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Der Prozeß

Das Schloß 

 

 

331-355

Es gibt unzählige Interpretationen von Kafkas Prozeß, weil dieses Werk viele menschliche Situationen spiegelt. Das tiefe Wissen von diesen Situationen aber, das Kafka dazu befähigte, sie so zu beschreiben, wurzelt wohl in den frühen Erlebnissen des Kindes, die den oben geschilderten Szenen auf dem Schulweg ähnelten. 

Josef K. ist morgens noch im Bett, als ihm ein Prozeß angekündigt wird, dessen Beweisführung für ihn so undurchsichtig ist, so widerspruchsvoll wie die Haltung der Eltern und Erzieher, dessen Berechtigung aber doch nicht ganz von der Hand zu weisen ist, weil immer etwas da ist, was ein Kind zu verbergen hat, wofür es sich schuldig fühlen muß und mit dem es immer allein bleibt. 

Wie Josef K. im Prozeß vergeblich herauszufinden versucht, was er verbrochen hat, quält sich der Landvermesser K. im Roman Das Schloß Tag und Nacht mit der Frage ab, wann er endlich als legales Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert sein wird.

Die verzweifelten Versuche eines Kindes, sich in den widersprüchlichen Äußerungen seiner Eltern zurecht­zufinden, in ihnen einen Sinn und eine Logik zu erblicken, können kaum einen adäquateren Ausdruck finden als in Kafkas Geschichte des Landvermessers K., der sich um den Eingang ins Schloß bemüht. Wie soll sich denn ein Kind die Tatsache erklären können, daß dieselbe Mutter. die ihm ständig ihre Liebe beteuert, seinen wahren Bedürfnissen gegenüber völlig ahnungslos bleibt und daß es nie ganz an sie herankommen kann, auch wenn sie in seiner Nähe ist wie das Schloß?

Kafka schildert hier im Grunde die unendlichen Anstrengungen eines Kindes, mit Hilfe des Verstehens aus der Einsamkeit herauszukommen und den Fluch der Isolierung unter den Bauern (den Hausangestellten) zu durchbrechen; die Bemühung, bei den belanglosen, zufälligen Gesten und Worten der Dorrbevölkerung Zeichen des Wohlwollens oder der Ablehnung des Schlosses zu erblicken; die Hoffnung, endlich einmal einen Sinn in dieser absurden Welt ausmachen zu können — einen Sinn, der einen tragen und in die Gemeinschaft der Schloßherrschaft (der Eltern) einbeziehen könnte.

Ein Kind denkt: »Wenn man mich geboren hat, wollte man mich doch hier haben, aber jetzt kümmert sich niemand um mich. Hat man vergessen, daß man mich geholt hat? Es kann doch wohl nicht sein, man wird sich sicher einmal daran erinnern. Was muß ich tun, damit das bald geschehe? Wie muß ich mich verhalten, wie muß ich die Signale deuten?« Das kleinste Zeichen des Wohlwollens wird unendlich ausgebaut, durch viele Phantasien und Wünsche unterstützt, bis die Hoffnung schließlich angesichts der unbestreitbaren Gleichgültigkeit der Umgebung doch wieder zusammenbricht. Aber nicht für lange, ein Kind kann ohne Hoffnungen und Phantasien nicht leben. Schon wieder baut der Landvermesser K. seine Luftschlösser auf, schon wieder versucht er Beziehungen anzuknüpfen, wenn nicht zum Grafen, so zumindest zu dessen Beamten.

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Wie der Landvermesser im Schloß blieb vermutlich das Kind Franz Kafka mit seinen Gedanken und Spekulationen über die Beziehungen der Erwachsenen untereinander und zu ihm selber völlig allein; wie der Landvermesser K. wurde dieses intelligente Kind paradoxerweise in seiner Familie nicht ernstgenommen, wurde auch es bloßgestellt, irregeführt, nicht beachtet, mit Versprechungen abgewimmelt, erniedrigt und fallengelassen, ohne daß irgendeine Person ihm verstehend und erklärend beigestanden hätte. 

Einzig seine jüngste Schwester Ottia konnte ihm Liebe und Verständnis geben; da sie aber neun Jahre jünger war als er, mußte die erste Zeit, die wichtigste und prägendste seines Lebens, in einer Atmosphäre verbracht werden, die er im Schloß minutiös beschrieb. 

Der Landvermesser K. im Schloß erlebt sich (wie das Kind Franz Kafka):

  1. unverständlichen, undurchschaubaren Schikanen ausgeliefert,

  2. ständigen Inkonsequenzen ausgesetzt,

  3. gerufen (erwünscht) und doch unbrauchbar,

  4. totaler Kontrolle unterworfen oder völlig unbeachtet und fallengelassen,

  5. gedemütigt und verspottet oder zu Hoffnungen verführt,

  6. mit unbestimmten Forderungen beauftragt, die er selber erraten muß und

  7. in ständiger Unsicherheit, ob er richtig geraten hat. 

Er versucht seine Umgebung zu verstehen, einen Sinn in diesem Chaos, in dieser Unordnung zu finden, aber das gelingt ihm nie. 

Wenn er meint, er werde verspottet, sieht es so aus, als ob es den anderen Ernst gewesen wäre — wenn er aber mit diesem Ernst rechnet, bleibt er der Dummer. 

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So ergeht es oft einem Kinde: die Eltern nennen das »spielen« und amüsieren sich, wenn das Kind vergeblich nach den Regeln dieses »Spiels« sucht, die sie ihm, wie die Pfeiler ihrer Macht, nicht preisgeben. 

So leidet der Landvermesser im Schloß unter der Undurchschaubarkeit seiner Umgebung, wie ein Kind ohne eine begleitende Bezugsperson; er leidet unter der Sinnlosigkeit der Bürokratie (Erziehungs­prinzipien), der Unzuverlässigkeit der Frauen und dem Prahlen der Angestellten.

In dieser großen Menschenansammlung befindet sich außer Olga, die selber ein Opfer dieses Systems ist, kein einziger Mensch, der ihm erklären könnte, was hier vor sich geht, und der ihn verstehen würde. Dabei spricht er doch niemals verwirrt, sondern immer klar, einfach, freundlich und überzeugend. Diese Tragik, mit den einfachsten, logischsten Gedanken nirgends anzukommen und ständig an Mauern abzuprallen. durchzieht eigentlich Kafkas ganzes Werk und ist auch in den Briefen als eine ständige, verhaltene Klage hörbar. 

Obwohl diese Klage mehrmals dichterisch gestaltet und ausdrücklich thematisiert wird, bleibt sie, gerade daher, vom biographischen Ursprung getrennt. Das Leiden des kleinen Kindes an seiner Mutter, die das Kind nicht verstehen und nicht einmal sehen konnte, bleibt dem Menschen Franz Kafka emotional unzugänglich, während die Schwierigkeiten mit dem Vater, die in eine spätere Zeit gehören, für ihn viel greifbarer und besser artikulierbar waren (vgl. F. Kafka, 1978).

Wieviel Wesentliches Kafka bei seiner Mutter entbehren mußte, zeigt sich an seiner Einsamkeit in der Freundschaft mit Max Brod und mit Felice Bauer, seiner Verlobten. 

Über das Zusammensein mit Max Brod schreibt er einmal:

Ich war z.B. mit Max in den vielen Jahren, seitdem wir uns kennen, doch schon so oft allein beisammen, tagelang, auf Reisen wochenlang und fast unaufhörlich, aber ich kann mich nicht erinnern — wenn es geschehen wäre, könnte ich mich sehr gut erinnern —, ein großes, zusammenhängendes, mein ganzes Wesen heraushebendes Gespräch mit ihm geführt zu haben, wie es doch selbstverständlich sich ergeben müßte, wenn zwei Menschen mit ihrem großen Umkreis eigentümlicher und bewegter Meinungen und Erfahrungen aneinandergeraten. Und Monologe Maxens (und vieler anderer) habe ich schon genug gehört, für die nur der laute und meistens auch der stumme Gegenredner fehlte (F. Kafka, 1976, S. 401).

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Ein Mensch, der als Kind so einsam wie Franz Kafka war, kann sich nicht als Erwachsener einen Freund oder eine Frau suchen, die ihn verstehen würden, sondern sucht oft, zunächst die Wiederholung der Kindheit. An der Art der Beziehung Kafkas zu Felice und ihrer zu ihm, können wir ablesen, worin Kafkas Not mit seiner Mutter bestand. 

Julie Kafka, hatte für ihren Sohn nicht nur keine Zeit, sondern auch keine Antennen, und wenn sie sich um sein Wohl kümmerte, tat sie es mit einer solchen Taktlosigkeit, daß sie ihn tief verletzte (vgl. S. 354f.), ohne daß sie es wollte und ohne daß er das artikulieren konnte, weil ein Kind einer unsicheren Mutter seine eigenen Verletzungen nicht einmal merken darf. Das gleiche spielt sich mit Felice ab. Die nüchterne Verlobte kann sehr vieles verstehen, aber nicht die Welt eines Franz Kafka. 

Daß er gerade bei ihr das Verständnis sucht und zunächst lange seine Enttäuschung nicht merkt, ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß dieser Mann eine Mutter hatte und liebte, die zu seiner Welt keinen Zugang hatte. 

Er schreibt an Felice einmal:

Meine Mutter? Sie bettelt seit 3 Abenden, seitdem sie meine Sorgen ahnt, ich möchte doch heiraten auf jeden Fall, sie will dir schreiben, sie will mit mir nach Berlin fahren, was will sie nicht alles! Und hat nicht die geringste Ahnung von dem, was für mich notwendig ist.

Ich lebe in meiner Familie, unter den besten, liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den Schwägern spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein (S. 456 f.).

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Franz Kafka bedeutet die Sprache und das Sprechenkönnen alles. Aber weil das, was er empfand, nicht gesagt werden durfte, mußte er schweigen und litt darunter.

Für mich waren die Briefe an Felice und der Roman Das Schloß die eigentlichen Schlüsselerlebnisse bei der Lektüre der Werke Kafkas. Ich könnte sagen, daß mir einerseits die Briefe geholfen haben, besser zu begreifen, was sich im Roman Das Schloß abspielt; andererseits haben mir die Episoden des Romans und die Hoffnungslosigkeit der Situation seines Helden erklärt, warum Franz Kafka fünf Jahre lang versuchte, sich einer Frau verständlich zu machen, die kaum auf ihn eingehen konnte. 

Das Bemühen um einen Dialog mit einem Partner, der aus Gründen, die in seine eigene Lebensgeschichte gehören, diesen Dialog weder führen kann noch will, wäre nicht tragisch, wenn mit diesem Bemühen nicht auch der Zwang verbunden wäre, die Anstrengungen immer neu zu wiederholen und die Hoffnung um keinen Preis aufzugeben. Dieser absurde Zwang verliert seine Absurdität, wenn man sich ein kleines Kind vorstellt, das keine andere Wahl hat, als sich um den Dialog mit seiner Mutter zu bemühen, weil es sich keine andere Mutter aussuchen kann. 

An diese Situation mußte ich bei der Lektüre der Briefe an Felice öfters denken, die, ähnlich wie Das Schloß, Kafkas erste Beziehung zur Mutter deutlich hervortreten lassen. Er brauchte ihre Gegenwart wie »Luft zum Leben«, er wollte sich an sie klammern, sie bei sich zurückhalten, aber gerade das machte ihm Angst, denn er spürte, daß er sie damit überforderte, weil sie ihm nicht geben konnte, was er brauchte. Und so fürchtete er vor allem, daß seine Sehnsucht, sein Hunger nach Beziehung, falsch oder unangemessen wären, nur weil seine Mutter diesen Hunger nicht stillen und vielleicht daher auch nicht gut ertragen konnte.

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Wäre dies nicht Kafkas erste Erfahrung gewesen, dann hätte er sich nach den ersten Briefen von Felice von ihr trennen können. Das kann er nicht; die hier zu erleidenden Versagungen sind ihm zu vertraut, als daß er sie als solche erkennen würde. So verlobt er sich mit dieser Frau, löst diese Verlobung im entscheidenden Moment auf, verlobt sich später noch einmal mit ihr, und als die Wahrheit immer klarer und bedrängender wird, wird er durch eine Krankheit, die Tuberkulose, vor der Verlobung gerettet.

Über die erste Begegnung mit Felice schreibt Kafka:

Du sahst doch an jenem Abend so frisch, rotbäckig gar und unzerstörbar aus. Ob ich Dich gleich lieb hatte, damals? Schrieb ich es Dir nicht schon? Du warst mir im ersten Augenblick ganz auffällig und unbegreiflich gleichgültig und wohl deshalb vertraut. Ich nahm es wie etwas Selbstverständliches auf. Erst als wir uns vom Tisch im Speisezimmer erhoben, merkte ich mit Schrecken, wie die Zeit verging, wie traurig das war und wie man sich beeilen müsse, aber ich wußte nicht, auf welche Weise und zu welchem Zweck (S. 148f.).

Felice Bauer wohnte in Berlin; Kafka traf sie zum erstenmal in Prag bei seinen Freunden, wo sie auch als Gast eingeladen war. Von da an beginnt die Korrespondenz, die sich als Projektion lange aufgestauter, aus der Kindheit stammender Gefühle nahezu in idealer Weise eignet, weil Kafka im Grunde über die Realität dieser Frau ebenso wenig weiß wie ein ganz kleines Kind über das Leben seiner Mutter. Für das kleine Kind ist seine Mutter nicht eine eigenständige Person, sondern die Ausdehnung seines eigenen Selbst. Ihre Verfügbarkeit hat daher eine lebenswichtige Bedeutung (A. Miller, 1979). 

Um die Ähnlichkeit zwischen der kühlen, nüchternen und tüchtigen Felice Bauer und seiner eigenen Mutter (»unbegreiflich gleichgültig und wohl deshalb vertraut«) unbewußt wahrnehmen zu können, brauchte Franz Kafka nicht sehr viel Zeit. Manchmal können solche Ähnlichkeiten in den ersten Minuten einer neuen Begegnung registriert werden. 

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In der beglückenden Verliebtheit, die darauf folgt, können sämtliche, längst begrabenen Hoffnungen auf einen zuhörenden, verstehenden und beteiligten Menschen wieder aufblühen, deren Rückkehr aus der Verdrängung dem Betreffenden den Wiedergewinn an Lebendigkeit und eine bisher nie gekannte Glückseligkeit verleihen kann. Es ist begreiflich, wenn dieser zunächst um jeden Preis bereit ist, die ersten Zeichen des Nichtverstehens, der Fremdheit, der Unsicherheit beim anderen zu übersehen, oder, wenn dies nicht mehr möglich ist. sich gelber wegen seiner Erwartungen, seiner »Kompliziertheit«, seines Andersseins zu beschuldigen. Die Enttäuschungen über den Anderen können natürlich nicht ausbleiben, aber die Erklärung für diese kann das Zulassen der Wahrheit noch hinausschieben. 

So beklagt sich Franz Kafka zunächst über die Seltenheit der Briefe von Felice (die gar nicht selten sind), um sich nicht über deren Inhalt zu beklagen, denn aus seinen Antworten sieht man, daß Felice ihn oft wie seine Mutter zur Pflege der Gesundheit anhält, sich zu seinen Erzählungen kaum äußert, ihm Autoren zu lesen empfiehlt, die er nicht mag, über seine Gefühle befremdet ist, deren Intensität wahrscheinlich auch fürchtet, und im Grunde einem vulkanartigen Geschehen ahnungslos gegenübersteht.

Man kann sich Felices Befremden leicht vorstellen, wenn man folgende Stellen liest:

Jetzt ist Montag ½11 Uhr vormittag. Seit Samstag ½11 Uhr warte ich auf einen Brief und es ist wieder nichts gekommen. Ich habe jeden Tag geschrieben (das ist nicht der geringste Vorwurf, denn es hat mich glücklich gemacht) aber verdiene ich wirklich kein Wort? Kein einziges Wort? Und wenn es auch nur die Antwort wäre »Ich will von Ihnen nichts mehr hören«. Dabei habe ich geglaubt, daß Ihr heutiger Brief eine kleine Entscheidung enthalten wird und nun ist das Nichtkommen des Briefes allerdings auch eine Entscheidung. Wäre ein Brief gekommen, ich hätte gleich geantwortet und die Antwort hätte mit einer Klage über die Länge der zwei endlosen Tage anfangen müssen. Und nun lassen Sie mich trostlos bei meinem trostlosen Schreibtisch sitzen! (74)

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Liebstes Fräulein Felice! 
Gestern habe ich vorgegeben, daß ich Sorge um Sie habe und habe mir Mühe gegeben. Ihnen zuzureden. Aber was tue ich selbst unterdessen? Quäle ich Sie nicht? Zwar nicht mit Absicht, denn das wäre unmöglich und müßte, wenn es so wäre, vor Ihrem letzten Brief vergehen wie das Teuflische vor dem Guten, aber durch mein Dasein, durch mein Dasein quäle ich Sie. Ich bin im Grunde unverwandelt, drehe mich weiter in meinem Kreise, habe nur ein neues, unerfülltes Verlangen zu meinem übrigen unerfüllten bekommen und habe eine neue menschliche Sicherheit, vielleicht meine stärkste, geschenkt erhalten zu meinem sonstigen Verlorensein. (78)

Liebste, 
laß Dich nicht stören, ich sage Dir bloß gute Nacht und habe deshalb mitten auf einer Seite mein Schreiben unterbrochen. Ich habe Angst, daß ich Dir bald nicht mehr werde schreiben können, denn um jemandem (ich muß Dich mit allen Namen benennen, darum heiße einmal auch »jemand«) schreiben zu können, muß man sich doch vorstellen, daß man sein (sein, A. M.) Gesicht vor sich hat, an das man sich wendet. Und vorstellbar ist mir Dein Gesicht sehr gut, daran würde es nicht scheitern. Aber die noch viel stärkere Vorstellung fangt immer häufiger an mich zu halten, daß mein Gesicht auf Deiner Schulter liegt und daß ich mehr erstickt als verständlich zu Deiner Schulter, zu Deinem Kleid, zu mir selbst rede, während Du keine Ahnung haben kannst, was dort gesprochen wird. (92)

Und flieg mir nicht fort! fällt mir irgendwie ein, vielleicht durch das Wort »Adieu«, das solche Flugkraft hat. Es müßte ja, denke ich mir, ein ausnehmendes Vergnügen sein, in die Höhe wegzufliegen, wenn man dadurch ein schweres Gewicht loswerden kann, das an einem hängt, wie ich an Dir. Laß Dich nicht verlocken durch die Erleichterung, die winkt. Bleib in der Täuschung, daß Du mich nötig hast. Denke Dich noch tiefer hinein. Denn sieh. Dir schadet es doch nichts, willst du mich einmal los sein, so wirst Du immer genug Kräfte haben, es auch zu werden, mir aber hast Du in der Zwischenzeit ein Geschenk gemacht, wie ich es in diesem Leben zu finden auch nicht geträumt habe. So ist es, und wenn du auch im Schlaf den Kopf schüttelst. (93)

Liebste, nicht so quälen! nicht so quälen! Du läßt mich auch heute, Samstag, ohne Brief, gerade heute, wo ich dachte, er müsse so bestimmt kommen wie es Tag wird nach der Nacht. Aber wer hat denn einen Brief verlangt, nur zwei Zeilen, ein Gruß, ein Briefumschlag, eine Karte, auf vier Briefe hin, dieses ist der fünfte, habe ich noch kein Wort von Dir gesehn. Geh', das ist nicht recht. Wie soll ich denn die langen Tage verbringen, arbeiten, reden und was man sonst von mir verlangt. Es ist ja vielleicht nichts geschehn. Du hattest nur keine Zeit, Theaterproben oder Vorbesprechungen haben Dich abgehalten, aber sag nur welcher Mensch kann Dich abhalten, an ein Seitentischchen zu treten, mit Bleistift auf einen Fetzen Papier »Felice« zu schreiben und nur das zu schicken. Und für mich wäre es schon so viel! Ein Zeichen Deines Lebens, eine Beruhigung in dem Wagnis, sich an ein Lebendiges gehängt zu haben. Morgen wird und muß ja ein Brief kommen, sonst weiß ich mir keinen Rat; dann wird auch alles gut sein und ich werde Dich dann nicht mehr mit Bitten um so häufiges Schreiben plagen. (97)

Vorgestern in der Nacht träumte ich zum zweiten Mal von Dir. Ein Briefträger brachte mir zwei Einschreibebriefe von Dir und zwar reichte er mir sie, in jeder Hand einen, mit einer prachtvoll präcisen Bewegung der Arme, die wie die Kolbenstangen einer Dampfmaschine zuckten. Gott, es waren Zauberbriefe. Ich konnte soviel beschriebene Bogen aus den Umschlägen ziehn, sie wurden nicht leer. Ich stand mitten auf einer Treppe und mußte die gelesenen Bogen, nimm es mir nicht übel, auf die Stufen werfen, wollte ich die weiteren Briefe aus den Umschlägen herausnehmen. Die ganze Treppe nach oben und unten war von diesen gelesenen Briefen hoch bedeckt und das lose aufeinandergelegte, elastische Papier rauschte mächtig. Es war ein richtiger Wunschtraum. (101) 

339, 340


Das sich Anklammern, Hoffen, Flehen um Zuwendung wechseln ab mit der Angst vor dem Verlassen­werden und den Selbst­vorwürfen. Erst mit der Zeit wagen sich auch Vorwürfe in die Briefe, gefolgt von großer Angst, nun alles aufs Spiel gesetzt zu haben.

Liebste, 
was habe ich Dir denn getan, daß du mich so quälst? Heute wieder kein Brief, nicht mit der ersten, nicht mir der zweiten Post. Wie du mich leiden läßt! Während ein geschriebenes Wort von Dir mich glücklich machen könnte! Du hast mich satt, es gibt keine andere Erklärung, es ist schließlich kein Wunder, unverständlich ist nur, daß Du es mir nicht schreibst. Wenn ich weiterleben will, darf ich nicht wie diese endlosen letzten Tage nutzlos auf Nachrichten von Dir warten. Aber Hoffnung, Nachricht von Dir zu bekommen, habe ich nicht mehr. Ich muß mir also den Abschied, den Du mir stillschweigend gibst, ausdrücklich wiederholen. Ich möchte das Gesicht auf diesen Brief werfen, damit er nicht weggeschickt werden kann, aber er muß weggeschickt werden. Ich warte also auf keine Briefe mehr. (106)

340


Liebste, meine Liebste, 
es ist ½ 2 in der Nacht. Habe ich Dich mit meinem Vormittagsbrief gekränkt? Was weiß denn ich von den Verpflichtungen, die Du gegen Deine Verwandten und Bekannten hast! Du plagst Dich und ich plage Dich mit Vorwürfen wegen Deiner Plage. Bitte, Liebste, verzeihe mir! Schicke mir eine Rose zum Zeichen, daß Du mir verzeihst. Ich bin nicht eigentlich müde, aber dumpf und schwer, ich finde nicht die richtigen Worte. Ich kann nur sagen, bleib bei mir und verlaß mich nicht, und wenn irgendeiner meiner Feinde aus mir heraus Dir solche Briefe schreibt, wie es der heutige vom Vormittag war, dann glaube ihm nicht, sondern schau durch ihn hindurch in mein Herz. Es ist ja ein so schlimmes, schweres Leben, wie kann man auch einen Menschen mit bloßen geschriebenen Worten halten wollen, zum Halten sind die Hände da. Aber in dieser Hand habe ich die Deine, die ich zum Leben unbedingt nötig habe, nur drei Augenblicke lang halten dürfen, als ich ins Zimmer trat, als Du mir die Reise nach Palästina versprachst und als ich Narr Dich in den Aufzug steigen ließ.

Darf ich Dich also küssen? Aber auf diesem kläglichen Papier? Ebensogut könnte ich das Fenster aufreißen und die Nachtluft küssen. Liebste, sei mir nicht böse! Ich verlange von Dir nichts anderes. (107)

Ich kann nicht weinen. Weinen anderer kommt mir wie eine unbegreifliche, fremde Naturerscheinung vor. Ich habe im Laufe vieler Jahre nur vor zwei, drei Monaten einmal geweint, da hat es mich allerdings in meinem Lehnsessel geschüttelt, zweimal kurz hintereinander, ich fürchtete, mit meinem nicht zu bändigenden Schluchzen die Eltern nebenan zu wecken, es war in der Nacht und die Ursache war eine Stelle meines Romans. (136)

Und wieder die Angst, lästig zu werden:

Müde, müde bist Du wohl, meine Felice, wenn Du diesen Brief in die Hand nimmst, und ich muß mich anstrengen deutlich zu schreiben, damit die verschlafenen Augen nicht zu viel Mühe haben. Willst Du nicht lieber den Brief vorläufig angelesen lassen und Dich zurücklehnen und ein paar Stunden weiterschlafen nach dem Lärm und Hetzen dieser Woche? Der Brief wird Dir nicht fortfliegen, sondern ruhig auf der Bettdecke warten bis Du erwachst. (142)

341


Aber jetzt kein Wort mehr, nur noch Küsse und besonders viel aus tausend Gründen, weil Sonntag ist, weil das Fest vorüber ist, weil schönes Wetter ist, oder weil vielleicht schlechtes Wetter ist, weil ich schlecht schreibe und weil ich hoffentlich besser schreiben werde und weil ich so wenig von Dir weiß und nur durch Küsse etwas Ernstliches sich erfahren läßt und weil Du schließlich ganz verschlafen bist und Dich gar nicht wehren kannst. (143)

Aber ich bin Dir im Wege, ich hindere Dich, ich werde doch einmal zur Seite treten müssen, ob früher oder später, wird nur die Größe meines Eigennutzes bestimmen. Und ich werde es niemals mit einem offenen und männlichen Worte tun können, scheint mir, immer werde ich dabei an mich denken, niemals werde ich, wie es meine Pflicht wäre, die Wahrheit verschweigen können, daß ich mich für verloren halte, wenn ich Dich verliere. Liebste, mein Glück scheint so nah, nur durch 8 Eisenbahnstunden von mir entfernt, und ist doch unmöglich und unausdenkbar. Erschrecke, Liebste, nicht über diese Wiederkehr ewig gleicher Klagen, es wird ihnen kein Brief wie jener, der damals aus mir hervorgebrochen ist, folgen, ... aber es gibt Abende, wo ich so für mich klagen muß, denn schweigend leiden ist zu schwer. (144)

Wenn ein Mensch sehr früh erfahren mußte, daß er der Mutter lästig war, kann er sich schwer vorstellen, daß er anderen Menschen, die ihm lieb sind, nicht auch lästig sein sollte. So wird er möglicherweise den anderen unbewußt dazu provozieren, ihn schwer zu ertragen, indem er ihn als »unentbehrlich«, als die für ihn notwendige »Luft zum Atmen« bezeichnet. Das muß den anderen beunruhigen und belasten, weil es ihn überfordert, und kann ihn zur Annahme einer ursprünglich nicht gewollten reservierten Haltung führen. Auch Felice reagierte vermutlich mit steigender Reserviertheit auf Sätze wie die folgenden:

Liebste, wie ich aus Deinen Briefen mein Leben sauge, das kannst Du Dir nicht vorstellen, aber die Überlegung, das ganz bewußte Ja-sagen ist noch nicht darin, auch nicht in Deinem letzten Briefe. Wäre es nur im morgigen Brief oder ganz besonders in der Antwort auf meinen morgigen Brief. (406)

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Je stärker der andere idealisiert wird, um so schmerzhafter die Zusammenstöße mit der Realität:

Du glaubst mir alles, was ich sage, nur das, was ich über mich sage, ist »zu schroff«. Also glaubst Du mir den ganzen Brief nicht, denn er handelte ja nur von mir. Was soll ich da tun? Wie Dir das Unglaubliche glaubhaft machen! Du hast mich doch schon in Person gesehn, gehört und geduldet. Nicht nur Du, auch Deine Familie. Und doch glaubst Du mir nicht. Und es handelt sich auch um mehr als nur um »Berlin und was dazu gehört«, was Du verlieren würdest, darauf antwortest du aber gar nicht und es ist das Wichtigste. »Einen guten lieben Mann?« Ich habe in meinem letzten Brief andere Eigenschaftswörter zu mir gesetzt, aber die glaubst Du nur eben nicht. Glaub mir doch, überleg alles und sag, wie Du es überlegt hast. Wenn Du doch heute, Sonntag, ein wenig Zeit hättest und mir ein wenig ausführlich schreiben wolltest, wie Du dir das wochentägliche Leben mit einem Menschen wie dem von mir beschriebenen vorstellst? Tu das, Felice, ich bitte Dich darum als einer, der Dir seit der ersten Viertelstunde verlobt war. (406)

Liebste, 
auch das und vielleicht das vor allem berücksichtigst Du in Deinen Überlegungen nicht genug, trotzdem wir schon viel darüber geschrieben haben: daß nämlich das Schreiben mein eigentliches gutes Wesen ist. Wenn etwas an mir gut ist, so ist es dieses. Hätte ich dies nicht, diese Welt im Kopf, die befreit sein will, ich hätte mich nie an den Gedanken gewagt. Dich bekommen zu wollen. Was Du jetzt zu meinem Schreiben sagst, kommt nicht so sehr in Betracht, Du wirst, wenn wir beisammen sein sollten, bald einsehn, daß, wenn Du mein Schreiben mit oder wider Willen nicht lieben wirst. Du überhaupt nichts haben wirst, woran Du Dich halten könntest, du wirst dann schrecklich einsam sein, Felice, Du wirst nicht merken, wie ich Dich liebe, und ich werde Dir kaum zeigen können, wie ich Dich liebe, trotzdem ich Dir dann vielleicht ganz besonders angehören werde, heute wie immer. (407)

343


Ich weiß, Felice, es gibt eine einfache Möglichkeit, sich mit diesen Fragen rasch und günstig auseinanderzusetzen, nämlich die, daß Du mir nicht glaubst oder wenigstens für die Zukunft nicht glaubst oder wenigstens nicht vollständig glaubst. Ich fürchte. Du bist nahe daran. Das wäre allerdings das Schlimmste. Dann begehst Du, Felice, die größte Sünde an Dir und infolgedessen auch an mir. Dann gehn wir beide ins Verderben. Du mußt mir glauben, was ich von mir sage, es ist die Selbsterfahrung eines 30-jährigen Menschen, der schon einige Male aus innersten Gründen nahe am Irresein, also an den Grenzen seines Daseins war, also einen ganzen Überblick über sich hat und über das, was in diesen Grenzen aus ihm werden kann. (408/9)

Arme liebste Felice! 
Dieses Zusammentreffen, daß ich mit niemandem so leide wie mit Dir und niemanden so quäle wie Dich, ist schrecklich und gerecht. Ich gehe förmlich auseinander. Ich ducke mich vor meinen eigenen Schlägen und nehme förmlich den größten Anlauf, um sie auszuführen. Wenn das nicht die schlimmsten Vorzeichen sind, die uns erscheinen können!

Nicht ein Hang zum Schreiben, Du liebste Felice, kein Hang, sondern durchaus ich selbst. Ein Hang ist auszureißen oder niederzudrücken. Aber dieses bin ich selbst; gewiß bin auch ich auszureißen und niederzudrücken, aber was geschieht mit Dir? Du bleibst verlassen und lebst doch neben mir. Du wirst Dich verlassen fühlen, wenn ich lebe, wie ich muß, und Du wirst wirklich verlassen sein, wenn ich nicht so lebe. Kein Hang, kein Hang! Meine kleinste Lebensäußerung wird dadurch bestimmt und gedreht. Du wirst Dich an mich gewöhnen. Liebste, schreibst Du, aber unter welchen, vielleicht unerträglichen Leiden. Bist Du imstande. Dir ein Leben richtig vorzustellen, währenddessen, wie ich es Dir schon schrieb, wenigstens im Herbst und Winter, für uns täglich gerade nur eine gemeinsame Stunde sein wird und Du als Frau die Einsamkeit schwerer noch tragen wirst, als Du es Dir heute als Mädchen in der Dir gewohnten, entsprechenden Umgebung nur von der Ferne denken kannst? Vor dem Kloster würdest Du unter Lachen zurückschrecken und willst mit einem Menschen leben, den sein eingeborenes Streben (und nur nebenbei auch seine Verhältnisse) zu einem Klosterleben verpflichten? (451)

Der lebendige Mensch in mir hofft natürlich, das ist nicht erstaunlich. Der urteilende aber nicht. (647) 

344


Man muß es immer wieder von neuem versuchen. In Schlagworten — und deshalb mit einer der Wahrheit nicht ganz entsprechenden Härte — kann ich meine Stellung etwa so umschreiben; Ich, der ich meistens unselbständig war, habe ein unendliches Verlangen nach Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit nach allen Seiten, lieber Scheuklappen anziehn und meinen Weg bis zum Äußersten gehn, als daß sich das heimatliche Rudel um mich dreht und mir den Blick zerstreut. Deshalb wird jedes Wort, das ich zu meinen Eltern oder sie zu mir sagen, so leicht zu einem Balken, der mir vor die Füße fliegt. 

Alle Verbindung, die ich mir nicht selbst schaffe, sei es selbst gegen Teile meines Ich ist wertlos, hindert mich am Gehn, ich hasse sie oder bin nahe daran sie zu hassen. Der Weg ist lang, die Kraft ist klein, es gibt übergenug Grund für solchen Haß. Nun stamme ich aber aus meinen Eltern, bin mit ihnen und den Schwestern im Blut verbunden, fühle das im gewöhnlichen Leben und infolge der notwendigen Verranntheit in meine besonderen Absichten nicht, achte es aber im Grunde mehr als ich weiß. Das eine Mal verfolge ich auch das mit meinem Haß; der Anblick des Ehebettes Zuhause, der gebrauchten Bettwäsche, der sorgfältig hingelegten Nachthemden kann mich bis nahe zum Erbrechen reizen, kann mein Inneres nach außen kehren, es ist, als wäre ich nicht endgiltig geboren, käme immer wieder aus diesem dumpfen Leben in dieser dumpfen Stube zur Welt, müsse mir dort immer wieder Bestätigung holen, sei mit diesen widerlichen Dingen, wenn nicht ganz und gar, so doch zum Teil unlöslich verbunden, noch an den laufenwollenden Füßen hängt es wenigstens, sie stecken noch im ersten formlosen Brei. Das ist das eine Mal. Das andere Mal weiß ich aber wieder, daß es doch meine Eltern sind, notwendige, immer wieder Kraft gebende Bestandteile meines eigenen Wesens, nicht nur als Hindernis, sondern auch als Wesen zu mir gehörig. Dann will ich sie so haben, wie man das Beste haben will; habe ich seit jeher in aller Bosheit, Unart, Eigensucht, Lieblosigkeit doch vor ihnen gezittert - und tue es eigentlich noch heute, denn damit kann man doch niemals aufhören -und haben sie, Vater von der einen Seite, Mutter von der ändern, meinen Willen, wiederum notwendiger Weise, fast gebrochen, so will ich sie dessen würdig sehn. Ottia scheint mir zuzeiten so, wie ich eine Mutter in der Ferne wollte: rein, wahrhaftig, ehrlich, folgerichtig. Demütigkeit und Stolz, Empfänglichkeit und Abgrenzung, Hingabe und Selbständigkeit, Scheu und Mut in untrüglichem Gleichgewicht. Ich erwähnte Ottia, weil doch auch in ihr meine Mutter ist, ganz und gar unkenntlich allerdings. Ich will sie also dessen würdig sehn. 

345


Infolgedessen ist für mich ihre Unreinlichkeit hundertfach so groß, als sie es vielleicht in der Wirklichkeit, die mich nicht kümmert, sein mag; ihre Einfältigkeit hundertfach; ihre Lächerlichkeit hundertfach, ihre Roheit hundertfach. Ihr Gutes dagegen hunderttausendfach kleiner als in Wirklichkeit. Ich bin deshalb von ihnen betrogen und kann doch ohne verrückt zu werden, gegen das Naturgesetz nicht revoltieren. Also wieder Haß und fast nichts als Haß.

Du nun gehörst zu mir, ich habe Dich zu mir genommen; ich kann nicht glauben, daß in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um Dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und vielleicht für immer. Also Du gehörst zu mir. (729/750)

Wenn es sich aber so verhält, warum freue ich mich dann über Deine letzte Bemerkung nicht? Weil ich förmlich vor meiner Familie stehe und unaufhörlich die Messer im Kreise schwinge, um die Familie immerfort und gleichzeitig zu verwunden und zu verteidigen. (751)

Daß zwei in mir kämpfen, weißt du. Daß der bessere der zwei Dir gehört, daran zweifle ich gerade in den letzten Tagen am wenigsten. Über den Verlauf des Kampfes bist Du ja durch 5 Jahre durch Wort und Schweigen und durch ihre Mischungen unterrichtet worden, meistens zu Deiner Qual. Fragst Du mich, ob es immer wahrhaftig war, kann ich nur sagen, daß ich keinem Menschen gegenüber bewußte Lügen so stark zurückgehalten habe oder, um noch genauer zu sein, stärker zurückgehalten habe als gegenüber Dir. Verschleierungen gab es manche, Lügen sehr wenig, vorausgesetzt, daß es überhaupt »sehr wenig« Lügen geben kann. Ich bin ein lügnerischer Mensch. (755)

Wie sehr dieser letzte Satz nicht stimmt, zeigen die nächsten Zeilen. Die Wahrhaftigkeit Kafkas geht so weit, daß er nicht einmal der Versuchung erliegt, sich hinter der Krankheit zu verstecken.

Ich halte nämlich diese Krankheit im geheimen gar nicht für eine Tuberkulose, oder wenigstens zunächst nicht für eine Tuberkulose, sondern für meinen allgemeinen Bankrott. Ich glaubte, es ginge noch weiter und es ging nicht. - Das Blut stammt nicht aus der Lunge, sondern aus dem oder aus einem entscheidenden Stich eines Kämpfers.

Dieser eine hat nun an der Tuberkulose eine Hilfe, so riesengroß etwa, wie ein Kind an den Rockfalten der Mutter. Was will der andere noch? Ist der Kampf nicht glänzend zuende gefochten? Es ist eine Tuberkulose und das ist der Schluß. (756)

346


Und noch deutlicher:

Ich werde nicht mehr gesund werden. Eben weil es keine Tuberkulose ist, die man in den Liegestuhl legt und gesund pflegt, sondern eine Waffe, deren äußerste Notwendigkeit bleibt, solange ich am Leben bleibe. Und beide können nicht am Leben bleiben. (757)*

Ein Brief an Max Brod von Mitte September 1917 zeigt die Einsicht in den tieferen Sinn der Erkrankung:

Jedenfalls verhalte ich mich heute zu der Tuberkulose, wie ein Kind zu den Rockfalten der Mutter, an die es sich hält. Kommt die Krankheit von der Mutter, stimmt es noch besser, und die Mutter hätte mir in ihrer unendlichen Sorgfalt, weit unter ihrem Verständnis der Sache, auch noch diesen Dienst getan. Immerfort suche ich eine Erklärung der Krankheit, denn selbst erjagt habe ich sie doch nicht. Manchmal scheint es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt. »So geht es nicht weiter« hat das Gehirn gesagt und nach fünf Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt zu helfen. (F. Kafka, 1975, S. 161)

In seiner Biographie erzählt Brod, was nach dem Abschied von Felice geschah:

Am nächsten Vormittag kam Franz zu mir ins Büro. Um sich einen Moment auszuruhen, sagte er. Er hatte eben F. zur Bahn gebracht. Sein Gesicht war blaß, hart und streng. Aber plötzlich begann er zu weinen. Es war das einzige Mal, daß ich ihn weinen sah. Ich werde diese Szene nie vergessen, sie gehört zu dem Schrecklichsten, was ich erlebt habe. — Ich saß im Büro nicht allein, dicht neben meinem Schreibtisch stand der Schreibtisch eines Kollegen ...

Kafka aber war direkt zu mir ins Arbeitszimmer gekommen, mitten in den Betrieb, saß neben meinem Schreibtisch auf dem Sesselchen, das für Bittsteller, Pensionisten, Beschuldigte bereit stand. Und hier weinte er, hier sagte er schluchzend: »Ist es nicht schrecklich, daß so etwas geschehen muß?« Die Tränen liefen ihm über die Wangen, ich habe ihn nie außer diesem einen Male fassungslos, ohne Haltung gesehen. (M. Brod, 1977, S. 147/148) 

 

*  Alle Stellen aus Briefe an Felice zitiert nach F. Kafka, 1976.

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Wir haben, wie bei unseren Patienten, die Wahl, aufgrund dieser Briefe von Kafkas »narzißtischem Charakter«, seiner »Frustrations­intoleranz«, seiner »Ich-Schwäche«, Ängstlichkeit, Hypochondrie, von seinen Phobien, psychosomatischen Störungen u.ä. zu sprechen und zu schreiben, oder wir können in Kafkas Leben und Werken Mitteilungen darüber suchen und finden, welches Kinderschicksal dieser Mensch hatte; mit andern Worten, seine Symptome nicht als Unarten oder Fehler, sondern als die sichtbaren Teile einer unsichtbaren Kette ansehen.

Ohne die Dimension des Leidens, vor allem des frühkindlichen Leidens, bleiben unsere Diagnosen im Bereich von normativen, moralisierenden Werturteilen. Solange sich auch die Psychoanalyse nicht von ihnen befreien kann, ist es begreiflich, und, abgesehen von den unbewußten Widerständen und Ängsten, wohl sachlich begründet, daß die schöpferisch tätigen Menschen ihr ein tiefes Mißtrauen entgegenbringen.

 

Ähnlich wie Flaubert und Beckett konnte Kafka unmöglich wissen, daß er in seinen Romanen und Erzählungen Erlebnisse aus seiner Kindheit darstellte. Auch seine Leser betrachten sie als Ausdruck der Phantasien, die seinem Gehirn, seiner Begabung, seinem künstlerischen Talent oder wie man dies auch ausdrücken möchte, entsprangen. Ohne Zweifel war Franz Kafka ein genialer Schriftsteller, und seiner Fähigkeit, im Konkreten das Allgemeine zu sehen und doch konkret darzustellen, verdanken wir u.a. das ganz besondere Erlebnis beim Lesen seiner Werke. 

In der Form seiner Gestaltung war er zweifellos ein ganz bewußter Künstler der Sprache, aber da die Inhalte aus der Tiefe seiner Erfahrungen stammen, vermögen sie, uns so unmittelbar in unserem Unbewußten anzurühren. Daher bedeuten seine Werke unzähligen jungen Menschen die erste Bestätigung, daß das, was sie in ihrer Innenwelt finden, nicht unbedingt Verrücktheit sein muß. 

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Die von Kafka dargestellten, meist absurden Situationen lassen sich leicht als Symbole abstrakter »Befindlich­keiten« begreifen, und die umfangreiche Kafka-Forschung ist voll von derartigen Interpretationen, die alle auch richtig sein können. So wird man sicher nicht fehlgehen, wenn man im Hungerkünstler das Problem der Isolierung des Individuums in der Masse, des geistigen Hungerns, der Ausbeutung, des sogenannten Exhibitionismus und ähnliches sieht; oder wenn man im Zusammenhang mit der Verwandlung von Rassendiskriminierung, Doppelbödigkeit oder Heuchelei spricht, wenn man die Strafkolonie als Vision der Konzentrationslager versteht, im Schloß das religiöse und im Prozeß das ethische Problem hervorgehoben sieht. 

Das alles ist legitim, es klammert aber die Tatsache aus, daß Kafka durch die gespeicherten Erinnerungen und Gefühle, die die Umwelt seiner Kindheit in ihm hervorrief, zur Erkenntnis dieser Urmenschlichen und im Grunde alltäglichen Situationen gekommen ist. Er mußte sie wie jeder Mensch von den ursprünglichen Ereignissen mit den ersten Bezugspersonen abspalten, doch sie haben sich in ihm erhalten und konnten sich in der Phantasie­tätigkeit, wie bei jedem großen Dichter, mit erfundenen Gestalten verbinden. Sehen wir uns das an konkreten Beispielen an:

Der im Zirkus ausgestellte Hungerkünstler hungert »aus eigenem Bedürfnis«, schrumpft schließlich völlig zusammen und erklärt vor seinem Tode, daß er nicht essen möge, weil ihm das hier gebotene Essen »nicht schmecke«. Auf den ersten Blick hört sich das ganz absurd an, auch wenn man nicht konkret an das Essen, sondern an geistige Nahrung denkt. Man kann sich zwar vorstellen, daß einer sagt: »lieber lese ich nichts als schlechte Bücher«, doch ein erwachsener Mensch müßte deshalb nicht »Hungers sterben«, er könnte sich andere Bücher suchen und mit Menschen sprechen oder, wenn dies nicht möglich wäre, sogar mit sich selber. 

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Was tut aber ein Neugeborenes, das von seiner Mutter als bedrohlich erlebt wird (vielleicht weil sie in ihm einen Elternteil sieht), wenn es in ihrer Muttermilch Abwehr, Angst und nicht selten Rachebedürfnisse spürt? Es gibt Kinder von einer so hohen Sensibilität, daß sie die Not und die Abwehr der Mutter bereits in den ersten Tagen, in den ersten Begegnungen mit ihrer Brust spüren und diese Angst in verschiedenen körperlichen Symptomen zum Ausdruck bringen. Diese Symptome bringen es mit sich, daß das Kind der Mutter oft entzogen wird, um im Spital behandelt zu werden, und die konfliktfreien Arme der Kranken­schwester können ihm u.U. Lebensrettung bedeuten. 

Wenn es nach Wochen oder Monaten zur Mutter zurückkommt, ist zwar die Beziehung gestört, aber das Kind hat überlebt. Es könnte sein, daß die große Säuglingssterblichkeit in den vergangenen Jahrhunderten auch mit der Situation zu tun hat, die der Säugling bei seiner Geburt vorfand. Die Säuglinge starben tatsächlich an der Nahrung, die ihnen nicht »schmeckte«, wie der Hungerkünstler in Kafkas Erzählung, weil niemand da war, der ihre Körpersprache verstanden hätte, weil sie in ihren Tragkissen mit ihren Körpern und ihrer Seele so isoliert waren, wie Kafkas Hungerkünstler in seinem Käfig.

 

Ich stelle im folgenden einige Zitate aus dem <Hungerkünstler> so zusammen, daß sie die Situation wiedergeben, wie ich sie beim kleinen Franz Kafka vermute.

Außer den wechselnden Zuschauern waren auch ständige, vom Publikum gewählte Wächter da, merkwürdigerweise gewöhnlich Fleischhauer (!), welche, immer drei gleichzeitig, die Aufgabe hatten, Tag und Nacht den Hungerkünstler zu beobachten, damit er nicht etwa auf irgendeine heimliche Weise doch Nahrung zu sich nehme ...

Es fanden sich manchmal nächtliche Wachgruppen, welche die Bewachung sehr lax durchführten, absichtlich in eine ferne Ecke sich zusammensetzten und dort sich ins Kartenspiel (!) vertieften, in der offenbaren Absicht, dem Hungerkünstler eine kleine Erfrischung zu gönnen, die er ihrer Meinung nach aus irgendwelchen geheimen Vorräten hervorholen konnte. Nichts war dem Hungerkünstler quälender als solche Wächter; sie machten ihn trübselig; sie machten ihm das Hungern entsetzlich schwer;

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manchmal überwand er seine Schwäche und sang während dieser Wachzeit, solange er es nur aushielt, um den Leuten zu zeigen, wie ungerecht sie ihn verdächtigten. Doch half das wenig; sie wunderten sich dann nur über seine Geschicklichkeit, selbst während des Singens zu essen. Viel lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Gitter setzten, mit der trüben Nachtbeleuchtung des Saales sich nicht begnügten, sondern ihn mit den elektrischen Taschenlampen bestrahlten, die ihnen der Impresario zur Verfügung stellte. Das grelle Licht störte ihn gar nicht, schlafen konnte er ja überhaupt nicht, und ein wenig hindämmern konnte er immer, bei jeder Beleuchtung und zu jeder Stunde, auch im übervollen, lärmenden Saal. Er war sehr gerne bereit, mit solchen Wächtern die Nacht gänzlich ohne Schlaf zu verbringen; er war bereit, mit ihnen zu scherzen, ihnen Geschichten aus seinem Wanderleben zu erzählen, dann wieder' ihre Erzählungen anzuhören, alles nur, um sie wachzuhalten, um ihnen immer wieder zeigen zu können, daß er nichts Eßbares im Käfig hatte und daß er hungerte, wie keiner von ihnen es könnte ... (F. Kafka, 1952, S. i88f).

So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei alledem aber meist in trüber Laune, die immer noch trüber wurde dadurch, daß niemand sie ernst zu nehmen verstand. Womit sollte man ihn auch trösten? Was blieb ihm zu wünschen übrig? Und wenn sich einmal ein Gutmütiger fand, der ihn bedauerte und ihm erklären wollte, daß seine Traurigkeit wahrscheinlich von dem Hungern käme, konnte es, besonders bei vorgeschrittener Hungerzeit, geschehn, daß der Hungerkünstler mit einem Wutausbruch antwortete und zum Schrecken aller wie ein Tier an dem Gitter zu rütteln begann. Doch hatte für solche Zustände der Impresario ein Strafmittel, das er gern anwandte. Er entschuldigte den Hungerkünstler vor versammeltem Publikum, gab zu, daß nur die durch das Hungern hervorgerufene, für satte Menschen nicht ohne weiteres begreifliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerkünstlers verzeihlich machen könne ... (S. 194)

Diese dem Hungerkünstler zwar wohlbekannte, immer aber von neuem ihn entnervende Verdrehung der Wahrheit war ihm zu viel. Was die Folge der vorzeitigen Beendigung des Hungerns war, stellte man hier als die Ursache dar! Gegen diesen Unverstand, gegen diese Welt des Unverstandes zu kämpfen, war unmöglich. ...

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Wenn die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre später daran zurückdachten, wurden sie sich oft selbst unverständlich. Denn inzwischen war jener erwähnte Umschwung eingetreten; fast plötzlich war das geschehen; es mochte tiefere Gründe haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der verwöhnte Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen Schaustellungen strömte ... (S. 195)

Vielleicht, so sagte sich der Hungerkünstler dann manchmal, würde alles doch ein wenig besser werden, wenn sein Standort nicht gar so nahe bei den Ställen wäre. Den Leuten wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden davon, daß ihn die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das Vorübertragen der rohen Fleischstücke für die Raubtiere, die Schreie bei der Fütterung sehr verletzten und dauernd bedrückten. Aber bei der Direktion vorstellig zu -werden, wagte er nicht; immerhin verdankte er ja den Tieren die Menge der Besucher, unter denen sich hie und da auch ein für ihn Bestimmter finden konnte, und wer wußte, wohin man ihn verstecken würde, wenn er an seine Existenz erinnern wollte und damit auch daran, daß er, genau genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen war. Ein kleines Hindernis allerdings, ein immer kleiner werdendes Hindernis. Man gewöhnte sich an die Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gewöhnung war das Urteil über ihn gesprochen. Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! 

Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. Die schönen Aufschriften wurden schmutzig und unleserlich, man riß sie herunter, niemandem fiel es ein, sie zu ersetzen; das Täfelchen mit der Ziffer der abgeleisteten Hungertage, das in der ersten Zeit sorgfältig täglich erneut worden war, blieb schon längst immer das gleiche, denn nach den ersten Wochen war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit überdrüssig geworden; und so hungerte zwar der Hunger­künstler weiter, wie er es früher einmal erträumt hatte, und es gelang ihm ohne Mühe ganz so, wie er es damals vorausgesagt hatte, aber niemand zählte die Tage, niemand, nicht einmal der Hungerkünstler selbst wußte, wie groß die Leistung schon war, und sein Herz wurde schwer. 

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Und wenn einmal in der Zeit ein Müßiggänger stehenblieb, sich über die alte Ziffer lustig machte und von Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die dümmste Lüge, welche Gleichgültigkeit und eingeborene Bösartigkeit erfinden konnte, denn nicht der Hunger­künstler betrog, er arbeitete ehrlich, aber die Welt betrog ihn um seinen Lohn.

Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenutzt stehenlasse; niemand wußte es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin. »Du hungerst noch immer?« fragte der Aufseher, »wann wirst du denn endlich aufhören?« »Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. »Gewiß«, sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, »wir verzeihen dir.«

»Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewundert«, sagte der Hungerkünstler. »Wir bewundern es auch«, sagte der Aufseher entgegenkommend. »Ihr solltet es aber nicht bewundern«, sagte der Hungerkünstler. »Nun, dann bewundern wir es also nicht«, sagte der Aufseher, »warum sollen wir es denn nicht bewundern?« »Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders«, sagte der Hunger­künstler. »Da sieh mal einer«, sagte der Aufseher, »warum kannst du denn nicht anders?« »Weil ich«, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.« Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, daß er weiterhungere. (S.199-201)

 

Der ruhige, friedliche Hungerkünstler reagierte nur gelegentlich mit einem Wutausbruch, nämlich, wenn man ihm erklären wollte, »daß seine Traurigkeit wahrscheinlich von dem Hungern käme«, wenn man die Ursache mit der Folge verwechselte. Aber mit dieser »entnervenden Verdrehung der Wahrheit«, »dieser Welt des Unverstandes zu kämpfen, war unmöglich«.

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Welche konkreten prägenden Erfahrungen dieser Verzweiflung des Nichtverstanden­wordenseins bei Franz Kafka zugrunde lagen, läßt sich erahnen, wenn man den folgenden Brief seiner Mutter an Felice Bauer vom 16.11.1912 (Kafka ist 29 Jahre alt) liest.

          Prag, 16. XI. 1912 

Sehr geehrtes Fräulein! 

Ich habe durch Zufall einen an meinen Sohn adressierten Brief vom 12./11. datiert und mit Ihrer w. Unterschrift verseh'n zu Gesicht bekommen. Ihre Schreibweise gefiel mir so sehr, daß ich den Brief zu Ende las, ohne zu bedenken, daß ich dazu nicht berechtigt war.

Ich bin aber sicher, daß Sie mir verzeihen, wenn ich Sie versichere, daß nur das Wohl meines Sohnes mich dazu trieb.

Ich habe zwar nicht das Vergnügen, Sie persönlich zu kennen und trotzdem habe ich zu Ihnen so viel Vertrauen, um Ihnen, liebes Fräulein, die Sorgen einer Mutter anzuvertrauen.

Vieles trägt dazu die Bemerkung in dem von Ihnen geschriebenen Briefe [bei], er möge mit seiner Mutter sprechen, die ihn sicher liebt. Sie haben, liebes Fräulein, die richtige Meinung von mir, was freilich selbstverständlich ist, denn gewöhnlich liebt eine jede Mutter ihre Kinder, aber so, wie ich meinen Sohn liebe, kann ich Ihnen nicht schildern und würde gerne einige Jahre meines Lebens hergeben, wenn ich sein Glück damit erkaufen könnte.

Ein anderer Mensch an seiner Stelle würde der Glücklichste unter den Sterblichen sein, denn kein Wunsch wurde ihm von seinen Eltern je versagt. Er studierte, zu was er Lust hatte, und da er kein Advokat werden wollte, so wählte er die Laufbahn eines Beamten, was ihm ganz gut zu passen schien, da er einfache Frequenz hat und den Nachmittag für sich verwenden konnte. 

Daß er sich in seinen Mußestunden mit Schreiben beschäftigt, weiß ich schon viele Jahre. Ich hielt dies aber nur für einen Zeitvertreib. Auch dies würde ja seiner Gesundheit nicht schaden, wenn er schlafen und essen würde wie andere junge Leute in seinem Alter. Er schläft und ißt so wenig, daß er seine Gesundheit untergräbt und ich fürchte, daß er erst zur Einsicht kommt, wenn es Gott behüte zu spät ist. 

Darum bitte ich Sie sehr, ihn auf eine Art darauf aufmerksam zu machen und ihn [zu] befragen wie er lebt, was er ißt, wieviel Mahlzeiten er nimmt, überhaupt seine Tageseintheilung. Jedoch darf er keine Ahnung haben, daß ich Ihnen geschrieben habe, überhaupt nichts davon erfähren, daß ich um seine Correspondenz mit Ihnen weiß. Sollte es in Ihrer Macht stehen, seine Lebensweise zu ändern, - würden Sie mich zum großen Dank verpflichten und zur Glücklichsten machen 

  Ihre Sie schätzende 
Julie Kafka 
(F. Kafka, 1976, S. 100)

Wieviel leichter wäre es, sich gegen diese Besorgtheit zu wehren, wenn sie nicht wirklich ehrlich und gut gemeint gewesen wäre; zumindest bewußt war sie es zweifellos. Aber die Versicherungen der Liebe und der Opferbereitschaft — welches Kind möchte nicht daran glauben? Es fällt dem Sohn viel leichter, sich gegen die Ansprüche des polternden Vaters zu wehren und sich innerlich von ihm abzugrenzen. Doch wenn diese liebende Mutter versichert, er müßte »der Glücklichste unter den Sterblichen sein, denn kein Wunsch wurde ihm von seinen Eltern je versagt«, wie bringt man es über's Herz, ihr zu sagen, daß sie offenbar die wichtigsten Bedürfnisse ihres geliebten Kindes nicht sieht? 

Wenn sie sein Unglücklichsein dem Mangel an Schlaf und Essen zuschreibt, wie kann man ihr klarmachen, daß sie »die Folgen mit den Ursachen verwechselt«? Sie wird es ja doch wieder nicht verstehen und alles so zurechtdrehen müssen, daß es in ihr Weltbild paßt. »Versuche jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.« Kafka konnte nicht erzählen, wie es ihm mit seiner Mutter in der Kindheit ergangen ist, aber er konnte Situationen darstellen, in denen er seine frühkindliche Verzweiflung, Ohnmacht, Wut und seinen stillen passiven Kampf so zum Ausdruck brachte, daß viele Menschen ihre eigenen Erfahrungen darin gespiegelt sehen — vielleicht ebenfalls, ohne es so genau zu wissen.

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