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3.8  Achtzig Jahre Triebtheorie  

 

 

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Nicht nur Menschen, auch Städte z.B. feiern ihre Geburtstage, und in den großen Reden, die man dann hält, werden die vielen Gefahren und Bedrohungen aufgezählt, die sie überlebt haben. Es wird die Widerstandskraft und die Stabilität dieser Städte gepriesen, die all den Gefahren standgehalten haben. Wie steht es aber mit der Stabilität einer Theorie, die allem, was ihrem Inhalt und ihrem Wahrheitsgehalt widerspricht, standhalten konnte, nur weil sie die Gefahren gar nicht als ihre Gefahren gesehen hat?

Seit dem Entstehen der Psychoanalyse wurde unser Wissen über die Kindheit ungemein bereichert, insbesondere in den letzten zwanzig Jahren. Dieses Wissen hätte zu einer grundsätzlichen Revision der Triebtheorie führen müssen, wenn diese nicht im Dogma erstarrt gewesen wäre. Doch Dogmen bleiben gegen neue Erkenntnisse und Entwicklungen immun.

1. Den Grundstock dieses neuen Wissens bilden für mich die Mitteilungen der erwachsenen Patienten über ihre Phantasien und Handlungen, die ihren eigenen Kindern gelten. In einer voranalytischen Ära gab es Mitteilungen von dieser Authentizität kaum. Sie zeigen, wie stark und intensiv das Kind Objekt narzißtischer Bedürfnisse, sexueller Wünsche und aufgestauter Haßgefühle sein kann. Sie zeigen auch, daß diese aus der eigenen traumatischen Erfahrung stammenden Impulse das Kind nicht schädigen müssen, also dem Zwang nicht mehr unterworfen sind, sobald sie dank der Aussprache in der analytischen Situation in das Ganze der Persönlichkeit aufgenommen werden können, um hier zu reifen.

2. Die zahlreichen Publikationen der Psychohistoriker über die Kindheitsgeschichte, wie z. B. Aries und L. de Mause, bestätigen unser analytisches Material. Sie zeigen mit einer erschütternden Deutlichkeit, wozu die Erwachsenen die Kinder gebraucht haben, natürlich ohne damals die unbewußten Zusammenhänge zu kennen. Dazu kommen die neuesten Publikationen über Kindermißhandlungen, die uns mit einer unfaßbaren und doch unmißverständlich heutigen Realität konfrontieren. (Vgl. H. Petri u. M. Lauterbach, G. Pernhaupt u. H. Czermak, E. Pizzey, L. Sebbar, G. Zenz u.a.m.)

3. Direkte Beobachtungen von Rene Spitz, John Bowlby, Margret S. Mahler, Donald W. Winnicott und vielen andern sowie die praktische Arbeit zahlreicher Kinderpsychoanalytiker erweiterten ferner unseren Blick auf die unbewußten Konflikte der Eltern der kleinen Patienten. Ein Kinderpsychoanalytiker, der die Eltern sieht, hat mehr Mühe, die Symptome des Kindes ganz rigide nur auf die Abwehr der »sexuellen und aggressiven Triebe« im Kinde zurückzuführen, obwohl auch das immer noch vorkommt.

4. Analytiker und Psychiater, die mit schizophrenen Jugendlichen und Drogensüchtigen gearbeitet haben, wie Theodor Lidz, Harold Searles, Helm Stierlin, Ronald D. Laing, Morton Schatzman haben mit der Zeit das Konzept der Familientherapie entwickelt, weil sie es nicht mehr verantworten konnten, alles, was dem Patienten je geschehen ist, auf die Abwehr seiner aggressiven und libidinösen Triebregungen zurückzuführen, ohne den ganzen sozialen Kontext der Familie in ihr Verständnis der Pathogenese, aber auch z. T. in ihre therapeutischen Bemühungen einzubeziehen. In den Begriffen der »Delegation« von Helm Stierlin und der »narzißtischen Projektion« von Horst Eberhard Richter z. B. haben einige der neuen Entdeckungen ihren Niederschlag gefunden, ohne in die klassische Theorie integriert worden zu sein.

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5. Analytische Behandlungen erwachsener Kinder der Holocaust-Opfer konnten einen zusätzlichen Beitrag leisten. Da es sich hier um ein kollektives Schicksal der Eltern handelte, konnten sehr frühe narzißtische Traumatisierungen des Säuglings und des Kleinkindes nachweisbar erfaßt werden (vgl. oben S. 232 f.). - Aus den Untersuchungen über die zweite Generation nach Holocaust kann ein Analytiker auch einiges über die Entstehung der narzißtischen Störungen, der Perversionen, Zwangsneurosen und anderer Erkrankungen lernen. Die unbewältigten, weil allzu grausamen Traumen der Eltern werden zum »neurotischen Elend« ihrer Kinder. Wenn man dies anhand der bekannten massiven Traumatisierungen im Erwachsenenalter der Eltern nachweisen konnte, so gilt diese Erkenntnis meiner Meinung nach um so mehr für die Traumen der Eltern in deren Kindheit und Pubertät. 

6. Schließlich wurden wir in den letzten Jahren durch die Arbeiten von William G. Niederland und Morton Schatzman über den Vater Schreber mit dessen Vorstellungen und Verhalten bekannt gemacht. Die Schockwirkung dieser Entdeckung ist bei Niederland, dem die Funde eigentlich zu verdanken sind, noch ausgeblieben, während Schatzman uns Analytiker mit Fragen konfrontiert, denen wir nicht mehr ausweichen können. Die Frage lautet: Kann man die Ängste eines als Säugling grausam erzogenen Patienten auf die Abwehr seiner Triebwünsche zurückführen, ohne sich um die Realität der frühen Kindheit zu kümmern? Muß nicht die psychische Realität der Eltern, die sich in der psychischen Realität des Patienten spiegelt, in unser Blickfeld rücken, wenn wir uns um die Einfühlung in den Patienten bemühen? 

Freud hat in seiner berühmten Darstellung des Falles Schreber die Geschichte dieses paranoiden Patienten beschrieben, in dem er sich auf dessen Aufzeichnungen, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, stützte (vgl. D. P. Schreber, 1903). 

Alle Verfolgungsängste des Patienten Schreber führte Freud auf die Abwehr seiner homosexuellen Liebe zum Vater zurück. Morton Schatzman geht, Niederland folgend, einen wesentlichen Schritt weiter. Er vergleicht die Stellen aus den Denkwürdigkeiten des Sohnes mit den Erziehungsschriften des Vaters Schreber und entdeckt verblüffende Zusammenhänge. 

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Es stellt sich heraus, daß auch die absurdesten Ideen, Phantasien und Verfolgungsängste des kranken Sohnes, ohne daß er es ahnt, die Geschichte seiner frühkindlichen Verfolgung erzählen. Aus den Schriften des Vaters kann man ablesen, wie er seinen Sohn erzogen hat und wie diese Erziehung bei dem einen Sohn zum Selbstmord und beim andern zur Paranoia führte. Freuds Gedanke, daß Daniel Paul Schreber an seinen Vater homosexuell fixiert war, ist vielleicht nicht falsch, denn dieser Vater, der seine Söhne (und nur diese, nicht die Töchter) schon im Säuglingsalter, auch mit Hilfe von verschiedenen Apparaten, körperlich ständig manipulierte, hatte den Jungen zweifellos auch sexuell stimuliert. 

Außerdem liebt jedes Kind seinen Vater, auch wenn es von ihm verfolgt wird, und diese Kombination von Liebe und Haß bestand auch beim Sohn Schreber. Aber würde man sich zwingen, das Verständnis der Paranoia im allgemeinen und die Entstehung dieser paranoiden Entwicklung im besonderen auf die Abwehr der homosexuellen Triebwünsche des Kindes (und nicht des Vaters!) zurückzuführen, dann wäre das eine Einengung der Sicht, die zu Freuds Zeiten vielleicht eine Notwendigkeit war, in unserer Zeit aber einen Verzicht auf Erfahrungen bedeuten würde, die uns bereits zur Verfügung stehen. In der Weigerung vieler Analytiker, in der »psychischen Realität« ihrer Patienten, auf die sie sich beschränken wollen, die psychische Realität von deren Eltern zu sehen, ist der Rest einer rigiden behavioristischen Haltung zu erkennen, die der Psychoanalyse eigentlich fremd sein müßte.

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Wenn man den gesellschaftlichen Faktor außer acht ließe, wäre es erstaunlich, daß die Freudsche Triebtheorie von all diesen wissenschaftlich belegbaren Funden über die Realität der frühen Kindheit beinahe unberührt geblieben ist. Schaut man aber näher hin, stellt man fest, daß nicht nur die Psychoanalyse diesem Schicksal erlag. In den meisten Untersuchungen, die ich oben erwähnte, werden die neuen Funde mit einer auffallenden Regelmäßigkeit nicht in ihren Konsequenzen weiterverfolgt.

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Einige schöpferische Denker wie Horst Eberhard Richter und Helm Stierlin, die sich zunächst vom rigiden System der Triebtheorie befreien konnten und sich in der Praxis damit konfrontiert sahen, was Eltern ihren Kindern unbewußt antun, die diese Erfahrung auch theoretisch in ihren Begriffen der »narzißtischen Projektion« (Richter) bzw. der »Delegation« (Stierlin) fixierten, sahen sich dadurch nicht veranlaßt, die Konsequenzen dieser Erkenntnis für die Einzeltherapie auszuwerten. Sie haben im Gegenteil wie viele andere Psychiater in den USA, Großbritannien und Frankreich, denen diese Erkenntnis zuteil wurde, den Boden der Einzeltherapie verlassen und sich auf die Familientherapie bzw. Gruppentherapie konzentriert.

Um diesen Interessenwechsel in ihren therapeutischen Bemühungen vom Individuum auf Familien- bzw. Gruppensysteme zu begründen, bringen sie überzeugende und einleuchtende Argumente, wie z.B.:

  1. Angesichts der großen Verbreitung von psychischen Krankheiten darf ein Therapeut nicht nur einigen wenigen zur Verfügung stehen. Er ist verpflichtet, einer größeren Anzahl von Menschen zu helfen.

  2. Die Einzelanalysen dauern sehr lange und führen nur in seltenen Fällen wirklich zum Erfolg.

  3. Es hat sich oft herausgestellt, daß die Symptombesserung beim Analysanden zu Erkrankungen in seiner familiären Umgebung geführt hat, sofern er der Träger der im Familiensystem verborgenen Konflikte war.

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Diesen Argumenten kann man mühelos zustimmen, und doch gehen sie an dem vorbei, was ich als Konzept der pädagogikfreien Psychoanalyse im Auge habe, und zwar aus folgenden Gründen.

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CZu Punkt i^  Wenn es einem einzelnen Menschen gelingt, sich der Wahrheit seiner frühen Kindheit zu nähern und sich von den früh internalisierten Tabus und Zwängen der Erziehung, also auch denjenigen der Introjekte, zu befreien, dann ist das ein gesellschaftliches Faktum und nicht nur eine rein private Angelegenheit. Auch wenn dieser Mensch seinen Eltern nicht so leicht verzeihen kann wie ein gut erzogenes Kind, weil er die tiefen Wunden erst anfängt wahrzunehmen, wird seine Umgebung von ihm profitieren. JDenn er wird nicht in Versuchung kommen, andere zu erziehen, an ihre Versöhnungsbereitschaft, ihr Verständnis für die Eltern, ihre Vernunft zu appellieren; er wird wissen, daß man gerade durch diese Versuche als Kind krank geworden ist, und es wird ihm ein Anliegen sein, diese Wahrheit bei sich selber nicht zuzudecken. Aber gerade das hat bereits eine politische Bedeutung, denn die Unwahrheit entlarvt sich von selbst, wenn in der Menge nur einer da ist, der die Verleugnungen nicht mitmacht; wenn, wie in Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider, der spontane Ruf des Kindes dem Erwachsenen dessen verlorene Wahrnehmungsfähigkeit zurückgibt. - Kann der Psychoanalytiker einem einzelnen Menschen dazu verhelfen, sein wahres Selbst zu leben, statt ihn in verkappter Form zu erziehen, dann hat er etwas für die Gesellschaft und für die Wissenschaft getan.

(7m Punkt 2?\  Das therapeutische Ziel einer besseren Interaktion unter Partnern oder anderen Familienangehörigen kann legitim sein, ist aber nicht vergleichbar mit der Befreiung des Individuums von frühkindlichen Schäden, die meistens auf die ganze Familie positiv zurückwirkt, vorausgesetzt, daß die frühkindliche Geschichte und das Wissen des Therapeuten über die Machtausübung des Erwachsenen über das Kind nicht verleugnet werden. Der Familientherapeut beobachtet die Interaktion von erwachsenen Menschen bzw. von Jugendlichen mit ihren Eltern. In solchen Beziehungen können die manifesten Machtverhältnisse von den ursprünglichen, frühkindlichen, verschieden, ja jenen geradezu entgegengesetzt sein. Oft sieht es so aus, als ob Eltern unter dem Terror eines Jugendlichen stünden und nicht umgekehrt. 

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Doch der Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Situation liegt in der Vergangenheit, die in der Gruppe nicht immer sichtbar wird. Nur in der intrapsychischen Welt des einzelnen Menschen spielt sie sich unentwegt weiter ab und wird immer neu in der Umgebung inszeniert. Die psychoanalytische Methode versucht, mit Hilfe des freien Assoziierens, der Übertragung und Gegenübertragung, den Sinn dieser intrapsychischen, oft qualvollen Inszenierungen zu entziffern und den Patienten damit von seinen quälenden Wiederholungszwängen zu befreien. 

^Zu Punkt V\  Wenn das Ziel der Analyse darin besteht, den Patienten zu den Gefühlen seiner frühen Kindheit zurückzuführen, werden seine gegenwärtigen Partner weniger in Gefahr sein, psychisch zu erkranken, außer sie waren es bereits früher und haben den Patienten als Symptomträger benutzt, was aber selten in dieser einseitigen Form vorliegt und für den jetzt erkrankten Familienangehörigen eine Chance sein kann. Im allgemeinen ist es so, daß der Patient am Ende seiner Analyse kein Bedürfnis mehr hat, seinen realen, gegenwärtigen Eltern Vorwürfe zu machen, weil er sein tragisches Schicksal bereits in der Vergangenheit mit den Eltern seiner frühen Kindheit, die er bisher in sich begraben hatte, erlebt hat. Das Erkranken der Familienangehörigen kann ein Zeichen dafür sein, daß der Patient zwar seine Symptome verloren hat, aber die Familie immer noch als die Bühne zur Inszenierung seiner frühen Geschichte benutzt, oder dafür, daß das Gesundwerden des früheren Patienten dem Angehörigen dessen eigene Not sichtbar machte.

Gesellschaftlich gesehen stehen wir also vor dem Phänomen, daß ein Teil der Psychoanalytiker, der Triebtheorie treu geblieben, sich gegen jede neue Erkenntnis der frühkindlichen Realität mit dem Dogma der infantilen Sexualität und des Ödipuskomplexes verschanzt, und ein anderer Teil, der den Dogmen­charakter dieser Behauptungen dank seiner psychiatrischen Erfahrungen durchschaut, sich von der Einzelbehandlung abwendet und damit auch die Dimension der einzelnen frühen Kindheit aus den Augen verliert. 

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Ähnliches geschah bei C. G. Jung, als er den Archetypus und das kollektive Unbewußte einführte, nachdem er zuerst die Rolle des Traumas bei der Entstehung der Neurosen deutlich und unmißverständlich hatte sehen dürfen. Im Jahre 1909 schrieb C. G. Jung die folgenden Sätze:

Was es (das heranwachsende Kind) am stärksten beeinflußt, ist der besondere, affektive Zustand, der seinen Eltern und Erziehern vollkommen unbewußt ist. Verheimlichter Unfrieden zwischen den Eltern, geheime Qualen, verdrängte, verborgene Wünsche, all das erzeugt im Individuum einen Affektzustand, der langsam, aber sicher wenn auch unbewußt seinen Weg ins kindliche Gemüt findet und dort den gleichen Zustand hervorruft ... Wenn schon erwachsene Menschen so empfindlich für Umgebungseinflüsse sind, dann müßten wir das sicherlich beim Kind in noch stärkerem Maße erwarten, dessen Geist noch weich und plastisch wie Wachs ist (Zit. nach G. Tuschy, 1979);

Ich kann mich der Evidenz dieser Sätze nicht entziehen. weil sie auf Erfahrungen beruhen, die ich durch meine Erfahrungen bestätigt finde. Da sie allgemein formuliert sind und das Peinliche nicht direkt benennen, sind sie auch von der Öffentlichkeit leichter zu ertragen als Freuds Verführungstheorie, die sich auf ein bestimmtes Kindheitstrauma bezieht. So hätte Jung weniger als Freund mit einer realen Ablehnung rechnen müssen, wenn er die von ihm 1909 ausgesprochene Grundwahrheit der menschlichen Existenz in seiner Psychologie konsequent weiterverfolgt hätte. 

Aber wie wenig zählt die äußere Welt beim Erwachsenen (darin unterscheidet er sich vom Kind) im Vergleich zu den Geboten des verinnerlichten Vaters, der im Falle von C. G. Jung ein Theologe und Pfarrer war. So sind schließlich die in den ersten Jahren mißbrauchten und mißhandelten Kinder im archetypischen Wald der Jungschen Begriffsbildung ebensowenig auffindbar wie in der Triebtheorie Freuds, auch wenn die Schüler auf beiden Seiten behaupten, das eine schließe das andere nicht aus.  

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Was für seltsame Blüten eine die Wahrheit verkleidende Begriffsbildung hervorbringen und wie leicht sie auch ihren hochbegabten Schöpfer verwirren kann, zeigt die auf S. 113 f. zitierte Stelle C. G. Jungs aus dem Jahre 1934, die von jenem tiefen Grund des arischen Unbewußten und der germanischen Seele spricht, der »alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments«. Dieser Satz wirft nicht nur Freuds, sondern auch Jungs eigene Einsicht aus dem Jahre 1909 über die entscheidende Bedeutung der Kindheitstraumen in den Kehrichtkübel. 

So tragisch, weil aus der Erziehungsprägung nur allzu gut begreiflich, dieses Zudecken der einst erkannten Wahrheit bei den beiden berühmten Denkern unseres Jahrhunderts war, so bezeichnend ist es doch, daß die so verschiedenen Denksysteme im Grunde das gleiche zudecken: die realen Traumatisierungen der ersten Jahre und die Notwendigkeit ihrer Verleugnung und Verdrängung, die sich in der Kindheitsamnesie ausdrückt. Der jüdische Sohn Freud büßt seine verbotene Einsicht mit der Triebtheorie, und der protestantische Sohn C. G. Jung findet seine Einheit mit den theologischen Vätern, indem er alles Böse in einem kindheitslosen Unbewußten ansiedelt. Das Gebot »Du sollst nicht merken« hat sich im späteren Alter bei beiden Denkern Gehör verschafft. Es war, als ob der verbotene Baum der Erkenntnis unberührt geblieben wäre.

Wenn man von diesem Standpunkt aus die Entwicklungen von Jung und Freud analysiert, wird man es kaum für einen Zufall halten, daß in der ganzen wissenschaftlichen Literatur nach 1897, soviel ich weiß, niemand, zumindest kein Psychoanalytiker, versucht hat, sich mit Freuds Verführungstheorie ernsthaft auseinanderzusetzen, obwohl sich Argumentationen für diese Theorie in der letzten Zeit auffallend häufen.

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Meine Hypothese, daß diese schon bei Freud dem Vierten Gebot zum Opfer fiel und daß die Wirksamkeit dieses Gebotes auch den anderen Analytikern keine Möglichkeit ließ, die neuen Entdeckungen in den Dienst der Einzelanalyse zu stellen, scheint mir dieses Phänomen zu erklären.

Ein Psychoanalytiker kann kaum annehmen, daß das. was in der frühen Kindheit geschieht, keinen Einfluß auf das spätere Leben hat. Wir können nicht wie unsere Vorfahren glauben, daß »die Strenge, die man walten lassen muß, keine Wirkungen haben wird«. So ist das Wissen über die in der Kindheit erfahrene Grausamkeit für jeden, der die Machtverhältnisse nicht mehr leugnet, ein Schock. Wer nicht in der Triebtheorie Schutz vor dieser Schockwirkung sucht, wird sich also lieber von der Einzeltherapie ab- und der Gruppentherapie zuwenden oder die Lehre vom kollektiven Unbewußten aufbauen und so wiederum der Gefahr entkommen, mit dem Vierten Gebot in Konflikt zu geraten.

Diese Überlegungen helfen mir zu verstehen, warum so viele Forscher auf dem Gebiet der Psychoanalyse vor ihren eigenen Entdeckungen zurückzuschrecken scheinen. Mit einem Beispiel von Helm Stierlin ließe sich das illustrieren. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn dient ihm 1980 als Symbol für seine therapeutische Zielsetzung. Der Sohn sei vom Tode zum Leben wiedergekehrt, als er gehorsam zum Vater zurückkam, meint Stierlin und übernimmt trotz besseren Wissens die biblische Wertung des Gehorsams. Das bedeutet aber in der Konsequenz, daß der Vater all das, was den Sohn von ihm trennte, dessen ungehorsame Jugendzeit, an der der Vater nicht teilnahm, als den Tod und erst die Rückkehr zu ihm als das Leben bezeichnet: »Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden« (vgl. H. Stierlin, 1980, S. 8). 

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Da Stierlin in der Versöhnung zwischen Kindern und Eltern seine therapeutische Aufgabe sieht, fällt es ihm nicht auf, daß er sich, zumindest in diesem Bild, mit den Interessen des Vaters identifiziert und daß der Sohn durch den Gehorsam den Weg zum Vater wiederfindet und dessen Liebe gewinnt; daß hier ein Fest der Einigkeit gefeiert wird, obwohl der Vater alles, was seinen Sohn von ihm trennte, als »den Tod« bezeichnet. Man könnte sich der Symbolik dieser Szene bedienen und sagen, daß in Stierlins therapeutischen Bemühungen um die Versöhnung die lebensnahe Bedeutung des Delegationsbegriffes und seine wissenschaftliche Tragweite der Einheit mit dem Vater geopfert werden muß.

Einem ähnlichen Phänomen begegnen wir bei Horst Eberhard Richter. Der gleiche Forscher, der 1963 in seinem brillanten Buch Eltern, Kind und Neurose mit einer bisher kaum bekannten Konsequenz die Machtausübung der Eltern und die Opfersituation des Kindes in der Familie darstellte, beschreibt 1979 im Gotteskomplex. die Flucht des Kindes aus »phantasierter, tödlicher Ohnmacht in eine narzißtische Allmacht«. Wie ist es dazu gekommen, daß einer der gründlichsten Kenner der kindlichen Situation in der Familie von der phantasierten und nicht mehr von der realen Ohnmacht des Kindes spricht? 

Wie kann man sich außerdem erklären, daß jemand wie H. E. Richter, der so klar, einfühlsam und engagiert den prägenden Einfluß der sozialen Umwelt auf den erwachsenen Menschen sieht und beschreibt, dies nun tun kann, ohne sich um die allerersten Prägungen zu kümmern? Diese Tatsache wäre an sich nicht rätselhaft, denn sehr viele Wissenschaftler wissen noch nicht, wie stark und nachhaltig der Einzelne durch seine Kindheit geprägt wird. Aber Richter wußte es bereits 1963 in einem besonders hohen Maße. Was ist mit diesem Wissen geschehen? 

Zweifellos ist es für jeden eine große Erleichterung, wenn er im Einzel- oder Gruppentherapeuten (wie z.B. in Paul Parin oder H. E. Richter) einen begleitenden Menschen findet, der ihm seine Leiden und Symptome nicht lediglich auf Triebkonflikte zurückführt, sondern die schweren Belastungen unserer heutigen gesellschaftlichen Realität als Traumen ernstnimmt, weil er selber unter ihnen leidet. 

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Wenn sich aber im Hilfesuchenden einst eine Depression (infolge der Verleugnung der kindlichen Traumen) hat entwickeln müssen, wird diese den gesellschafts­kritischen Deutungen kaum auf Dauer weichen. Obwohl es wohltuend (und notwendig) ist zu wissen, daß man mit seinen Gefühlen der Empörung, Wut, Ohnmacht, Angst und Besorgnis — über die atomare Rüstung, über die Ausbeutung und Technisierung der Menschheit — nicht alleinsteht, daß man sogar vom gemeinsamen (bewußten!) Empfinden in der Gruppe mitgetragen wird, kann diese Form der Begleitung die frühen, unbewußten Wurzeln der Depression nicht erreichen (vgl. A. Miller, 1979). Die Depression ist nicht das Leiden an der Gegenwart. Daher kann es Menschen geben, die an der heutigen Weltlage leiden und sich für eine Veränderung mit allen Kräften einsetzen, ohne depressiv oder grandios zu sein. 

Ich habe mich oben nur mit drei Argumenten der Familientherapeuten befaßt, ohne auf ihre Praxis einzugehen. Die folgende Fallskizze mag als Beispiel dafür dienen, wie stark die Wertungen der Schwarzen Pädagogik den Familientherapeuten zu Richterfunktionen in der Praxis verführen können.

Ein begabter, nun 30jähriger Mann, einziger Sohn eines reichen, autoritären Großbauern, ist von klein auf gegen seine Neigung zur Nachfolge des Vaters und zur Weiterführung der bäuerlichen Familientradition bestimmt (vgl. hierzu Stierlins Begriff der »Delegation«). Sein Vater hintertreibt eine Sekundarschulbildung, die ihn auf »Abwege« führen könnte; von da an (ab ca. 11 Jahren) wird der Knabe eigenbrötlerisch und »merkwürdig«. - Ausbruch einer schweren, kataton-mutistischen Psychose mit 18 Jahren, am Tag, nachdem er den Eltern zuliebe das Examen für die landwirtschaftliche Schule bestanden hatte. Unmittelbare Chronifizierung, mehrjähriger Klinikaufenthalt, bis der Vater den Hof schließlich verkaufen und als reisender Vertreter arbeiten muß! Seither allmähliche Besserung; fast unheimlich sensible Krankheitseinsicht, versteht z.B. im Einzelgespräch sofort, daß er schließlich »der Stärkere war« und den Vater in die Knie zwang; dieser seinerseits predigt nun in einer Elterngruppe jedermann, man müsse die Kinder frei gewähren lassen . . .JI>ie gegenseitige schwere Schuldverstrickung erschien uns bisher als zu massiv und explosiv, um eine aufdeckende Therapie zu wagen (L. Ciompi, 1981, S. 80).

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Der Patient »versteht sofort«, daß er den Vater auf die Knie gezwungen habe, und dieses vom Therapeuten verstärkte Schuldgefühl wird als Krankheits­einsicht bezeichnet. Abgesehen davon, daß der Vertreterberuf nicht »auf den Knien« ausgeübt wird, gibt es doch in der Schweiz nicht wenige Bauern, die ihr Land als Bauland verkaufen und den Beruf wechseln. Die sich daraus ergebenden Schuldgefühle den eigenen Eltern gegenüber lassen sich besser meistern, wenn man den Verkauf des Erbgutes damit begründet, daß die eigenen Kinder die Landwirtschaft nicht mehr betreiben möchten. 

Dies kann u.U. auch der wahre Grund sein, muß aber nicht zur Beschuldigung des Kindes führen. Womit hat sich der Sohn in diesem Fall schuldig gemacht? In den Augen seines Therapeuten offenbar mit der Tatsache, daß er viele Jahre lang an einer schweren kataton-mutistischen Psychose litt. Genügt diese Katastrophe nicht, um dem Therapeuten zu sagen, in welcher Panik der einzige Sohn des autoritären Vaters gewesen wäre, wenn er sich dessen Willen, aus dem Sohn einen Bauern zu machen, offen widersetzt hätte? 

Diese Angst und die reale Bedrohung mit dem Patienten zusammen aufzudecken, erscheint dem Therapeuten als ein zu großes Wagnis, er spricht lieber von »gegenseitigen schweren Schuldverstrickungen« und wird vermutlich an die gegenseitige Verzeihungsbereitschaft appellieren oder andere Strategien anwenden. Kein Wunder, daß sich dieser Therapeut darum bemüht, aus der Psychoanalyse eine Systemtheorie zu machen und die letzten Reste des Lebens aus ihr zu vertreiben (vgl. Luc Ciompi, 1981). Es ist ihm offenbar aus irgendwelchen Gründen verwehrt, das Lebendige in der Psychoanalyse (ohne Systemtheörie!) zu schätzen.

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Ich bin nach der Publikation des Dramas in einem Brief eines deutschen Analytikers gefragt worden, ob meine »Parteinahme für das Opfer mit der Psycho­analyse überhaupt zu vereinbaren sei«. Für mich ist diese Parteinahme von der Psychoanalyse überhaupt nicht wegzudenken, obwohl ich weiß, daß sie in allen totalitären Regimen verboten sein muß. So schien mir damals diese Frage bezeichnend für die zweite Generation in einem Land nach zwölfjähriger Diktatur. Seitdem ich mich aber mehr mit der Haltung der Psychotherapeuten und Analytiker befasse, sehe ich, daß Deutschland hier keine Ausnahme bildet und daß die Ausarbeitung neuer Strategien für die »Systembeeinflussung« mit pädagogischem Hintergrund in der ganzen Welt große Mode ist. Alle neuen kreativen Versuche, ob es die Transaktionsanalyse oder die Gestalttherapie ist, kommen nicht davon los, in der Herbeiführung einer Versöhnung mit den Eltern die eigentliche Krönung ihrer therapeutischen Bemühungen zu sehen. Diese Bemühungen aber heben den erreichten Fortschritt häufig wieder auf, nicht nur im theoretischen Bereich, sondern auch in der therapeutischen Praxis. 

 

Sollte es einem Patienten möglich geworden sein, durch die verschiedenen Techniken, z.B. des leeren Stuhls in der Gestalttherapie oder der Gruppen­situation in der Transaktionsanalyse oder auch einer familientherapeutischen Sitzung, an die wahren Gefühle seiner Kindheit heranzukommen, dann wird er schnell dazu aufgefordert, einzusehen, daß seine Ängste heute nicht mehr begründet seien, sein Trotz nicht mehr nötig sei, seine Anerkennungs­bedürfnisse ja durch die Gruppe längst befriedigt würden — allerdings ohne daß er es merke. Es wird ihm auch gezeigt, daß er seine Eltern nicht nur hasse, sondern auch liebe und daß diese ja auch nur aus Liebe Fehler gemacht hätten. Das alles weiß der erwachsene Mensch schon längst, hört es aber gerne noch einmal, weil ihm das noch einmal hilft, das Kind, das in ihm gerade zu weinen angefangen hat, zu verleugnen, zu beschwichtigen und zu beherrschen.

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So wird der Therapeut oder die Gruppe oder er selber dem Kind die »dummen«, weil in der heutigen Situation nicht mehr adäquaten (und doch so intensiven) Gefühle ausreden, und das, was die Behandlung hätte bewirken können, nämlich das Erwachen und Reifen dieses wahren Selbst des Kindes, wird durch eine Behandlung, die dem zornigen Kind die Begleitung verweigert, wieder zunichte gemacht.

Wenn ich Protokolle solcher Sitzungen lese oder Videoaufzeichnungen sehe, kommt es mir vor, als ob hier unter allen Umständen etwas (nicht jemand) gerettet werden müßte, nämlich der gute Name einer Respektsperson. Denn niemand müßte vor dem Tod gerettet werden, niemand müßte ja sterben, wenn ein Patient in der Gruppe haßerfüllt seinen imaginären Eltern im Stuhl Vorwürfe machen würde, ohne die »positiven Seiten« suchen zu müssen. Vielleicht sind die unbewußten Aggressionen des Therapeuten gegen seine Eltern zuweilen so stark, daß er sie tatsächlich mit Hilfe der Gruppe beschwichtigen muß. Doch auch diese stärksten Aggressionen des Therapeuten sind nur Gefühle, und seine Eltern, die im Stuhl gesehen werden, sitzen ja nicht real auf diesem Platz. Würde man also die Rettungsaktionen unterlassen, so würde niemand real geschädigt — nur das idealisierte Bild, nur die im Stuhl phantasierten Eltern wären gekränkt, beleidigt, böse und vielleicht bedrohlich. Aber was will man denn in Therapien erreichen, wenn man auch dieses Risiko meint vermeiden zu müssen?  

Die Bemühungen der Psychotherapeuten um Versöhnung mit den Eltern und die aktive Vermittlung von korrektiven Erfahrungen, um die Eltern zu schonen und das Trauma zuzudecken, sehe ich nicht in der Primärtherapie Arthur Janovs, die die befreiende Bedeutung der Trauer wie wohl keine andere Therapieform erkannt hat. Doch mein Eindruck beschränkt sich auf die Lektüre seiner Bücher, da ich keine praktische Erfahrung der Primärtherapie habe und bisher auch keine Videoaufnahmen sehen konnte.

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Was die Schreitherapie von Daniel Casriel betrifft, fiel es mir anhand von Videoaufnahmen auf, wie sehr die wahrheitserschließende Kraft des von der Gruppe ermöglichten Schmerzerlebnisses durch die Illusion aufgehoben wird, nun doch in der Gruppe oder im Gruppenleiter die gute Mutter gefunden zu haben. Damit muß eine neue Verleugnung der Realität einsetzen (denn man kann als Erwachsener nicht mehr die Mutter der frühen Kindheit finden), und die bereits vorhandenen Voraussetzungen der Heilung, nämlich u.a. die vergangenheitsbewältigende Funktion der erlebten Schmerzen (die Trauer), bleiben wirkungslos, wenn sie der Illusion zum Opfer fallen. 

Die positive Seite der Schreitherapien von Janov, Casriel und anderen kann sicher nutzbar gemacht werden, wenn sich einmal die Erfahrung durchsetzt, daß zum Erlebnis der frühen Traumen eine einfühlende Begleitung (und die unbedingt!), aber keine »wiedergutmachende« Illusionen notwendig seien.

Wenn ich wiederholt betone, daß die Versöhnung mit den noch lebenden Eltern des erwachsenen Patienten, wie sie Stierlin und andere Familientherapeuten fordern, nicht zu meinen therapeutischen Zielen gehört, so will das natürlich nicht heißen, daß das Vertrautwerden mit den verinnerlichten Eltern der frühen Kindheit (mit den Introjekten*) dem Patienten nicht ein großes Stück Freiheit gäbe. 

Doch diese innerpsychische Aussöhnung hat mit der Rückkehr des verlorenen Sohnes kaum etwas gemeinsam und braucht daher nicht erzieherisch gefordert zu werden. Sie ist vielmehr das Resultat der mit intensiven Gefühlen von Zorn, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Hilflosigkeit und schließlich Trauer erlebten früheren Traumen, aus denen die einstigen Eltern immer deutlicher hervortreten: nicht so stark wie sie damals erschienen, aber auch nicht so machtlos, wie sie jetzt im Alter sind - nicht so klug, wie sie, sich gaben, aber auch nicht so dumm, wie man sie im Affekt erlebte; nicht so böse, wie manche ihrer Taten, aber auch nicht so gut, wie man glauben wollte; nicht so wahrhaftig, wie man anzunehmen verpflichtet war usw. 

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Sich mit diesen Eltern auszusöhnen, heißt nicht, sie kniend um Verzeihung zu bitten, wie es der verlorene Sohn tut, es heißt nichts anderes, als zu erfahren, welche Eltern man hatte (nicht die der Geschwister, sondern die eigenen) und diese Tatsache hinzunehmen. 

Dieses Hinnehmen ist ein Bestandteil der Trauer und daher mit der emotionalen Erkenntnis der frühen Realität verknüpft. Der Prozeß des Fühlens, der zum Erkennen und Akzeptieren der Vergangenheit führt, hat eine aufdeckende Funktion, steht außerhalb moralischer Ansprüche und läßt sich nicht durch erzieherischen Zuspruch erreichen. Wo dieser am Werk ist, kann höchstens das Gegenteil eines solchen Prozesses eintreten, nämlich das Zudecken der frühen Realität, die sich nur in immer neuen Inszenierungen ausdrücken kann und muß. Sich mit den Introjekten auszusöhnen, bedeutet daher einen Schutz vor dem Wiederholungszwang, zumindest im Bereich der Traumen, die man nun bewußt erlebt hat. Es bedeutet nichts anderes als ein Vertrautwerden mit den in seinem Inneren lebenden Personen, die man nicht mehr blind agieren läßt und denen man nicht mehr so ausgeliefert ist, weil man sie jetzt gut kennt und schließlich ungefähr weiß, was von ihnen zu erwarten ist und was nicht. Ich habe an verschiedenen Orten mit Hilfe von Beispielen geschildert, was ich unter der Auseinandersetzung mit den Introjekten verstehe (vgl. z. B. A. Miller, 1979, S. i-jz£.). Den Rettungsaktionen für den »guten Namen« der Respektpersonen in Gruppentherapien entspricht in der Psychoanalyse die Triebdeutung. Sogar Rene Spitz, der Entdecker des Hospitalismus und bahnbrechender Beobachter von traumatischen Umweltfaktoren des Säuglings, versucht seine Sprache der alten Triebtheorie anzupassen. Auch Heinz Kohut gebrauchte zunächst Begriffe aus der Triebtheorie, die sich neben seinen differenzierten und einfühlsamen Falldarstellungen wie Fremdkörper ausnehmen.

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 Viele originelle und schöpferische Denker wie z. B. Michael Bahnt und Masud Khan versuchten trotz besseren Wissens die Verbindungen von ihren Entdeckungen zu der Triebtheorie Freuds aufrechtzuerhalten. Sogar Donald W. Winnicott bemühte sich immer wieder, der kleinianischen Terminologie treu zu bleiben. Gerade bei diesem Denker fällt diese Inkonsequenz besonders auf, weil er ein Analytiker war, dem die Psychoanalyse wie kaum einem anderen die tiefsten und kreativsten Impulse verdankt. Im Grunde lieferte uns Winnicott einen Beweis,, daß die Existenz der Psychoanalyse nicht von der Einhaltung der Dogmen abhängig ist. Die von ihm publizierten Erfahrungen sind eine unerschöpfliche, aber oft noch unentdeckte Fundgrube für jeden Analytiker. Sie sind es, weil Winnicott sich in seiner praktischen Arbeit von der Blockierung durch Dogmen befreien konnte. Doch in der schriftlichen Darstellung dieser Erfahrungen versucht er manchmal den kleinianischen Begriffen gerecht zu werden, und es mag an diesem Widerspruch liegen, daß viele Analytiker, wie sie sagen, Mühe haben, Winnicott zu verstehen. 

Die Lektüre von Winnicotts Piggle vermittelte mir besonders deutlich die Diskrepanz zwischen der Freiheit seiner Zuwendung und der gelegentlichen Einengung durch die kleinianische Konzeptualisierung (vgl. D. W. Winnicott, 1980).*

 

* Es hat dem Kind zweifellos geholfen, daß es sich zur Zeit seiner großen Krise bei einem zuhörenden, aufmerksamen, redlichen und kreativen Menschen im Spiel und im Gespräch artikulieren konnte. Aber es muß dahingestellt bleiben, was sich hätte ergeben können, wenn sich der Therapeut, im Gegensatz zum kleinianischen Grundsatz, hätte fragen dürfen, was die Mutter von Piggle mit Hilfe der Neurose des Kindes Winnicott vermitteln wollte, zumindest nachdem diese selber geschrieben hat, daß sie im Alter von Piggle einen Bruder bekam, den sie ablehnte. Außerdem wußte Winnicott, daß die Mutter aus Deutschland kam, wahrscheinlich dort ihre Kindheit während des Krieges erlebte, und wenn er ganz frei wäre, seine Phantasien zuzulassen, käme er vielleicht auch auf die Frage, ob die »schwarze Mami«, die nicht nur Piggle, sondern vor allem die Mutter so beunruhigte, nicht mit deren Kinderschicksal etwas zu tun hatte.

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Ohne diesen Zwang, sich den Kategorien der Triebtheorie anzupassen, scheint Margret S. Mahler zu sein. Sie schildert einfach ihre Erfahrungen, die zwar — wie die von Rene Spitz — auf mannigfaltige Traumatisierungen hinweisen; da sie aber versucht, das Material von allgemeinen Gegebenheiten (wie z.B. Trennungs- und Annäherungsphase) abzuleiten, gelingt es ihr, den Konflikt mit dem Vierten Gebot zu umgehen. Dieser Konflikt indessen ist kaum zu vermeiden, wenn man der Bedeutung der verdrängten Traumen in der konkreten Geschichte eines Menschen seine Aufmerksamkeit schenkt. Zweifellos besteht heute schon eine neue Sicht (zumindest gegenüber dem »vierjährigen Ödipus« von Sigmund Freud oder dem »grausamen Säugling« von Melanie Klein), weil die Umweltfaktoren bei der Frage nach der Pathogenese der Neurose mehr ins Blickfeld rücken. 

Dies geschieht deutlich bei Kohut, Mahler, Masterson, Winnicott, Khan, Bowlby u. a. Doch die theoretischen (nicht die kasuistischen') Darstellungen dieser Autoren versuchen so etwas wie objektive, universelle Faktoren hinter der Entwicklung des Kindes ausfindig zu machen, die eine Rolle in der Pathogenese spielen könnten. So werden z. B. genannt: der Mangel an Nähe und Empathie (Kohut), die Schwierigkeiten in der Trennung- und Annäherungsphase (Mahler), das Verschlingen, bzw. der Entzug der Zuwendung bei Autonomieversuchen (Masterson), die Ermangelung einer haltenden Mutter (Winnicott) oder des mütterlichen Reizschutzes (Khan), die Abwesenheit des Vaters, usw. 

Selbstverständlich haben alle diese Faktoren eine traumatisierende Bedeutung, müßten aber vielleicht nicht unbedingt zur Neurose führen, wenn sie als schmerzhafte Traumen erlebt werden könnten. Doch gerade das ist bei Eltern, die man fürchtet oder schonen muß, unmöglich, und das Trauma wird daher der Verdrängung, dem Erzeuger der Neurose, anheimfallen. Aus diesem Grund scheint es mir wichtig, daß die Psychoanalyse (oder die Psychotherapie) nicht auch unter der Notwendigkeit dieser Schonung steht. Nur dann kann sie dem Patienten helfen, seine traumatischen Erfahrungen zu erleben, wodurch die neurosebildende Rolle der Verdrängung aufgehoben wird.

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Eine theoretische Verarbeitung dieser Tatsache steht noch aus, obwohl sich Ansätze dazu bemerkbar machen. Einen solchen Ansatz sehe ich in den letzten Arbeiten von John Bowlby, der sich trotz der psychoanalytischen Ausbildung seinen Blick für die frühkindliche Realität bewahrt hat. Auch Jan Bastiaans versucht, seine durch LSD-Behandlungen gewonnenen Erfahrungen mit Erlebnissen von frühen Traumen für die psychoanalytische Theorie und Praxis fruchtbar zu machen. Mit diesen Andeutungen muß ich mich hier begnügen, denn ich wollte mich oben nicht mit den einzelnen Forschern beschäftigen, die ich nur als Beispiele heranziehe, sondern versuche vielmehr, den allgemeinen Faktoren nachzugehen, die es verständlich machen, weshalb einzelne Forscher später im Laufe ihres Lebens vor ihren eigenen Entdeckungen zurückschrecken und auf frühere, von ihnen selber bereits überholte, Denkweisen zurückgreifen.

Psychiater, die jugendliche Schizophrene behandeln, sind oft Zeugen von unvorstellbaren Qualen und Opfern, denen Kinder ausgesetzt sind. Wenn sie diese Wahrheit trotzdem regelmäßig skotomisieren oder das Wissen verdrängen und so gerne von der »vererbten«, »angeborenen« Psychose sprechen, dann muß das wichtige Ursachen haben. Wer die Schriften der Schwarzen Pädagogik aufmerksam gelesen hat und sie auf sich wirken ließ, wird die Ursachen unschwer begreifen (vgl. A. Miller, 1980). Das Recht der Eltern, ihr Kind zum Opfer zu machen, und die Angst des Kindes, die Eltern zu vernichten, also auch zu verlieren, wenn es sein eigenes Opfersein durchschauen würde, läßt es bei so vielen begabten Wissenschaftlern nicht zu, daß sie ihre Entdeckungen voll und ganz ernstnehmen. Die Schonung der Eltern ist das oberste Gesetz, dem Abrahams immer wieder ihre Isaaks zum Opfer bringen müssen, außer wenn Gott, gerührt durch den Gehorsam seiner Söhne, sich deren erbarmen sollte. 

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Werden aber die Isaaks der Zukunft einmal wissen und verstehen wollen, warum sie ruhig, mit gebundenen Händen, auf das Messer ihres Vaters warten sollten, dann könnte es soweit kommen, daß auch die Psychoanalyse bereit sein wird, das ubiquitäre gesellschaftliche Phänomen, die Opferung der Kinder, in ihre Theorie einzubauen, was nicht nur weittragende Konsequenzen für ihre Praxis hätte, sondern mit der Zeit auch möglicherweise einen Rückgang der Opferungen mit sich brächte, weil sie deren jahrtausendealte Rechtfertigung mit Hilfe ihres Materials voll und ganz in Frage stellen dürfte. Und trotzdem, trotz der auffallenden gesellschaftlichen Verdrängung, trotz der Schonungsbedürftigkeit unserer Eltern — die Opferung der Kinder ist eigentlich kein Geheimnis. Sie wird in der Bibel nirgends verheimlicht und von der Vernichtung der schwachen Säuglinge in Sparta lernen wir ja bereits in der Schule; niemand hat sie je bestritten. Auch heute noch ist es in bestimmten Kreisen eine Selbstverständlichkeit, daß ein ungewolltes Kind nicht abgetrieben, sondern statt dessen einer von niemandem gewünschten Existenz (die oft bis zu fünfzehn Pflegestellen beinhaltet), als Opfer ausgesetzt werden soll. Ebenfalls gut bekannt sind die Fälle grausamer Machtausübung der Eltern über ihre bereits erwachsenen Kinder, in denen diese gezwungen werden, verhaßte Berufe auszuüben oder gegen ihre Gefühle und Neigungen zu heiraten. In unzähligen Romanen wurden diese Tragödien gesehen und offen beschrieben.

Das alles ist also nicht geheim und nicht neu. Neu ist vielleicht nur die Erkenntnis, daß dies nicht ohne Folgen für das einzelne Individuum und daher auch für die ganze Gesellschaft sein kann. So evident einigen Menschen dieser Satz erscheint, so unmöglich erscheint er den anderen, bei denen er heftige Abwehr auslöst. 

Aber müßten nicht alle praktischen Bemühungen der Psychoanalytiker als Heuchelei angesehen werden, wenn sie von der Voraussetzung ausgehen sollten, daß die gesellschaftlich legiti-

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mierte Opferung des Kindes, u.a. dessen legaler gesetzlicher Gebrauch als Eigentum für die Bedürfnisse der Eltern, die man Erziehung nennt, keine Folgen für die späteren »Patienten« und für die Gesellschaft haben? Dies scheint heute noch möglich, weil die Triebtheorie die Analytiker gegen alle Realitäten, seien sie noch so entsetzlich, schützen kann. Aber wie lange wird sie das noch tun können?

Damit die Psychoanalyse nicht den Kontakt mit der Realität der Gegenwart verliert, sich nicht in ihrer verklausulierten, nur für einige Bereitwillige verständlichen, computerreifen Sprache vom Menschen entfremdet, müßte sie zumindest die wissenschaftlichen Ergebnisse der Kindheitsforschung in ihre Theorie integrieren. Sie müßte den Tatsachen Rechnung tragen können, die zur Zeit Freuds weniger oder noch gar nicht bekannt waren und die, zum Teil gerade dank seiner Methode, in den letzten zwanzig Jahren zum Vorschein gekommen sind, nämlich: die Selbsterfahrungen der Eltern, die Projektionen der Erwachsenen auf das Kind, den Gebrauch des Kindes als Ventil und Opfer, das Spiel der Macht, die Mißhandlung und den sexuellen Mißbrauch des Kindes, die Ideologie der Schwarzen Pädagogik. Solange diese Faktoren als »unanalytisches Material« von der Theorie beiseitegelassen werden, schwebt diese Theorie in der Luft, und sie wird kaum in der Lage sein, Menschen von heute und deren Schicksale zu verstehen helfen. 

Was die Praxis betrifft, so ließe es sich nachweisen, daß auch innerhalb des klassischen analytischen Settings die folgenden Punkte realisierbar sind;

  1. Einbeziehung des Wissens über die Kindheit, wie sie oben, S. 249 f., in den Punkten 1.-6. angedeutet wurde, beim Zuhören in der analytischen Stunde. 

  2. Die Sensibilisierung für die gesellschaftlich sanktionierte Rolle des Kindes als Ventil für aufgestaute Gefühle des Erwachsenen. 

  3. Die Sensibilisierung für die Spuren der Schwarzen Pädagogik im eigenen Selbst und die daraus folgende größere Achtung dem Patienten gegenüber. 

  4. Die Aufgabe pädagogischer Ziele zugunsten der Kreativität.

Wie schon mehrmals betont, hängt die Fähigkeit, fremdes Leiden zu erfassen und zu verstehen, vor allem von dem Grad ab, in dem das Leiden der eigenen Kindheit erlebt wurde. Dies scheint mir also der erste Schritt zur Sensibilisierung für das Kindheitsgeschehen zu sein. Wer diese emotionale Basis erreicht hat, weiß, daß es hier nicht um eine »Gefühlsschwärmerei« geht, sondern daß die Möglichkeit zu fühlen unser Sensorium, d.h. unsere Instrumente schärft, um die Situation des Anderen zu sehen. Wenn ich also von Sensibilisierung für frühkindliche, narzißtische Bedürfnisse und Kränkungen spreche und schreibe, will ich damit keineswegs an Gefühle von Mitleid appellieren, sondern versuche, Einsicht in die Zusammenhänge zu wecken, die das Nichtfühlendürfen vor uns verborgen hält (vgl. A. Miller, 1979 und 1980). 

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