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Teil 4

 Aber die Wahrheit erzählt sich doch....

 

1.  Einleitung  

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Es mag noch viele Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte dauern, bis die Menschheit das in ihrem Unbewußten gespeicherte Wissen nicht mehr als Schäume, als kranke Phantasien verrückter oder einzelner Dichter sehen wird, sondern als das, was sie sind, nämlich Wahrnehmungen der Realität aus der Zeit der frühen Kindheit, die ins Unbewußte verdrängt werden mußten und dort die nie versiegbare Quelle sowohl des künstlerischen Schaffens, der Phantasietätigkeit überhaupt, der Märchen und Träume bilden.

Sobald sich dieses Wissen als pure Phantasie legitimiert, kann es überall freien Einzug halten. Es kann als Kunst bewundert, in den Märchen als »Weisheit der Ahnen« weitergegeben und in Träumen als Ausdruck des ewig gleichbleibenden, archetypischen kollektiven Unbewußten gedeutet werden. Wir sind stolz auf dieses unser Kulturgut, auf die Weisheit, auf »das Wissen vom Guten und Bösen« das wir besitzen, ohne daß uns dieses Wissen stark berühren müßte, außer wenn wir selber Dichter oder Verrückte sind. 

Wir können unseren Kindern Märchen vorlesen, weil doch das Kind »auch etwas über die Grausamkeit der Welt erfahren sollte«, wir können mit großer Unverbindlichkeit und intellektueller Kenntnis über die Gemein­heit der sogenannten Gesellschaft schreiben, aber realisieren emotional die Grausamkeit erst, wenn der Stein der rebellierenden Jugend in unsere eigenen Fenster schlägt. 

Dann kann es vorkommen, daß Menschen, die sich hauptberuflich mit der Gesellschaft befassen, die z.B. als Historiker seit Jahren über die Christen­verfolgung im alten Rom, über die Kreuzzüge, die Inquisition, die Hexenverbrennungen, die unzähligen Kriege unterrichten, sagen können, daß die Gewalt in unserer Zeit Folge der antiautoritären Erziehung sei. Für diese Menschen gibt es Gewalt erst, wenn sie sich gegen sie richtet, weil für sie alles, was sie in der Schule und an der Universität gelernt haben, eine nur abstrakte und keine lebendige Bedeutung hat.

Das Gegenteil gilt für die Dichter: Sie leiden unter der Grausamkeit, die nicht nur sie persönlich erleiden müssen, und sie leiden doppelt, weil sie meistens damit allein sind, weil man ihnen nicht glaubt, man ihnen ihr Wissen auszureden versucht, um es ja nicht selber wahrnehmen zu müssen. Sie werden, wenn unbekannt, als Spinner verachtet, oder, wenn berühmt, als große Propheten bewundert und gefeiert, immer aber unter der Voraussetzung, daß die Quelle ihres Wissens für die Gesellschaft verborgen bleibt.

Diese Bedingung war nicht schwer zu erfüllen, weil den Dichtern selber die Quelle ihres Wissens verborgen blieb, tief in ihr Unbewußtes verdrängt, und weil sie selber überzeugt waren, die Inhalte ihrer Werke der Eingebung eines Geistes, einer Gottheit oder ihrem Talent zu verdanken. Kommt aber ein Dichter auf die Idee, über seine Kindheit zu schreiben, wie das im letzten Jahrzehnt immer häufiger geschieht, dann wird er schnell mit der Feindseligkeit der Gesellschaft konfrontiert, die in der Entidealisierung und im Grunde auch Vermenschlichung der Eltern eine Gefahr für ihre jahrtausendealten Gewohnheiten und Rechte sieht.

Es wird im allgemeinen kaum bestritten, daß sich in Märchen tiefe Lebenserfahrungen ausdrücken, daß Märchen also in bildhafter, gleichnishafter Form Wahrheiten mitteilen. Andererseits haftet dem Wort Märchen auch die Bedeutung von »Lüge« an, z.B. in der Wendung: »Erzähle keine Märchen«.

Eine ähnlich widersprüchliche Bewertung läßt sich in bezug auf Träume beobachten. Wer mit dem Unbewußten arbeitet, weiß, welch unerhörte Quelle von Erkenntnis über das einzelne Leben Träume abgeben können. zugleich aber trösten wir uns manchmal mit Sätzen wie: »Es ist ja nur ein Traum« oder gar »Träume sind Schäume«. Diese Ambivalenz spiegelt unsere Einstellung zur Wahrheit überhaupt: wir wollen sie kennen und wollen es zugleich nicht, weil sie wehtut, Angst machen kann, uns überfordert, uns die geliebten Illusionen und die Geborgenheit der Täuschung nimmt.

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2.  Märchen 

 

Das Kind fragt: »Woher kommt das Baby?«, und bekommt prompt die Antwort: »Aus dem Bauch der Mutter«. Wenn es aber weiter wissen will, wie das Baby in den Bauch der Mutter gekommen ist, bekommt es keine so prompte und eindeutige Antwort. Ich befinde mich in einer ähnlichen Situation wie dieses Kind, wenn ich mich nicht mit der allgemein anerkannten Tatsache, daß nämlich Träume und Märchen Wahrheiten ausdrücken, begnüge, sondern noch weiter wissen möchte, auf welchem Wege diese Wahrheiten dahingekommen sind. Da bieten sich mir verschiedene Antworten an.

Wie man dem fragenden Kind sagen kann: »Der Storch hat das Baby gebracht«; oder: »Mami und Papi liebten sich fest, und daraus wurde ein Baby«; oder: »Das Ei wurde vom Samen befruchtet« (oder noch eine ganze Menge anderer kluger Sätze), so antwortet man mir auf meine Fragen: »Im Volksmund wurden Märchen und Weisheiten weitergegeben«; oder (etwas nostalgisch): »Früher hatte man noch Zeit zum Erzählen«; oder (wissenschaftlich): »Im kollektiven Unbewußten ist der archaische Schatz der Weisheit aufbewahrt«.

Diese und ähnliche Auskünfte weckten in mir das Bild von weisen Ahnen, die irgendwo am Anfang der Mensch­heits­geschichte gelebt hatten. Weder der Ort noch die Zeit ihrer Existenz konnte mir jemand genau angeben, aber es war sicher, daß diese Ahnen viel Lebenserfahrung besessen hatten, die sie den folgenden Generationen übermittelten. Leider hat sich diese kostbare Wahrheit in den nächsten Generationen immer mehr vermindert. Ich konnte mir schwer erklären, warum. Warum waren unsere Ahnen weiser und gütiger als wir hier und jetzt? Schon die Sintflut hielt Gott für nötig, weil die Menschen so viel gesündigt hatten und offenbar außer Noah kein Mensch durch Vernunft und gute Taten Gott aufgefallen war.

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Diese Tatsache würde zumindest der Annahme widersprechen, daß am Ursprung unserer Geschichte mehr Weisheit vorhanden war als jetzt. Ich habe auch schon darauf hingewiesen, daß der berühmte weise König Salomo Sätze geschrieben hat, die dank der Erkenntnisse ausgerechnet unseres Jahrhunderts als eindeutig falsch widerlegt werden können. Unsere Menschheitsgeschichte beginnt mit der Verführung zum Wissen­wollen, mit der Bestrafung der Neugier, mit der Bevorzugung Abels, mit der Eifersucht Kains und einer Reihe blutiger Taten. Ich habe schon als Kind vergeblich nach den Weisen gesucht, die am Ursprung unserer Geschichte stehen sollen.

Und doch mag in diesem Hinweis auf die Vergangenheit ein Stück Wahrheit enthalten sein. Ich meine, daß es die Vergangenheit jedes einzelnen Menschen ist, nämlich seine frühe Kindheit, in der das Wissen von der Welt, wie sie tatsächlich ist, aufgenommen wird. Das Kind erfährt in seiner frühen Kindheit das Böse in unverschleierter Form und speichert diese Erkenntnis in seinem Unbewußten. Diese frühkindlichen Erlebnisse bilden die Quelle der Phantasietätigkeit des Erwachsenen, bei dem sie aber einer Zensur unterworfen sind. Sie schlagen sich nieder in Märchen, Sagen und Mythen, in denen die ganze Wahrheit über die menschliche Grausamkeit, wie nur ein Kind sie erfährt, ihren Ausdruck findet. 

In der griechischen Mythologie und in ihrem Menschenbild fanden diese Erfahrungen noch einen beinahe unzensurierten Niederschlag. Im christlichen Bewußtsein mußte durch das Gebot der Liebe einiges mehr der Verdrängung oder anderen Abwehr­mechanismen anheimfallen. Da das Wort »Märchen« seiner Bedeutung nach auf eine irreale Wirklichkeit hinweist, kann die Zensur hier schwächer sein, besonders wenn am Schluß das Gute über das Böse siegt, die Gerechtigkeit waltet, der Sündige bestraft und der Gute belohnt wird, das heißt, wenn die Verleugnung den Einblick in die Wahrheit ungeschehen macht. Denn die Welt ist nicht gerecht, das Gute wird selten belohnt und das Grausamste selten bestraft. 

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Aber das alles erzählen wir unseren Kindern, die natürlich ebenso wie wir glauben möchten, daß die Welt so ist, wie wir sie ihnen darstellen.

Märchenthemen sind wie Freiwild — es bedarf keiner Jagdbewilligung, um sie stillzulegen —, man kann sie nach Belieben gebrauchen, sie kürzen, erweitern, verfremden, wenn man selber ein Künstler ist; man kann sie auch psychologisch interpretieren und sie im Namen verschiedener Theorien vergewaltigen. Dabei muß man nicht fürchten, jemanden zu kränken, denn der erste Autor ist unbekannt, der Stoff schon unzählige Male umgestaltet, die Wahrheit oft ins Gegenteil verkehrt worden, manchmal aber doch auch erhalten geblieben, weil hinter der Maske der Harmlosigkeit so verborgen, daß niemand daran Anstoß genommen hat.

Von diesem Recht möchte ich Gebrauch machen, wenn ich meine Assoziationen zu »Rumpelstilzchen« bringe, ohne Anspruch auf Gültigkeit, vielmehr als Gedankenspiel; man könnte auch sagen, es sei der freie Gebrauch einer Geschichte zur Illustration meiner Gedanken.

Der Anfang schildert die Beziehung des Königs zu seinem Untertanen, dem Müller. Dieser bewundert seinen Herrscher, hat aber gar keine Chance, von ihm auch bewundert oder zumindest geachtet und ernstgenommen zu werden, außer wenn er ihm mit einer außergewöhnlichen Leistung dienen kann. So kommt er auf die Idee zu sagen, seine Tochter hätte die Fähigkeit, aus Stroh Gold zu spinnen. Der König befiehlt, die Tochter aufs Schloß zu bringen, und als sie kommt, sperrt er sie in eine Kammer voller Stroh ein, gibt ihr Rad und Haspel und sagt: »Wenn Du das Stroh nicht bis morgen früh zu Gold versponnen hast, so mußt Du sterben.« 

Da sitzt nun die Müllerstochter und weint. Wie soll sie das Unmögliche möglich machen? Aber ihr Leben hängt davon ab. Sie muß, wie so viele Kinder, ein Wunder vollbringen, um zu überleben. Plötzlich erscheint in ihrer Kammer ein kleines Männlein. Es kann ohne Mühe Stroh in Gold verwandeln und tut es für sie. 

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Aber der König ist unersättlich und verlangt noch mehr. So wiederholt sich die gleiche Situation, und wieder rettet das Männlein die Müllerstochter. Und nun verspricht der König, die Müllerstochter zu heiraten, denn »eine reichere Frau kann er auf der ganzen Welt nicht finden.« Aber diesmal verlangt auch Rumpelstilzchen einen hohen Preis: ihr erstes Kind soll ihm gehören. Und als es soweit ist und die neue Königin ihr schönes Kind zur Welt bringt, meldet sich das Männlein, um es abzuholen. Die Königin erschrickt und bietet ihm alle Reichtümer des Königreichs, wenn es ihr nur das Kind lasse. 

Aber was sind wohl Schätze der Welt für jemanden, der selber Gold machen kann? Das Lebendige wiegen sie nicht auf. Trotzdem hat das Männlein Mitleid mit der Königin und sagt: »Wenn Du in drei Tagen meinen wahren Namen errätst, so kannst Du Dein Kind behalten«. Die Königin wäre niemals auf den wahren Namen gekommen, wenn ihre Boten nicht das Männlein im Wald gesehen hätten, das tanzend ein Lied sang: »Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß«. Als das Männlein wieder kommt und die Königin seinen Namen weiß, schreit es: »Das hat Dir der Teufel gesagt«. Es stampft mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfährt, dann packt es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und reißt sich selbst mitten entzwei.

In diesem Märchen gibt es seltsamerweise kein glückliches Ende. Die Königin ist zwar befreit vom lästigen Männlein, aber wie wird sie nun weiter ihr Gold spinnen? Möglicherweise wird sie ihr Kind dazu gebrauchen können; so wie sie von ihrem Vater und dem König (Großvater) veranlaßt wurde, das Unmögliche möglich zu machen, wird sie es vielleicht auch bei ihrem Kind noch schaffen. Aber die eigentliche Tragödie des Märchens ist die Geschichte des Rumpelstilzchens: es reißt sich in der Verzweiflung selber entzwei, die eine Hälfte wird unter dem Boden bleiben, für alle unsichtbar, und was mit der anderen geschieht, wissen wir nicht. 

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Die Verzweiflungstat erfolgt, nachdem der Name des Männleins bekannt wurde, nachdem es sich nicht mehr verstecken kann, aber auch keine Hoffnung mehr hat, durch das lebendige Kind (den lebendigen Teil seines Selbst) sein Schicksal verändern zu können. Bisher lebte das Männlein (wir wissen nicht warum) in einer abgelegenen Hütte im Wald, ganz allein, ohne Beziehungen zu anderen Menschen. Vielleicht hoffte es, dort den Schmerzen der Welt zu entgehen, wenn es in seiner Abgeschiedenheit der menschlichen Grausamkeit nicht mehr ausgesetzt wäre.

Das Männlein war einsam, obwohl es für menschliche Begriffe das Höchste zu leisten vermochte, nämlich Gold in jeder Menge herzustellen. Aber mit der Zeit ertrug das Männlein seine Einsamkeit, seine Trennung von den Menschen nicht mehr und hoffte, mit Hilfe einer schönen Frau die Lebendigkeit wiederzugewinnen. Die Begegnung mit der schönen Müllerstochter wäre eine Chance gewesen, aber sie brachte es mit sich, daß seine Anonymität nicht mehr geschützt werden konnte. Die Frau hob seine Maske auf, entblößte sein wahres Gesicht, aber nicht, weil sie seinen wahren Namen, sein wahres Selbst gesucht und gefunden hätte, was er gehofft hatte, als er ihr die drei Tage Bedenkzeit gab, sondern mit Hilfe einer List. Sie hat ihn mit Hilfe des Teufels entblößt, aber nicht gefunden und nicht verstanden.

Wie kann das Männlein weiterleben, nachdem seine Hoffnung auf die Rettung durch Liebe und durch menschliche Beziehungen so enttäuscht worden war? Daß ihm das Gold, die Schätze der Welt in seiner Einsamkeit nichts bedeuteten, hatte es ja längst erkannt. Der Zorn über den Verrat der Frau (vielleicht der Mutter), die ihn so lange benutzte, wie sie ihn gebrauchen konnte, und dann preisgab, führt nicht zum Leben, sondern zur Verzweiflungstat, weil er nicht an der Mutter, sondern an der Müllerstochter erlebt wird.

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Das ist keine Interpretation des »Rumpelstilzchens«, es ist ein Versuch, das Märchen so zu verstehen, als ob es der Traum eines Patienten, eines grandiosen Erfolgsmenschen wäre, der sich in diesem Traum in der Rolle des Rumpelstilzchens träumt. Es gäbe natürlich auch noch andere Varianten; man könnte sich den König als Vater und den Müller als Mutter vorstellen, die sich beim Mann auf Kosten der Kinder durchzusetzen versucht. Man könnte sich die zwei anderen handelnden Personen als Teile des gleichen Menschen vorstellen, aber auch als zwei reale Geschwister, von denen das eine, hochbegabt, dem anderen seine Hilfe und Leistungen anbietet, um schließlich vom anderen, ihm so dankbaren, trotzdem beneidet oder schließlich auch gehaßt zu werden, weil die Gefühle nicht immer so schön und so harmonisch sind, wie wir sie haben möchten.

 

Ich habe hier ein Märchen gewählt, dessen Beziehungen zur Familienstruktur nicht ohne weiteres einleuchten. Wenn man aber an diesem Beispiel gelernt hat, sie zu sehen, wird man ohne Schwierigkeiten die Familiensituation in den Märchen von Aschenputtel, Rapunzel, Dornröschen, Schneewittchen, Hansel und Gretel oder Rotkäppchen finden können. Trotz mancher verdeckenden Interpretation wurde auch bereits viel Wahres darüber geschrieben. Es gibt von Robert Walser ein Dramolett unter dem Titel Schneewittchen, das in einer überraschenden Klarheit die ambivalenten Gefühle der Mutter zu ihrer eigenen Tochter zum Ausdruck bringt. Es besteht kein Zweifel, daß einer, der so schreiben kann, selber erlitten haben muß, was er mitteilt. Was Robert Walser aber darüber bewußt war, ist schwer zu sagen.

Die wahre Einstellung der Eltern ihren Kindern gegenüber kommt in den Märchen sehr deutlich zum Ausdruck, und es ist längst bekannt, daß die Stiefmutter einen Aspekt der wahren Mutter darstellt. In der psychoanalytischen Literatur hingegen sind die Gefühle der Eltern ihren Kindern gegenüber noch kaum erforscht und sehr selten zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden. 

Zu den seltenen Ausnahmen gehört eine Arbeit von Donald W. Winnicott, in der er die Gefühle der Gegen­übertragung im Zusammenhang mit dem Haß der Mutter auf ihr Kind diskutiert (1949). Ohne auf den Tabucharakter seiner Thematik einzugehen, untersucht er die Gründe des mütterlichen Hasses, als ob dies eine Selbstverständ­lich­keit wäre. Für ihn war es auch eine, aber es ist bezeichnend, daß in den nachfolgenden 30 Jahren diese bedeutende Schrift ohne ein wesentliches Echo geblieben ist.  

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3.  Träume 

 

Während die Bedeutung der frühkindlichen Erlebnisse für die Entstehung der Märchen vermutlich noch von allen Seiten bestritten werden wird, gilt der Zusammenhang zwischen Traum und früher Kindheit zumindest in psychoanalytischen Kreisen als längst bekannt oder sogar als gründlich erforscht. Aber innerhalb der orthodoxen Psychoanalyse muß der manifeste Trauminhalt als eine entstellte Form des verdrängten, infantilen Triebwunsches gedeutet werden. Für Sigmund Freud war bekanntlich jeder Traum die Erfüllung eines infantilen Wunsches, den man nicht immer im manifesten, aber mit Sicherheit im latenten, dem Patienten nicht zugänglichen Trauminhalt finden könne. 

Freud selber und seine Nachfolger haben sich immer große Mühe gegeben, dem Patienten auch anhand seiner Träume diese Wünsche zu beweisen, was nicht immer ohne große Gedankenakrobatik möglich war. Zugleich wurden die in sämtlichen Träumen des Patienten auftretenden, ersten Bezugspersonen, in denen sich immer wieder Haltungen manifestieren, die diese Personen in seiner Kinderzeit dem Patienten gegenüber eingenommen haben, nur als Projektionen seiner eigenen Wünsche gedeutet.

Für einen gewissen Prozentsatz der Träume mögen diese Deutungen stimmen, gewiß nicht für alle. Doch man kann diese anderen Fälle nicht sehen und verstehen lernen, auch wenn dieses Verständnis sehr einfach und nahe­liegend wäre, solange man auf einen bestimmten Punkt fixiert bleibt. Ein Jäger, dessen ganzes Wesen auf das vor ihm davonfliehende Reh ausgerichtet ist, wird die singenden Vögel in seiner Nähe nicht hören. So kann die Fixierung auf die infantilen Triebwünsche des Patienten den Analytiker davon abhalten, mit ihm die Geschichte seiner Kindheit zu entdecken, die in seinen Träumen oft mit einer verblüffenden Klarheit zutage tritt. 

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So träumte z.B. eine Frau in ihrer ersten Analyse, daß sie von ihrem Analytiker vergewaltigt und dabei plötzlich von seiner Frau überrascht werde. Sie bekam regelmäßig die korrekte ödipale Deutung, daß sie den Vater in der Abwesenheit der Mutter verführen möchte. In ihrer zweiten Analyse stellte es sich heraus, daß sie tatsächlich sehr früh von ihrem Vater sexuell stimuliert worden war, als ihre Mutter einer regelmäßigen Arbeit nachging und er das Kind hütete. Nachdem sich durch ihre Träume und ihre Übertragung in der zweiten Analyse diese Hypothese ergeben hatte, erhielt die Patientin, nicht ohne große Schwierigkeiten, die Bestätigung ihrer Mutter, die einmal zufällig früher heimgekommen war und den Mißbrauch des Kindes feststellte. 

Die Amnesie der Patientin in der ersten Analyse war vollkommen, aber ihr wiederkehrender Traum erzählte eine reale Begebenheit, ein Erlebnis aus der Kindheit, zu dem sie keinen Zugang bekam, solange ihr Analytiker dafür taube Ohren hatte. Ihre Träume erzählten außerdem nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch einiges über die Realität der Gegenwart in der Übertragung, denn die ödipalen Deutungen des Analytikers kamen auch einer. realen Vergewaltigung ihrer Seele und ihrer Geschichte gleich.

 

Einer Mitteilung von William G. Niederland verdanke ich die folgende Geschichte, die vor Jahren auch veröffentlicht worden ist. 

Ein Patient erzählt ihm, er habe sich auf dem Nordpol liegend geträumt; er sei im Bett eingefroren und dann seien Leute hereingekommen. Er erzählte den Traum im Sitzen, und beim letzten Wort drehte er sich zur Türe um. Das fiel Niederland auf, und er deutete die Geste als die eines Kindes, das im Bett den Eintritt Erwachsener ins Zimmer registriert. In dieser Stunde waren beide damit beschäftigt herauszufinden, welche Erinnerung hinter diesem Traum stand. 

Am gleichen Tag bekam Niederland den Anruf der Mutter des erwachsenen Patienten, die ihm heftige Vorwürfe machte, daß er ihrem Sohn das Geheimnis verraten hätte. 

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Es stellte sich heraus, daß dieser Junge im Alter von acht Monaten in einem sehr kalten New Yorker Winter die ganze Nacht bei offenem Fenster geschlafen hatte und am Morgen mit Lungenentzündung ins Spital gebracht werden mußte. Man hatte am Abend vergessen, das Fenster zu schließen, und als das Kind ununterbrochen schrie, verbot sich die Mutter hineinzugehen, um es nicht zu verwöhnen. 

Die Ausscheidungen und das Erbrochene waren mit der Zeit eingefroren. 

Es ist verständlich, daß die Eltern Schuldgefühle hatten und dieses Ereignis vergessen wollten. So wurde es sorgfältig vor dem Sohn geheimgehalten, um ihn angeblich von etwas verschonen zu müssen, was bereits geschehen war (vgl. A. Miller, 1980). 

Von daher sind auch die Vorwürfe der Mutter an den Analytiker nur allzu gut verständlich.

 

Wir haben hier also zunächst wieder das Prinzip der Schwarzen Pädagogik, man solle das Kind schreien lassen, damit es nicht zum Tyrannen werde, und dann das Prinzip des Verschweigens zum Wohle des Kindes. Wäre nun Niederland nicht seiner kreativen Eingebung, sondern den analytischen Prinzipien gefolgt, so wäre es niemals zu der Aufdeckung dieses frühen Traumas gekommen, sondern zur ungewollten Wiederholung der früheren ungewollten Grausamkeit in Form von korrekten Triebdeutungen (vgl. W. Niederland, 1965).*

Die mitteilende Funktion des Traumes ist nicht immer so durchsichtig wie in den hier zitierten Beispielen. Der Entstellungsgrad der Traumarbeit kann sehr verschieden sein. So träumen sich z.B. Patienten oft als ihre eigenen Eltern, und ihre Kinder repräsentieren dann einen Teil ihrer selbst. Oder sie träumen in verschiedenen gegenwärtigen Personen Aspekte ihrer Eltern. Selbstverständlich bezieht sich der Trauminhalt auch auf die jeweilige Situation in der Übertragung. 

Wichtig ist es aber, daß der Analytiker den Zusammenhang zwischen Träumen und frühkindlichem Erleben ernstnehmen kann, um die Geschichte zu hören und zu sehen, die der Patient erzählt und die die Eltern früher (und daher auch der Patient jetzt) geheimhalten wollten.

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* Ich beziehe mich hier nur auf eine mündliche Mitteilung Niederlands. In seiner schriftlichen Falldarstellung findet der Leser interessante Einzelheiten über den Verlauf dieser Behandlung.

 

 

 

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