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3.5  Die nichtsexuellen Tabus 

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Obwohl wir in der psychoanalytischen Praxis viel häufiger auf den sexuellen Mißbrauch des Kindes stoßen, als man geneigt ist anzunehmen, und dies ganz einfach, weil die Eltern unserer Patienten kein befriedigendes Sexualleben führten, scheint mir dies bei weitem nicht das einzige verbotene Thema der Kindheit zu sein. 

Jede Generation hat neben den allgemein verbindlichen Tabus ihrer Gesellschaft noch spezifische, die mit dem geschichtlichen Zeitpunkt ihrer Kindheit zusammenhängen. Die ersteren, räumlich begrenzten, von denen die Ethnologen berichten, kann jeder Reisende mühelos bobachten. So sind z.B. die unbewußten Verbote eines Christen für einen Mohammedaner viel leichter feststellbar als für ihn selber und umgekehrt. Aber die zeitspezifischen Tabus einer bestimmten Generation — das. was in der Kindheit als verbotenes Thema verinnerlicht wurde — sind innerhalb der Gesellschaft kaum zu eruieren, nicht einmal im Sprechzimmer des Analytikers, sofern er der gleichen Generation und Gesellschaft angehört. 

Der fluchtartige Rückzug Josef Breuers von der Patientin Anna O., die ihn mit der sexuellen Thematik erschreckte, ist ein deutliches Beispiel dafür. Doch Josef Breuer war noch kein Analytiker. Heute würde ein Analytiker nicht die Flucht ergreifen, sondern weghören oder theoretische Deutungen geben, wenn er sich durch die Einfälle oder die Inszenierungen des Patienten bedroht fühlen sollte.

Diesem tragischen, ungewollten Weghörenmüssen, das man auch als den ungewollten Widerstand des Analytikers bezeichnen könnte,, bin ich einmal in einer großen Gruppe von Kollegen begegnet, und ich verdanke dieser Begegnung eine für mich wichtige Vertiefung meiner Erkenntnisse über das zeitspezifische Tabu. Um das verständlich zu machen, muß ich die Begebenheiten genauer schildern. 

Es ergab sich einmal im Jahre 1979, daß ich in zwei verschiedenen Städten, die nicht weit voneinander entfernt liegen, aber durch die deutsch-schweizerische Grenze getrennt sind, mit größeren Gruppen über Das Drama des begabten Kindes diskutierte. In beiden Gruppen wurde ich auf das Problem der Schuld­zuschreibung angesprochen, und um ein ganz krasses Beispiel zu bringen. erwähnte ich die Kindheit von Adolf Hitler, mit der ich gerade beschäftigt war. 

Die Schweizer reagierten darauf eher gelassen; es leuchtete den meisten ein, daß ich ein Beispiel extremer Destruktivität wählte, um die Frage zu erläutern, wie es dazu kommen kann, daß ein gewöhnliches, durch keine Besonderheiten auffallendes Kind einen derart zerstörerischen Haß in sich entwickelt. Zweifellos hatten meine Zuhörer Mühe, von ihrem Schema des »geborenen Psychopathen« wegzukommen und sich mit einem Menschen, den sie für ein Ungeheuer hielten, zu identifizieren, weil sie lieber bei der Idee geblieben wären, Hitler sei der Teufel und hätte nichts mit normalen Menschen gemeinsam, aber sie konnten meinen Ausführungen ohne weiteres folgen. 

Etwas ganz anderes ereignete sich in der großen Gruppe von Fachkollegen in einer süddeutschen Stadt. Als ich mitten in der Diskussion die Anwesenden fragte, ob sie am Beispiel der Kindheit von Adolf Hitler sehen möchten, wie sich unter bestimmten Umständen ein Mensch zum größten Hasser entwickeln kann, entstand zunächst ein Schweigen, dann sagten schließlich einige Teilnehmer, sie wollten es lieber nicht hören. Nun meldeten sich andere, meistens Frauen, die es doch hören wollten, und das Thema ließ sich nicht mehr umgehen.

Zunächst wurde der Gesichtspunkt vertreten, daß man nicht ein historisches Phänomen wie den National­sozialismus durch ein individuelles Schicksal erklären könne. Ich versuchte, etwas erstaunt, klarzustellen, daß dies nicht meine Absicht gewesen wäre, daß mich nur die Frage beschäftigt hätte, wie es in diesem Einzelfall dazu gekommen sei, daß ein Mensch in diesem ungeheuren Ausmaß haßbesessen geworden sei.

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Außerdem wüßte ich kein besseres Beispiel, um zu zeigen, daß ein in der Kindheit nicht gelebter, weil verbotener, Haß, trotz späterer Möglichkeiten des Abreagierens, die ja bei Hitlers Macht unbeschränkt waren, im Grunde das ganze Leben unersättlich und ungesättigt bleibt. 

Wenn wir das einmal verstanden haben, begreifen wir, warum u.U. auch das intensivste Ausleben der Gefühle, in verschiedenen therapeutischen Gruppen z.B., zwar vorübergehende Erleichterungen, aber keine endgültige Befreiung von der Kindheit bringt.

Wenn hingegen die frühkindlichen Gefühle in der Verknüpfung mit den ersten Bezugspersonen (mit Hilfe der Übertragung in der Analyse) erlebt werden können, brauchen sie nicht mehr mit Ersatzobjekten im Wiederholungszwang abreagiert zu werden. 

So paradox dies klingen mag: Im Erlebnis des frühkindlichen, ohnmächtigen Hasses findet das destruktive und selbstdestruktive Verhalten sein Ende. Das kann man mit Jugendlichen immer wieder erfahren. 

Am Beispiel von Adolf Hitler läßt sich der fundamentale Unterschied zwischen dem therapeutisch so wichtigen Erleben und dem suchtartigen destruktiven Ausleben im Dienste des Wiederholungszwanges anschaulich demonstrieren. Es zeigt sich hier auch, wie wenig die Macht des Erwachsenen die Ohnmacht der eigenen Kindheit auszugleichen vermag, solange diese nie bewußt erlebt werden durfte. Das wollte ich an dem erwähnten Abend veranschaulichen.

Aber hier zeigte es sich, daß die Voraussetzungen, von denen ich ausging, für die anderen gar nicht so selbst­verständlich waren, wie ich angenommen hatte. Es wurde z.B. daran gezweifelt, daß Hitler ein Hasser war. Was hätte ich darauf antworten können? Ich sprach mit Menschen, die um die entscheidenden 20 Jahre jünger waren als ich, die das Recht hatten, von ihrem Schicksal her mein Wissen nicht zu teilen. So suchte ich nach Beweisen, eine Stelle in Mein Kampf fiel mir ein, die ich zitieren wollte, aber das gelang mir nicht. Es schien mir sinnlos, weiter zu argumentieren, doch ich wußte noch nicht warum. Ich fühlte mich plötzlich wie vor einer Wand.

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In Gesprächen nach der Veranstaltung sagten mir einige junge Kollegen, sie hätten von mir eher erwartet, ich würde von Gefühlen sprechen (als ob der Haß kein Gefühl wäre). Andere mir nahestehende Kollegen sagten, es wäre schade gewesen, daß wir nicht noch auf psychoanalytische Probleme zu sprechen gekommen seien (als ob die Dynamik des Hasses kein psychoanalytisches Problem wäre). Es war offensichtlich, daß ich mit der bloßen Erwähnung der Person Hitlers ein Tabu berührt, einen Komplex von Gefühlen heraufbeschworen hatte, der mit tabuisierten Erlebnissen zusammenhängt. Jedes intellektuelle Argument war gut genug, wenn es nur imstande war, den Durchbruch dieser Gefühle zu verhindern. 

Aus den Gefühlen, die in mir aufgetaucht sind, fing ich an, den Zusammenhang zu verstehen: Zunächst fühlte ich mich wie jemand, der das Gastrecht mißbraucht hat, der ein Thema angerührt hat, das für alle unerwünscht war. Hätte ein Jugendlicher um die Jahrhundertwende, etwa zur Zeit der Traumdeutung, am Tisch seiner Eltern über Sexualität gesprochen, ernsthaft und ohne Obszönität, so wäre er sich, angesichts der beklemmenden Stimmung. ähnlich unanständig vorgekommen. Ich habe an diesem Abend gewissermaßen an der eigenen Seele erlebt, wie wahr es ist, daß nicht mehr die Sexualität unser Tabu ist; daß wir als Analytiker ohne weiteres bereit sind, über alle sexuellen Probleme — auch in Gruppen — zu sprechen, doch nicht über den konkreten Menschen Adolf Hitler. Werden wir aber imstande sein zu verstehen, was mit unserem kindlichen Haß geschieht, wenn wir uns unserer .allernächsten Vergangenheit gegenüber verschließen? Denn es nützt hier nicht viel, Forderungen aufzustellen. Um Tabus zu durchbrechen, bedarf es einer Analyse, und es bedarf eines Analytikers, der nicht den gleichen Tabus ausgesetzt ist, weil er sie verarbeitet hat. 

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Ich bin froh, daß ich dank dieser Diskussion in Deutschland eine Erfahrung gemacht habe, die mich dem Verständnis der jüngeren deutschen Generation näherbrachte. Meine Kollegen vermittelten mir das Erlebnis der Wand, vor der sie selber einst gestanden waren, als sie in ihrer Kindheit Fragen stellen wollten, die an die tiefste Abwehr ihrer Eltern rührten. Sj.e hätten dann hören oder spüren müssen: »Solche Fragen stellt man gar nicht, sie sind dumm, und wenn Du meinst, Du wüßtest etwas, Du kannst es doch nicht begreifen. Und im Grunde war alleg ganz anders, als Du jetzt meinst. Und weißt Du überhaupt, was Hitler für uns getan hat? Und kannst Du dir überhaupt ein Urteil anmaßen? Es ist eine Anmaßung, über Dinge zu sprechen, die Du nie gesehen und nie gekannt hast. Das kannst Du nicht verstehen.« 

Das Kind spürt, daß hinter diesen Antworten ein Leiden verborgen ist, und es wird seine Fragen aufgeben. Tut es dies aber nicht, so wird es mit Argumenten so verunsichert, daß es sich schließlich nur noch schämt und Schuldgefühle bekommt. Es kommt sich eben unanständig vor, wenn es dieses Thema noch einmal berührt. So wird die schweigende Abwehr der Eltern respektiert, aber der Impuls zum Fragen wird damit nicht abgetötet. Viele psychosomatische und neurotische Erkrankungen, deren Behandlung ich in der letzten Zeit kontrolliert habe, bekamen eine unerwartete neue Wendung, als wir das Schicksal der Eltern im letzten Weltkrieg in die Überlegungen und Deutungen einbezogen.

Es war, als ob das Kind in der Inszenierung seiner Krankheit die Antworten auf die Frage suchte, die die Eltern ihm in ihrem Schweigen verweigerten. Dieses verzweifelte, einsame Suchen siedelte sich oft in einer sexuellen Perversion an, der aber mit den klassischen psychoanalytischen Deutungen nicht beizukommen war. Bei diesen Fällen handelte es sich um Menschen, die bereits nach dem Krieg, als die ersten Kinder ihrer Eltern, zur Welt gekommen sind, also in einer Zeit, in der die grauenvollen Erlebnisse ihrer Eltern bereits zur Vergangenheit gehör-

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ten, aber gerade weil darüber nicht gesprochen wurde, war das erste Kind der einzige, hilflose Empfänger der abgespaltenen, bedrohlichen Inhalte.

Die unbewältigte, eigene Geschichte wurde oft nur mit Blicken dem Kind im zartesten Alter unbewußt weitergegeben. Diese Kinder können später in ihren Analysen sehr viele sexuelle Probleme bringen und es dem Analytiker schwermachen, an etwas anderes überhaupt noch zu denken. Kommt er aber auf die Idee zu fragen, was wohl die Eltern des Patienten während des Krieges erlebt haben, wird er zuerst auf den größten Widerstand des Patienten stoßen, aber letztlich doch ein Gespräch über das verbotene Thema ermöglichen. Jeder Analytiker, der diese Erfahrung bereits gemacht hat, weiß, welche radikale Wendung die Analyse dann nehmen kann.

Die Möglichkeit, mich mit den einstigen Kriegskindern zu identifizieren, die ich neben meinen Patienten unter anderem auch dieser Kollegengruppe verdanke, half mir auch später, einige Phänomene in den Reaktionen auf mein Buch Am Anfang war Erziehung zu verstehen. Nach seinem Erscheinen hörte ich, daß viele Rezensenten das Buch besprechen wollten, sich aber für das Hitler-Kapitel nicht für zuständig hielten und meinten, zuerst noch viel gründlicher die Zeitgeschichte studieren zu müssen.

Dieses Kapitel, das ich für das zentralste des Buches halte, wurde daher (mit einigen mir wichtigen Ausnahmen) in den Rezensionen, auch in den besten und originellsten, nur spärlich erwähnt, und wenn, mit der deutlich spürbaren Ängstlichkeit, ja nichts Falsches zu sagen und nur treu, ohne eine Stellungnahme zu riskieren, die Thesen der Autorin zu referieren. Das früh verinnerlichte Verbot, über die Person Adolf Hitlers Fragen zu stellen und etwas Konkretes wissen zu wollen, ist in all diesen Äußerungen deutlich spürbar. Die gefährlichen Zonen, die es zu vermeiden gilt, sind Schuld- und Schamgefühle der Eltern, ihre Verwirrung und Enttäuschung über das eigene Verführtsein angesichts der Katastrophe, in die Hitler sie geführt hatte.

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Und auch hier gilt das Gesetz der Erziehung: nicht nur das Geschlagenwerden und der sexuelle Mißbrauch wird den Kindern weitergegeben, sondern auch die Schuldgefühle. Wenn man sich von Kind auf für alles schuldig fühlen muß, was die Eltern einem antun, wie soll man dann diese Qualen ertragen, ohne die Hilfe eigener Kinder, denen man wieder Schuldgefühle machen kann? Daß man aus Schuldgefühlen nicht auf echte Schuld Rückschlüsse ziehen kann, weiß jeder Analytiker. Denn ,die pädagogischen Prinzipien erlauben es den Eltern, die Kinder früh dazu zu erziehen, Schuldgefühle zu haben. 

Wie unsinnig diese Schuldgefühle sind, spürte ich sehr deutlich an dem für mich unvergeßlichen Abend in der süddeutschen Stadt. Die Eltern meiner Kollegen wurden dazu verführt, in Hitler den großen väterlichen Erlöser zu suchen, von dem sie seit ihrer Kindheit träumten. Als dieser sie enttäuscht hatte und sie sich ihrer Hoffnungen schämten, delegierten sie ihre Gefühle auf ihre Kinder, die nun, 1979, als erwachsene Analytiker im Alter zwischen 30 und 40 Jahren vor mir saßen. Als ich das Thema Hitler erwähnte, verhielten sie sich wie ihre eigenen Eltern, die die Fragen der Kinder nicht hatten zulassen können. Ich war nun das Kind, das die Schuld- und" Schamgefühle seiner Eltern, die es selber nie begreifen konnte, zu erleben hatte. Meine Zuhörer delegierten auf mich die Gefühle ihrer Kindheit, und zugleich sahen sie in mir einen Richter, der über die Schuld (!) ihrer Eltern urteilen wollte. So fühlten sie sich gedrängt, ihre Eltern vor mir in Schutz zu nehmen.

Es ist nicht leicht, diesen Phänomenen beizukommen, aber wir kommen nicht darum herum, uns ihnen nähern zu müssen, weil in unseren Sprechzimmern und Kliniken jetzt zunehmend ehemalige Kriegskinder erscheinen, die noch nie Gelegenheit hatten, die eigentlichen Ängste, Verwirrungen und Schmerzen ihrer Kindheit mit jemandem zu erleben, ja nicht einmal, darüber zu sprechen. 

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Ich habe hier das deutsche Schweigetabu als Beispiel genommen, weil es mir aus meiner Arbeit mit Patienten und Kollegen bekannt ist, aber ich nehme an, daß andere Länder ihre eigenen Tabus haben, jede Generation neue und daß es gerade die Aufgabe des Psychoanalytikers ist, ihnen nachzuspüren.

Aus den Analysen von ehemaligen Kriegskindern können wir vieles lernen, das wir auch auf andere Patienten anwenden können. Was in zahlreichen Studien über die einst verfolgten Mütter und ihre Kinder geschrieben wurde, gilt zweifellos auch für Mütter der Psychotiker oder Grenzfälle. Nur weiß man bei den verfolgten Müttern, warum sie so waren; man kann sie besser verstehen, weil ihr Schicksal im Konzentrationslager ein kollektives war (vgl. I. Grubrich-Simitis, 1979). Bei den Müttern der Schizophrenen wissen wir oft nichts über ihr individuelles Schicksal, besonders wenn wir mit ihnen ihre Kindheit idealisieren. Dennoch — es bleibt uns nicht erspart, uns dafür zu interessieren, und ich meine, daß dies das Faszinierendste an der Psychoanalyse sein kann. Dann spürt auch der Patient, daß es dem Analytiker wirklich nur um ihn geht, wenn er mit ihm gemeinsam seine Vergangenheit, seine nationalen, religiösen und familiären Tabus sucht, und nicht darum, die Güte seiner Ausbildung unter Beweis zu stellen und die Idealisierung seiner Lehrer (Eltern) aufrechtzuerhalten.

Wie Eltern ihren Kindern im Schweigen ihre Kriegserlebnisse unbewußt vermittelt haben, hängt davon ab, welche Stellung sie hatten, was sie durchgemacht haben, aus welcher Perspektive sie das Dritte Reich und den Krieg erlebt haben, und andererseits ist es entscheidend, in welchem Alter das Kind während des Zusammenbruchs war.. Es gibt eine große Zahl der zwischen 1940 und 1945 geborenen Kinder, deren erste Lebensjahre mit dem Grauen der Bombardierungen ausgefüllt waren und die sich als Erwachsene daran erinnern konnten, weil sie damit nicht allein gewesen waren. 

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Doch wenn die schwersten, verwirrenden Zeiten der Eltern ausgerechnet in die erste averbale Lebenszeit der Kinder fallen, in der das Kind normalerweise sehr intensive Gefühle erlebt und diese unterdrücken soll, muß es später mit dieser Verdrängung leben und einen hohen Preis dafür bezahlen. Nun stellen wir uns vor, daß ein Patient mit solchen, bisher mit niemandem geteilten Kindheitserlebnissen in seine Analyse kommt und daß der Analytiker darauf wartet, ihm endlich Triebdeutungen geben zu können. Dann fühlt sich der Patient übergangen und mißverstanden und entwickelt eine narzißtische Wut, die dem Analytiker wiederum das Recht gibt, ihn als destruktiv oder unheilbar zu erleben. Damit wiederholt sich das pathogene Trauma, das ja nicht in den äußeren Ereignissen liegt, sondern im Alleingelassenwerden mit Fragen und Schmerzen.

Wenn alle Bürger in Deutschland (West- und Ost-) laut rufen würden: »Man muß endlich einen Strich darunter ziehen, wir wollen nicht ewig an die Judenverfolgungen erinnert werden, wir sind doch'erst nach dem Kriege geboren worden und haben das Ganze nicht miterlebt, das Dritte Reich interessiert uns nicht mehr, wir haben jetzt andere Probleme......«, dann kann man das alles nur allzugut verstehen und, wenn man kein Analytiker ist, es dabei bewenden lassen. Bekam man aber in durchgeführten oder kontrollierten Analysen einen Einblick in das Unbewußte der Nachkriegskinder, dann sieht man, daß ein solcher Strich eine Illusion ist. Je massiver die Verleugnung, um so unverständlicher wird ihr neurotischer und psychotischer Ausdruck in der nächsten Generation. Das gleiche gilt für die Kinder der Opfer.

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Das erst jetzt übersetzte Buch von Claudine Vegh (1981) läßt ein Schweigetabu erkennen, dem eine große Gruppe der heutigen Eltern, deren Eltern im Krieg deportiert worden waren, unterworfen ist. Die Autorin hat mit einigen Menschen, die als Kinder verfolgt worden waren, je zwei Stunden lang gesprochen. Was sich daraus ergab, sind eigentlich Monologe von Menschen, die seit 35 Jahren zum ersten Mal über die extremen Traumen ihrer Kindheit sprachen. Die meisten von ihnen hatten nie, ihrem Ehepartner, ja nicht einmal der eigenen Mutter etwas von diesen Erlebnissen erzählt. 

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Der Grad von realer Bedrohung, erlittener Grausamkeit, Angst und Isolierung dieser Menschen war so groß, daß man es ihnen nicht verübeln kann, wenn sie ihr ganzes Leben lang versuchen, dieses Grauen, in dem sie niemand empathisch begleitet hatte, zu vergessen. Doch ihre eigenen Kinder können den Grund dieses Schweigens niemals verstehen, deren Auswirkungen im Verhalten sie vom ersten Tag an spüren. Sie müssen manchmal, mit Hilfe von Symptomen den Zugang zu den verborgensten Kammern ihrer Eltern suchen, in denen die Gefühle ihrer Kindheit und damit die Wurzeln ihrer Lebendigkeit oft jahrzehntelang eingesperrt bleiben.

Es ist bezeichnend, daß sich (mit Ausnahme einer einzigen Person, die als Psychotherapeutin tätig ist) die angefragten Überlebenden trotz großer Widerstände zu dem Gespräch mit Claudine Vegh, die als Kind ein ähnliches Schicksal gehabt hatte, bereit erklärten und daß sie alle am folgenden Tag, wie sie sagten, sichtbar erleichtert waren. Dieser therapeutische Effekt ist nicht nur dem Aufheben des Schweigens zu verdanken, sondern dem glücklichen Umstand, daß Claudine Vegh durch ihr empathisches Zuhören dem ehemaligen Opfer alebegleitende Umgebung bot, die es ihm ermöglichte, sich dem Trauma zu 1 nähern und den Schmerz zu erleben, ohne erneut trauma-tisiert i zu^werden, was leicht gescherleh kamrr^«M''',cür'''''' Überlebender in seiner Analyse seinen Schweigeschutz mit großer Mühe aufgibt und mit Triebdeutungen konfrontiert wird (vgl. S. 5 3 f.). Auch das Auftreten als Zeuge in Prozessen gegen Kriegsverbrecher hat keine therapeutische, sondern eine erneute traumatisierende Wirkung. Wir können als Analytiker weder die Gesellschaft noch die Eltern unserer Patienten, noch ihre Vergangenheit ändern, aber wir können es vermeiden, sie erneut zu traumatisieren, und darüber hinaus die begleitende Haltung annehmen, der das Wissen um die Bedeutung des Traumas vorausgeht.

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In seinem Nachwort zum Buch von Claudine Vegh schreibt Bruno Bettelheim:

Warum sind die Opfer nicht in der Lage, über das zu sprechen, was ihnen damals widerfahren ist, warum ist es für sie noch zwanzig oder dreißig Jahre danach so schrecklich schwer, davon zu berichten, was sie als Kinder erlebt haben? Und warum ist es so wichtig, daß diese Dinge besprochen werden? Ich bin der Ansicht, daß diese beiden Fragen eng zusammenhängen. Denn etwas, worüber man nicht sprechen kann, läßt sich auch nicht begraben, findet keine Ruhe. Redet man nicht darüber, schwären die Wunden nämlich von Generation zu Generation weiter; es ist, wie Raphael sagt: »Die Welt muß erfahren, daß diese Deportationen uns bis in die dritte Generation gezeichnet haben. Es ist schrecklich . . « ___—^_—___ Sollte es noch irgendwelche Zweifel geben, daß diese furchtbaren Ereignisse auch die nächste Generation zeichnen, so werden fsie durch ein kürzlich in den USA erschienenes Buch ausgeräumt (Helen Epstein, Children of Holocaust, New York, 1979). Die Eltern der Autorin Helen Epstein sind beide Überlebende deutscher Vernichtungslager. Ihr Leben ist von dem Schicksal ihrer Eltern und deren Unfähigkeit, darüber zu sprechen, geprägt und beeinträchtigt worden. Und das, obwohl sie in den Vereinigten Staaten geboren wurde und dort aufgewachsen ist. Anders als diejenigen, die in diesem Buch zu Worte kommen, ist Helen Epstein nie von zu Hause fortgerissen, nie gewaltsam von ihren Eltern getrennt worden und hat sich auch nie verstecken müssen, um am Leben zu bleiben. Ihre Eltern gaben sich außerordentliche Mühe, ihre Kinder so aufzuziehen, daß sie sich sicher fühlen konnten, was sie in New York auch tatsächlich waren. Und doch fühlte sich Helen Epstein als Kind Überlebender aus den Vernichtungslagern durch die Vergangenheit ihrer Eltern und dadurch, wie sie sich bis in die Gegenwart auswirkte, schwer belastet. Als Erwachsene wollte sie schließlich herausfinden, ob ihr Schicksal eine Ausnahme darstellte, oder ob andere, die von Eltern mit einer den ihren vergleichbaren Lebensgeschichte stammten, ähnliches erfahren hätten. Sie suchte nach solchen Menschen und unterhielt sich mit ihnen. Auch sie wa-

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ren, genau wie Helen Epstein, in relativer Sicherheit aufgewachsen. Und doch fand sie heraus, daß sie alle von dem schweren Schicksal, das ihre Eltern in der Vergangenheit erlitten hatten, in Mitleidenschaft gezogen worden waren, wenn auch jeder auf eine andere Weise. Sie hatten_alle_unter der Unfähigkeit ihrer Eltern gelitten, sich über die Erfahrungen und die Spuren, die sie bei ihnen hinterlassen hatten, zu öffnen. Helen Epstein beschreibt die Folgen dieses unausgesprochenen Leids der Eltern für die Kinder mit dem Bild einer eisernen Kiste, die sie sich geschmiedet hatte und tief in sich verborgen, mit sich herumschleppte. Diese Kiste machte ihr das Leben zur Qual: »Jahrelang lag es dort in einer eisernen Kiste so tief in mir vergraben, daß ich nie herausfinden konnte, was es eigentlich war. Ich wußte nur, ich trug irgendwelche unberechenbaren, explosiven Dinge mit mir herum, die geheimer als Sexuelles waren und gefahrlicher als Gespenster und Phantome. Gespenster haben eine Gestalt und einen Namen. Aber was in meiner eisernen Kiste lag, hatte weder das eine noch das andere. Was auch immer da in mir lebte, war so machtvoll, daß Worte zerrannen, bevor sie es beschreiben konnten.« Durch Verleugnen, sei es der Tatsachen oder der Gefühle, entfremdet man sich von sich selber. Man sperrt, um das Bild von Helen Epstein zu benutzen, die Tatsachen und Gefühle in eine für immer sorgfaltig verschlossene Kiste. Wie sehr man es auch versuchen mag, sich ihrer zu entledigen, man schafft es nicht; sie bleibt weiterhin als fremder Bestandteil im Leben vorhanden, das jedoch von ihr kontrolliert wird.

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Das verleugnete Trauma ist wie eine Wunde, die nie vernarben kann und die jederzeit wieder anfangen kann zu bluten. In einer begleitenden Umgebung kann diese Wunde sichtbar werden und ausheilen. 

Die Behandlung von Menschen, deren Eltern Verfolgte oder Verfolger waren und die später die dramatischsten Bereiche ihres Lebens mit Schweigetabus belegten, stellt uns nicht nur vor schwierige Aufgaben, sondern bedeutet zugleich eine Chance für die Vertiefung der heutigen Psychoanalyse, sofern wir die folgenden Punkte berücksichtigen:

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1. die Sensibilisierung für die narzißtischen Bedürfnisse des Kindes nach Echo, Spiegelung, Verständnis, Achtung, Begleitung und für die daraus folgenden Traumatisierungen; 

2. das Verständnis für die reaktive Bedeutung der narzißtischen Wut beim Kind, das ohne diese Sensibilisierung nicht möglich wäre;  

3. das Wissen, daß auch ungewollte Grausamkeit weh tut und daß der Patient den Zorn und'die Schmerzen seiner frühen Kindheit in der Analyse erleben muß, um freizu-werden, auch wenn der Erwachsene weiß, daß die Eltern selber auch Opfer waren;

4. die Erkenntnis, daß das Schweigen der Eltern mit Symptomen bei den Kindern bezahlt wird;

5.  Erfahrung, daß die Trauer verbindet, während Schuldgefühle trennen;

6. die bewußte Weigerung, als Analytiker Richterfunktionen zu übernehmen, die von Moralbegriffen unserer eigenen Erziehung geprägt sind, und schließlich

7. das Entdecken der eigentlichen (national- und familienspezifischen) Tabus des Patienten.

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Es ist nicht die Freiheit von Traumen, sondern ihre Erlebbarkeit und Artikulierbarkeit, die einen Analytiker hellhörig machen. Er wird seinen Patienten beim Erlebnis der Kindheitstraumen freier begleiten können, wenn er die eigenen Traumen der Kindheit bzw. der Pubertät nicht mehr fürchten muß. 

 

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3.6   Der Vater der Psychoanalyse  

 

 

Würde man ein Kind immer an der Hand führen und ihm damit die Möglichkeit nehmen, seine eigenen Wege zu gehen, würde es mit der Zeit keine Entdeckungen mehr machen. Es gibt Väter, die ihre Kinder auf ihre Weise sehr lieben, sie beschützen, sie in ihre geistige Welt einführen möchten und so von dieser Idee besessen sind, daß sie sich, gerade weil sie ihr Kind als Erweiterung des eigenen Selbst erleben, kaum vorstellen können, daß diese Kinder die Welt anders sehen könnten als sie selber.

In einer solchen Art von Geborgenheit ist die Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit des Kindes aufs schwerste gefährdet. Es ist seinem Vater für so vieles dankbar (für das Leben, für die Liebe, für das Wissen, das er ihm vermittelte) und verzichtet zunächst gern auf Schritte, die dem Vater wehtun könnten. Wenn aber sein Drang, das eigene Selbst zu artikulieren, sehr groß ist, dann wird es entweder psychisch krank oder es muß sich entscheiden, dem Vater wehzutun. Die Konsequenzen hängen vom Reifegrad des Vaters ab.

Man kann es Sigmund Freud nicht verübeln, daß er seinem großartigen, geliebten Kind, der Psychoanalyse, so vieles mit auf den Weg zu geben versuchte: seine damaligen Vorstellungen von psychischen Mechanismen, den Ödipuskomplex, seine Triebtheorie und schließlich auch noch das Strukturmodell. Aber das Kind ist inzwischen längst groß geworden, hat eigene Erfahrungen gemacht und kann nicht mehr an der Hand seines Vaters oder Urgroßvaters durch die Welt wandern und sie mit dessen Augen sehen. Das Auffüllen der Psychoanalyse mit zeitbedingten Inhalten hätte ihre Entwicklung vielleicht nicht lähmen müssen, wenn Freud seinen Nachfolgern die Freiheit gelassen hätte, sein Instrument zu benützen und mit dessen Hilfe die Wahrheit ihrer Patienten und ihrer Zeit zu entdecken. Aber wie wir wissen, bildete Freud als Vater keine Ausnahme. 

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Wie bei den meisten Vätern der damaligen Zeit lebten seine Söhne unter Sanktionen, die dazu führten, daß die begabtesten nur die Wahl hatten, sich entweder von den inhaltlichen Bestimmungen seiner Lehren einengen zu lassen, oder, wenn sie das nicht wollten, wie z.B. Jung und Adler, sich ganz von Freud trennen und auf die Vorteile seiner Methode verzichten zu müssen, womit aber auch die bisher einmalige Chance, die frühe Kindheit mit Hilfe der Übertragung und Gegenübertragung erforschen zu können, in ihren Systemen aufgegeben wurde. So gab es zu Lebzeiten Freuds entweder treue Anhänger oder Abtrünnige. Erst nach seinem Tod haben Analytiker wie Balint, Winnicott, Kohut und andere mit seiner Methode neue Entdeckungen gemacht und sind trotzdem intra muros geblieben. Ohne die psychoanalytische Methode wären die neuen Erkenntnisse dieser Analytiker über die frühe Kindheit nicht möglich gewesen. Aber hätten sie entwickelt werden können, solange Freud lebte?

Wenn mein Vergleich einigermaßen brauchbar ist, so könnte man sagen, daß ein Vater nicht beides kann: ein geniales Kind in die Welt setzen und in allen Einzelheiten seinen Weg bestimmen wollen, ohne seine kreativen Kräfte zu beeinträchtigen. Man kann nicht der Menschheit eine Methode von der Seh- und Sprengkraft der Psychoanalyse schenken und ihr zugleich vorschreiben, wie sie davon Gebrauch machen soll. Einmal in die Welt gesetzt, führt das Kind sein Eigenleben und hat eine unendliche Entwicklungschance, wenn es vom Vater nicht mehr zurückgehalten wird.. Die Psychoanalyse gibt uns die Möglichkeit, in unserer Zeit unsere Tabus zu durchschauen, die anders sind als zur Zeit Freuds und die in zwanzig oder dreißig Jahren vielleicht keine Aktualität mehr haben werden. Aber dank der von Freud entwickelten Methode werden künftige Analytiker ihre Tabus und ihre Zeit verstehen lernen können. 

Das psychoanalytische Denken kann auf die Entlarvung

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der Lüge nicht verzichten, sonst müßte es sich selbst aufheben. 

Bleibt es aber seiner zentralsten Aufgabe treu und ist es nicht bereit, das Aufdecken, Verstehen und Durchsichtigmachen der wahren Zusammenhänge aufzugeben, dann kann es sich niemals mit einem starren System zufriedengeben, gerade weil solche Systeme Schlupfwinkel der Lüge mit ihren verschiedenen Gesichtern sind. Man kann Freud keinen Vorwurf daraus machen, daß er unsere Erfahrungen noch nicht hatte. Auch das Aufgeben der Verführungstheorie zugunsten des Ödipuskomplexes kann man ihm nicht vorwerfen, obwohl ich es persönlich bedauere, weil ich in fast allen von mir analysierten und kontrollierten Fällen eine Bestätigung für seine erste Theorie fand.,,Nur spreche ich nicht von »Verführung«, sondern von Mißbrauch, und ich schränke diesen nicht auf den sexuellen Bereich ein. Der Mißbrauch der Macht läßt sich in der Kindheit eines jeden Patienten ohne Schwierigkeiten nachweisen, und dessen narzißtische Bedeutung wird zunehmend erkannt. Doch die sexuelle Komponente dieses Geschehens bleibt immer noch am längsten verborgen, und es ist bekanntlich gerade das , Verborgene, das das Kind mit seinem Wissen alleinläßt und es daher krank macht. Aber wie hätte Freud ohne eine eigene Analyse mit den Konsequenzen seiner ersten Entdeckung leben können?

Es wäre interessant, darüber zu phantasieren, wie Freud sich jetzt, wenn er nochmals leben könnte, zu seinen einzelnen Lehren stellen würde. Vielleicht würde er die Neuauflage einiger Schriften, vor allem des Schreber-Falls, nicht als notwendig betrachten. Möglicherweise wäre er, falls er jetzt als junger Mensch lebte, mit seiner Strukturtheorie, die er im späteren Alter aufbaute, nicht mehr sehr glücklich. Man könnte sich fragen, ob es ihm nicht seltsam vorkäme festzustellen, daß Triebdeutungen, die er vor 80 Jahren für angebracht hielt, zuweilen immer noch in der gleichen Art verabreicht werden; ob er sich nicht wundern würde, daß wir nach einem halben Jahr-

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hundert die Wahrheiten seiner Zeit (z.B. über männliche und weibliche Sexualität) unbesehen weitergeben, als ob wir nicht sehr viel Neues dazugelernt hätten. Doch alles das bleibt reine Spekulation, gemischt mit Hoffnungen und ^ Idealisierungen. Viele Analytiker möchten in Freud noch heute den weitsichtigen, nicht einengenden, kurzum den vollkommenen, über alle Zeitbedingtheiten erhabenen Vater sehen und am liebsten die Tatsache ausklammern, daß auch das Genie ein Kind seiner Zeit ist. Aber Vollkommenheit wäre nicht menschlich und daher schon gar nicht der richtige Boden für psychoanalytische Entdeckungen. Wäre das Aufgeben der kindlichen Idealisierung Freuds und die dadurch notwendige Trauerarbeit nicht zugleich ein unumgänglicher Schritt im Reifungs-prozess des Analytikers? Wie soll die Fähigkeit, eigene Entdeckungen zu machen, entwickelt werden, wenn unser tief verborgener, kindlicher Gehorsam Freud gegenüber in uns bestehen bleibt?

So sind vermutlich auch meine Phantasien über Freuds Revisionsbereitschaft reine Illusionen. Möglicherweise könnte der Vater der Psychoanalyse, wie jeder Vater, nicht über sein eigenes Schicksal hinausgehen, vielleicht würde er heute genau wie damals an seiner Triebtheorie und am Ödipuskomplex hängen und alle, die ihm darin nicht folgen, als Abtrünnige oder Feinde ansehen. Das wäre schmerzhaft, aber es würde nichts an der Tatsache ändern, daß wir nicht blind leben und arbeiten möchten, um als loyale Kinder des Vaters zu gelten. Es ist des Vaters gutes Recht, die Welt so zu sehen, wie er sie sehen muß, aber das Kind wird ihm das nur dann nicht übelnehmen müssen, wenn es sich selber das gleiche Recht nimmt (das ihm sein Vater selten gibt), nämlich seine Welt mit seinen Augen zu sehen und sich durch keine Sanktionen darin beirren zu lassen. Das vom Vater geschenkte reiche Leben kann sich erst voll entfalten, wenn die Schäden seiner gutgemeinten Erziehung aufgehoben sind. 

Viele junge Menschen von heute sind in ihrer Beziehung zu den

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eigenen Eltern freier als mancher Analytiker der älteren Generation und als Sigmund Freud selber. 

Freud entdeckte zwar die sexuelle Verlogenheit, aber wenn er jetzt hören würde, wie Jugendliche oder Kinder über ihre Eltern sprechen können, würde er es wahrscheinlich nicht leicht ertragen. Er selber berichtete, daß .er seine Mutter jeden Sonntag zu besuchen pflegte und Jt vorher Magenschmerzen hatte; aber es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, diese Besuche, gegen die er sich doch offensichtlich sträubte, einzustellen. Es war für ihn selbstverständlich, daß bestimmte Gefühle unterdrückt werden sollten. So schrieb Freud zwar viel über den Penisneid der Frau, sein Neid aber auf die fünf Schwestern, die nach ihm geboren wurden, ist nirgends zu Wort gekommen. Er war bekanntlich der älteste Sohn seiner jungen Mutter. Sie gebar nach ihm — im Zeitabschnitt von zehn Jahren — zuerst einen zweiten Sohn, der mit acht Monaten bereits starb, als Sigmund erst neunzehn Monate alt war, anschließend fünf Töchter und schließlich noch einen Sohn, Alexander. In der Freud-Bildbiographie (1978) sieht man auf S. 59 die Reproduktion eines Ölbildes, auf dem der zwölfjährige Freud links von der großen Schar seiner fünf Schwestern steht, in deren Mitte sich der kleine zweijährige Alexander befindet. Dieser Alexander berichtet später, Sigmund hätte mit sechzehn Jahren zu ihm gesagt: »Unsere Familie ist wie ein Buch. Du und ich, wir sind der letzte und der erste der Geschwister. So sind wir die starken Deckel, die die schwachen Mädchen, die nach mir und vor dir geboren sind, stützen und beschützen müssen.« Im gleichen Band befindet sich ein anderes Bild, eine Photo-Aufnahme aus dem Jahre 1864: Die Mutter sitzt und hält die jüngste Tochter auf dem Schoß, rechts von ihr ist die ältere Tochter. Sigmund sitzt neben dieser Gruppe und schaut nicht wie die anderen zur Kamera. Sein kluges, aufmerksames Gesicht ist auf das »Schoßkind« der Mutter gerichtet und zeigt etwas zwischen Widerwillen und Verachtung.

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Es ist gar nicht anders denkbar, als daß ein freies Kind in seiner Lage Gefühle von starkem Neid auf die fünf Mädchen empfunden hätte, zumal die Familie zunächst in einer sehr kleinen Wohnung lebte und Sigmund Freud in seiner ganzen Kindheit der Tatsache nicht entfliehen konnte, daß seine Mutter ihre Aufmerksamkeit und Pflege oft den fünf Mädchen zukommen lassen mußte. Im zitierten Ausspruch an Alexander ist nichts von diesem Neid zu hören, außer vielleicht die Reaktionsbildung, die in der Beschützerfunktion zum Ausdruck kommt. Und doch ist der Vergleich mit dem Buch höchst seltsam. Denn das Wertvollste an einem Buch ist doch sein Inhalt, die beschriebenen Seiten, die auch ohne den Deckel brauchbar sind, während der bloße Buchdeckel ohne den Inhalt sinnlos wäre. 

Der sechzehnjährige Sigmund Freud, der seit der Kindheit mit Büchern lebte, wußte das genau. Wenn ihm trotzdem ein solcher Vergleich eingefallen ist, so spiegelt sich in diesem Bild der nur zu gut begreifliche, aber tief unterdrückte Neid auf seine fünf Schwestern, die ihm die geliebte Mutter immer wieder neu wegnahmen, obwohl sie nicht so gescheit und vielleicht nicht so rücksichtsvoll wie er selber waren. In seinem kindlichen Empfinden mußten diese ewigen Schoßkinder seiner Mutter irgendeine geheimnisvolle Überlegenheit über ihn haben, deren Wurzeln nicht auszumachen waren. Aber wie sollte ein so kluger junge, über dessen Qualitäten die junge Mutter so froh war, neidisch oder eifersüchtig sein? Derartige verachtenswerte Gefühle mußte man den Frauen überlassen. Wie oft schützt Verachtung die älteren Geschwister vor den beißenden Gefühlen von Neid! Wie dem auch sei, das eindrucksvolle Ölbild und der Ausspruch an Alexander werfen ein Licht auf die Theorie des Penisneides. Sie könnten den mit Recht empörten Frauen vielleicht einen menschlicheren Freud zugänglich machen: nicht den strengen bärtigen Patriarchen, sondern den tapferen und kleinen Beschützer seiner Mutter und ihrer fünf Mädchen, der kaum eine Möglichkeit hatte, seinen Zorn auf den ganzen Frauenklan bewußt zu leben, geschweige denn direkt zum Ausdruck zu bringen.

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In der Schrift Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit« analysiert Freud sehr eindringlich und einfühlsam Goethes Geschwistersituation. Aber die eigenen Skotome lassen den genialen Entdecker der Verdrängungsmechanismen die folgenden Sätze schreiben: »Goethes nächste Schwester, Cornelia Friederica Christina, war am 7. Dezember 1750 geboren, als er fünfviertel Jahre alt war. Durch diese geringe Altersdifferen^ ist sie als Objekt der Eifersucht so gut wie ausgeschlossen«. (S. Freud, 1917b). Es genügt, kleine Kinder zu beobachten, um zu sehen, wie stark und eindeutig frei aufwachsende Kinder Neid und Eifersucht auszudrücken imstande sind.

Auch Sigmund Freud hat es als kleines Kind indirekt getan. Nur war niemand da, der sein Verhalten und seine Not hätte verstehen können. Ernest Jones schreibt in seiner Freud-Biographie:

Ein Vorfall, an den er sich nicht erinnern konnte, war der folgende: als Zweijähriger stieg er, wie er selbst berichtete, »in der Speisekammer auf einen Schemel, um sich etwas Gutes zu holen, was auf einem Kasten oder Tisch lag«. Der Schemel kippte um, und Freud schlug mit dem Unterkiefer gegen die Tischkante. Es gab eine tiefe Wunde, die stark blutete; sie mußte vom Chirurgen genäht werden und hinterließ eine bleibende Narbe.

Kurz vorher war etwas noch Wichtigeres geschehen: sein kleiner Bruder Julius war, erst acht Monate alt, gestorben, als Freud selber neunzehn Monate zählte. Vor der Geburt des Bruders hatte er alleinigen Zugang zur Liebe und zur Milch seiner Mutter gehabt. Jetzt mußte er aus Erfahrung lernen, wie stark die Eifersucht eines kleinen Kindes sein kann. In einem Brief an Fließ (1897) gesteht er die bösen Wünsche, die er gegen seinen Rivalen hegte, und setzt hinzu, ihre Erfüllung durch dessen Tod hätten »den Keim zu Selbstvorwürfen« gelegt, eine Neigung, die er seither beibehalten habe (E. Jones, i960, S. ztf.).

Mit elf Monaten also erlebte Freud die Geburt seines Bruders und mit neunzehn Monaten bereits dessen Tod,

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auf den er mit einem schweren Unfall reagierte. Diese frühe Traumatisierung mag wohl wesentlich dazu beigetragen haben, daß er Goethe die spätere Eifersucht zwar zubilligt, nicht aber die frühere auf dessen fünfviertel Jahre jüngere Schwester Cornelia. Auch Freuds Möglichkeit, seinen Neid auf die fünf Schwestern zu erleben und ohne Reaktionsbildungen zu bewältigen, wurde durch diese schuldbeladene Wunscherfüllung aufs schwerste beeinträchtigt.

 

3.7   FACETTEN DES FALSCHEN SELBST  

 

 

Die Haltung, die aus der bewußten Identifizierung mit dem Kind als Opfer hervorgeht und die ich in Gegensatz zur unbewußten Identifizierung mit dem Erzieher stelle (siehe Ai), ist nicht völlig neu, ist auch nicht von mir erfunden worden und wird mehr oder weniger bewußt bereits von einzelnen Analytikern eingenommen. Auch die theoretischen Folgerungen aus meinen Erfahrungen enthalten keine neuen Elemente, es ist nur ungewohnt, daß das, was jeder weiß und worüber er nicht spricht, radikal zu Ende gedacht wird. 

Daß das Kind seit Jahrtausenden das Opfer des Erwachsenen ist, geht nicht nur aus dem Buch von Lloyd de Mause hervor, sondern aus unzähligen anderen Zeugnissen und Ratschlägen der Erzieher seit König Salomo hervor. 

Trotzdem wird dieser Gedanke kaum je direkt ausgesprochen. Es war schon immer so, daß nicht Grausamkeit Empörung in der Öffentlichkeit hervorruft, sondern die Hinweise auf die Grausamkeit. Baudelaire schrieb über das, was jeder wußte, aber sein Buch, Die Blumen des Bösen, durfte zunächst gerade deshalb nicht erscheinen. Die Opferung des Kindes ist nirgends verboten, verboten ist vielmehr, darüber zu schreiben.

Je einseitiger die Gesellschaft darauf aufgebaut ist, strenge moralische Prinzipien wie Ordnung, Sauberkeit, Triebfeindlichkeit zu verwirklichen, je gründlicher sie die andere Seite des Menschen: Lebendigkeit, Spontaneität, Sinnlichkeit, Kritikfähigkeit und innere Unabhängigkeit des Individuums fürchtet, um so mehr wird sie bestrebt sein, ihre verborgenen Enklaven der anderen Seite des Menschlichen zu hüten, mit Schweigen zu schützen oder sie zu institutionalisieren. Die Prostitution, das Pornogeschäft und die beinahe obligatorische Obszönität in Männergesellschaften, wie z.B. im Militär, gehören zu den legalen, ja notwendigen Kehrseiten dieser Sauberkeit und Ordnung. 

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Diese Spaltung des Menschen in den Guten, Frommen, Angepaßten, Braven und den anderen, der das pure Gegenteil des ersten ist, ist vielleicht so alt wie die Menschheit, und man könnte sich damit abfinden zu sagen, daß sie zur »menschlichen Natur« gehöre. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß bei Menschen, die in ihrer Analyse die Möglichkeit gefunden haben, ihr wahres Selbst zu suchen und zu leben, die Spaltung von selber verschwand. Sie empfanden beide Seiten, sowohl die angepaßte wie die sogenannte obszöne, als zwei Extreme des falschen Selbst, das sie nicht mehr brauchten. 

Ich kannte eine Frau, die früher eine leidenschaftliche Fastnachtgängerin gewesen war, weil dies für sie die einzige Chance bedeutete, frei und kreativ zu sein. Später aber, als sie in der Kreativität anstatt der Maske sich selbst zeigen durfte, beschränkte sich ihr Interesse für die Fastnacht auf das Ausführen von Dekorationen und Kostümen. Sie selber wollte keine Maske mehr tragen, weil dies sie an die traurige Verborgenheit ihres früheren Lebens erinnerte. Solche und ähnliche Erfahrungen bringen mich zu der Frage, ob es nicht doch einmal möglich sein wird, Kinder so aufwachsen zu lassen, daß sie später mehr Selbstachtung für alle Seiten ihres Wesens haben könnten und daß sie nicht gezwungen wären, verbotene Seiten so stark zu unterdrücken, bis diese in gewalttätiger und obszöner Form ausgelebt werden müssen.

Obszönität und Grausamkeit sind keine wirkliche Befreiung von Zwängen, sondern ihr Nebenprodukt. Freie Sexualität ist niemals obszön, und der freie Umgang mit eigenen aggressiven Regungen, das Zulassenkönnen von Gefühlen wie Zorn und Wut als Reaktionen auf reale Frustrierungen, Kränkungen und Demütigungen führt niemals zu Gewalttätigkeit.

Wie konnte es dazu kommen, daß die oben geschilderte Spaltung so selbstverständlich der menschlichen Natur zugeschrieben wird, wenn es immerhin Beweise dafür gibt, daß sie ohne Willensanstrengung und ohne moralische Gesetze überwindbar ist? 

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Ich finde keine andere Antwort auf diese Frage als die Tatsache, daß sich diese beiden Seiten des Menschen in der Erziehung und der Behandlung der Kinder sehr früh fortgepflanzt haben und sie daher als die »menschliche Natur« angesehen werden. Das gute falsche Selbst bekam man durch die sogenannte Sozialisierung, durch die Normen der Gesellschaft, die die Eltern bewußt und gewollt vermittelten, und das »böse«, auch falsche Selbst wurzelte in den frühesten Wahrnehmungen des elterlichen Verhaltens, das nur dem eigenen, als Ventil gebrauchten Kind gegenüber unverstellt bleiben durfte. In dessen anhänglichen, arglosen Augen freundlich aufgenommen, in dessen Unbewußtem gespeichert, fungierte es von Generation zu Generation als die selbstverständliche »menschliche Natur«. 

Es ist zweifellos für die Menschheit kränkend und unbequem zu erfahren, daß die bisher gut verborgenen (und wegen der eigenen Erziehung so notwendigen) Ventile, die man in der Erziehung der eigenen Kinder gefunden zu haben glaubte, sich nun als Gift für die nächste Generation erweisen. Was soll man nun ohne diese Ventile tun? Ist nicht Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewußten an allem schuld? Doch Freud hätte diese Entdeckung nicht gemacht, wenn es zu seiner Zeit nicht unzählige Patienten gegeben hätte, die, wie er feststellen mußte. gerade unter der doppelten Moral so gelitten haben, daß sie für ihre Familien nicht mehr tragbar waren und anfingen, die psychiatrischen Kliniken zu füllen. Diese Situation ist heute nicht besser als damals und mit der Zunahme der Bevölkerungszahl noch gravierender. 

So steht man als Psychoanalytiker vor der schweren Entscheidung, das Gift der ersten Machtausübung, das wir von Anfang an in uns speichern, um es unseren Kindern zukommen zu lassen, zu benennen und zu erkennen, daß es sich damit nicht um die Beschuldigung der einzelnen Eltern handelt, die ja selber Opfer dieses Systems sind, sondern um das Wahrnehmen einer verborgenen gesellschaftlichen Struktur, die wie kaum eine andere unser Leben bestimmt; sie läßt sich in sehr verschiedenen Gesellschaftsformen finden, wenn man sie einmal durchschaut hat. 

Doch diese Entscheidung muß notgedrungen Angst machen, wenn man im Geiste der Pädagogik aufgewachsen ist, und das gilt zweifellos für die meisten von uns. So ist es also gut begreiflich, wenn die Angst vor dem Zorn der introjizierten Eltern, die Angst des Kindes vor dem Verlust ihrer Liebe, uns nötigt, auffallende gesellschaftliche Zusammenhänge zu übersehen, in der Hoffnung, damit unsere Eltern schonen zu können.

Wenn es aber einem Psychoanalytiker gelingt, diese seine aus der frühesten Kindheit stammende Angst zu erleben und zu verarbeiten, kann er sich vielleicht fragen: 

»Brauchen die Eltern immer noch meine Schonung wie zu meiner Kinderzeit, oder kann ich ihr Verhalten besser verstehen, wenn ich sie als Teile eines allgemeinen Systems sehe, dessen Opfer sie genauso wie ich sind? Komme ich meinen verstorbenen oder noch lebenden Eltern nicht näher, wenn ich diese unsere gemeinsame Tragik erkenne, ohne sie beschönigen zu wollen? Es ist ja gerade das Beschönigen, Verleugnen, Zudecken, das mir einst in der Kindheit so zu schaffen machte und derentwegen ich wahrscheinlich diesen Beruf gewählt habe. Ich weiß von mir und von meinen Patienten, welcher Preis dafür vom Kind zu zahlen ist und wie gefährlich es sein kann, wenn Gift in Schokoladenpackung verborgen bleibt. Eltern, die diese Schokolade in bester Absicht gekauft haben und sie ihren Kindern gaben, sind doch völlig unschuldig. Wie wäre es aber, wenn der Kinderarzt, der die Folgen der Vergiftung bereits von mehreren Fällen her kennt, den Eltern die Ursache verschweigen würde, um ihnen keine Schuldgefühle zu machen?« 

Auch wenn nur wenige Analytiker innerlich in der Lage sein sollten, sich derartige Fragen zu stellen — an der Entwicklung ihrer Patienten werden sie die Antworten finden. Dann werden auch die komplizierten und seit je autorisierten Theorien keine Macht mehr über sie haben. Sie werden weder sich noch ihre Patienten den Theorien zuliebe verlassen wollen. 

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