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3.4   Der sexuelle Missbrauch des Kindes
 (DIE GESCHICHTE DES WOLFSMANNS)

 

 

 

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Die Häufigkeit und die Folgen des sexuellen Mißbrauchs des Kindes durch ältere Geschwister und erwachsene Personen werden von der Öffentlichkeit meist bestritten, weil die einst notwendige Verdrängung des frühkindlichen Wissens alle späteren diesbezüglichen Informationen nicht zuläßt. Außerdem liegt es nicht im Interesse des Erwachsenen, der nun selber die aktive Rolle übernehmen kann, die Wurzeln seiner Handlungen aufzudecken. Vor allem aber verbietet es das Gesetz der Schwarzen Pädagogik, die Aktivitäten der Eltern ihren Kindern gegenüber anders denn als Liebes- und Wohltaten zu bezeichnen und dem Kind das Recht auf Auflehnung zu gewähren. 

Sigmund Freuds Falldarstellung des »Wolfsmanns«, die unter dem Titel Aus der Geschichte einer infantilen Neurose erschienen ist, kann einem für die Sprache der Schwarzen Pädagogik sensibilisierten Leser vor Augen führen, wie ein großer Entdecker unter der Last der von ihm verinnerlichten Erziehungsprinzipien versucht, mit Hilfe des Intellekts gegen sein besseres Wissen anzukämpfen.

Die Bedeutung dieses Wissens wird zwar begraben, aber nicht unsichtbar gemacht. Es werden immerhin Grabsteine errichtet, auf denen Namen stehen, und so bleibt den künftigen Generationen nicht alles vorenthalten. Denn die Tatsache der »Verführung« des Wolfsmanns durch die Schwester wird von Freud nicht bestritten, nur in ihrer Bedeutung stark relativiert.

In diesem Kapitel will ich versuchen, am Beispiel der Wolfsmann-Geschichte zu zeigen, wie ich meine Hypothese von der lebensbestimmenden Bedeutung des sehr früh verdrängten Traumas (das hier, wie in den meisten Fällen, durch eine Deckerinnerung verborgen bleibt) mit Hilfe der späteren Lebensdaten verifizieren kann. Die Art der Inszenierungen aus dem Wiederholungszwang des

Wolfsmanns gibt nämlich Auskunft darüber, daß es nicht die Beobachtung der Urszene und nicht seine Triebkonflikte waren, die ihn krank machten, sondern ein sehr früher Mißbrauch seiner Person, den er während seines ganzen Lebens nicht artikulieren konnte, weil ihm die notwendige Begleitung fehlte. Um das verständlich zu machen, muß ich zunächst einen Umweg machen. Wolfsmanns Schwierigkeiten mit dem Geld beschreibt Freud folgendermaßen:

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Er war durch Erbschaft von Vater und Onkel sehr reich geworden, legte manifesterweise viel Wert darauf, für reich zu gelten, und konnte sich sehr kränken, wenn man ihn darin unterschätzte. Aber er wußte nicht, wieviel er besaß, was er verausgabte, was er übrig behielt. Es war schwer zu sagen, ob man ihn geizig oder verschwenderisch heißen sollte. Er benahm sich bald so, bald anders, niemals in einer Art, die auf eine konsequente Absicht hindeuten konnte. Nach einigen auffälligen Zügen, die ich weiter unten anführen werde, konnte man ihn für einen verstockten Geldprotzen halten, der in dem Reichtum den größten Vorzug seiner Person erblickt und Gefühlsinteressen neben Geldinteressen nicht einmal in Betracht ziehen läßt. Aber er schätzte andere nicht nach ihrem Reichtum ein und zeigte sich bei vielen Gelegenheiten vielmehr bescheiden, hilfsbereit und mitleidig. Das Geld war eben seiner bewußten Verfügung entzogen und bedeutete für ihn irgend etwas anderes. Sein Benehmen in einem anderen Falle erschien ihm selbst rätselhaft. Nach dem Tode des Vaters wurde das hinterlassene Vermögen zwischen ihm und der Mutter aufgeteilt. Die Mutter verwaltete es und kam seinen Geldansprüchen, wie er selbst zugab, in tadelloser, freigebiger Weise entgegen. Dennoch pflegte jede Besprechung über Geldangelegenheiten zwischen ihnen mit den heftigsten Vorwürfen von seiner Seite zu endigen, daß sie ihn nicht liebe, daß sie daran denke, an ihm zu sparen, und daß sie ihn wahrscheinlich am liebsten tot sehen möchte, um allein über das Geld zu verfügen. Die Mutter beteuerte dann weinend ihre Uneigennützigkeit, er schämte sich und konnte mit Recht versichern, daß er das gar nicht von ihr denke, aber er war sicher, dieselbe Szene bei nächster Gelegenheit zu wiederholen. (S. Freud, 1918b, S. 104/109).

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Es ist sehr naheliegend, daß ein für die Bedürfnisse des Erwachsenen oder des älteren Geschwisters sehr früh mißbrauchtes Kind für sein ganzes Leben das Grundgefühl zurückbehält, daß es zuviel hergeben mußte. Selbstverständlich äußert sich das auch im Umgang dieses Menschen mit dem Geld und mit seinem Darminhalt. Obwohl dieses Grundgefühl ihm von einer realen Begebenheit Mitteilung macht, kann er es nicht im Zusammenhang damit sehen, solange ihm niemand geholfen hat, den emotionalen Gehalt dieser Begebenheit und deren Bedeutung für ihn zu erleben. Da er im Gegenteil immer wieder hört, daß er, gemessen an den Ansprüchen der Erzieher, zu wenig hergibt, den Stuhl nicht im richtigen Moment und nicht in den richtigen Quantitäten entleert, verbindet sich das Gefühl des Überfordertseins mit dem schlechten Gewissen und mündet schließlich in der unerträglichen Überzeugung, daß man doch ein böser Mensch ist, wenn man sich »ohne Grund« ständig ausgenützt fühlt und nicht alles, was man hat und ist, gerne verschenkt. Daß der sexuelle Mißbrauch des Kindes zu Störungen in seinem späteren Sexualleben führen muß, wird sich ein durchschnittlicher Laie sicher ohne Mühe vorstellen können. Nicht so selbstverständlich ist aber dieser Zusammenhang für einen orthodoxen Analytiker, der sich jahrzehntelang geübt hat, alle Schwierigkeiten seines Patienten auf dessen infantile sexuelle Wünsche zurückzuführen.

Doch die Folgen eines sexuellen Mißbrauchs beschränken sich nicht nur auf die Schwierigkeiten im Sexualleben: sie behindern die Entwicklung des Selbst und beeinträchtigen die Bildung eines autonomen Charakters. Dies aus folgenden Gründen:

ffHDie Situation des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an die geliebte Person, die Mutter oder den Vater, schafft eine sehr frühe Koppelung von hiebe und Haß. (2} Da der Zorn auf den geliebten Menschen wegen Verlustdrohung nicht ausgedrückt und daher nicht gelebt

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werden kann, bleibt die Ambivalenz, die Koppelung von Liebe und Haß, ein wichtiges Merkmal der späteren Objekt-be^iehungen. Viele dieser Menschen können sich gar nicht vorstellen, daß Liebe ohne Qualen und Opfer, ohne Ängste, mißbraucht zu werden, ohne Demütigungen und Kränkungen, überhaupt möglich sei. Q3 Da die Tatsache des Mißbrauchs aus Gründen des Überlebens verdrängt werden muß, muß auch jedes Wissen, das die Zensur dieser Verdrängung lockern würde, mit allen Mitteln abgewehrt werden, was schließlich zu einer Verarmung der Persönlichkeit und zum Verlust der lebendigen Wurzeln, z. B. in der Depression, führt. ÄjDie Folgen eines Traumas sind aber mit der Verdrängung nicht beseitigt, sondern geradezu besiegelt. Die Unmöglichkeit, das Trauma zu erinnern, es zu artikulieren (d. h. einer begleitenden Person, die einem glaubt, die ehemaligen Gefühle mitteilen zu können), schafft die Notwendigkeit der Artikulierung im Wiederholungs^wang. (v)Die einst erfahrene, aber nicht erinnerbare Situation des Ausgeliefertseins und des Mißbrauchtwerdens vom geliebten Objekt wird entweder in der passiven oder aktiven Rolle oder abwechselnd in beiden perpetuiert. (ö) Zu den einfachsten und völlig unbemerkten Formen der Perpetuierung der aktiven Rolle gehört der Mißbrauch der eigenen Kinder für die eigenen Bedürfnisse, die um so dringlicher und unkontrollierter sind, je tiefer das eigene einstige Trauma verdrängt wurde.

Ich kann mir vorstellen, daß beim letzten Punkt viele Leser eine Verunsicherung erleben, und sich verärgert fragen werden: Sind die Zärtlichkeiten, die ich meinem Kind zukommen lasse, auch noch falsch? Soll mir meine Liebe zum Kind auch noch verboten werden? Davon kann natürlich keine Rede sein. In jeder Liebe ist auch körperliche Zuneigung und Zärtlichkeit, und das hat mit einem Mißbrauch nichts zu tun.

Aber Eltern, die ihr eigenes Mißbrauchtwerden verdrängen mußten und es nie erlebt haben, können in dieser Beziehung auch ihren

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Kindern gegenüber sehr stark verunsichert werden.

Sie werden entweder die echtesten Zärtlichkeitsregungen unterdrücken, in der Angst, das Kind damit verführen zu können, oder sie werden unbewußt dem Kind das gleiche zufügen, was ihnen zugefügt wurde, ohne sich dabei vorstellen zu können, was sie ihm damit antun, weil sie selber diese Gefühle immer von sich fernhalten mußten. Wie kann man diesen Eltern helfen? Die Aufhebung der Amnesie ist wahrscheinlich ohne eine tiefgehende Analyse nicht möglich. Es ist auch schwierig für einen Menschen, der als Kind Eigentum seiner Eltern war, zu realisieren, wann er sein Kind als Eigentum mißbraucht. Und trotzdem scheint mir in der Sensibilisierung für diese Frage, im Bewußtwerden dieser Zusammenhänge, eine Chance zu bestehen. Das setzt voraus, daß man zumindest zulassen kann, daß die Eltern keine Götter und keine Engel waren, sondern oft bedürftige und emotional sehr vereinsamte Menschen, denen ihre Kinder die einzigen erlaubten Objekte für die Abfuhr ihrer Affekte waren und die sich außerdem durch Ideologien verschiedener Art wie der Pädagogik und nicht zuletzt auch der Psychoanalyse (mit ihrer Lehre von der infantilen Sexualität) zu ihrem Verhalten legitimiert fühlten. Doch kehren wir zurück zu unserem Beispiel — dem Wolfsmann. Nachdem Freuds berühmter Patient 1920 nochmals als geheilt von ihm entlassen worden war, entwickelte er im Jahre 1926 eine Paranoia. Er meldete sich bei Freud, der ihn damals nicht mehr übernehmen konnte und ihn an seine Schülerin, Ruth Mack-Brunswick verwies, die ihm wesentlich geholfen hat. Eine andere Analysandin von Ruth Mack-Brunswick, also eine »analytische Schwester« des Wolfsmannes, Muriel Gardiner, gab 1971 ein Buch heraus, in dem neben den Krankengeschichten von Sigmund Freud und Ruth Mack-Brunswick auch eine Selbstdarstellung des Wolfsmannes enthalten ist.

Die Analytikerin des Wolfsmannes, Ruth Mack-Brunswick, berichtet ausführlich über dessen Geldschwierigkeiten und das

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Mißtrauen gegenüber Ärzten, "Zahnärzten und Schneidern, das in einer wahnhaften, paranoiden Idee über die Verstümmelung der eigenen Nase durch den Dermatologen Professor X gipfelte.

Mit Recht vermutete sie hinter diesen Verfolgungsideen die Aggressionen des Patienten gegen Freud. Da sie diese als Ausdruck der »passiv homosexuellen Wünsche« des Patienten, die von Freud enttäuscht worden waren, versteht, muß sie ihren Lehrer nicht vor den Vorwürfen des Patienten schützen und kann ihm ermöglichen, seine Wut zu artikulieren, was eine Besserung zur Folge hat. Sie selber wundert sich über diese Heilung, da sie eine in ihren Augen notwendige Voraussetzung dieses Prozesses bei diesem Patienten vermißte, nämlich die volle Annahme seines »Kastrationswunsches« und seines »homosexuellen Wunsches, vom Vater wie eine Frau koitiert zu werden.« Sie meint:

Wenn der Patient fähig gewesen wäre, die weibliche Rolle und die Passivität voll zu akzeptieren, hätte er sich die Erkrankung ersparen können, die ja nur aus der Abwehr der weiblichen Rolle entstand (M. Gardiner, 1972, S. 329).

Und an einer anderen Stelle heißt es:

Aber der einzige andere Weg ist der über die Akzeptierung seiner eigenen Kastration. Er muß entweder diesen gehen oder muß zurück zu der Szene der Kindheit, die für seine passive Einstellung zum Vater pathogenetisch wurde. Er beginnt einzusehen, daß alle seine Größenideen, seine Angst vor dem Vater und vor allem die nicht gutzumachende Entstellung durch den Vater nur seine Passivität decken sollten. In dem Moment, wo diese Passivität frei zutage tritt, wird sie, deren Abwehr ja die Produktion der Wahnideen hervorrief, für den Patienten unerträglich. So sehr es auch den Anschein hatte, gab es in Wirklichkeit doch für ihn keine Wahl zwischen der Annahme der weiblichen Rolle und ihrer Ablehnung (M. Gardiner, 1972, S. 328f.).

Das Trauma der Mißhandlung wird also als »passive Einstellung« gedeutet und die »Akzeptierung der Kastration« gefordert. Obwohl ich solche Theorien als eine Vergewaltigung des Patienten ansehe, könnte ich mir vorstellen,

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daß sie in diesem konkreten Fall dem Wolfsmann zugute kamen.

Denn hätte die Analytikerin sehen dürfen, daß der Wolfsmann mehrere reale Gründe hatte, um Sigmund Freud als Person und in dessen Übertragungsrolle als Vaterfigur Vorwürfe zu machen, dann hätte sie bewußt oder unbewußt ihren idealisierten Meister vor diesen Vorwürfen zu schützen versucht, wie es das folgende Zitat zeigt:

Die Behauptung des Patienten, daß kein Arzt oder Zahnarzt ihn je ordentlich behandelt habe, ist, oberflächlich betrachtet, bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigt. Doch wenn man den Patienten auf seinem langen Leidensweg von Arzt zu Arzt, von Zahnarzt zu Zahnarzt begleitet, muß man zum Schluß kommen, daß er selbst es war, der schlecht behandelt werden wollte, und daß er es seinen Ärzten leicht gemacht hat, ihn schlecht zu behandeln. Mißtrauen war das erste, was er jeder Behandlung entgegenbrachte. Der normale Mensch hört mit der Behandlung auf, wenn er mit dem Arzt unzufrieden ist, und würde es sicher nie zulassen, daß ihn jemand operiere, den er für seinen Feind hält. Die passive Einstellung des Patienten machte ihm aber jeden Bruch mit einem Vaterersatz sehr schwer; immer versuchte er erst, den eingebildeten Feind zu besänftigen. Es sei an das passagere Symptom in der ersten Analyse erinnert, das darin bestand, daß der Patient von Zeit zu Zeit das Gesicht dem Analytiker zukehrte, ihn sehr freundlich, wie begütigend ansah und dann den Blick von ihm zur Stehuhr wendete. Es sollte heißen: Sei gut zu mir. Dieselbe Gebärde mit dem gleichen Inhalt tauchte auch im Laufe der Analyse bei mir auf. Professor X. war natürlich der Haupt Verfolger; der Patient hat selbst einmal hervorgehoben, daß X. ein Ersatz für Freud sei. Von Seiten Freuds direkt war die Verfolgung nicht so deutlich. Der Patient machte ihm wohl den Verlust seines Geldes in Rußland zum Vorwurf, aber er mußte doch lachen bei der Vorstellung, daß Freuds Ratschlag wirklich in böswilliger Absicht gegeben worden sein könnte. Er mußte also einen indifferenten, aber gleichwertigen symbolischen Verfolger finden, dem er mit gutem Gewissen und ernstlich die bösartigsten Absichten zumuten konnte.

Außerdem gab es noch viele unbedeutendere Personen, von denen der Patient sich hintergangen, benachtei-

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ligt und betrogen fühlte. Bemerkenswerterweise war er gerade dort, wo er in Wirklichkeit hintergangen wurde, gar nicht mißtrauisch (M. Gardiner, 1972, S. 336t".).

Auch wenn Freuds Ratschlag gut gemeint war, woran nicht zu zweifeln ist, kann es ja sein, daß er für den Patienten katastrophale Folgen hatte. Solche Dinge geschehen täglich, denn kein Ratschlag kann die Zukunft berücksichtigen, die niemand kennt, und Irrtümer lassen sich nicht ausschließen. Wenn aber der Ratgebende als Analytiker eine Vaterfigur ist, muß er dem Kind im Patienten das Recht auf seine Enttäuschung zugestehen, die u. U. in einer unbändigen, narzißtischen Wut ausbrechen kann. Dieser Ausbruch findet statt, wenn sich der riesengroße, idealisierte Vater, bisher als allmächtig und allwissend phantasiert, in seiner Ohnmacht entpuppt oder auch nur seine menschlichen Grenzen spüren läßt, bevor der Patient sie ertragen kann. So hätte der Wolfsmann das Recht auf seine Wut haben müssen, auch wenn Freud ihn besser verstanden hätte, ihn nicht mit seinen Theorien und Deutungen vergewaltigt, ihn nicht mit seinen Geldsammlungen erniedrigt und verführt und ihn nicht der Verlustangst ausgesetzt hätte. Ich bringe alle diese vier Gründe in einem Satz, weil sie für mich alle ohne Unterschied Beispiele von ungewollter Grausamkeit sind, ob es sich um die eigene Krankheit oder die eigene Theorie handelt. Es wäre vermessen und ungerecht, Freud einen Vorwurf daraus zu machen, daß er damals seinen Patienten nicht so verstehen konnte, wie es ihm heute vielleicht möglich wäre. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß der Wolfsmann weder mit Freud noch mit dessen Freud bewundernden Schülern seine Enttäuschung über den Analytiker und seine frühkindliche Wut auf die Eltern und die Schwester hat erleben und voll ausdrücken können.

Wie er als kleines Kind nur unter Menschen war, die seine reichen und mächtigen Eltern hoch achteten und denen er daher niemals seinen Kummer klagen konnte, so bewegte er sich später sein ganzes Leben lang in Kreisen,

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die Freud dankbar zugetan waren und in denen er nur als Aushängeschild des großen Meisters geschätzt und »gefördert«, aber auch mißbraucht wurde.

Meine Überzeugung, daß Freuds Deutungen dem Patienten Gewalt angetan haben, verdanke ich nicht dem Buch von Karin Obholzer (1980), das von den Gesprächen zwischen einer anziehenden jungen Frau und dem achtundachtzig j ährigen, gut erzogenen, perfekt angepaßten und einsamen Mann (dem Wolfsmann) berichtet, sondern dem Studium der Freudschen Falldarstellung und dem Vergleich mit den Kindheitserinnerungen des Wolfsmanns, Es gibt in der Freudschen Krankengeschichte Stellen, die dem Patienten Gefühle und Zustände in der Kindheit zuschreiben, die zweifellos für Freud selber zutrafen, aber am Schicksal des Patienten vorbeizusehen scheinen. So sieht Freud die Bedeutung der Urszene in ihrer Verbindung mit der Geburt eines möglichen jüngeren Geschwisters; ein Ereignis, das nicht zu Wolfmanns Erfahrungen gehörte, das hingegen in Freuds Leben siebenmal eintrat. Wenn Freud meint, sein Patient hätte »ein begreifliches Motiv bekommen zu wünschen, daß ihm kein jüngeres Geschwister nachfolgen möge«, so könnte es sich hier leicht um projektive Identifikationen des Analytikers handeln. Es ist auch nicht anzunehmen, daß die russischen Großgrundbesitzer das Kind in ihrem Schlafzimmer schlafen ließen, was aber im Falle Sigmund Freuds nachgewiesenermaßen der Fall war. In den Erinnerungen des Wolfsmanns findet sich eine Beschreibung seines Großvaters väterlicherseits und von dessen Söhnen, die für mich ein wichtiges Licht auf die Situation des Kindes wirft:

Als Onkel Nikolaus sich entschloß zu heiraten, kam mein Großvater unbegreiflicherweise auf die Idee, seinem Sohn die Braut streitig %u machen. Sie sollte nicht Onkel Nikolaus, sondern ihn, seinen Vater, heiratenX So ergab sich tatsächlich eine ähnliche Situation wie in Dostojewskis Roman »Die Brüder Karamasow«.

Die Auserwählte zog aber, wie in dem genannten Roman,

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den Sohn dem Vater vor und heiratete Onkel Nikolaus, auf den dann sein Vater sehr böse war und den er enterbte. . . . Mein Großvater galt zu seinen Lebzeiten als einer der reichsten Gutsbesitzer in Südrußland (M. Gardiner, 1972, S. 3 if.).

Wenn wir diese Stelle aufmerksam gelesen haben, wird es uns nicht wundern, daß der begabteste Sohn dieses Vaters, der geliebte Onkel Peter, in seiner Adoleszenz eine chronische Psychose entwickelte und daß sich Wolfsmanns Vater nach mehreren depressiven Phasen vermutlich das Leben nahm. Die Geschichte von Onkel Peter zeigt den familiären Hintergrund des Wolfsmanns so deutlich, daß ich sie —als Gegenstück zu Freuds triebtheoretischen Deutungen — in aller Ausführlichkeit zitiere.

Mein Lieblingsonkel war stets Onkel Peter, der jüngste der vier Brüder. Ich freute mich jedesmal außerordentlich, wenn ich hörte, daß Onkel Peter zu uns zu Besuch kam. Er kam dann auch jedesmal zu mir und holte mich in sein Zimmer und spielte mit mir, als sei er mein Altersgenosse, wobei er alle möglichen Tricks und Spaße erfand, die mich sehr belustigten und die ich außerordentlich unterhaltend fand. Nach den Berichten meiner Mutter war Onkel Peter in seiner Jugend so etwas wie ein »sunny boy«, der sich durch sein gleichbleibend fröhliches Naturell auszeichnete und daher bei allen gesellschaftlichen Veranstaltungen stets ein gern gesehener Gast war. Nach seiner Matura studierte er an der »Petrowski-Akademie« in Moskau, einer damals sehr renommierten landwirtschaftlichen Hochschule. Gesellig wie er war, erwarb sich Onkel Peter auf der Hochschule viele Freunde, die er dann im Sommer auf unser Gut einlud. . . . Sonderbarerweise begann nun gerade Onkel Peter, ein so lustiger Geselle, schon bald ein merkwürdiges Gebaren zur Schau zu tragen und nicht weniger merkwürdige Äußerungen zu machen, die seine Brüder zuerst nur belustigten, da sie die Sache nicht ernst nahmen und sein Benehmen für harmlose Schrullen hielten. Aber schließlich erkannten auch sie, daß die Sache viel ernster war. Der berühmte russische Psychiater Korsakoff wurde zu Rate gezogen, der leider eindeutig den Beginn einer regelrechten Paranoia feststellte.

So wurde Onkel Peter zuerst in eine geschlossene Anstalt gebracht. Da er aber in der Krim ein großes Gut besaß, richteten seine Brüder die Sache zu guter

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Letzt so ein, daß Onkel Peter auf sein Gut gebracht wurde, wo er dann, von der ganzen Welt abgeschnitten, als Einsiedler noch Jahrzehnte lebte. Obwohl er Landwirtschaft studiert hatte, wollte er sich dann ausschließlich der Geschichtsforschung widmen; sein Verfolgungswahn machte natürlich alle diese Pläne zunichte. . . .

Onkel Peters Familie und Freunde nahmen seine Extravaganzen zuerst von der komischen Seite. So belustigte es zum Beispiel seine Brüder sehr, daß er sich einbildete, jede unverheiratete weibliche Person werfe ihre Netze nach ihm aus und wolle ihn unbedingt zur Heirat zwingen. Jedesmal, wenn man ihn mit einer jungen Dame bekannt machte, versetzte ihn das in größte Aufregung, da er dahinter Heiratspläne und böswillige Machenschaften witterte. Aber als er sich darüber zu beschweren begann, daß alle ihn auslachten, daß die Tauben alle seine Bewegungen beobachteten und nachmachten, und anfing, allerlei tolle Sachen zu erzählen, erkannten alle, daß es sich um Geisteskrankheit handelte. Um ihm die Internierung in einer Irrenanstalt zu ersparen, ließ man ihn, wie ich bereits berichtet habe, auf seinem Gut auf der Krim in völliger Abgeschiedenheit von der Außenwelt hausen. Wie man erzählte, waren Kälber, Ferkel und andere Haustiere die einzige Gesellschaft, die er duldete; sie teilten die Räume, die er bewohnte, mit ihm. Wie es darin aussah, kann man sich leicht vorstellen.

Kurze Zeit, nachdem wir vom Tod Onkel Peters erfahren hatten, übersandte mir Therese einen Artikel, der unter dem Titel »Ein Millionär von Ratten angefressen« in einer Münchener Zeitschrift erschienen war. Da jeder Verkehr zwischen Onkel Peter und seiner Umgebung unterbunden war, wurde sein Tod nicht sogleich entdeckt. Erst als die Speisen, die man in sein Haus brachte und die er immer erst wegräumte, wenn die Überbringer fort waren, einige Tage hindurch unberührt blieben, vermutete man, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. So wurde die Leiche erst einige Tage nach Eintritt des Todes aufgefunden. Inzwischen hatten sich die Ratten an die Leiche herangemacht und zu nagen begonnen (M. Gardiner, 1972, S. 30L u. 108).

Onkel Peter will Geschichte (seine Geschichte?) studieren und wird daran durch den Krankheitsausbruch gehindert. Er mißtraut den Damen, wird deswegen ausgelacht, und

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als er erzählt, von Tauben ausgelacht zu werden, wird er als Ve-rrückter isoliert.

Was Wolfsmanns Vater in der frühen Kindheit seines einzigen Sohnes ihm aus der eigenen, zweifellos belastenden Elternbeziehung unbewußt vermitteln mußte, können wir nur ahnen, denn diese Frage hat Freud damals nicht beschäftigt. Für Freud, wie für die meisten Menschen, schloß die Liebe zu einem Kind die Grausamkeit einfach aus, und sein ganzes Interesse konzentrierte sich auf die Eruierung der Urszene, deren Bedeutung in den Wohnverhältnissen des kleinen Sigmund Freud ohne jeden Zweifel wichtiger war als beim Wolfsmann. Bekanntlich verdankt der berühmte Patient seinen Decknamen einem Kindertraum, dessen Inhalt ich nach Freuds Angaben zitiere:

Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem Bett liege, (mein Bett stand mit dem Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster befand sich eine Reihe alter Nußbäume. Ich weiß, es war Winter, als ich träumte, und Nachtzeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hunden, wenn sie auf etwas passen. Unter großer Angst, offenbar, von den Wölfen aufgefressen zu werden, schrie ich auf und erwachte (S. Freud, 1918b, S. 54).

Der Patient zeichnete die Wölfe auf dem Baum, und das Bild zeigt nicht »sechs oder sieben«, sondern fünf Wölfe, die das Kind anstarren.

In der Analyse tauchen viele Determinanten dieses Traumes auf: die vom Großvater mütterlicherseits erzählte furchterregende Geschichte vom Schneider und den Wölfen; die reale Bedrohung durch Wölfe auf dem Land im damaligen Rußland; die Märchen »Rotkäppchen«, »Der Wolf und die sieben Geißlein«; das Entsetzen, das die Schwester mit dem Bild des aufrecht schreitenden Wolfes in ihrem kleinen Bruder immer wieder wecken konnte usw.

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Es scheint mir, daß sich eine zusätzliche Determinante dieses Traumes hinzufügen ließe, wenn man auf die ganz spezifische, individuelle Situation dieses Kindes noch genauer eingehen würde: Der Großvater (»Vater Karamasow«) und seine vier Söhne, das waren alles Vaterfiguren, durch die sich das Kind kontrolliert, d.h. im Traum ständig angeschaut fühlte. Ob in diesen unbeweglichen, unheimlichen Blicken der fünf Wölfe nicht der fünffach multiplizierte, rätselhafte, dem Kind unverständliche und möglicherweise homosexuell gefärbte Blick des eigenen Vaters geträumt wurde? (Der grausame, legendäre Großvater und seine vier Söhne ergeben ja auch die Zahl fünf.) Diese Frage läßt sich ohne die analytische Situation niemals gültig beantworten. Ich habe hier aber diese Gedanken entwickelt, um anhand eines vielen Analytikern bekannten Materials schildern zu können, wie m. E. die Triebtheorie naheliegende Zusammenhänge verdunkelt und in diesem Dunkel die schlüsselhaften traumatischen Erlebnisse des Patienten während seiner Analyse nicht aufkommen läßt.

 

Während meiner Tätigkeit als Lehranalytikerin hatte ich oft Gelegenheit, Falldarstellungen von Kollegen zu lesen, die sich um die Mitgliedschaft in der Psychoanalytischen Gesellschaft bemühten. Dabei fiel mir auf, daß die Bemühung, den Forderungen der psychoanalytischen Institute zu entsprechen, d.h. sich auf das Geschehen in Übertragung und Gegenübertragung zu beschränken und es von einer gerade in Mode gekommenen Theorie her zu beleuchten (z.B. Triebtheorie, Strukturmodell, Ichpsychologie, das Kleinianische Konzept, Kohut, Kernberg usw.), die ganze Aufmerksamkeit des Autors so stark in Anspruch nahm, daß in vielen Fällen das Kindheitsschicksal kaum berührt wurde. Das Geschehen in der Übertragung wurde jeweils von einem gerade angewandten Konzept aus interpretiert. 

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In der Diskussion ergaben sich dann verschiedene Varianten der Auffassungen, je nach der vertretenen Theorie. So konnte z.B. das gleiche Verhalten des Patienten, sein langdauerndes Schweigen als trotzige Aggression, als »passiv homosexuelle Verführung«, als »Wunsch nach dem Eindringen des Analytikers« (mit Deutungen), als »das Bedürfnis, dem Analytiker die Freude an seiner Arbeit zu verderben«, als Mißtrauen, als Rivalität usw. gedeutet werden. Bei solchen Diskussionen hatte ich häufig den Eindruck, daß vieles hier Vorgebrachte wahr sein könnte, aber ohne die Berücksichtigung der frühen Kindheit keinen lebensgeschichtlichen Sinn für diesen Patienten bekäme. 

Gewiß, ob der Patient als passiv homosexuell oder trotzig erlebt wird, hängt nicht nur mit der Theorie des Analytikers, sondern auch mit den Gefühlen der Gegenübertragung zusammen. Aber diese können für die Arbeit mit dem Patienten erst produktiv verwendet werden, wenn sie nicht im leeren Raum, sondern auf dem Hintergrund seiner Kindheitsgeschichte verstanden werden. Alles, was der Patient dann sagt oder tut, steht nicht mehr nur im Hier und Jetzt, sondern in einer Kette von Wiederholungszwängen, deren Sinn oft durch sehr wenige Fakten aus der Kindheit beleuchtet werden kann, sofern diese Fakten ernstgenommen werden. Wenn es sich z.B. herausstellt, daß der hier erwähnte schweigende Patient mit einer Mutter aufgewachsen ist, die als Kind im Konzentrationslager gewesen ist und nie darüber sprach oder mit einem Vater, der im Vietnamkrieg Grausamkeiten begangen hat und ebenfalls nie darüber sprach, dann könnte es sein, daß der Patient nur mit seinem Schweigen imstande ist, einen Zustand zu schildern, dem er sein Leben lang unbewußt ausgesetzt war und den er zuerst seinen Analytiker erfahren läßt, bevor er sich selber diesem Gefühl, vor einer Mauer des Schweigens zu stehen, aussetzen kann, um es bewußt zu erleben. 

 

Das hier geschilderte Beispiel des schweigenden Patienten mag vielleicht deutlich machen, daß es nicht darum gehen kann, Patienten auszufragen, sondern mit ihnen zusammen zu fragen, sie zum Fragenstellen zu ermutigen und ihre bereits stattgefundenen verbalen und nichtverbalen Mitteilungen nicht zu überhören und nicht zu skotomisieren. 

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Ein erzogenes Kind wird später in der Analyse nur einen ganz kleinen Teil, vielleicht nur 10%, von seinem Trauma mitteilen können. Wenn wir darauf bedacht sind, wie ein Richter die Berechtigung seiner Klage zu prüfen, die Übertriebenheit seiner Berichte aufzudecken (so z. B. »Aber der Vater war ja nicht immer grausam«), dann werden wir ihm auch die 10% unmöglich machen. Denn der Patient wird uns genauso fürchten wie er sein internalisiertes Objekt oder das sogenannte Überich fürchtet. Darf er aber in uns einen Anwalt beanspruchen, dem es nicht darum geht, den Vater zu verteidigen und zu schützen, sondern dem Patienten beizustehen, dann wird er mit unserer Hilfe, dank unserer Phantasie und Empathie, seine frühe Verlassenheit, Einsamkeit, Angst, Ohnmacht und Wut erleben können, ohne die Eltern vor diesen Gefühlen schützen zu müssen, weil er mit uns erfährt, daß Gefühle nicht töten.

Vielleicht wird er niemals die 90% seiner Klage ausschöpfen können, weil das Leiden des Kindes die Phantasie jedes Erwachsenen übersteigt. Aber er wird immerhin eher an das unbewußte Trauma herankommen können, wenn der Analytiker seine Richterfunktionen aufgibt. 

In Freuds Darstellung der Krankengeschichte des Wolfsmannes findet sich die folgende Stelle: 

Als die Nachricht vom Tode der Schwester anlangte, erzählte der Patient, empfand er kaum eine Andeutung von Schmerz. Er zwang sich zu Zeichen von Trauer und konnte sich in aller Kühle darüber freuen, daß er jetzt der alleinige Erbe des Vermögens geworden sei. Er befand sich schon seit mehreren Jahren in seiner rezenten Krankheit, als sich dies zutrug. Ich gestehe aber, daß diese eine Mitteilung mich in der diagnostischen Beurteilung des Falles für eine ganze Weile unsicher machte. Es war zwar anzunehmen, daß der Schmerz über den Verlust des geliebtesten Mitglieds seiner Familie eine Ausdruckshemmung durch die fortwirkende Eifersucht gegen sie und durch die Einmengung der unbewußt gewordenen inzestuösen Verliebtheit er-

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fahren würde, aber auf einen Ersatz für den unterbliebenen Schmerzausbruch vermochte ich nicht zu verzichten. Ein solcher fand sich endlich in einer anderen, ihm unverständlich gebliebenen Gefühlsäußerung. Wenige Monate nach dem Tode der Schwester machte er selbst eine Reise in die Gegend, wo sie gestorben war, suchte dort das Grab eines großen Dichters auf, der damals sein Ideal war, und vergoß heiße Tränen auf diesem Grabe. Dies war eine auch ihn befremdende Reaktion, denn er wußte, daß mehr als zwei Menschenalter seit dem Tode des verehrten Dichters dahingegangen waren. Er verstand sie erst, als er sich erinnerte, daß der Vater die Gedichte der verstorbenen Schwester mit denen des großen Poeten in Vergleich zu bringen pflegte. Einen anderen Hinweis auf die richtige Auffassung dieser scheinbar an den Dichter gerichteten Huldigung hatte er mir durch einen Irrtum in seiner Erzählung gegeben, den ich an dieser Stelle hervorziehen konnte. Er hatte vorher wiederholt angegeben, daß sich die Schwester erschossen habe, und mußte dann berichtigen, daß sie Gift genommen hatte. Der Poet aber war in einem Pistolenduell erschossen worden (S. Freud, 1918b, S. 46f.).

 

Da der Patient seit seiner frühesten Kindheit von seiner älteren Schwester sexuell mißbraucht, gequält, bedroht und kontrolliert wurde und später erlebte, daß sie vom geliebten Vater ihm vorgezogen wurde, ist der Mangel an Trauer bei ihrem Selbstmord der Ausdruck seines wahren Selbst. Er freute sich, »jetzt der alleinige Erbe des Vermögens«, d. h. aber der elterlichen Liebe, geworden zu sein. Daß solche Gefühle nicht eindeutig sind, weil der Wolfsmann an seine Schwester auch anders gebunden war, schließt ihr Vorhandensein nicht aus. Doch das Zitat zeigt unter anderem, wie sehr die pädagogische Ideologie und seine eigene Kindheit (Freud hatte fünf Schwestern, bevor Alexander, sein zehn Jahre jüngerer Bruder, auf die Welt kam) selbstverständlich auch Freuds Deutungsarbeit beeinflußten. Diese These im einzelnen nachzuweisen, hieße ein neues Buch über den Wolfsmann schreiben, in dem die Spuren der Schwarzen Pädagogik anhand detaillierter Beispiele im einzelnen aufzuzeigen wären. 

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In einer solchen Zielsetzung sehe ich aber nicht meine Aufgabe, auch wenn es für Ausbildungszwecke nützlich sein könnte, in den Freudschen Falldarstellungen der pädagogischen Haltung, in der sich die Werte seiner Gesellschaft spiegelten, nachzugehen.

Hier wollte ich lediglich anhand eines bekannten Beispiels zeigen, wie ein Mensch sein Leben lang sein einstiges, schweres Trauma des sexuellen Mißbrauchs in den verschiedensten Lagen neu inszeniert und sogar mehrere Analytiker von hohem Rang unbewußt dazu verführt, seine Person immer wieder für andere Zwecke zu mißbrauchen. In seiner Krankengeschichte des Wolfsmanns berichtet Freud:

Die Schwester habe ihn ja, »als er noch sehr klein war, auf dem ersten Gut«, zu sexuellen Tätlichkeiten verführt. Zunächst kam die Erinnerung, daß sie auf dem Abort, den die Kinder häufig gemeinsam benützten, die Aufforderung vorgebracht: Wollen wir uns den Popo zeigen, und dem Wort auch die Tat habe folgen lassen. Späterhin stellte sich das Wesentlichere der Verführung mit allen Einzelheiten der Zeit und der Lokalität ein. Es war im Frühjahr, zu einer Zeit, da der Vater abwesend war; die Kinder spielten auf dem Boden in einem Raum, während im benachbarten die Mutter arbeitete. Die Schwester hatte nach seinem Glied gegriffen, damit gespielt und dabei unbegreifliche Dinge über die Nanja wie zur Erklärung gesagt. Die Nanja tue dasselbe mit allen Leuten, z. B. mit dem Gärtner, sie stelle ihn auf den Kopf und greife dann nach seinen Genitalien (S. Freud, 1918b. S. 43; Hervorhebungen von A. M.).

Wenn man sich vorstellt, daß der Junge eigentlich nicht in der Nähe seiner Eltern, sondern mit der Kinderfrau und der Schwester aufwuchs, daß die englische Gouvernante ihm Angst einflößte, so wird man verstehen, daß das Verhalten der Schwester, gepaart mit der Information über die Kinderfrau, ihn mit einem Schlag der letzten und einzigen vertrauten Person beraubte, der er seine Angst- und Ohnmachtsgefühle hätte mitteilen können. 

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Die Machtausübung der Schwester hätte bewältigt werden können, wenn die Beziehung zur Kinderfrau intakt geblieben wäre. Aber die Vorstellung, daß die nächste, geliebte Person mit den Männern »noch schlimmere Sachen« macht als die Schwester mit ihm, führte zur plötzlichen seelischen Vereinsamung des Kindes (mitten in seiner liebevollen Umgebung, die seine Ängste nicht verstand) und zum Ausbruch der infantilen Neurose. 

In der gleichen Situation befand sich der Wolfsmann später, als er zum Objekt der Bedürfnisse seiner Analytiker und seiner analytischen Schwester wurde und schließlich auch noch, als beinahe neunzigjähriger Mann, der jungen Journalistin Karin Obholzer die Möglichkeit gab, ihn als Zeugen gegen die Psychoanalyse zu benützen. Das vollständige Ausgeliefertsein an seine Schwester bestimmte auch seine Frauenbeziehungen bis ins hohe Alter. In den Gesprächen mit Karin Obholzer (1980) erzählt er mehrmals, wie er vergeblich versucht, sich einer Frau zu entziehen, auf deren Freundschaft er doch nicht verzichten kann. Daher läßt er vieles mit sich geschehen, was er eigentlich gar nicht möchte. 

Es ist auch anzunehmen, daß es ihm gar nicht in den Sinn gekommen ist, er könnte sich dem Wunsch von Muriel Gardiner, seine Erinnerungen neben den beiden Krankengeschichten der Öffentlichkeit preiszugeben, widersetzen, weil er ihr für ihre jahrelange selbstlose Unterstützung dankbar war. In der gleichen Art fühlte er sich verpflichtet, die Fragen von Karin Obholzer zu beantworten, weil er die Zuwendung und das Interesse der jungen Frau in seiner Einsamkeit nicht verlieren wollte. Der Wolfsmann durfte weder in der Kindheit noch in seinen Analysen lernen, daß man sich dem Ansinnen des geliebten Menschen widersetzen kann, ohne deswegen umzukommen. Ein allzu früh mißbrauchtes Kind darf außerdem nicht merken, wenn es später mißbraucht wird. Doch es ist anzunehmen, daß die Erziehung des Wolfsmanns nicht bereits im Säuglingsalter begann, weil er eine liebevolle Kinderfrau hatte, und daß er deshalb in seiner Kindheit wohl einiges merken durfte. 

Daher blieb die Erinnerung an den Mißbrauch durch die Schwester im Bewußtsein. Wie aber vorher die Kinderfrau den Säugling für ihre eigenen Bedürfnisse mißbraucht hatte, konnte er nicht wissen. Vermutlich mußte er diesen Teil seines verdrängten Traumas später im Wiederholungszwang unbewußt inszenieren, indem er sich den Manipulationen der andern immer wieder auslieferte, diese mißtrauisch beobachtete, Symptome entwickelte und doch weder die Möglichkeit hatte, sie zu durchschauen noch die, ihn manipulierenden Personen zu verlassen. So ergeht es eben einem Säugling, der auch keine Möglichkeit hat, den Erwachsenen den Mißbrauch seines Körpers zu verbieten: er kann nicht einmal den Wunsch dazu in sich verspüren, weil er die Person, die das mit ihm tut, liebt und völlig von ihr abhängig ist.

Ich würde also auf Grund der ganzen Lebensgeschichte des Wolfsmanns vermuten, daß der nicht verdrängten, erinnerten sogenannten »Verführung« durch die Schwester frühere sexuelle Manipulationen der Kinderfrau vorausgegangen sind, die der Patient gar nicht erinnern konnte und deshalb mit unzähligen Personen sein Leben lang inszenieren mußte. Diese Hypothese will die Wohltäter des Wolfmanns keineswegs anklagen. Vermutlich machte er es ihnen nicht gerade leicht, die Inszenierungen seines Wiederholungszwanges zu durchschauen.

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