Kafka auf detopia       Start   Weiter 

4.4 Dichtung 

 Das Leiden des Franz Kafka  

 

305-331

    Die Brücke  

Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. — So lag ich und wartete; ich mußte warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.

Einmal gegen Abend war es — war es der erste, war es der tausendste, ich weiß nicht —, meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannes­schritt! Zu mir, zu mir. — Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländeloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.

Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber — gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal — sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. — Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten. 

    Der Jäger Gracchus   

Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, niemand wird kommen, mir zu helfen; wäre als Aufgabe gesetzt mir zu helfen, so blieben die Türen aller Häuser geschlossen, alle liegen in den Betten, die Decken über den Kopf geschlagen, eine nächtliche Herberge die ganze Erde. Das hat guten Sinn, denn niemand weiß von mir, und wüßte er von mir, so wüßte er meinen Aufenthalt nicht, und wüßte er meinen Aufenthalt, so wüßte er mich dort nicht festzuhalten, so wüßte er nicht, wie mir zu helfen. Der Gedanke, mir helfen zu wollen, ist eine Krankheit und muß im Bett geheilt werden.

Das weiß ich und schreie also nicht, um Hilfe herbeizurufen, selbst wenn ich in Augenblicken — unbeherrscht wie ich bin, zum Beispiel gerade jetzt — sehr stark daran denke. Aber es genügt wohl zum Austreiben solcher Gedanken, wenn ich umherblicke und mir vergegenwärtige, wo ich bin.  #

306


Thomas Mann schrieb über Franz Kafka: 

»Er war ein Träumer, und seine Dichtungen sind oft ganz und gar im Charakter des Traumes konzipiert und gestaltet. Sie ahmen die a-logische und beklommene Narretei der Träume, dieser wunderlichen Schattenspiegel des Lebens, zum Lachen genau nach.«

Und Alfred Döblin schrieb: 

»Es sind Berichte von völliger Wahrheit, ganz und gar nicht wie erfunden. Zwar sonderbar durch­einander­gemischt, aber von einem völlig wahren, sehr realen Zentrum geordnet ... Es haben viele über Kafkas Romane gesagt: sie hätten die Art von Träumen — und man kann dem sicher zustimmen. Aber was ist denn die <Art der Träume>? Ihr ungezwungener und jederzeit ganz einleuchtender, transparenter Ablauf, unser Gefühl und Wissen um die tiefe Richtigkeit dieser ablaufenden Dinge und das Gefühl, daß diese Dinge uns sehr viel angehen«* 

Ich würde sagen, Kafka habe nicht in seinen Werken die Struktur der Träume nachgeahmt, sondern er habe im Schreiben geträumt. In seinen Werken konnten Erlebnisse aus seiner frühen Kindheit ihren Ausdruck finden, ohne daß er es wußte, genauso wie in den Träumen anderer Menschen. So gesehen geraten wir in Schwierigkeiten: denn entweder ist Kafka der große Visionär, der die menschliche Gesellschaft durchschaut, und seine Weisheit kommt irgendwie von oben (dann darf das nichts mit der Kindheit zu tun haben), oder seine Dichtung wurzelt in den unbewußten frühesten Erlebnissen und wäre dann, so meint man, ohne allgemeine Bedeutung.  

Könnte es aber sein, daß wir uns der Wahrheit seiner Werke nicht entziehen können, weil diese aus dem Reichtum der intensivsten, schmerzhaften Erlebnisse der Welt in der frühen Kindheit schöpfen?  

Rainer Maria Rilke schrieb: 

»Ich habe nie eine Zeile von diesem Autor gelesen, die mir nicht auf das Eigentümlichste mich angehend oder erstaunend gewesen wäre.« 

 

* Quelle: Klaus Wagenbach, "Franz Kafka", rowohlt 1976, S. 144

307


In diesem Kapitel, das dem Leiden Kafkas gewidmet ist und niemals seiner Dichtung voll gerecht werden kann, möchte ich anhand einiger Beispiele nur zeigen, wie der Dichter, ohne es zu wissen, in seinem Werk über seine Kindheit berichtet. 

 

Kafka-Forscher, die sich dieser Dimension erschließen können und nicht versuchen, fertige psychoanalytische Theorien auf ihn anzuwenden, werden meinen Beispielen unendlich viele hinzufügen können. Mir ist jedenfalls, dank der Kenntnis seiner Briefe, auf jeder Seite seiner Werke das Leiden seiner Kindheit deutlich präsent gewesen.

Dieses Kapitel ist also weder als Anwendung einer psychoanalytischen Theorie auf einen genialen Dichter noch als eine literarische Interpretation der Werke von Franz Kafka zu verstehen. Es verdankt seine Existenz meiner Schweigepflicht, die es mir unmöglich macht, über das Schicksal der mir bekannten, noch lebenden Dichter zu berichten, und der Frage, die mich beim Lesen Kafkas manchmal beschäftigte, nämlich: Was wäre geschehen, wenn Franz Kafka in seiner großen Verzweiflung über das Nicht­heiraten­können, über die Tuberkulose, deren psychische Bedeutung er mit großer Klarheit gesehen hat, über die Qualen der Schlaflosigkeit und zahlreicher anderer Symptome das Sprechzimmer eines mit Triebdeutungen arbeitenden Analytikers aufgesucht hätte? 

Ich weiß, daß Gegner der Psychoanalyse, die keine Erfahrungen mit dem Unbewußten gemacht haben, eine solche Frage belächeln und meinen könnten, Kafkas Klugheit hätte ihn davor bewahrt, sich nach der ersten Stunde nochmals in eine Welt zu begeben, in der vollständig an ihm vorbeigedacht worden wäre. 

Diese Vermutung teile ich keineswegs, ich bin sogar überzeugt, daß ein Mensch, der wie Kafka in seiner ganzen Kindheit bis zum Erwachsensein nie das Glück hatte, einen ihn verstehenden Menschen zu kennen, diese Not auch bei seinem Psychoanalytiker nicht so schnell durchschaut hätte. 

308


Er hätte vielleicht mit allen seinen Mitteln, wie er es fünf Jahre lang beinahe täglich mit Felice tat, um dieses Verständnis gerungen und es bei Psycho­analytikern, die der Meinung sind, Freud hätte mit seinem Ödipuskomplex und der »infantilen Sexualität« alle Geheimnisse der Kindheit und des Unbewußten aufgedeckt, ebenfalls vermißt. Doch es ist schwer zu sagen, wie schnell Kafka sich aus einer solchen Verstrickung hätte befreien können.

Ich zweifle aber nicht daran, daß Kafkas Schlaflosigkeit und die unerbittlichen Ängste nachgelassen oder sogar ganz verschwunden wären, wenn es ihm in einer Analyse möglich gewesen wäre, seine frühkindlichen Gefühle, vor allem den Zorn über das Nichtverstandensein, das Alleingelassenwerden, die ständige Bedrohung durch Ablehnung und Manipulierung zuzulassen, zu erleben und sie mit den ursprünglichen Bezugspersonen zu verknüpfen. Ich zweifle ebenfalls nicht daran, daß dies seine Fähigkeit zu schreiben nicht nur nicht geschmälert, sondern sogar bereichert hätte.

Die Psychoanalyse kann wie die Pädagogik sehr leicht Seelisches zerstören, wenn sie den Patienten indoktriniert. Tut sie das aber nicht und überläßt ihm die volle Freiheit in der Findung seines Kinderschicksals, dann kann sie gar nicht anders, als seine kreativen Möglichkeiten zu unterstützen. Wenn man außerdem Kunst nicht als Sublimierung der Triebwünsche, sondern als einen schöpferischen Ausdruck des Erfahrenen und im Unbewußten Gespeicherten versteht, dann wird jede Analyse, die auf die Befreiung der Ausdrucksmöglichkeiten ausgerichtet ist, die Kreativität fördern und nicht lahmen. Die Befürchtung, daß durch das Bewußtwerden eines kleinen, aber quälenden Ausschnittes die Unendlichkeit des Unbewußten ausgeschöpft wäre, wird niemand teilen können, dem z.B. Bilder von Picasso, Miro, Paul Klee oder auch Chagall etwas vermitteln können. Hier hat das Unbewußte den Pinsel geführt, nicht die Neurose.

309


Wenn man von der schweren Kindheit eines Dichters erzahlt, kann man häufig die Ansicht vernehmen, daß das große Werk gerade den frühen Traumatisierungen seine Existenz verdanke. Ganz besonders scheint dieser Satz für Franz Kafka zuzutreffen, wobei hier die ausbeuterische Haltung der Gesellschaft die Rolle der Eltern übernimmt, etwa im Sinne des Satzes »Die Schläge haben dir (mir) gut getan« Es ist zweifellos kaum denkbar, daß ein Mensch, der nicht leidensfähig ist, ein großes Werk schaffen kann. Aber die Leidensfähigkeit ist nicht die Folge von Traumatisierungen, sondern beide sind Folgen der sehr hohen Sensibilität.* 

Das gleiche Ereignis kann bei einem sensiblen Kind sein ganzes Wesen erschüttern und bei einem andern, vielleicht bereits abgestumpften, kaum sichtbare, oder vorläufig kaum sichtbare, Reaktionen hervorrufen. Daher ließe sich der oben angeführte Satz eigentlich umkehren: man könnte wohl sagen, daß es in der Kindheit eines jeden großen Dichters viel Leiden gab, weil dieser viel stärker und intensiver die Kränkungen, Demütigungen, Ängste und Verlassenheitsgefühle erlebte, die zu jeder Kindheit gehören. 

Die Möglichkeit, die erlittenen Schmerzen zu speichern, sie zum Bestandteil des Innenlebens und der späteren Phantasien zu machen und dann in transformierter Form auszudrucken, garantiert das Überleben dieser Gefühle. Aber ihre Trennung von den ersten Bezugspersonen, denen sie galten, und ihre Verknüpfung mit neuen, irrealen Phantasiefiguren garantiert das »Überleben« der Neurose. Das ließe sich an einem Beispiel verdeutlichen.

*  Ich gebrauche diesen Begriff, weil ich noch keinen besseren kenne; obwohl ich nicht sagen kann, woher das kommt, daß das eine Kind schon sehr früh sensibler als das andere reagiert. Es gibt dafür sicher Gründe, denen ich bisher aber nicht genau genug nachgegangen bin und deren Kenntnis möglicherweise durch das Studium der pränatalen Phase erschlossen werden könnte. So scheint es mir durchaus wahrscheinlich zu sein, daß z.B. Angstreaktionen der Mutter zu einer gesteigerten Wachsamkeit (= Sensibilität) des Fötus führen können.

310


Gustave Flaubert schrieb mit fünfzehn Jahren eine Geschichte, die er Quidquid volueris betitelte. Der Held der Erzählung ist Djalioh, sechzehnjährig, die Frucht einer Verbindung zwischen einem Orang Utan und einer Sklavin, die von einem jungen, ehrgeizigen Wissenschaftler »mit kaltem Herzen«, Monsieur Paul, seinerzeit in Brasilien geplant und veranlaßt wurde. Monsieur Paul ließ das Kind bei sich aufwachsen, obwohl er ihm die menschliche Sprache nicht beibringen konnte, und nahm es mit sich nach Frankreich, als er fünfzehn Jahre später in seine Heimat zurückkehrte, um hier Adèle zu heiraten. Djalioh liebt Adèle, für die er aber nur eine arme, debile Kreatur oder ein gutmutiger Affe bleibt. 

Die letzte Szene der Erzählung gebe ich hier mit den Worten des fünfzehnjährigen Flaubert wieder: 

Das war einer jener Paläste, wo Djalioh mit Monsieur Paul und seiner Frau wohnte, und seit bald zwei Jahren war vieles in seiner Seele vorgegangen, und die zurückgehaltenen Tränen hatten einen tiefen Graben darin ausgehöhlt.

Eines Morgens — es war jener Tag, von dem ich euch spreche — stand er auf und ging in den Garten hinaus, wo ein ungefähr einjähriges Kind, eingewickelt in Musselin, Gaze, Broderien, farbige Bänder, in einer Nachenwiege schlief, deren Schwengel von den Strahlen der Sonne vergoldet wurde.

Sein Kindermädchen war nicht da, er sah nach allen Seiten, ging nahe, ganz nahe an die Wiege heran, hob rasch die Decke hoch, dann blieb er einige Zeit stehen und betrachtete diese schlummernde und eingeschlafene arme Kreatur mit ihren fleischigen Händen, ihren rundlichen Formen, ihrem weißen Hals, ihren kleinen Nageln, schließlich nahm er es in seine beiden Hände, ließ es über seinem Kopf in der Luft kreisen und schleuderte es mit all seiner Kraft auf den Rasen, der von dem Aufschlag dröhnte. Das Kind stieß einen Schrei aus, und sein Hirn spritzte zehn Schritt weit in die Nähe einer Levkoje.

Djalioh öffnete seine bleichen Lippen und stieß ein krampfhaftes Gelächter aus, das kalt und schrecklich war wie das der Toten. Sofort ging er auf das Haus zu, stieg die Treppe hinauf, öffnete die Tür zum Speisesaal, schloß sie wieder zu, nahm den Schlüssel, den des Korridors ebenso, und warf sie, im Vestibül des Salons angekommen, durch das Fenster auf die Straße. 

311


Schließlich trat er in den Salon, ganz leise, auf Zehenspitzen, und sobald er eingetreten war, schloß er den Riegel zweimal zu. Ein Halbdunkel erleuchtete ihn spärlich, so wenig Licht ließen die sorgfältig geschlossenen Jalousien eindringen. Djalioh blieb stehen, und er hörte nur das Geräusch der Blätter, die die weiße Hand Adeles wendete ... Endlich näherte er sich der jungen Frau und setzte sich neben sie. Sie zitterte plötzlich und richtete ihre verstörten blauen Augen auf ihn; ihr Morgenrock aus weißem Musselin war weit und vorne offen, und ihre übereinander­geschlagenen Beine zeichneten trotz ihrer Kleidung die Form ihrer Schenkel ab. Um sie herum war ein berauschendes Parfüm; ihre auf den Stuhl geworfenen weißen Handschuhe mit ihrem Gürtel, ihrem Taschentuch, ihrem Halstuch, all das hätte ein so delikates und so berauschendes Odeur, daß Djaliohs große Nüstern sich weiteten, um dessen Aroma einzusaugen ... 

»Was wollt Ihr von mir?« sagte sie entsetzt, sobald sie ihn erkannt hatte. Und es folgte ein langes Schweigen; er antwortete nicht und heftete einen verzehrenden Blick auf sie, dann nahm er, sich mehr und mehr nähernd, ihre Taille mit seinen beiden Händen und drückte auf ihren Hals einen glühenden Kuß, der Adele wie der Biß einer Schlange zu kneifen schien; er sah ihr Fleisch erröten und zittern.

»Oh! Ich werde um Hilfe schreien«, rief sie erschrocken. »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Oh! Die Mißgeburt!« fügte sie hinzu und sah ihn an. Djalioh antwortete nicht; er lallte nur und schlug voll Wut auf seinen Kopf. Was! Ihr nicht ein Wort sagen können! Nicht seine Martern und seine Schmerzen aufzählen können und ihr nur die Tränen eines Tieres und die Seufzer einer Mißgeburt zu bieten haben! Und dann wie ein Reptil zurückgestoßen werden! Gehaßt werden von dem, was man liebt, und vor sich die Unmöglichkeit fühlen, etwas zu sagen! Verflucht sein und nicht lästern können!

»Laßt mich, Gnade! Laßt mich! Seht Ihr denn nicht, daß Ihr mir Entsetzen und Widerwillen einflößt? Ich werde Paul rufen, er wird Euch töten.« Djalioh zeigte ihr den Schlüssel, den er in seiner Hand hatte, und er hielt inne. Die Pendeluhr schlug acht, und die Vögel zwitscherten in der Voliere; man hörte das Rollen eines Karrens, der vorbeifuhr und sich dann entfernte.

312


»Also, geht Ihr wohl raus? Laßt mich, um Himmelswillen!« Und sie wollte aufstehen, aber Djalioh hielt sie am Zipfel ihres Kleides fest, das unter seinen Nägeln zerriß. »Ich will hinausgehen, ich muß hinausgehen ... Ich muß mein Kind sehen. Ihr werdet mich doch mein Kind sehen lassen!« Ein grauenhafter Gedanke ließ sie an allen ihren Gliedern zittern, sie erblich und fügte hinzu: »Ja, mein Kind! Ich muß es sehen ... und zwar sofort, augenblicklich!«

Und sie drehte sich um und sah vor sich ein Dämonengesicht Fratzen schneiden; er begann so lange, so stark zu lachen und all das in einem einzigen Ausbruch, daß Adele vor Entsetzen versteinert ihm vor die Füße, auf die Knie fiel. Auch Djalioh kniete nieder, dann nahm er sie, setzte sie mit Gewalt auf seine Knie, und mit seinen beiden Händen zerfetzte er alle ihre Kleider, zerriß die Schleier, die sie bedeckten; und als er sie, zitternd wie Espenlaub, in ihrem Hemd sah und ihre beiden Arme über ihre nackten Brüste kreuzen, weinen, mit roten Backen und bläulichen Lippen, fühlte er sich unter der Last eines merkwürdigen Drucks; dann nahm er die Blumen, streute sie auf den Boden, zog die rosaseidenen Vorhänge zu und legte seinerseits seine Kleider ab. 

Adele sah ihn nackt, sie zitterte vor Entsetzen und wandte den Kopf ab; Djalioh näherte sich und hielt sie lange gegen seine Brust gepreßt; da spürte sie auf ihrer warmen und seidigen Haut das kalte und behaarte Fleisch der Mißgeburt; er sprang auf das Kanapee, warf die Kissen herunter und wiegte sich lange auf der Lehne mit einer mechanischen und regelmäßigen Bewegung seiner flexiblen Wirbel; er stieß von Zeit zu Zeit einen gutturalen Schrei aus, und er lächelte zwischen seinen Zähnen. 

Was begehrte er mehr? Eine Frau vor sich, Blumen zu seinen Füßen, ein rosiges Licht, das sie beleuchtete, das Geräusch einer Voliere zur Musik und irgendeinen bleichen Sonnenstrahl zu ihrer Beleuchtung!

Er brach seine Gymnastik bald ab, rannte auf Adele zu, grub ihr seine Krallen ins Fleisch und zerrte sie zu sich hin; er zog ihr das Hemd aus. Als sie sich im Spiegel ganz nackt sah in den Armen Djaliohs, stieß sie einen Entsetzensschrei aus und betete zu Gott; sie wollte um Hilfe rufen, aber unmöglich, ein einziges Wort hervorzubringen.

313


Als Djalioh sie so sah, nackt und mit aufgelösten Haaren auf ihren Schultern, stand er reglos vor Benommenheit still wie der erste Mann, der eine Frau sah; er berührte sie einige Zeit lang nicht, riß ihr ihre blonden Haare aus, steckte sie in seinen Mund, biß sie, küßte sie; dann wälzte er sich auf der Erde über die Blumen, zwischen den Kissen, über die Kleider von Adele, zufrieden, irre, trunken vor Liebe ... Schließlich kannte seine wilde Brutalität keine Grenzen mehr; er sprang mit einem Satz auf sie, zog ihre beiden Hände auseinander, legte sie auf die Erde und wälzte sie wie von Sinnen hin und her. Oft stieß er wilde Schreie hervor und breitete die beiden Arme aus, stumpfsinnig und reglos, dann röchelte er vor Wollust wie ein Mann, der sich ...

Plötzlich spürte er die Krämpfe Adeles unter sich, ihre Muskeln verhärteten sich wie Eisen, sie stieß einen klagenden Schrei und einen klagenden Seufzer aus, die durch Küsse erstickt wurden. Dann fühlte er sie kalt, ihre Augen schlossen sich, sie rollte um sich selbst, und ihr Mund stand offen. Als er sie sehr lange reglos und vereist gespürt hatte, stand er auf, drehte sie nach allen Seiten, küßte ihre Füße, ihre Hände, ihren Mund und rannte hüpfend gegen die Wände. Mehrmals wiederholte er seinen Lauf; einmal jedoch schlug er mit dem Kopf voran gegen den Marmorkamin — und fiel, reglos und blutüberströmt auf Adeles Körper.

Als man Adele fand, hatte sie breite und tiefe Krallenspuren auf dem Körper; Djalioh dagegen hatte einen entsetzlich gebrochenen Schädel. Man glaubte, die junge Frau habe ihn bei der Verteidigung ihrer Ehre mit einem Messer getötet. All das stand in den Zeitungen, und ihr könnt euch vorstellen, daß es acht Tage lang zu vielen So und Ach Anlaß gab. 

Am nächsten Tag beerdigte man die Toten. Der Leichenzug war prächtig; zwei Särge, der der Mutter und des Kindes, und all das mit schwarzen Federbüschen, Kerzen, singenden Priestern, einer drängelnden Menge und schwarzen Männern in weißen Handschuhen.

G. Flaubert, 1980, S. 158-145

*

Es mag sein, daß mancher Verehrer des Flaubertschen Stils, seiner Verhaltenheit und schriftstellerischen Größe, diesen Auszug aus Quidquid volueris als melodramatisch und pubertär bezeichnen wird. Das Werk ist ja in der Pubertät geschrieben worden, in der die Kindheit wieder lebendig wird. 

314


Daher ist wohl die Intensität von Liebe, Haß, Schmerz, Einsamkeit, Erniedrigung und Ohnmacht hier noch so unkontrolliert eingedrungen. Aber es gibt bereits in diesem Werk Stellen, die in einer gültigen, dichterischen Form die tragische Einsamkeit eines sensiblen Kindes, das jeder Dichter einmal gewesen ist, schildern. So z.B. die folgende:

Er fragte sich, warum er kein Schwan wäre und schön wie diese Tiere; wenn er sich jemandem näherte, floh man, man verachtete ihn unter den Menschen; warum war er denn nicht schön — wie sie? Warum hatte der Himmel ihn nicht zum Schwan, zum Vogel, zu etwas Leichtem gemacht, das singt und das man liebt? Oder vielmehr, warum war er nicht das Nichts? »Warum«, sagte er, während er mit der Spitze seines Fußes einen Stein vor sich herstieß, »warum bin ich nicht so? Ich trete ihn, er fliegt und leidet nicht!« (G. Flaubert, 1980, S. 131).

Wußte Flaubert, daß er in der Szene mit Adèle viel von seiner eigenen Geschichte erzählte, oder wußte er es nicht? Für den Außenstehenden spricht alles dafür, daß er es wußte. Gustave Flauberts Vater war ein angesehener Arzt, während er selber in seiner Kindheit als »Idiot der Familie« galt und Schwierigkeiten hatte, das Sprechen. Lesen und Schreiben zu erlernen (vgl. J. P. Sartre, 19-77). 

Von seiner Mutter trennte ihn - nach Sartre - eine ähnliche Distanz, wie Djalioh von Adèle, sein Vater war ein ehrgeiziger Wissen­schaftler wie »Monsieur Paul«; auf die kleine Schwester, die den Namen seiner Mutter trug, durfte er kaum offen eifersüchtig sein — es ließen sich noch viele Analogien zu Djalioh beifügen. Die Frage aber, ob Flaubert wußte, daß er über sein Leben schrieb, würde ich trotzdem oder gerade deshalb verneinen.

Djalioh hätte nicht das Kind aus dem Wagen reißen und auf den Rasen werfen können, wenn Flaubert gewußt hätte, daß er für seine Schwester nicht nur brüderliche Liebe empfand. Auch bei dem Überfall auf Adèle konnte der Fünfzehnjährige seinen pubertären Phantasien freien Lauf lassen, weil er nicht wußte, daß er bei Adèle die nie gelebte Nähe und Zärtlichkeit seiner Mutter suchte.

315


Gerade die Spaltung, die Trennung des Gefühls von den ursprünglichen Personen und die Bewahrung des Inhalts in der Phantasie­welt ermöglichen die künstlerische Gestaltung, ohne daß das Ausdrücken des Leidens die Neurose aufheben kann. Das Leiden kann aber im Prozeß des Schreibens immer wieder gelindert werden, weil der Dichter im Schreiben ein imaginäres Objekt besitzt, das ideale Qualitäten aufweist: es ist verfügbar, es kann ihn immer verstehen, ihn ernstnehmen und ihn begleiten. Diesem imaginären Objekt kann er sein Leid klagen, aber immer unter der Voraussetzung, daß die eigenen Eltern geschont bleiben, d.h. daß niemand (auch er selber nicht) erfahren darf, wem eigentlich die Gefühle gelten. 

 

Ein ähnliches Beispiel findet sich bei Samuel Beckett

Der Schriftsteller Samuel Beckett behauptet bekanntlich, er hätte eine behütete und glückliche Kindheit gehabt, weil seine Eltern wohlhabend gewesen sind. Die Isolierung des protestantischen Jungen im katholischen Irland, in einem abgelegenen Landhaus mit parkähnlichem Garten, nicht weit vom Meer, die Bedrückung und Bedrohung durch den Zwang zu täglichen Gewissens­erforschungen, von denen sich seine Mutter eine religiöse Erleuchtung bei ihm erhofft hatte, sind ihm offenbar im Zusammenhang mit seiner Kindheit emotional unzugänglich geblieben. Er kann zwar diese Gefühle im Schreiben erleben, aber sie sind nicht mit seinem eigenen Schicksal verbunden. Im Gegensatz zu Menschen, die ihre Gefühle mit dem Intellekt vollständig abwehren müssen, können Dichter starke und differenzierte Gefühle erleben und zum Ausdruck bringen, solange ihnen der Zusammen­hang mit der eigenen Kindheitstragik unbewußt bleibt.

316


Lange bevor Beckett En attendant Godot geschrieben hatte, schrieb er als Dreiund­zwanzig­jähriger eine Erzählung unter dem Titel: Assumption. Der namenlose Held dieser Erzählung hat die Fähigkeit entwickelt, geräuschvolle Menschenversammlungen, denen er nicht immer aus dem Wege gehen konnte, buchstäblich »niederzuflüstern«.

Das eigentliche Thema der Erzählung ist jedoch nicht diese Kunst des Niederflüsterns, sondern die Furcht des namenlosen Helden, eines Tages — trotz all seiner Vorsichtsmaßnahmen dagegen — in einen elementaren, übernatürlichen, unmenschlichen Schrei auszubrechen. Denn das, so glaubt er fest, wäre sein Ende; und eine Frau, die sich ihm unabweisbar aufdrängt und die ihn schließlich jede Nacht liebt, bringt ihn tatsächlich so weit. Der Schrei verbreitet sich »mit seiner langen, triumphierenden Heftigkeit«, erschüttert das Haus und verschmilzt »mit dem rollenden Tosen des Meeres«. »Man fand (die Frau), wie sie sein wildes totes Haar liebkoste« (vgl. K. Birkenhauer, 1971, S. 30f.).

Es scheint mir undenkbar, daß ein Mensch, der als Kind die Möglichkeit gehabt hätte, seine Gefühle und Gedanken relativ frei auszudrücken, diese erschütternde Geschichte mit einer solchen Intensität hätte schreiben können. Aber es ist sehr verständlich, daß in besonders schweren Fällen der Erwachsene keine oder nur idealisierende Erinnerungen aus seiner Kinderzeit aufbewahrt, weil die Wahrheit für das einsame Kind nicht zu ertragen war.

Es paßt zum Inhalt dieser Geschichte sehr genau, daß Beckett sein kindliches Leiden leugnet (»niederflüstert«) und davon überzeugt ist, daß er nur das Leiden und die Absurdität der sogenannten »Gesellschaft« darstellt, die er als Erwachsener wahrnehmen konnte. Es gehört auch zur Tragik dieser Haltung, daß ihm seine Schriften, in denen die Hölle seiner Kindheit spürbar ist, nichts darüber berichten können, daß er die Wurzeln nicht sehen kann, weil sie ein Teil von ihm sind und weil er sein ganzes Leben lang versucht, in bezug auf seine Kindheit das Gesicht des Unbeteiligten zu wahren. 

317


Diese Notwendigkeit einer Spaltung im emotionalen Bereich demonstriert gerade bei einem sehr sensiblen und hochbegabten Menschen besonders deutlich, welche massiven Sanktionen, einst dem Kind für das Merken gedroht haben. Da sie so früh verinnerlicht wurden, können sie das ganze Leben unvermindert wirksam bleiben.

Aus dem bisher Gesagten könnte man folgern, daß Flaubert und Beckett ihre beiden hier zitierten Erzählungen nicht geschrieben hätten, wenn es ihnen voll bewußt gewesen wäre, daß sie hier ihre eigenen Schicksale schilderten. Diese Folgerung veranlaßt manchen zu der recht grausamen Feststellung: »Glücklicherweise hatten die großen Dichter alle eine schwere Kindheit, sonst hätten wir jetzt nicht ihre großartigen Werke.« 

Ich würde aber meinen, daß diese Dichter nur etwas anderes geschrieben hätten, das ebenso kraftvoll hätte sein können, sofern es auch dem Unbewußten entsprungen wäre. Das Unbewußte ist unendlich, es gleicht einem Meer, von dem wir in der Analyse vielleicht gerade ein Glas Wasser entnehmen können, den Teil nämlich, der den Menschen krank gemacht hat. Ein großer Künstler wird um so freier aus dem Meer schöpfen können, je weniger er sich vor der aus dem Glas drohenden Vergiftung schützen muß. Er wird frei sein, verschiedene Wege auszuprobieren, sich immer wieder neu zu entdecken, wie man das z.B. am Leben und Werk von Pablo Picasso beobachten kann. 

Ein Gegensatz dazu ließe sich vielleicht bei Salvador Dali aufzeigen, der zweifellos ein großer Maler ist, aber ähnlich wie Samuel Beckett sein ganzes Leben lang mit dem aus dem Glas drohenden Gift beschäftigt ist. Was ich hier meine, hat nichts mit einem Werturteil zu tun, sondern lediglich mit der persönlichen Tragik des Künstlers. Das Glas ist klein im Vergleich zum Meer. Wenn wir uns aber den Menschen in diesem Zusammenhang in der Größe einer Ameise vorstellen, kann auch dieses Glas als ein großes Meer erlebt werden.

318


Die landläufige Meinung von der Nützlichkeit der Neurose für die Kunst ist möglicherweise in unserer ausbeuterischen Haltung verankert, die man ja auch irgendwie verstehen kann. Wir könnten nämlich argumentieren: Was wären die Werke von Kafka, Proust, Joyce ohne ihre Neurosen? Haben nicht gerade diese Dichter unsere eigenen, inneren Bedrohungen, inneren Gefängnisse, Zwänge, Absurditäten beschrieben? So möchten wir nicht, daß sie gesund gewesen wären, daß sie vielleicht wie Goethe geschrieben hätten, weil uns entscheidende Erlebnisse und unbewußte Spiegelungen dabei entgangen wären. 

In Kafkas Prozeß z.B. erleben wir unsere unverständlichen Schuldgefühle, im Schloß unsere Ohnmacht, in der Verwandlung unsere Einsamkeit und Isolierung, ohne daß diese Zustände uns in Verzweiflung bringen, weil sie doch nur den von Kafka erfundenen Gestalten zugehören. Solche Dichter haben für uns die wichtige. Funktion einer unverbindlichen Spiegelung, die wir nicht missen möchten. So treten wir als Nachwelt die Erbschaft der Eltern an, indem wir von der Begabung des Künstlers profitieren.

Dieser Gedanke beschäftigte mich zum ersten Mal, als ich in der aufregenden Studie von Florian Langegger (1978) die Briefe des Vaters Mozart an seinen Sohn las. Es heißt dort u.a.: »Du mußt aber vor allem mit ganzer Seele auf das Wohl deiner Eltern denken, sonst geht deine Seele zum Teufel ... von dir kann ich alles aus kindlicher Schuldigkeit hoffen ... ich will, wenn Gott will, noch ein paar Jahre leben, meine Schulden zahlen — und dann magst du, wenn du Lust hast, mit dem Kopf an die Mauer laufen« (S. 86 und 92). 

Diese und ähnliche Sätze wollen nicht so recht in das Bild des liebenden Vaters passen, das uns die Geschichte überliefert hat. Aber sie zeigen sehr deutlich den narzißtischen Mißbrauch des Kindes, der in den meisten Fällen eine starke affektive Zuwendung und intensive Förderung nicht ausschließt (vgl. A. Miller, 1979 und 1981). Wenn man die »liebevollen« Briefe Leopold Mozarts in Langeggers Auswahl liest, muß man sich nicht wundern, daß der Sohn seinen Vater nur kurz überlebte, mit 37 Jahren starb und vor dem Tode an Vergiftungsängsten litt. Doch wie unwichtig erscheint der Nachwelt dieses tragische Einzel­schicksal angesichts der hervorragenden Leistungen Mozarts.

319


Obwohl die subjektive Seite eines Künstlerschicksals für die Nachwelt gewöhnlich keine Bedeutung hat, möchte ich mich in diesem Kapitel gerade mit der ganz privaten Tragik des Dichters Franz Kafka beschäftigen. Ich tue das, weil ich vermute, daß mehrere unserer Patienten ein ähnliches Schicksal hatten, obwohl sie sich an die Psychoanalyse wandten, in ihr aber keine Hilfe erhalten konnten, weil auch innerhalb der Psychoanalyse, auf Freud zurückgehend, die Meinung verbreitet ist, das Kunstwerk sei »ein Ersatz für die gesunde Triebbefriedigung«, also ein Zeichen der Neurose, oder, in einem andern Zusammen­hang, daß es als »Kulturprodukt« das »Resultat der Triebsublimierung« sei.

Falls es heute einen Menschen wie Kafka gibt (und ich zweifle nicht daran, daß wir sehr vielen ähnlich strukturierten Menschen, mit einem ähnlichen Kinderschicksal, begegnen), was würde geschehen, wenn mit ihm eine Psychoanalyse nach den Richtlinien der Triebtheorie durchgeführt würde?

Eine Probe davon können wir in der umfassenden Literatur über Kafkas ödipale, präödipale und neuerdings auch homosexuelle Triebwünsche finden. So schreibt z.B. Gunter Mecke:

Das Wesen des Prozeß ist eine sexuelle Bewährungsprobe, die Josef K. weder heterosexuell (mit Fräulein Bürstner) noch homosexuell (mit dem »Maler« Titorelli) besteht. K. wird daher schließlich von zwei Cliquenhäschern strafweise anal vergewaltigt. (1981, S. 214).

In dem hier zitierten Psyche-Artikel kann man im einzelnen nachlesen, was dem Patienten Franz Kafka begegnet wäre, wenn Gunter Mecke dessen Analyse übernommen hätte.

320


Mecke berichtet:

Kafkas Schriften sind mir stets weit mehr ein Stein des Anstoßes gewesen, als ein Anstoß zum Nachdenken ... Der Himmel weiß, warum gerade mir (von 1970 an) die Pflicht zufiel, hintereinander mehrere Kafka-Seminare zu leiten. Ich »leitete« sie als Blinder unter Blinden mit wachsendem Unbehagen, schließlich mit Scham. Ich fühlte mich dem Gegenstand schlechterdings nicht gewachsen, erkannte, daß er mich zum Faseln aufreizte, schmorte bald im eigenen Fett und mußte mir sagen — und von meinen sehr freimütigen Studenten sagen lassen —, daß auch ich mich mit meinen »Deutungen« von Kafka zur geistigen Falschmünzerei hatte verleiten lassen.

Die Psychoanalyse als Methode hat mir anfangs wenig geholten, manchmal hat sie mich behindert, z.B. verleitet, mit vorgefaßten Konstrukten Sprünge in die Deutung einzelner Äußerungen Kafkas zu tun. Es geht nicht. Man muß lange in Kafkas System-Labyrinth umhergeirrt sein, ehe man einzelne Irrgänge auch nur orten kann. Dann freilich läßt der Generalschlüssel sich induzieren ... Ich nahm mir den Rat der Gardena (Das Schloß) zu Herzen, die den Land­vermesser K. haßt. Man müsse ihm nur wirklich zuhören, dann komme man ihm schon auf die Schliche ... Das wurde das Herz meiner Methode. Ihr Herzschlag hieß nicht selten Weißglut. (S. 215)

Diese Weißglut kann sich einstellen, wenn man etwas oder jemanden verstehen möchte, bei dem alle verfügbaren Werkzeuge des Verstehens versagen. Das war auch die Situation des kleinen Franz Kafka, und hätte sich Kafka einer Analyse unterzogen, so hätte er zweifellos dieses Gefühl seinem Analytiker vermittelt, wie es auch seine Werke zuweilen tun, wenn sie dem Leser plötzlich eine absurde Situation vorführen, nachdem dieser meint, bereits etwas verstanden zu haben. 

So muß man sich über die Weißglut Meckes nicht wundern; sie könnte, sozusagen in der Form der Gegenübertragung, die Gefühle des kleinen Franz Kafka spiegeln. Aber — und da ist der große Unterschied — der Analytiker muß sich die verzweifelte Ohnmacht nicht wie ein Kind oder wie ein Patient gefallen lassen, er kann dieses für ihn unerträgliche Gefühl loswerden, indem er dem Patienten Deutungen anbietet, die an ihm vorbeisehen.

321


So rächt er sich für das Nichtverstehenkönnen, für die daraus resultierenden Gefühle der ohnmächtigen Wut und ist froh, den Patienten endlich in den Griff bekommen zu haben. Auch Mecke triumphiert, nachdem er dem verschlagenen Burschen Franz Kafka auf die Schliche gekommen ist, und beschreibt ihn als einen »Giftmischer«, der seine »Homosexualität« mit »schizophrener Schläue« in einer der »Gaunersprache analogen« Sprache versteckt. 

Mecke zeigt uns in seinem langen Aufsatz sehr genau, an welchen Stellen der Erzählung er den »Knabenjäger Kafka« (S. 227) bei seinen homosexuellen Phantasien und Aktivitäten ertappt zu haben meint, und er läßt es an Gründlichkeit nicht fehlen. Einzig die Information über den homosexuellen Mißbrauch, dessen Opfer Kafka selber angeblich gewesen war, steht unbelegt und unverknüpft in einer Fußnote verloren da. Es heißt dort einfach: »Zahlreiche Indizien, die hier übergangen werden müssen, deuten darauf hin, daß Kafka  mit 15 Jahren homosexuell verführt wurde oder — das Wahrscheinlichere — vergewaltigt wurde«. — Ohne Kommentar! 

 

Unzählige Male fiel es mir in meiner Supervisionstätigkeit und beim Anhören von Falldarstellungen in analytischen Kreisen auf, daß man solchen Informationen keine Bedeutung beimaß, weil man vollständig damit beschäftigt war, die »Triebwünsche« des Patienten (die Schuld des Kindes) zu beschreiben.

Es ist durchaus legitim, in einem dichterischen Werk das zu sehen, was man in ihm sehen muß, denn eine noch so verachtende Haltung kann dem abgeschlossenen Werk nichts mehr antun. Aber der Patient im Sprechzimmer des Analytikers kann zum Opfer werden, wenn er in die Atmosphäre einer solchen Haltung gerät. Wie Professor Mecke zu seiner Kafka-Lektüre nicht freiwillig kam, sondern zur Leitung der »Kafka-Seminare«, wie er schreibt, verpflichtet war, kann u.U. ein Analytiker einen ihm wesensfremden Patienten in Behandlung nehmen, weil er z.B. aus wirtschaftlichen Gründen vielleicht gerade einen Patienten braucht. 

322


Konfrontiert ihn dieser Patient unbewußt mit den Absurditäten aus dessen Kindheit, dann kann das leicht zu einer Haltung des Therapeuten führen, die der Haltung Meckes Kafka gegenüber nicht unähnlich ist und daher auf die Hilfe komplizierter Theorien angewiesen sein wird. Sollte der Patient etwas von dieser Ohnmacht des Therapeuten merken oder sich darüber beklagen, daß er nicht verstanden wird, bekommt er zu hören, er entwickle jetzt Aggressionen, weil der Analytiker seine homosexuellen Werbungen nicht erwidere. Solche Deutungen habe ich in meiner Ausbildung sehr oft als Empfehlungen gehört, und ich brauchte viel Zeit, um ihren Abwehrcharakter zu durchschauen. Ein gut erzogener Kandidat wird sich unweigerlich fragen: »Vielleicht ist doch etwas daran wahr?«. Und der Patient, der in seinem Analytiker göttliche Qualitäten seiner ersten Bezugspersonen sieht, kann sich der Macht einer Deutung nicht entziehen, besonders wenn sie im sicheren Tonfall, der keine Alternativen zuläßt, ausgesprochen wird. 

Könnte aber der Analytiker seine gelegentliche Verzweiflung über das eigene Nichtverstehen zulassen und erleben, dann würde ihm dieses Gefühl möglicherweise einen wichtigen Zugang zur Kindheit des Patienten vermitteln. Dies ist zumindest meine persönliche Erfahrung. 

Der oben zitierte Psyche-Aufsatz von Gunter Mecke eignet sich auch zur Charakterisierung der triebtheoret­ischen Haltung in der Psychoanalyse, die ich auf S. 19f darzustellen versucht habe. Man könnte meinen, daß eine solche Haltung endgültig der Vergangenheit angehöre und in der heutigen Zeit kaum mehr anzutreffen sei. Ähnlich wollen wir glauben, die Schwarze Pädagogik hätte in unserer Zeit nichts mehr zu suchen, doch das Gegenteil ist leider der Fall, und die Bemühungen, den Patienten (hier Franz Kafka) zum gerissenen Betrüger zu stempeln, dessen Machenschaften man sich glücklicherweise mit den geeigneten Schlüsseln entziehen könne, sind leider sehr häufig. Sie sind die logischen Folgen der Ausbildung zur Psychoanalyse als Triebtheorie.

323


Selbstverständlich arbeiten nicht alle Analytiker so, und Donald W. Winnicott, Marion Milner, Heinz Kohut, Massud Khan, William G. Niederland, Christel Schöttler und viele andere haben kreativen Menschen entscheidend helfen können, weil sie nicht unter dem Zwang standen, die Kreativität ihrer Patienten auf Triebkonflikte zurückzuführen und ihnen ihre »schmutzigen Phantasien« systematisch nachzuweisen (vgl. A. Miller, 1980, S. 33f.). Doch Meckes an die Schwarze Pädagogik erinnernde verachtende, entblößende, ja verfolgende Haltung bildet keineswegs eine Ausnahme; sie repräsentiert vielmehr eine (kaum bewußte oder bewußt gewollte) Haupttendenz der heutigen Psychoanalyse. 

Daß ihre offiziellen Vertreter diese Haltung als durchaus normal und sogar als neu empfinden, spiegelt sich in den einleitenden Worten der Psyche-Redaktion:

Mecke liest Kafkas Erzählungen und Romane, gestützt auf die Briefsammlungen, als Kryptogramme: als verschlüsselte künstlerische Mitteilung der Lebenserfahrungen eines Grenzgängers zwischen Homo- und Heterosexualität. Diese neue Art, Kafka zu lesen, wird hier am Beispiel der Erzählung vom »Jäger Gracchus« vorgestellt.

Diese »neue Art«, Kafka zu behandeln, ist insofern nicht neu, als Franz Kafka bereits von seinem Vater so wie jetzt von Mecke behandelt wurde. Was der Vater an seinem Sohn nicht verstand (und das war auf jeden Fall das Zentralste), hat er an ihm verachtet, verspottet und zuweilen gehaßt. Dieses Schicksal erleben die meisten Kinder, die schon durch ihr Wesen ihre Eltern verunsichern. 

Wenn sich aber dieses Trauma in der Psychoanalyse gerade am Anfang, bevor ein empathisches, inneres Objekt aufgebaut worden ist, wiederholt, kann es zum Ausbruch einer Psychose führen. Dann sagt man, der Patient sei an den »psychotischen Kern« gestoßen, und zieht kaum in Betracht, daß der Patient in seiner Analyse, d.h. in der Gegenwart, dem realen Trauma seiner Kindheit nochmals ausgesetzt wurde, daß er dies ohne Begleitung nicht aushalten konnte und daher in eine psychotische Verwirrung fiel.

324


Ich werde im folgenden keine fertigen Theorien auf Kafka anwenden, sondern versuchen auszusprechen, was ich jetzt über seine Kindheit erfahre, wenn ich seine Werke und vor allem seine Briefe lese. Damit schildere ich indirekt auch meine analytische Haltung dem Patienten gegenüber, die ich als die Suche nach der frühkindlichen Realität ohne Schonung der Eltern bezeichne. 

Der Unterschied zwischen einer solchen Psychoanalyse des dichterischen Werkes und der psychoanalytischen Situation besteht darin, daß sich in der letzteren die Artikulierung des Leidens nicht im dichterischen Werk, sondern in den Einfällen und in der Inszenierung innerhalb der Übertragung und Gegenübertragung abspielt. Meine Haltung aber dem Kind im Erwachsenen gegenüber ist die gleiche.

Der 29jährige Franz Kafka notiert in seinen Tagebüchern, daß er beim Vorlesen seiner Erzählung Das Urteil am Schluß den Tränen sehr nahe war. In der Nacht nach dieser Lesung (vom 4. zum 5. Dezember 1912) schreibt er an Felice Bauer: 

Liebste, 
ich lese nämlich höllisch gerne vor, in vorbereitete und aufmerksame Ohren der Zuhörer zu brüllen, tut dem armen Herzen so wohl ... Als Kind — vor paar Jahren war ich es noch — träumte ich gern davon, in einem großen, mit Menschen ausgefüllten Saal die ganze Education sentimentale ohne Unterbrechung so viele Tage und Nächte lang, als sich für mich notwendig ergeben würde, vorzulesen; und die Wände sollten widerhallen. Wann immer ich gesprochen habe, reden ist wohl noch besser als vorlesen (selten genug ist es gewesen), habe ich diese Erhebung gefühlt und auch heute habe ich es nicht bereut (F. Kafka, 1976). 

Zum äußeren Bild des bescheidenen, zurückhaltenden Franz Kafka wollen diese Sätze nicht so recht passen. Aber wie verständlich sind sie aus der Feder eines Menschen, der seine ganze Kindheit hindurch mit allem, was ihn wirklich und zutiefst beschäftigte, vollständig allein war.

325


In der Biographie von Max Brod lesen wir, daß Kafkas Mutter eine »stille, gütige, außerordentlich kluge, ja weisheitsvolle Frau war«. (Die »gütige Mutter« scheint immer noch ein Lieblingsbegriff der Biographen zu sein.) Wenn wir das lesen und zugleich wissen, daß kein Mensch Kafka näherstand als gerade Max Brod, dann realisieren wir noch deutlicher, in welcher seelischen Einsamkeit sich dieses Leben abgespielt hat. Kafkas Mutter, Julie Kafka, die selber im Alter von drei Jahren ihre Mutter und dann die Großmutter durch Tod verloren hatte, blieb eigentlich ihr ganzes Leben lang ein tüchtiges, gefügiges Kind ihres Vaters und ihres Mannes. Sie stand diesem täglich den ganzen Tag im Geschäft und abends beim Kartenspiel zur Verfügung. (»Seit dreißig Jahren, d.h. mein ganzes Leben«, schreibt ihr Sohn an Felice.) Franz war ihr erstes Kind, in kurzen Abständen gebar sie anschließend zwei andere Söhne, von denen einer zwei Jahre und der andere nur sechs Monate überlebte. Später kamen noch drei Töchter zwischen Franzens siebentem und zehntem Lebensjahr.

Kafkas ganzes Werk und all seine Briefe geben uns nur annähernd eine Vorstellung davon, wie ein Kind von seiner Erlebnis­intensität und -tiefe diesen Ereignissen von Geburt und Tod sowie all den Gefühlen von Verlassenheit, Neid, Eifersucht ausgeliefert ist, wenn niemand ihm beistehen kann. (Ähnliches ereignete sich übrigens in der Kindheit Hölderlins, Novalis', Munchs und anderer.) Mit all diesen Erlebnissen, mit all seinen Fragen war das wache, interessierte, hochsensible, aber keineswegs kranke Kind hoffnungslos allein und dem machtfreudigen Hauspersonal vollständig ausgeliefert. Wir sagen oft achselzuckend: das war damals bei den reichen Leuten ganz normal, daß man die Kinder den Gouvernanten überlassen hat. (Als ob im »Normalen« je die Garantie der Güte enthalten wäre.)

326


Es gab sicher viele Fälle, in denen eine Amme oder Kinderfrau das Kind vor der Kälte und Lieblosigkeit seiner Eltern gerettet hat. Aber wir müssen uns auch vorstellen, mit welcher Erleichterung die unterdrückten Angestellten die Demütigung, die ihnen von »oben« zuteil wurde, den kleinen Kindern weitergaben. Da ein Kind kaum etwas davon erzählen kann, sind bei ihm alle Formen seelischer Grausamkeit bestens aufgehoben.

Wie groß, wie unbändig stark muß Kafkas Hunger nach einem zuhörenden Menschen in seiner Kindheit gewesen sein, nach einem wahrhaftigen Menschen, der ohne Drohungen und ohne Ängstlichkeit seine Fragen, Ängste und Zweifel aufgenommen, seine Interessen geteilt, seine Gefühle mitgespürt und nicht verspottet hätte. Wie groß mußte seine Sehnsucht nach einer Mutter gewesen sein, die seiner inneren Welt mit Teilnahme und Respekt begegnet wäre. Diesen Respekt kann man aber nur dann einem Kind geben, wenn man gelernt hat, auch sich selbst als Person ernstzunehmen.

Wie hätte Kafkas Mutter das lernen können? Sie selber verlor ihre Mutter in einem Alter, in dem ein Kind diesen Verlust weder begreifen noch betrauern kann. Ohne einen empathischen Ersatz war es ihr unter diesen Umständen nicht möglich, ihre eigene Persönlichkeit, d.h. ihre echte Liebesfähigkeit zu entwickeln. Nicht lieben zu können, ist eine große Tragik, aber keine Schuld.

Die Einsicht, daß nicht depressive Pflichterfüllung, sondern die persönliche Entwicklung und die Lebendigkeit der Mutter eine warme und respektvolle Zuwendung zum Kind erst ermöglichen, beginnt sich nun langsam in unserer Gesellschaft durchzusetzen. Männer, die diese Einsicht für eine Erfindung der Frauenbewegung halten, müßten sich nur ein wenig in der Vergangenheit umschauen. 

Goethes Mutter z.B. schrieb an ihren Sohn Briefe, die sehr deutlich zeigen, wie selbstverständlich sich Liebe und Achtung für das Kind aus einer freien Spontaneität ergeben. Kein unechtes Wort ist hier zu lesen, nirgends die Rede von Opfer oder Pflicht­erfüllung.

327


Julie Kafka aber schreibt (an Brod), daß sie für das Glück jedes ihrer Kinder ihr Herzblut bereit wäre zu opfern. Ein ähnlicher Stil findet sich bei der Mutter Hölderlins. Wie viele Herzen hat denn eine Mutter? Und was soll das Kind mit diesem Blut machen, wenn es doch nur ein anhörendes Ohr braucht?

Der ungestillte, verzweifelte Hunger ihres Sohnes nach Wahrhaftigkeit und Verständnis, der übrigens die 700 Seiten der Briefe an Felice wie ein roter Faden durchzieht, drückt sich in dem oben zitierten Traum aus: an Stelle der Mutter sind so viele Menschen »mit vorbereiteten und aufmerksamen Ohren« eigens dafür hergekommen, um ihm zuzuhören. Und er darf so lange vorlesen, ganze Nächte hindurch, bis sie ihn verstanden haben. Aber — da die Zweifel und die quälende Macht der frühen Erfahrungen ebenso stark sind wie die Hoffnung, will Kafka Flaubert vorlesen. Falls die Hörer, trotz seiner größten Anstrengungen nicht verstehen sollten, was er ihnen zu vermitteln versuchte, so ist es Flaubert gewesen, den sie nicht verstanden hatten. Flaubert, der ihm zwar sehr nahe stand, aber doch nicht er selber war. 

Sich selber dem Risiko der Gleichgültigkeit und Ahnungslosigkeit auszusetzen wäre noch schmerzhafter gewesen und müßte das quälende Gefühl von Entblößung und Scham hinterlassen. Denn ein Kind schämt sich, wenn es vergeblich um Verständnis geworben hat. Es kommt sich wie ein Bettler vor, der nach großer Überwindung und nach langen inneren Kämpfen die Hand ausgestreckt hat und von den Passanten kaum beachtet wird.

Auch das gehört zur conditio humana, daß sich das Kind seiner Bedürfnisse schämt, während sich der Erwachsene seiner tauben Ohren gar nicht bewußt ist und oft keine Ahnung davon hat, was sich ganz in seiner Nähe in der Kinderseele abspielt, zumindest, solange ihm die eigene Kindheit emotional unzugänglich bleibt. 

328


Als Kind war Franz Kafka »folgsam, ruhiger Gemütsart und brav« — so schilderte ihn sein Kinderfräulein.

Das Kind wuchs unter der Obhut der Köchin und des Hausfaktotums Marie Werner auf, einer Tschechin, die jahrzehntelang in der Familie Kafka lebte und allgemein »siecna« (das Fräulein) genannt wurde. Die eine streng, die andere freundlich, aber furchtsam gegenüber dem Vater, dem sie bei Auseinandersetzungen stets zu erwidern pflegte: »Ich sage ja nichts, ich denke nur.« 

Zu diesen beiden »Respektspersonen« kam in den ersten Jähren noch ein Kindermädchen und später die (in »besseren« Prager Familien obligate) französische Gouvernante. Die Eltern sah Kafka selten: Der Vater hatte in seinem sich ständig vergrößernden Geschäft ein polterndes Domizil aufgeschlagen, und die Mutter mußte stets um ihn sein, als Hilfe und als Ausgleich gegenüber den Angestellten, die dem Vater als Vieh, Hunde und bezahlte Feinde galten. Die Erziehung beschränkte sich auf Anweisungen bei Tisch und Befehle, denn auch abends mußte die Mutter dem Vater stets Gesellschaft leisten beim gewöhnlichen Kartenspiel mit Ausrufen, Lachen und Streit. Pfeifen nicht zu vergessen.  

In dieser dumpfen, giftreichen, kinderauszehrenden Luft des schön eingerichteten Familienzimmers wuchs das Kind auf, die knappen Befehle des Vaters blieben ihm unbegreiflich und rätselhaft und es wurde schließlich so unsicher aller Dinge, daß ich tatsächlich nur das besaß, was ich schon in den Händen oder im Mund hielt oder was wenigstens auf dem Wege dorthin war. Zu dieser Unsicherheit trug besonders die Richtung der väterlichen Erziehung bei, die Kafka im Brief an den Vater bezeichnet: Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn, und in diesem Falle schien Dir das auch noch überdies deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufgehen wolltest.

(K. Wagenbach, 1976, S. 20)

Äußerlich gesehen wird hier ein »behütetes Zuhause« beschrieben, eine Kindheit nicht schlechter als viele andere, aus denen mehr oder weniger große und tapfere Menschen hervorgegangen sind. Aber Kafkas Werk erzählt, wie ein sensibles Kind Situationen erleben kann, die wir immer noch als ganz normal und unauffällig bezeichnen und in denen unsere Kinder leben müssen, ohne sie je, wie Kafka, artikulieren zu können. 

329


Wenn wir das, was er erzählte, nicht als Ausdruck seiner »Neurasthenie«, seiner Kopfschmerzen, seiner »Konstitution« oder seines Wahns, sondern als Beschreibungen seiner frühkindlichen Situation und seiner Reaktion darauf empathisch zu verstehen lernen, ohne die Eltern schonen zu müssen, kann das unsere Sensibilität dafür schärfen, was wir immer noch hier und jetzt unseren Kindern zumuten, oft nur, weil wir nicht wissen, wie stark das Kind seine Eindrücke aufnimmt und was später damit in ihm geschieht. 

Da ist z.B. ein harmloses Spiel auf Kosten des Kindes, ein Jux, den man sich leistet, oder eine Drohung, an deren Ausführung man selber niemals im Ernst denkt. nur um ein besseres Benehmen zu erzielen. Das Kind kann das jedoch nicht wissen, es wartet vielleicht täglich auf die angedrohte Strafe, die nicht kommt, die aber wie ein Damoklesschwert über ihm hängenbleibt. Solche »harmlosen« Szenen spielten sich oft auf Kafkas Schulweg ab. 

In einem Brief an Milena erzählt er:

Unsere Köchin, eine kleine trockene, magere, spitznasige, wangenhohl, gelblich, aber fest, energisch und überlegen, führte mich jeden Morgen in die Schule. Da ging es also zuerst über den Ring, dann in die Teingasse, dann durch eine Art Torwölbung in die Fleischmarktgasse zum Fleischmarkt hinunter. Und nun wiederholte sich jeden Morgen das Gleiche wohl ein Jahr lang.

Beim Aus-dem-Haus-treten sagte die Köchin, sie werde dem Lehrer erzählen, wie unartig ich zuhause gewesen bin. Nun war ich ja wahrscheinlich nicht sehr unartig, aber doch trotzig, nichtsnutzig, traurig, böse und es hätte sich daraus wahrscheinlich immer etwas Hübsches für den Lehrer zusammenstellen lassen. Das wußte ich und nahm also die Drohung der Köchin nicht leicht. 

Doch glaubte ich zunächst, daß der Weg in die Schule ungeheuer lang sei, daß da noch vieles geschehen könne (aus solchem scheinbaren Kinderleichtsinn entwickelt sich allmählich, da ja eben die Wege nicht ungeheuer lang sind, jene Ängstlichkeit und totenaugenhafte Ernsthaftigkeit) auch war ich, wenigstens noch auf dem Altstädter Ring, sehr im Zweifel, ob die Köchin, die zwar Respektsperson, aber doch nur eine häusliche war, mit der Welt-Respekts-Person des Lehrers überhaupt zu sprechen wagen würde ...

Etwa in der Gegend des Einganges zur Fleischmarktgasse bekam ... die Furcht vor der Drohung das Übergewicht. Nun war ja die Schule schon an und für sich ein Schrecken und jetzt wollte es mir die Köchin noch so erschweren. Ich fing an zu bitten, sie schüttelte den Kopf, je mehr ich bat, desto wertvoller erschien mir das, um was ich bat, desto größer die Gefahr, ich blieb stehn und bat um Verzeihung, sie zog mich fort, ich drohte ihr mit der Vergeltung durch die Eltern, sie lachte, hier war sie allmächtig, ich hielt mich an den Geschäftsportalen, an den Ecksteinen fest, ich wollte nicht weiter, ehe sie mir nicht verziehen hatte, ich riß sie am Rock zurück (leicht hatte sie es auch nicht), aber sie schleppte mich weiter unter der Versicherung, auch dieses noch dem Lehrer zu erzählen. 

Es wurde spät, es schlug acht von der Jakobskirche, man hörte die Schulglocken, andere Kinder fingen zu laufen an, vor dem Zuspätkommen hatte ich immer die größte Angst, jetzt mußten auch wir laufen und immerfort die Überlegung: »sie wird es sagen, sie wird es nicht sagen« — nun: sie sagte es nicht, niemals, aber immer hatte sie die Möglichkeit und sogar eine scheinbar steigende Möglichkeit (gestern habe ich es nicht gesagt, aber heute werde ich es ganz bestimmt sagen) und die ließ sie niemals los.   (F. Kafka, 1973, S. 48 f.)

330-331

 # 

 

www.detopia.de      ^^^^