man nicht vergessen - war damals wirklich eine Revolution. 

Wenn man bedenkt, daß der Reichtum der kindlichen Innenwelt heute, 80 Jahre später, noch vielen Menschen verborgen bleibt, daß es sehr wenige Biographien gibt, die nicht erst mit dem Gymnasialalter beginnen, dann kann man ermessen, wie neu und bahnbrechend die Freud'sche Theorie damals war. Da sie begreiflicherweise sehr viele Widerstände, die immer gegen unbewußte Inhalte auftauchen, mobilisierte, kann man wiederum verstehen, daß Psychoanalytiker lange Zeit jede Kritik am Ödipuskomplex als einen Ausdruck von Abwehr und Widerstand gedeutet haben. 

2. Solche Deutungen halfen zwar, die wertvolle Entdeckung vor den »ahnungslosen Angreifern« zu retten, führten aber mit der Zeit zu ihrer Erstarrung, indem sie der zeitbedingten Verknüpfung von Irrtum und Wahrheit absolute Geltung verliehen und sie zu einem Machtinstrument machten. Wenn ein Adept der Psychoanalyse mit dem besten Willen den Wunsch, mit seiner Mutter sexuell zu verkehren, nicht in sich entdecken konnte, so mußte er die Erklärung hinnehmen, daß er diesen Wunsch eben deshalb so tief verdrängt habe, weil er verboten gewesen sei. Man muß sich nicht wundern, daß sich viele Kandidaten einiges einzureden versuchten, um die Hoffnung auf die Befreiung durch die Psychoanalyse und die so wichtige Gruppenzugehörigkeit ja nicht zu verlieren.

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Wenn aber ein Mensch seine eigene Wahrheit zugunsten einer Ideologie aufgegeben hat, so wird er, unabhängig davon, aus welchen Gründen dies geschehen ist, diese Ideologie der nächsten Generation gegenüber mit allen Mitteln verteidigen. Täte er es nicht, so müßte er ja die Tragik seines eigenen Verlustes erfahren. Doch im Jahre 1981 läßt sich die Reduktion des kindlichen Gefühlslebens und der verdrängten Inhalte auf die Triebthematik nicht mehr ohne schwere Verleugnungen aufrechterhalten. Auch die Erfahrung von der Ambivalenz des Kindes beiden Eltern gegenüber ist im ödipalen Schema schwer unterzubringen, obwohl dies immer wieder versucht wird.

3. Ein zusätzlich stabilisierender Faktor zur Erhaltung der Theorie des Ödipuskomplexes ist das Gebot der Schwarzen Pädagogik. Es war von jeher das Ziel der Erzieher, die Aufmerksamkeit des Kindes von den Motiven ihres Tuns auf die angeblich schlechten und sündhaften Motive der kindlichen Wünsche zu lenken und ihm diese Behandlung als eine Wohltat anzupreisen. 

Die unbewußte Abhängigkeit von diesem Gebot muß eine große Rolle gespielt haben, als Freud aus der Not seiner Isolierung, die ihm 1896 seine Entdeckungen bescherten, die Rettung in der Ödipustheorie fand. So sehr die Idee eines sexuell begehrenden Kindes für die Menschen damals schockierend war, sie fügte sich immer noch leichter in die durch Pädagogik verdeckten und geschützten Machtstrukturen als die volle Wahrheit darüber, was Erwachsene mit den Kindern, auch auf sexuellem Gebiet, machen. Das sexuell begehrende Kind blieb weiterhin das Objekt erzieherischer (bzw. therapeutischer) Bemühungen des Erwachsenen.

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4. Wie die Erziehung zum »Nicht-Merken«, so hilft auch eine auf die Verarbeitung des Ödipuskomplexes ausgerichtete Analyse zur Verschleierung des Mißbrauchs und der Mißhandlungen der das Kind beherrschenden Erwachsenen. Sobald die Schuld des Kindes oder der Konflikt des Ödipus im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, kommt niemand auf den Gedanken, danach zu fragen, warum eigentlich Ödipus' Vater, der König Laios, seinem Sohn unmittelbar nach dessen Geburt die Füße durchstechen und ihn aussetzen ließ. Es gehörte zur guten Erziehung in Freuds Zeiten, nicht nach den Motiven der Eltern zu fragen, und seine Theorie trägt dieser guten Erziehung von damals Rechnung.

5. Die Lockerung der Erziehungsprinzipien in der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, daß die Eltern nicht mehr die Privilegien einer totalitären Herrschaft besitzen und daß die etwas freier aufgewachsenen Kinder die Manipulationen ihrer Eltern leichter durchschauen können.

 

Manche Lehranalytiker, die selber Opfer der Schwarzen Pädagogik waren, ohne das je bemerkt zu haben, könnten sich von der relativ größeren Freiheit dieser Jugend bedroht fühlen und meinen, die Festung ihres theoretischen Glaubensbekenntnisses noch weiter ausbauen zu müssen. Zu diesem Bollwerk der psychoanalytischen Ausbildung gehört die Theorie des Ödipuskomplexes, dessen Anzweifeln einem Kandidaten ebensowenig ansteht wie einem Jesuitenzögling das Zweifeln am Credo. 

Erst im hohen Alter darf man sich solche Fragen stellen. Heinz Kohut z.B. gesteht, daß bei vielen seiner geheilten Patienten keine ödipale Problematik auftauchte, und J. Bastiaans, der langjährige Präsident der Holländischen Psychoanalytischen Vereinigung, stellte bei seinen LSD-Versuchen fest, daß beim Aufleben der frühkindlichen Traumatisierungen unter der Wirkung von LSD regelmäßig das Verlassensein, schwere Demütigungen und Kränkungen auftauchen, niemals aber die Qualen des ödipalen Konfliktes. 

Nach den Erfahrungen mit meinen Patienten scheinen auch zahlreiche sexuelle Stimulierungen zu diesen Traumen zu gehören. 

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Die Gefühle des Kindes, die Freud als Ödipuskomplex beschrieb, lassen sich heute, wie ich oben bereits sagte, dank unserer besseren Kenntnis der narzißtischen Bedürfnisse viel präziser als zu Freuds Zeiten konzeptualisieren. Wenn die Einschränkung auf die Triebebene trotzdem noch als obligatorisch gilt, dann verdankt der Ödipus seine Zähigkeit nicht der Erfahrung, sondern der Machtstruktur der psychoanalytischen Gesellschaften, die die Abwehr der Väter und Großväter schützen müssen.

Mit dem Wort »ödipal« sind verschiedene Assoziationen verbunden. Wenn man den Wunsch des vierjährigen Knaben, mit seiner Mutter zu koitieren, in Frage stellt, heißt es deshalb noch nicht, daß man auch die aus der Dreiecksituation stammenden Gefühle nicht anerkennt.

Die Eifersucht, die Ohnmacht, die aussichtslose Rivalität mit dem Großen, der einen die Machtunterschiede spüren läßt, Insuffizienzgefühle, die Hoffnung auf Bündnis, Verwirrung durch Stimulierung, alles das gehört zur sog. »ödipalen Phase«, im Alter von drei bis fünf Jahren, zu einer Zeit, in der das Kind in der Blüte seiner Schönheit steht und oft das bevorzugte sexuelle Objekt des Erwachsenen und älterer Geschwister ist. Es hat gerade gelernt, deutlich zu sprechen, bewegt sich mit Grazie, bewundert seine Eltern, ist ihnen ergeben, zeigt noch kein Mißtrauen, keine Kritik, ist ein ideales, verfügbares Objekt.

Wenn das Gefühlsleben der Eltern verkümmert ist, weil einst die Wurzeln zu ihrer eigenen Kindheit abgeschnitten worden sind, werden die Eltern Mühe haben, die reichen und intensiven Gefühle ihres Kindes zu verstehen und zu beantworten. Für viele ist außer der Wut die sexuelle Erregung die einzig mögliche Form einer affektiven Beteiligung. Zahlreiche Eltern zeigen unumwunden ihre sexuelle Bedürftigkeit ihren Kindern gegenüber und holen sich bei ihnen die Ersatzbefriedigungen, die sie brauchen. 

Zwischen diesen offenen Vergewaltigungen und unbewußten, weil verdrängten Erwartungen der Eltern liegt eine ganze Skala von elterlichen Haltungen, die aus der Einschrumpfung des Gefühlslebens auf die Sexualität verständlich sind, aber beim Kind zu Ratlosigkeit, Insuffizienzgefühlen, Desorientierung, Überforderung, Ohnmacht, Überstimulierung führen müssen. 

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Diese Tatsachen werden mit der Annahme eines ubiquitären Ödipuskomplexes verschleiert und krasse Verführungen als Beantwortung der kindlichen sexuellen Wünsche ausgegeben.

Die unter dem Einfluß von Wilhelm Reich stehenden Eltern waren wirklich davon überzeugt, daß sie den Kindern helfen müßten, ihre infantile Sexualität, die genital verstanden wurde, zu befriedigen. Die Überzeugung, daß das Kind sehr früh Gehorsam zu lernen habe und daß sein Wille schon in der Windelzeit gebrochen werden müsse, half unseren Eltern und Großeltern, ihre Herrschaftsansprüche vor sich selber zu verbergen. Die Theorie des Ödipuskomplexes ist dazu geeignet, ähnliche Dienste der jüngeren Generation zu bieten, die auf dem gleichen Mechanismus, nämlich der Abspaltung der eigenen Regungen und ihrer Projektion auf das Kind, beruhen. Leider werden gerade Eltern guten Willens damit verunsichert. Das Kind wird dann zum Träger des Sexuellen, des einst Verbotenen, Tabuisierten und daher »Schmutzigen«, auch wenn solche aus der eigenen frühen Kindheit stammenden Wertungen hinter einer intellektuellen Toleranz verborgen d.h. unbewußt bleiben.

Was ich damit meine, will ich anhand eines Beispiels erläutern. In einem Buch über Sexualerziehung wird aus der »Kommune 2« der Bericht eines Vaters abgedruckt:

Abends, beide Kinder liegen im Bett. Ich streichle Nessim, streichle dabei auch seinen Penis. Grischa: >Ich will auch einen Penis haben<. Ich versuche ihr zu sagen, daß sie doch eine Vagina habe, die man streicheln könne. Grischa wehrt ab: >Ich will auch 'nen Penis zum Pinkeln haben<.

Mir fallt ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker Hans Kilian ein, in dem wir hypothetisch über die Möglichkeit gesprochen hatten, daß der Penis nicht mehr von Männern als ihr ausschließliches Eigentum betrachtet zu werden brauchte. Ich sagte: >Grischa, du kannst doch Nassers

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[== Nessims] Penis haben. Du kannst doch seinen Penis streichelnd Grischa geht sofort darauf ein, will Nassers Penis streicheln. Nessim wehrt erst ab, fürchtet wohl einen aggressiven Angriff auf seinen Penis durch Grischa. Ich sage, daß man den Penis ganz lieb streicheln müsse. Nasser ist jetzt einverstanden, will aber dafür Grischas Vagina streicheln. Grischa wehrt ab, ähnlich wie Nasser vorher. Ich sage, daß man die Vagina auch lieb streicheln müsse. Beide sind jetzt einverstanden, streiten sich aber, wer zuerst darf. Nasser ist einverstanden, daß Grischa zuerst seinen Penis streichelt. Disput darüber, wie oft Grischa ihn streicheln darf. Sie will >ganz viel Mal<, zählt an den Fingern ab. Nasser will nur einmal zulassen. Ich sage irgend etwas Vermittelndes. Grischa streichelt ganz zart mit einem Finger Nassers Penis, darauf Nasser ebenso zärtlich Grischas Vagina. Dann versuchen beide zu koitieren. (Zit. n. H. Kentier, 1970, S. 137)

In diesem Bericht spürt man zumindest zwei verschiedene Haltungen des Autors. Die vordergründige, bewußte Haltung spiegelt die zweifellos ehrliche und gut gemeinte Bemühung des Erwachsenen, seinem Kind die sexualfeindliche Repression zu ersparen, die in den früheren Generationen soviel Unheil angerichtet hat. Sein Wissen darüber verdankt der Erwachsene der Lektüre psychoanalytischer Schriften und seiner Jugenderfahrung. Aber noch viel früher, in den ersten Jahren seines Lebens, verinnerlichte er den Mangel an Vertrauen in die schöpferischen Kräfte des Kindes und die Überzeugung, daß dem Kind alles (sogar sinnliche Freude) durch den Erwachsenen beigebracht werden müsse. So konnte sich die Leidenschaft zur Belehrung der einstigen Schwarzen Pädagogen in die Haltung mancher Eltern von heute einschleichen, die zuweilen wie ihre eigenen Eltern unter dem Zwang stehen, dem Kind die »richtigen Gefühle« beibringen zu wollen und es zu dessen Wohle zu manipulieren. 

Die bewußten und unbewußten Motive, die einen Erwachsenen dazu bewegen, sein Kind in Namen einer antirepressiven Erziehung sexuell zu manipulieren, so daß die zwei Kinder im zitierten Beispiel schließlich einen

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Koitusversuch machen, mögen sehr verschieden sein, und sind ohne die Kenntnis der Kindheitsgeschichte der Eltern kaum aufzuschlüsseln. Aber die oben geschilderte Szene wird einen für die pädagogische Sprache bereits sensibilisierten Leser hellhörig machen. 

Er wird sich fragen: Weshalb sollen Kinder zu einem Koitus animiert werden? Müssen sie sich dann nicht für fremde Bedürfnisse mißbraucht erleben? Warum sollte ein Kind, das die zärtliche Liebe seiner Eltern in der Kindheit erfahren hat, nicht in der Pubertät selber diese Zärtlichkeit und seine erwachte Sexualität leben und seine Formen des Genusses entdecken können? Verhindern wir nicht diese Entdeckungen, wenn wir paradoxerweise meinen, gerade wir könnten und müßten unsere Kinder belehren, wie die Sexualität zu genießen sei? Solange die in uns agierenden Introjekte unbewußt bleiben, reproduzieren wir das alte Erziehungsschema mit veränderten Vorzeichen. Weil man uns das »Nichtmerken« sehr früh beigebracht hat und die Erziehung allgegenwärtig war, können wir erst aufhören, selber manipulatorisch zu erziehen, wenn wir uns für diese unbewußten Haltungen in uns sensibilisiert haben. 

Im Unterschied zur streng autoritären Erziehung (zum unbedingten Gehorsam, zur Härte, Gefühllosigkeit usw.), in der sowohl die Inhalte als auch die Methoden eine zerstörerische Wirkung auf die Seele des Kindes ausüben, sind die Inhalte der sogenannten antiautoritären Erziehung durchaus human und menschenfreundlich. Die kinderfeindliche Seite, die sich in den überlieferten, unbewußten Zwängen eingenistet hat, ist weniger deutlich durchschaubar. Sie lebt aber weiter im Eifer eines Erziehers, dem seine Ideologie nähersteht und bekannter ist als das lebendige Kind. Nur so kann ich es verstehen, daß jemand darüber schreibt, man müsse die Kinder zum Widerstand, zur antiautoritären Haltung und zum sexuellen Genuß »erziehen«. War das Kind von Anfang an daran gewöhnt, daß seine Welt geachtet wurde, wird es später jede Form von Mißachtung seiner Person (also auch das autoritäre Verhalten) mühelos durchschauen und darauf mit Widerstand reagieren. 

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Wurde es aber auf eine bestimmte Haltung ideologisch gedrillt, wird es später nicht merken, wenn es im Namen einer anderen Ideologie wieder gedrillt wird. Und ein Kind, das Zärtlichkeit erfahren hat, braucht nicht zur zärtlichen Sexualität erzogen zu werden, sie wird ihm selbstverständlich sein. Wenn ich richtig orientiert bin, ist die in der oben angeführten Stelle propagierte Sexualerziehung bereits aus der Mode gekommen, weil die Eltern mit der Zeit gemerkt haben, daß sie sich selber als Opfer von Ideologien hatten manipulieren lassen. Es erscheint mir aber aufschlußreich, mich anhand von Beispielen mit der Verwirrung der Eltern zu befassen, die zuweilen ähnlich wie ihre Kinder dem Erziehungswahn der Ideologen und Theoretiker ausgesetzt sind. 

Der Wahncharakter der Schreberschen Erziehungsprinzipien ist seiner Generation gar nicht (ja nicht einmal Sigmund Freud) aufgefallen. Ähnlich können uns heute u. U. die aus der Triebtheorie abgeleiteten erzieherischen Empfehlungen verborgen bleiben, bzw. durchaus adäquat und richtig erscheinen, weil uns die Spuren der Schwarzen Pädagogik in unserer Haltung und Sprache noch nicht auffallen. Daher lassen sich nicht nur engagierte Eltern, sondern auch Kindertherapeuten durch das Konzept des Ödipuskomplexes verwirren und in ihrer Empathie stören.

Eine Kinderanalytikerin bat mich einmal um eine einzelne Supervisionsstunde, in der sie mir folgendes erzählte: Sie behandelt einen vierjährigen Jungen, nachdem dieser plötzlich anfing, phobische Ängste zu entwickeln und vor allem bei Männern mit einem gewissen Haarschnitt mit Panik reagierte. Was ihr in der Behandlung besondere Mühe machte, war die Art, wie der kleine Junge nun anfing, sie sexuell zu bedrängen, ihr gewaltsam unter den Rock griff, sich an sie drückte und in ihr das Gefühl weckte, von einem gierigen Mann vergewaltigt zu werden. 

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Die Therapeutin erzählte mir, daß sie diesen Fall in einem Seminar vorgebracht habe und dort unterschiedliche Äußerungen zu hören bekam. Einzelne Kollegen sahen im Verhalten des Jungen ödipale Züge, die zu der Ablehnung bestimmter Männer paßten. Andere hingegen meinten, daß das Kind »die ödipale Phase noch nicht erreicht« hätte. Diese Deutungen halfen der Kollegin nicht weiter. Sie nahm es sich nur übel, daß sie die analytische Überlegenheit nicht wahren konnte, sondern sich jedesmal bei den Zugriffen des Kindes gekränkt und auf irgendeine Art bedroht fühlte.

Für mich war aber dieses Gefühl ausschlaggebend, und ich fragte zunächst mich selber, welches Trauma dieses Kind wohl zum Ausdruck brachte. Mit dieser Frage als Arbeitshypothese ging die Kollegin nach Hause, und als sie mich nach einigen Tagen anrief, berichtete sie mir, daß ein Gespräch mit den Eltern des Jungen folgende Tatsachen zu Tage gefördert hatte: Als die Mutter nach einer Operation zwei Wochen im Spital bleiben mußte, übernahm der Vater die Betreuung des Kindes, das er sehr liebte und mit dem er gerne spielte. Er wollte es keiner anderen Person auch nur vorübergehend überlassen, und so nahm er das Kind auch mit, wenn er mit seinen Freunden Vergnügungslokale besuchte. Auch bei ihm zu Hause spielten die Freunde gelegentlich sexuelle Spiele mit seinem Kind, steckten ihm den Finger in den Anus und stimulierten sich mit seinem Penis. Der Vater schien ehrlich davon überzeugt zu sein, daß solche Spiele zur fortschrittlichen Erziehung gehörten, aber während des Gespräches mit der Analytikerin stellte sich heraus, daß er als Kind selber verschiedene Traumen sexuellen Inhalts hatte erleben müssen.

Nachdem die Analytikerin die Zwänge ihrer theoretischen Ausbildung ablegen konnte, ist ihr also selber, ohne zusätzliche Supervisionsstunde, aufgefallen, wie das Kind schon seit langem in der Spieltherapie versucht hatte, ihr mit Hilfe seiner Inszenierung zu erzählen, was mit ihm an jenen Abenden geschehen war. 

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Sobald sie bereit war zuzuhören, hat das Kind auch verbal erzählt, u.a. wie »die Männer den Frauen unter die Röcke griffen und von ihnen beschimpft wurden«. Von da an war die Inszenierung, die die Therapeutin früher so bedroht hatte und ihr »Schimpfen« provozieren sollte, nicht mehr nötig. Alle Elemente dieser Geschichte erzählen reale Begebenheiten. Als Ganzes aber verdichtet sie Einzelheiten, die ich auch von anderen Fällen kenne, die mir ein breites Spektrum des sexuellen Mißbrauchs von Kindern zugänglich machten, nachdem ich bereit war, dieses Wissen nicht mehr abzuwehren. Ich hörte plötzlich, daß es Eltern gibt, die aus ihren Schulden nicht herauskommen und daher ihre Kinder gegen Bezahlung für sexuelle Spiele »ausleihen«, in der festen Überzeugung, daß das dem Kind nicht schade, solange es noch so klein sei. Wie ich vom Leiter des Sorgentelefons erfahre, gehört die Drohung solcher Spiele beim Ungehorsam des Kindes bereits zum Erziehungspotential junger Eltern. In der Dokumentation der seelischen Mißhandlungen, die das Sorgentelefon herausgegeben hat, spielt der sexuelle Mißbrauch eine wichtige Rolle. So wird z. B. das Kind als Zuschauer zu verschiedenen Sexualspielen mitgenommen, weil dies das Vergnügen der Erwachsenen steigern soll. Möglicherweise rächen sich die Eltern so für traumatische Erlebnisse in der eigenen Kindheit.

Wenn man von diesen Fakten hört und die Ausstattung der Triebtheorie immer noch im Rucksack hat, muß man das Ausmaß dieser Leidzufügung bagatellisieren. Man wird sich einreden können, das Kind hätte bei solchen Mißhandlungen Lustgefühle erlebt, und das Problem nur darin sehen, wie der Konflikt zwischen dem Es und dem Überich gelöst wurde. Will man aber diesen Rucksack nicht mehr tragen, weil man dessen Dienste bei der Verschleierung der Gewaltanwendung nicht mehr übersehen kann, dann verschiebt sich das Interesse von der sogenannten »infantilen Sexualität« auf die Sexualität als eine der möglichen Formen der Machtausübung des Herrschers über sein Opfer. 

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Diese Herrschaftsverhältnisse beschränken sich nicht im geringsten auf die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, sondern sind überall unter den Geschwistern zu beobachten. Der vierjährige Patient meiner Kollegin übernahm auch in der Therapie sofort die aktive Rolle des Angreifers, um ihr Situationen zu schildern, in denen er das Opfer (und Zeuge) war. Ähnlich erzählen die älteren Geschwister, die die jüngeren mißhandeln und mißbrauchen, in der aktiven Form, was ihnen vorher geschehen ist. Das muß so sein, solange das Kind oder der Erwachsene mit dem ihm zugefügten Unrecht allein ist. Um sich als Opfer erleben zu können, braucht man eine begleitende Person. Wenn die fehlt, wird das Unrecht weitergegeben, und es bleiben Schuldgefühle, die sich wiederum dem Aufdecken der Wahrheit entgegensetzen. 

Daher hängen die Leute an ihren Schuldgefühlen, weil ihnen dadurch eine Illusion der Macht bleibt (»ich habe einen Fehler begangen, hätte aber anders können«). Denn das eigene Opfersein bewußt wahrzunehmen, heißt auch, die grenzenlose Ohnmacht zu spüren, in der sich ein Kind befindet, das unvermittelt dem Wutausbruch oder den sexuellen Manipulationen eines ihm plötzlich fremdgewordenen, geliebten Menschen ausgesetzt gewesen ist. Daher brauchen unsere Patienten in ihren Therapeuten und Analytikern Menschen, die ihnen beim Erlebnis der Schmerzen dieser Ohnmacht beistehen und sie dabei begleiten, nicht aber Funktionäre, die ihnen im Dienste der herrschenden Gesellschaft ihr aus frühesten Erfahrungen stammendes vages Wissen ausreden. Wenn Therapeuten keine Funktionäre der Gesellschaft, sondern Anwälte des Patienten sind, werden sie nicht das Wissen darüber verschleiern, wie sich die Sexualität unter anderm zur Ausübung der Gewalt über den Schwächeren eignet.

Junge Leute erzählen oft als Bestätigung für die Freud-sche Theorie, daß sich ihre kleinen Kinder sehr stark für den Geschlechtsunterschied interessieren. Wie ist es denn

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denkbar, daß sich ein normales lebendiges Kind nicht für etwas so Offensichtliches interessieren würde? Nachdem Adam und Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, nahmen sie zum ersten Mal ihre Geschlechtlichkeit wahr und mußten sich ihrer schämen. Auch die psychoanalytische Theorie hat uns von diesem Muster, in dem das Wissen, die Sexualität und die Scham verbunden sind, nicht befreit. Denn warum sollte sich ein Kind nicht dafür interessieren, daß es zweierlei Geschlechter gibt; wie die Mutter, der Vater und die Geschwister gebaut sind, wie die Kinder auf die Welt kommen, wie das Kind in den Bauch kommt, was Vater und Mutter auch körperlich verbindet usw.? Für den Erwachsenen sind diese Fragen bereits mit sexuellen Erfahrungen verknüpft, nicht aber für das Kind. 

Das Kind stellt seine Fragen völlig unbefangen, seine Befangenheit holt es sich erst von den Augen des Erwachsenen, der nach den Prinzipien der Schwarzen Pädagogik erzogen wurde. Die von dort herstammende Verknüpfung von Wissen mit Schuld und Scham macht es den Eltern schwer, die Fragen des Kindes als das, was sie sind, nämlich als Ausdruck gesunder Neugier, zu sehen. Alles, was wir in das Kind hineinlegen, werden wir natürlich in ihm finden. Wird uns aber der Prozeß des Hineinlegens bewußt, bekommen wir die Chance, uns dank des Kindes von den Zwängen unserer Vergangenheit zu befreien.

Das kleine Kind ist zunächst ein stummer Empfänger unserer Projektionen. Es kann sich nicht gegen sie wehren, kann sie uns nicht zurückgeben, sie uns nicht deuten, kann nur zu ihrem Träger werden, womit es uns den Beweis liefert, daß die Welt, die Menschheit, die Gesellschaft immer so sein müssen, wie wir sie in unserer Vergangenheit erfahren haben. Es müßte aber nicht immer so sein. Falls es den jungen Menschen einmal wirklich gelingen sollte, ihre Sexualität vom narzißtischen Machtkampf und von der Schwarzen Pädagogik zu befreien und als solche zu genießen, werden sie kein Bedürfnis haben, ihre

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sexuellen Konflikte auf das Kind zu projizieren. 

Sobald das Kind mehr sein darf als ein Träger der elterlichen Projektionen, kann es für die Eltern zu einer unerschöpflichen Quelle des unverstellten Wissens über die menschliche Natur werden. Zu dieser Natur gehören bereits im frühesten Alter Sinnlichkeit, Freude am eigenen Körper, Freude an der Zärtlichkeit des Andern, das Bedürfnis, sich zu artikulieren, gehört, gesehen, verstanden und geachtet zu werden, die Notwendigkeit, Zorn und Wut nicht unterdrücken zu müssen, und auch andere Gefühle, wie Trauer, Angst, Neid und Eifersucht, äußern zu dürfen. In unserer analytischen Ausbildung lernen wir, die Freud-sche Triebtheorie als die große Revolution anzusehen. Man sagt uns, Freud hätte die Menschheit dadurch gekränkt, daß er ihr die »Illusion« des unschuldigen Kindes genommen hätte. Dieser letzte Satz enthält aber zwei falsche Prämissen. Erstens ist die Unschuld des Kindes keine Illusion, sondern eine Realität, und zweitens ist diese Realität von der Menschheit (unter dem Einfluß der Religion und der Pädagogik) bisher kaum akzeptiert worden. Bis vor kurzem fand sich wohl kaum ein Pädagoge, der nicht daran glaubte, er müsse den Kindern die Moral beibringen. Zu den wenigen Ausnahmen, zu den Einzelgängern der Pädagogik, gehörte janusz Korczak, der 1928 die für uns heute noch ungewöhnlichen Sätze schrieb: Kindern ist es verboten zu kritisieren, sie dürfen unsere Fehler, Leidenschaften und Lächerlichkeiten nicht bemerken. Wir treten im Gewand der Vollkommenheit auf. Unter Androhung unseres höchsten Zornes verteidigen wir die Geheimnisse des herrschenden Clans, der Kaste der Eingeweihten, die zu höheren Aufgaben berufen sind. Nur ein Kind darf man ungeniert nackt und bloß an den Pranger stellen.

Unser Spiel mit den Kindern ist ein Spiel mit gefälschten Karten; die Schwächen des Kindesalters stechen wir mit den Assen der Erwachsenen. Falschspieler, die wir sind, mischen wir die Karten so, daß alles, was gut und wertvoll ist, gegen ihre schwächsten Stellen steht. Wo bleiben denn unsere Nichtstuer und Leichtfüße, die genußsüchtigen Feinschmecker, die Dumm-

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köpfe, die Faulpelze, die Schurken, die Abenteurer, die Gewissenlosen, die Betrüger, die Säufer und Diebe, wo bleiben unsere Gewalttätigkeiten und Verbrechen, die öffentlich bekannten und die, die nie aufgedeckt werden; wieviele Zänkereien, Hinterhältigkeiten, Eifersuchtsszenen, üble Nachrede und Erpressungen gibt es bei uns, Worte, die verwunden, Taten, die entehren; wieviele Familientragödien, deren Leidtragende und Opfer die Kinder sind, spielen sich im Verborgenen ab? Und wir wagen es, zu beschuldigen und anzuklagen?! Sind wir schon so voreingenommen, daß wir die Zärtlichkeiten, die den Kindern lästig sind, für echte Liebe zum Kinde halten? Begreifen wir denn nicht, daß wir es sind, die Zärtlichkeit beim Kinde suchen, wenn wir es an uns ziehen; uns, wenn wir ratlos sind, in seine Arme flüchten, daß wir in Stunden ohnmächtiger Schmerzen und grenzenloser Verlassenheit bei ihm Schutz und Zuflucht suchen, und ihm die Last unseres Leidens und unserer Sehnsucht aufbürden? (J. Korczak, 1981, S. 21-23)

Es ist zu hoffen, daß dieses empirische (keineswegs »illusionäre«) Wissen über die Unschuld des Kindes nicht erst in 300 Jahren von der Schwarzen Pädagogik, unserer höchsten inneren Instanz, freigegeben wird. So lange brauchte zwar die Kirche, um die mathematischen Beweise für das Kopernikanische System endlich zu akzeptieren, aber wir stehen jetzt in einer anderen Zeit. Es käme auf jeden Fall den 1^ _ depressiven Patienten zugute, wenn ihre Therapeuten die Vorstellung vom schuldigen Kind aufgeben könnten. Der Arzt Janusz Korczak war ein scharfer Beobachter und lebte dreißig Jahre lang ohne Theorien mit Kindern aus den Unterschichten, die verwahrlost und oft schwer geschädigt zu ihm kamen. Er muß viel Gutes in seiner Kindheit empfangen haben, so daß er es nicht nötig hatte, das Gesehene abzuwehren, d. h. die Not der Kinder als ihre Schuld zu deuten und die tragische Wahrheit mit Hilfe der Schwarzen Pädagogik unsichtbar zu machen. Denn noch heute setzt man sich dem Vorwurf der »Naivität«, der »Gefühlsduselei« oder der »Romantisierung« aus, wenn man an der Unschuld des Kindes festhält, so tief

haben wir die Wertungen der Schwarzen Pädagogik ver-innerlicht.

Das Bild des unschuldigen Kindes, das angeblich erst Freud veränderte, war ja immer schon (auch bei Rousseau) eine unverbindliche Theorie, die niemand ernstnahm. Denn in der Praxis ging man davon aus, daß man aus dem Kind das Böse austreiben und es zum Guten er-ziehen müsse. Als Beweis ihrer Bosheit erzählte man immer, daß Kinder gerne Tiere quälen, übersah aber, bei X wem sie das Quälen gelernt hatten und was sie zum ^.Quälen trieb._

Ähnlich verhält es sich mit der Sexualität. Da sich die Kinder seit jeher dazu geeignet haben, Träger aller abgespalteten, unerwünschten Seiten des Erwachsenen zu sein, warum nicht auch Träger der sexuellen Wünsche, insbesondere in der puritanischen Zeit der Jahrhundertwende, in der Sexualität verpönt war? Den Kindern das zuzuschreiben, dessen man sich selber schämt oder entledigen möchte, ist keineswegs neu und entspricht den überkommenen Machtstrukturen. Auch wenn Kinder sexuelle Phantasien und Wünsche als Ersatz für die oft unerfüllbaren Bedürfnisse nach Nähe, Zuwendung und Zärtlichkeit haben können (und müssen!) - warum sollten sie mit der Unschuld des Kindes unvereinbar sein? Was in der Gesellschaft eigentlich durch das Schweigetabu geschützt wird, ist das Recht des Erwachsenen, das Kind beliebig für seine Bedürfnisse zu verwenden, es als Ventil zum Abreagieren seiner einst erlittenen Demütigung zu gebrauchen. Solange der Erwachsene seine Vergangenheit nicht kennt, ist er darauf angewiesen, und er ist dazu berechtigt, solange das Kind als das grausame (Melanie Klein) und sexuell begierige (Sigmund Freud) der Zähmung und Kontrolle durch die Erwachsenen bedarf. Das angebliche Tabu des unschuldigen Kindes geht in der Geschichte höchstens auf Rousseaus vergoldete Vorstellungen zurück und dient in der puritanischen Zeit der Verschleierung der Sündenbockfunktion des Kindes. tf

Aber die Vorstellung von den reinen Eltern, die das unerfahrene, für die Versuchungen des Teufels (der Lebendigkeit) besonders anfällige Kind in der Erziehung »zum Guten lenken« mußten, führt auf eine Jahrtausende alte Geschichte zurück. Es war Freud beschieden, mit seiner ersten Entdeckung dieses Tabu zu berühren und damit ganz allein zu bleiben. Erst mit der Triebtheorie bekam er Anhänger, die noch heute in diesem zweiten Schritt Freuds seine große, mutige Leistung sehen. Doch Freuds Lehre von der infantilen Sexualität hat die traditionelle Haltung dem Kind gegenüber im Grunde nicht verändert; sie hat sie lediglich durch ein Überbleibsel der

puritanischen Zeiten angereichert._________ _

/'Die wahrlich große Kränkung der Menschheit geht von V der Verführungstheorie aus. _____________+/

 

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