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Die Verwandlung,

Die Strafkolonie,

Das Urteil,

Der Heizer

 

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Die Verwandlung ist wohl Kafkas bekannteste Erzählung. Obwohl ihr Inhalt eine völlig unmögliche und noch nie dagewesene Situation beschreibt, denn ein Mensch kann nicht über Nacht in einen realen Käfer umgewandelt werden, fühlt sich auch der gleichgültigste, der gefühlskälteste Leser von ihr tief angerührt und betroffen. Warum ist das so? 

Gregor Samsa, der Held dieser Erzählung, ein pflichtbewußter Angestellter, der mit seiner Arbeit liebevoll für seine Eltern und die Schwester sorgt, erwacht eines Morgens als ein widerlicher Käfer und erlebt in den nächsten Tagen den Widerwillen, das Entsetzen, die Angst, das Grauen und die unendliche Hilflosigkeit. Er spürt die rührenden Versuche der Mutter und der Schwester, die Ekelschranke zu überwinden, seine unbarmherzige Trennung von der ganzen Umwelt, die Schande, die er seinen Nächsten bringt und der sie nichts anderes entgegensetzen können als Angst, Entsetzen, Schuldgefühle, Vernichtungswünsche, Scham vor den anderen Menschen und Heuchelei aus Not. 

Er selber erlebt sich, wie sich ein unbewußt abgelehnter Säugling erleben könnte: ohne Sprache, im Vergleich mit den Möbeldimensionen winzig klein, schwach, ohne die Möglichkeit, sich zu artikulieren, von den anderen verstanden und ernstgenommen zu werden, ganz auf sich angewiesen und zum Tode verurteilt, wenn nicht doch eine Person sich seiner annehmen würde und eine Kommunikation, die schwierig ist, doch noch herstellen könnte. (Vgl. oben S. 61 f.)

Ich habe keine Mühe, mir vorzustellen, daß das Kleinkind Franz Kafka sich häufig so hat fühlen müssen und daß er auch später, als er sprechen und laufen konnte, sein wahres Selbst so tief verbergen mußte, weil er ähnliche Reaktionen der Umgebung riskiert hätte, wie sie Gregor Samsa nach seiner Verwandlung erlebt hat. Glücklicherweise war es Kafka aber möglich, zumindest in der Pubertät, mit seiner neun Jahre jüngeren Schwester eine tiefere Gemeinsamkeit und ein Verständnis zu finden, sich bei ihr auf Antennen und Spiegelungen verlassen zu können, die ihm in der entscheidenden Zeit der Adoleszenz geholfen haben, sein seelisches Gut trotz des langen Hungerns ins Erwachsenenleben hinüberzuretten. 


Die schwere Neurose konnte damit nicht mehr behoben werden, aber die Fähigkeit des künstlerischen Ausdrucks wurde gerettet. Hätte Kafka die Situation von Gregor Samsa nicht sehr früh und sehr intensiv erlebt, so hätte er diese Geschichte nicht so schreiben können, daß so viele Menschen sie unbewußt und direkt als eine Grundsituation des Menschseins erkennen, ohne viel darüber reflektiert zu haben. Sie erkennen sie am Schmerz, den sie beim Lesen empfinden, weil sie gezwungen sind, sich mit Gregor Samsa zu identifizieren, und weil sie in dieser Identifikation ein Stück ihrer Vergangenheit vage spüren. Damit möchte ich nicht sagen, daß jeder Mensch wie Franz Kafka einer extremen narzißtischen Frustration ausgesetzt war, weil die Bedürfnisse nach Spiegelung, Zuwendung, Verständnis tragischerweise dort am intensivsten und stärksten sind, wo auch die Versagung dieser Bedürfnisse am schmerz­haftesten empfunden wird.

Das erklärt, warum große Künstler fast notwendig neurotisch werden müssen, doch die Neurose ist die Begleiterscheinung ihrer Situation, die Neben­erscheinung ihrer Sensibilität und ihres Schicksals, niemals aber die Ursache der kreativen Möglichkeiten, die sich trotz der Neurose erhalten haben und lebensrettend waren, die aber doch niemals die Kraft hatten, die Neurose zu beseitigen. Die Verwandlung beschreibt das Lebensgefühl eines, wenn man so will, neurotischen Menschen, der sich von den anderen isoliert fühlt, keine gemeinsame Sprache mit ihnen hat, auf ihr volles Verständnis angewiesen ist, das er nie findet, der seine Tragik nie formulieren kann und stumm bleiben muß, sich von den andern gehaßt und verachtet fühlt, sobald sie sein wahres Selbst erblicken, obwohl sie ihn noch kurz davor, als er im falschen, angepaßten Selbst des guten, braven Sohnes lebte, wie ihresgleichen behandelt haben, ohne sich je zu fragen, wer er wirklich sei. 

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Trotzdem wird man sich nicht wundern, daß jeder Mensch lieber der brave Sohn Gregor Samsa bleibt und, in der Angst vor der Isolierung, die Kafka hier beschreibt, nie an die Grenzen des Vorgeschriebenen stößt. Da es Kafka möglich wurde, in der Phantasie diese Grenze zu überschreiten und so in die Tiefen seiner eigenen und einer allgemein menschlichen Vergangenheit herabzusteigen, sich nicht mit dem Verfolger, sondern mit dem Opfer als Subjekt des Leidens in seiner grenzenlosen Ohnmacht zu identifizieren, entstand ein Werk von seltener Allgemein­gültigkeit, in dem die Wehrlosigkeit, Ohnmacht, Stummheit und Isolierung eines kleinen Kindes, das jeder von uns einmal gewesen ist, so dargestellt ist, daß der Leser diese Gefühle zwar zulassen, die Situation aber als absurd und unmöglich bezeichnen kann. Trotz dieser Absurdität läßt sich die Wahrhaftigkeit dieser Erzählung kaum in Frage stellen.

Wo könnte wohl der Grund einer Phantasietätigkeit liegen, die dem Dichter Szenen wie die folgende eingibt?

Deshalb blieb auch Gregor vorläufig auf dem Fußboden, zumal er fürchtete, der Vater könnte eine Flucht auf die Wände oder auf den Plafond für besondere Bosheit halten. Allerdings mußte sich Gregor sagen, daß er sogar dieses Laufen nicht lange aushalten würde; denn während der Vater einen Schritt machte, mußte er eine Unzahl von Bewegungen ausführen. Atemnot begann sich schon bemerkbar zu machen, wie er ja auch in seiner früheren Zeit keine ganz vertrauenswürdige Lunge besessen hatte. 

Als er nun so dahintorkelte, um alle Kräfte für den Lauf zu sammeln, kaum die Augen offenhielt; in seiner Stumpfheit an eine andere Rettung als durch Laufen gar nicht dachte; und fast schon vergessen hatte, daß ihm die Wände freistanden, die hier allerdings mit sorgfältig geschnitzten Möbeln voll Zacken und Spitzen verstellt waren — da flog knapp neben ihm, leicht geschleudert, irgend etwas nieder und rollte vor ihm her. Es war ein Apfel; gleich flog ihm ein zweiter nach; Gregor blieb vor Schrecken stehen; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn der Vater hatte sich entschlossen, ihn zu bombardieren. Aus der Obstschale auf der Kredenz hatte er sich die Taschen gefüllt und warf nun, ohne vorläufig scharf zu zielen, Apfel für Apfel. 

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Diese kleinen roten Äpfel rollten wie elektrisiert auf dem Boden herum und stießen aneinander. Ein schwach geworfener Apfel streifte Gregors Rücken, glitt aber unschädlich ab. Ein ihm sofort nachfliegender drang dagegen förmlich in Gregors Rücken ein;

Gregor wollte sich weiterschleppen, als könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel vergehen; doch fühlte er sich wie festgenagelt und streckte sich in vollständiger Verwirrung aller Sinne. Nur mit dem letzten Blick sah er noch, wie die Tür seines Zimmers aufgerissen wurde, und vor der schreienden Schwester die Mutter hervoreilte, im Hemd, denn die Schwester hatte sie entkleidet, um ihr in der Ohnmacht Atemfreiheit zu verschaffen, wie dann die Mutter auf den Vater zulief und ihr auf dem Weg die aufgebundenen Röcke einer nach dem anderen zu Boden glitten, und wie sie stolpernd über die Röcke auf den Vater eindrang und ihn umarmend, in gänzlicher Vereinigung mit ihm — nun versagte aber Gregors Sehkraft schon - die Hände an des Vaters Hinterkopf um Schonung von Gregors Leben bat.

Die schwere Verwundung Gregors, an der er über einen Monat litt — der Apfel blieb, da ihn niemand zu entfernen wagte, als sichtbares Andenken im Fleische sitzen —, schien selbst den Vater daran erinnert zu haben, daß Gregor trotz seiner gegenwärtigen traurigen und ekelhaften Gestalt ein Familienmitglied war, das man nicht wie einen Feind behandeln durfte, sondern demgegenüber es das Gebot der Familienpflicht war, den Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als zu dulden. 

Und wenn nun auch Gregor durch seine Wunde an Beweglichkeit wahrscheinlich für immer verloren hatte und vorläufig zur Durchquerung seines Zimmers wie ein alter Invalide lange, lange Minuten brauchte — an das Kriechen in der Höhe war nicht zu denken —, so bekam er für diese Verschlimmerung seines Zustandes einen seiner Meinung nach vollständig genügenden Ersatz dadurch, daß immer gegen Abend die Wohnzimmertür, die er schon ein bis zwei Stunden vorher scharf zu beobachten pflegte, geöffnet wurde, so daß er, im Dunkel seines Zimmers liegend, vom Wohnzimmer aus unsichtbar, die ganze Familie beim beleuchteten Tische sehen und ihre Reden, gewissermaßen mit allgemeiner Erlaubnis, also ganz anders als früher, anhören durfte (F. Kafka, 1952, S. 76-78).

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In seinem Brief an den Vater schrieb Franz Kafka:

Damals und damals überall hätte ich die Aufmunterung gebraucht. Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie wir uns öfters zusammen in einer Kabine auszogen. Ich mager, schwach, schmal. Du stark, groß, breit. Schon in der Kabine kam ich mir jämmerlich vor, und zwar nicht nur vor Dir, sondern vor der ganzen Welt, denn Du warst für mich das Maß aller Dinge. 

Traten wir dann aber aus der Kabine vor die Leute hinaus, ich an Deiner Hand, ein kleines Gerippe, unsicher, bloßfüßig auf den Planken, in Angst vor dem Wasser, unfähig Deine Schwimmbewegungen nachzumachen, die Du mir in guter Absicht, aber tatsächlich zu meiner tiefen Beschämung immerfort vormachtest, dann war ich sehr verzweifelt, und alle meine schlimmen Erfahrungen auf allen Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig zusammen. 

Am wohlsten war mir noch, wenn Du Dich manchmal zuerst auszogst und ich allein in der Kabine bleiben und die Schande des öffentlichen Auftretens so lange hinauszögern konnte, bis Du endlich nachschauen kamst und mich aus der Kabine triebst. Dankbar war ich Dir dafür, daß Du meine Not nicht zu bemerken schienest, auch war ich stolz auf den Körper meines Vaters. Übrigens besteht zwischen uns dieser Unterschied heute noch ähnlich (F. Kafka, 1978, S. 12f).

 

Kafka erlebt sich hier als »ein kleines Gerippe«, unsicher, bloßfüßig auf den Planken, in Angst vor dem Wasser, spricht von »tiefer Beschämung«, Verzweiflung und von der »Schande des öffentlichen Auftretens«. Jedes Kind ist doch so viel kleiner als sein Vater, muß es denn diesen Unterschied als eine solche Kränkung erleben? Wir wissen aus Erfahrung, daß es nicht so sein muß, daß der Größenunterschied nicht unbedingt Gefühle von Demütigung induzieren muß. Wir wissen, daß Kinder oft sehr vergnügt mit ihren Vätern schwimmen lernen und die Freude am eigenen Körper entdecken können. Doch die Haltung des Vaters zu diesem kleinen Wesen neben ihm, sein sichtbarer und unsichtbarer, innerer Blick werden darüber entscheiden, wie sich das Körpergefühl des Kindes entwickeln kann.

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Kafkas Vater war als Sohn eines sehr starken Fleischhauers aufgewachsen und mußte schon mit elf Jahren »frühmorgens, auch im Winter und oft barfuß, die Fleischwaren mit einem Handkarren in die umliegenden Dörfer bringen«, ein Bild, das im Hunger­künstler auftaucht. Es ist anzunehmen, daß Hermann Kafka trotz seiner großen physischen Kraft als Kind nie das Gefühl haben konnte, stark genug zu sein, weil er mit den ihm obliegenden Aufgaben stark überfordert war und immer wieder an die Grenzen der eigenen Kraft stieß. Sein eigener kraftstrotzender Vater ließ die für ihn arbeitenden Kinder ihre Schwäche schmerzlich spüren.

Diesem Vater mußte man aber mit Respekt und Gehorsam begegnen, das war selbstverständlich. Was geschah mit dem Gefühl des Verachtetwerdens, das Franz Kafkas Vater damals als Kind zu unterdrücken gezwungen war? Es überdauerte in ihm dreißig Jahre lang und verschaffte sich eine Abfuhr, als Hermann Kafka selber einen Sohn bekam. Die körperliche Kraft hatte ihm einst zum Überleben verholfen, so war alles Schwache für ihn lebensuntauglich und bedrohlich. Nun wäre es möglich, daß man dem Kind hilft, stärker zu werden, indem man es als schwaches, kleines Wesen respektiert. Aber ein Vater, der selber als schwaches Kind verachtet wurde, kann nur den starken Teil in sich akzeptieren und den verachteten schwachen Teil in seinem Kind von Anfang an ablehnen. Einem Kind wie Franz Kafka kann das nicht entgehen. 

*

Die visionäre Kraft der Strafkolonie, die mehr als zwanzig Jahre vor dem Entstehen der Konzentrations­lager geschrieben worden ist, läßt sich kaum bestreiten. Die hier geschilderten Situationen lassen sich auch leicht auf unsere Zeit beziehen, z.B. auf unsere Versklavung durch die Technik und die Absurditäten, zu denen sie führt. Aber sie lassen sich auf so vieles beziehen, weil sie wahr sind; und sie sind wahr, weil sie Erlebtes schildern. 

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Ein Reisender besichtigt eine Strafkolonie und soll Zeuge einer Urteils­voll­streckung werden, die Kafka so beschreibt, daß, wenn ich im Verurteilten das Kind sah, mir mehrere Male Methoden der Erziehung und Kleinkinder­behandlung dazu einfielen, wie sie noch bis vor kurzem üblich waren. 

Ich zitiere daraus eine längere Passage:

Um so bewundernswerter erschien ihm der Offizier, der im engen, parademäßigen, mit Epauletten beschwerten, mit Schnüren behängten Waffenrock so eifrig seine Sache erklärte und außerdem, während er sprach, mit einem Schraubendreher noch hier und da an einer Schraube sich zu schaffen machte. In ähnlicher Verfassung wie der Reisende schien der Soldat zu sein. Er hatte um beide Handgelenke die Kette des Verurteilten gewickelt, stützte sich mit der Hand auf sein Gewehr, ließ den Kopf im Genick hinunterhängen und kümmerte sich um nichts. Der Reisende wunderte sich nicht darüber, denn der Offizier sprach französisch, und Französisch verstand gewiß weder der Soldat noch der Verurteilte. Um so auffallender war es allerdings, daß der Verurteilte sich dennoch bemühte, den Erklärungen des Offiziers zu folgen. Mit einer Art schläfriger Beharrlichkeit richtete er die Blicke immer dorthin, wohin der Offizier gerade zeigte, und als dieser jetzt vom Reisenden mit einer Präge unterbrochen wurde, sah auch er, ebenso wie der Offizier, den Reisenden an.

»Ja, die Egge«, sagte der Offizier, »der Name paßt. Die Nadeln sind eggenartig angeordnet, auch wird das Ganze wie eine Egge geführt, wenn auch bloß auf einem Platz und viel kunstgemäßer. Sie werden es übrigens gleich verstehen. Hier auf das Bett wird der Verurteilte gelegt. — Ich will nämlich den Apparat zuerst beschreiben und dann erst die Prozedur selbst ausführen lassen. Sie werden ihr dann besser folgen können. Auch ist ein Zahnrad im Zeichner zu stark abgeschliffen; es kreischt sehr, wenn es im Gang ist; man kann sich dann kaum verständigen; Ersatzteile sind hier leider nur schwer zu beschaffen. — Also hier ist das Bett, wie ich sagte. Es ist ganz und gar mit einer Watteschicht bedeckt; den Zweck dessen werden Sie noch erfahren. Auf diese Watte wird der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich nackt; hier sind für die Hände, hier für die Füße, hier für den Hals Riemen, um ihn festzuschnallen. Hier am Kopfende des Bettes, wo der Mann, wie ich gesagt habe, zuerst mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, daß er dem Mann gerade in den Mund dringt: 

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Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu hindern. Natürlich muß der Mann den Filz aufnehmen, da ihm sonst durch den Halsriemen das Genick gebrochen wird.« »Das ist Watte?« fragte der Reisende und beugte sich vor. »Ja, gewiß«, sagte der Offizier lächelnd, »befühlen Sie es selbst.« Er faßte die Hand des Reisenden und führte sie über das Bett hin. »Es ist eine besonders präparierte Watte, darum sieht sie so unkenntlich aus;

ich werde auf ihren Zweck noch zu sprechen kommen.« Der Reisende war schon ein wenig für den Apparat gewonnen; die Hand zum Schutz .gegen die Sonne über den Augen, sah er an dem Apparat in die Höhe. Es war ein großer Aufbau. Das Bett und der Zeichner hatten gleichen Umfang und sahen wie zwei dunkle Truhen aus. Der Zeichner war etwa zwei Meter über dem Bett angebracht; beide waren in den Ecken durch vier Messingstangen verbunden, die in der Sonne fast Strahlen warfen. Zwischen den Truhen schwebte an einem Stahlband die Egge.

Der Offizier hatte die frühere Gleichgültigkeit des Reisenden kaum bemerkt, wohl aber hatte er für sein jetzt beginnendes Interesse Sinn; er setzte deshalb in seinen Erklärungen aus, um dem Reisenden zur ungestörten Betrachtung Zeit zu lassen. Der Verurteilte ahmte den Reisenden nach; da er die Hand nicht über die Augen legen konnte, blinzelte er mit freien Augen zur Höhe.

»Nun liegt also der Mann«, sagte der Reisende, lehnte sich im Sessel zurück und kreuzte die Beine.

»Ja«, sagte der Offizier, schob ein wenig die Mütze zurück und fuhr sich mit der Hand über das heiße Gesicht, »nun hören Sie! Sowohl das Bett als auch der Zeichner haben ihre eigene elektrische Batterie; das Bett braucht sie für sich selbst, der Zeichner für die Egge. Sobald der Mann festgeschnallt ist, wird das Bett in Bewegung gesetzt. Es zittert in winzigen, sehr schnellen Zuckungen gleichzeitig seitlich wie auch auf und ab. Sie werden ähnliche Apparate in Heilanstalten gesehen haben; nur sind bei unserem Bett alle Bewegungen genau berechnet; sie müssen nämlich peinlich auf die Bewegungen der Egge abgestimmt sein. Dieser Egge aber ist die eigentliche Ausführung des Urteils überlassen.«

»Wie lautet denn das Urteil?« fragte der Reisende. »Sie wissen auch das nicht?« sagte der Offizier erstaunt und biß sich auf die Lippen: »Verzeihen Sie, wenn vielleicht meine Erklärungen ungeordnet sind; ich bitte Sie sehr um Entschuldigung. Die Erklärungen pflegte früher nämlich der Kommandant zu geben;

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der neue Kommandant aber hat sich dieser Ehrenpflicht entzogen; daß er jedoch einen so hohen Besuch« — der Reisende suchte die Ehrung mit beiden Händen abzuwehren, aber der Offizier bestand auf dem Ausdruck — »einen so hohen Besuch nicht einmal von der Form unseres Urteils in Kenntnis setzt, ist wieder eine Neuerung, die —«, er hatte einen Fluch auf den Lippen, faßte sich aber und sagte nur: »Ich wurde nicht davon verständigt, mich trifft nicht die Schuld. Übrigens bin ich allerdings am besten befähigt, unsere Urteilsarten zu erklären, denn ich trage hier« - er schlug auf seine Brusttasche - »die betreffenden Handzeichnungen des früheren Kommandanten.« - »Handzeichnungen des Kommandanten selbst?« fragte der Reisende: »Hat er denn alles in sich vereinigt? War er Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner?«

»Jawohl«, sagte der Offizier kopfnickend, mit starrem, nachdenklichem Blick. Dann sah er prüfend seine Hände an; sie schienen ihm nicht rein genug, um die Zeichnungen anzufassen; er ging daher zum Kübel und wusch sie nochmals. Dann zog er eine kleine Ledermappe hervor und sagte: »Unser Urteil klingt nicht streng. Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben. Diesem Verurteilten zum Beispiel« - der Offizier zeigte auf den Mann - »wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten!« Der Reisende sah flüchtig auf den Mann hin; er hielt, als der Offizier auf ihn gezeigt hatte, den Kopf gesenkt und schien alle Kraft des Gehörs anzuspannen, um etwas zu erfahren. Aber die Bewegungen seiner wulstig aneinander gedrückten Lippen zeigten offenbar, daß er nichts verstehen konnte. 

Der Reisende hatte verschiedenes fragen wollen, fragte aber im Anblick des Mannes nur: »Kennt er sein Urteil?« »Nein«, sagte der Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren, aber der Reisende unterbrach ihn: »Er kennt sein eigenes Urteil nicht?« »Nein«, sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlange er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte dann: »Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.« Der Reisende wollte schon verstummen, da fühlte er, wie der Verurteilte seinen Blick auf ihn richtete; er schien zu fragen, ob er den geschilderten Vorgang billigen könne. Darum beugte sich der Reisende, der sich bereits zurückgelehnt hatte, wieder vor und fragte noch: »Aber daß er überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch?«

»Auch nicht«, sagte der Offizier und lächelte den Reisenden an, als erwarte er nun von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen. »Nein«, sagte der Reisende und strich sich über die Stirn hin, »dann weiß also der Mann auch jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung aufgenommen wurde?« »Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen«, sagte der Offizier und sah abseits, als rede er zu sich selbst und wolle den Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen. (F. Kafka, 1952, S. 146-151)

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Die Gutgläubigkeit, die Naivität, das Vertrauen des Kindes, das einem Wahn der Erzieher ausgesetzt ist, kann wohl kaum einen stärkeren Ausdruck finden als in dieser Szene. Der Reisende ist vielleicht der vom Kind erträumte Zeuge der Ungerechtigkeit. Aber es entspricht Kafkas Schicksal, daß dieser nicht hilft, nicht eingreift, sondern die anderen ihrem Schicksal überläßt.

Da Hermann Kafka kein zwanghafter Mensch zu sein schien, hat er seinem Sohn vermutlich keine regelmäßigen Prügelstrafen verabreicht, das heißt aber nicht, daß Franz Kafka keine Schläge bekommen hat. Er beschreibt selber, wie ihn sein Vater, als er einmal nachts Wasser trinken wollte, aus dem Bett im gemeinsamen Schlafzimmer genommen, ihn auf den Balkon getragen und dort vor geschlossener Türe stehen gelassen hat (vgl. 1978). 

Über andere Szenen können wir uns aufgrund der Werke Kafkas ziemlich genaue Vorstellungen machen, wenn wir uns nicht gedrängt fühlen, den Vater vor unseren eigenen Vorwürfen zu schützen, weil wir sie nicht haben. Wie der Verurteilte in der Strafkolonie wußte Kafka ganz sicher nicht, worin seine Schuld lag, wenn er bestraft oder geschlagen wurde.  

Hermann Kafka war ein impulsiver Mensch, oft überlastet, ungeduldig und durch seine schwere Kindheit geprägt; warum sollte er sich nicht mit Hilfe seines einzigen Sohnes Erleichterung verschaffen, da ihm das Recht dafür zustand? Noch heute leben wir mit einer Gesetzgebung, die dem Kind kein Recht auf Notwehr, aber dem Erwachsenen das Recht auf Züchtigung gibt. 

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Würde ein Mann auf der Straße plötzlich in Wut geraten (vielleicht, weil er sich erinnert, daß er etwas für ihn Wichtiges vergaß, oder weil sein Chef ihn heute schikanierte) und aus dieser Wut heraus einen anderen Menschen auf der Straße überfallen und schlagen, die Polizei käme sofort, um ihn zu verhaften, auch wenn der Angegriffene stark genug gewesen wäre, um sich zu verteidigen. Tut er dies aber mit seinem kleinen Kind, das in seiner Liebe und körperlichen Schwäche völlig wehrlos ist, dann wird das als Erziehung bezeichnet und von den. Behörden ausdrücklich gebilligt bzw. gefordert. Warum sollte dies in der Kinderzeit von Franz Kafka anders gewesen sein? Welche Folter auch immer die Strafkolonie beschreibt, das Geschlagen­werden durch den geliebten Menschen für Vergehen, die man nicht begangen hat, und aus Gründen, die man nicht begreifen kann, ist darin auch, wenn auch wahrscheinlich unbewußt, mitbeschrieben worden.

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Die Erzählung Das Urteil bezieht sich auf einen späteren Lebensabschnitt Kafkas. Ihr Held, Georg, will seinem Freund in einem Brief seine Verlobung mitteilen. Es entwickelt sich ein Streitgespräch mit seinem kranken Vater, in dessen Folge der Sohn sich von der Brücke stürzt und sich das Leben nimmt. Damit vollstreckt er selber das vom Vater ausgesprochene Urteil.

Ich sehe im Vater des Urteils nicht nur das Introjekt, sondern auch den realen Vater Franz Kafkas aus dessen frühester Kinderzeit, der, wie viele andere Väter mit dieser Vorgeschichte, das Opfer des kleinen Sohnes braucht. So geht Georg statt in die Verlobung in den Tod, wie Kafka in die Lungenkrankheit, die ihn, wie er mehrmals schrieb, »von der Verlobung rettete«.

Welche Rolle die Mutter in dieser Tragödie spielte, zeigt sich aus ihrer Reaktion auf den Brief an den Vater. (1978) Der Sohn schickte ihr diesen Brief mit der Bitte, ihn an den Vater weiterzuleiten, weil er offenbar nicht wagte, es direkt zu tun. Die Mutter weigerte sich zu vermitteln und schickte dem Sohn den Brief zurück mit der Bitte, den Vater damit zu verschonen.

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So wurde der robuste, nicht überaus sensible Hermann Kafka geschont, und sein Sohn erkrankte an Tuberkulose. Aber schon die Tatsache des Schreibens, der Artikulierung seiner Vorwürfe ermöglichte Franz Kafka einen sehr wichtigen Schritt in seinem Leben: das Aufgeben der qualvollen Suche nach einer verfügbaren Mutter in Felice und damit auch das Eingehen einer neuen, reiferen Beziehung zu Milena, in der er — im Gegensatz zum Monolog mit Felice — einen gegenseitigen Austausch erleben durfte. 

Doch die Erzählung Das Urteil wurde noch am Anfang seiner Beziehung zu Felice geschrieben, und vielleicht hat der Selbstmord von Georg bereits eine unbewußte Vorahnung über die Auswegslosigkeit dieser Beziehung ausgesprochen. Darüber hinaus zeigt Das Urteil auch die Einsicht in die Funktion der Söhne als Opfer ihrer Väter, wie man sie an vielen Stellen der Menschheitsgeschichte beobachten kann. 

Im Urteil ruft der Vater Georgs:

»Häng dich nur in deine Braut ein und komm mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht, wie! ... Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! — Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!« 

Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon. Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war, hinaufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen. »Jesus!« rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber er war schon davon. 

Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich hinabfallen. In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.    (F. Kafka, 1952, S. 20-22).

In diesem Straßenlärm (in Kafkas unruhigem Elternhaus) blieb das Opfer des Sohnes unbemerkt.

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Der Heizer 

 

Wenn man sagen kann, daß sich Kafkas Geschichten wie Träume lesen lassen, so gilt dies ganz besonders für die Erzählung Der Heizer, in der die für Kafkas Kindheit spezifische Form von Ohnmacht in verschiedenen Bildern und Facetten zum Ausdruck kommt. Es muß die grundlegende Erfahrung seines Daseins gewesen sein, daß das, was er artikulierte, nirgends Verständnis, nirgends Echo oder Antwort fand. Was als Antwort zurückkam, hatte zu dem, was er meinte, gar keinen Bezug, war ihm fremd und absurd. 

Die Geschichte Der Heizer beginnt bei der Ankunft des sechzehnjährigen Karl Rossmann in Amerika. Karl hat gerade mit seinem Koffer das Schiff verlassen, als er merkt, daß er seinen Schirm auf dem Schiff vergessen hat. Nun bittet er einen zufälligen Mitpassagier, einen Moment beim Koffer zu bleiben (beim gleichen Koffer, den er während der zwei Wochen seiner Schiffsreise die ganze Zeit wie einen Augapfel gehütet hat, immer mit dem Verdacht, jemand würde ihn stehlen), und geht zurück aufs Schiff, um den Schirm zu suchen. Wer kennt nicht ähnliche Situationen aus eigenen Träumen? 

Wir wundern uns manchmal noch im Traum, daß wir das Wesentlichste, das wir besaßen, unbekümmert irgendwo stehen gelassen haben und daß unsere Aufmerksamkeit, ja sogar Mißtrauen, sich plötzlich in kindliche Zuversicht, in eine naive Nachlässigkeit und Leutseligkeit wandelte. Man kann sich das mit dem Umstand erklären, daß die Träume Persönlichkeitsanteile aus verschiedenen Lebenszeiten zum Ausdruck bringen und daß auch unser Verhalten im Traum abwechselnd kindlich oder erwachsen oder sogar beides zugleich sein kann. 

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Dieses Verständnis ist zweifellos richtig, es kann aber auch dazukommen, daß sich in diesem Verhalten etwas spiegelt, das früher für unsere Realität bezeichnend war, nämlich die Tatsache, daß die Sorge um das Kind, das wir waren, nicht eine verläßliche und kontinuierliche, sondern eine zwischen den Extremen von dauernder Kontrolle und völliger Gleichgültigkeit wechselnde war.

Karl Rossmann geht also auf das Schiff zurück, um seinen Regenschirm zu suchen, und denkt wie ein kleines Kind: das müßte doch jetzt sehr einfach sein, da das Schiff leer ist. Nun beginnt aber die für Träume typische Verwirrung, weil auch ein leeres Schiff für einen hier Fremden völlig unübersichtlich ist, und schließlich ist Karl froh, im Heizer einen Menschen gefunden zu haben, mit dem er sprechen kann. Doch sehr schnell stellt sich heraus, daß er hier keine Hilfe findet, sondern im Gegenteil: er versucht, den Heizer zu trösten und ihm zu helfen. Der Heizer klagt, wie ungerecht er auf dem Schiff behandelt werde, wie ihn sein Vorgesetzter Schubal plage; er sei, sagt er, beim Zusammenpacken und wolle das Schiff verlassen. 

Nun sind Koffer und Schirm längst vergessen, und Karl Rossmann setzt alles ein, seine Denkkraft, seine Gefühle, seine Zukunft, ja beinahe sein Leben, um dem Kapitän und den in der Besatzung wichtigsten Männern das Leiden des Heizers unter Schubal verständlich zu machen und nachzuweisen. Im Gegensatz zum Reisenden in der Strafkolonie, der nur Zuschauer war, übernimmt Karl die Anwaltsfunktionen. So inbrünstig hätte das Kind Franz Kafka auch die Leiden seiner Mutter unter der Herrschaft des Vaters (Schubal) vor einem Tribunal sichtbar machen wollen. Aber vor allem repräsentiert der Heizer Seiten seines Selbst.

Und da entwickelt sich eine Situation, wie sie öfters bei Kafka vorkommt: Karl spricht klar, argumentiert logisch, ist freundlich und versucht, die anderen zu erreichen, aber er kommt nirgends an. Es gelingt ihm nicht, sich verständlich zu machen, und zu allem Unglück benimmt sich der Heizer, der den kleinkindlichen, noch nicht so gewandten und intelligenten Teil von Franz Kafka repräsentiert, unsachlich, schadet damit sich selber, greift alle an, sogar Karl Rossmann, der ihm helfen will. 

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Dieser versucht, den armen Heizer zur Ruhe und Vernunft zu bringen, ein schwieriges Unterfangen — bis alles in einer unerwarteten familiären Leutseligkeit ein Ende findet. Es stellt sich nämlich heraus, daß in dieser Gesellschaft ein Onkel Karl Rossmanns dabei ist, ein Senator und geachteter Mann, der seinen Neffen plötzlich umarmt und ihn zu sich nach Hause mitnehmen will.

So endeten zweifellos Versuche Franz Kafkas, sich in seiner Familie zu artikulieren: was das Kind zu sagen versuchte, wurde nicht ernstgenommen, ertrank in der Gleichgültigkeit des familiären Wohlwollens und in guten Ratschlägen, wie sie die Briefe seiner Mutter füllen. Karl versucht, zwischen dem ungeschickten kindlichen Heizer und der Erwachsenenwelt zu vermitteln, indem er sich mit beiden Seiten identifiziert. 

Er will sich für das Anliegen des Heizers einsetzen, doch spürt er auch mit den anderen, wie die Unbeholfenheit des Heizers an ihren Nerven zerrt:

Aber alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung; aber was tat der Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß, die Papiere auf dem Fenster konnte erlangst mit seinen zitternden Händen nicht mehr halten; aus allen Himmelsrichtungen strömten ihm Klagen über Schubal zu, von denen seiner Meinung nach jede einzelne genügt hätte, diesen Schubal vollständig zu begraben, aber was er dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein trauriges Durcheinander­strudeln aller insgesamt. (F. Kafka, 1954, S. 23)

Karl sagte also zum Heizer: »Sie müssen das einfacher erzählen, klarer, der Herr Kapitän kann es nicht würdigen, so wie Sie es ihm erzählen. Kennt er denn alle Maschinisten und Laufburschen beim Namen oder gar beim Taufnamen, daß er, wenn Sie nur einen solchen Namen aussprechen, gleich wissen kann, um wen es sich handelt? Ordnen Sie doch Ihre Beschwerden, sagen Sie die wichtigste zuerst und absteigend die andere, vielleicht wird es dann überhaupt nicht mehr nötig sein, die meisten auch nur zu erwähnen. Mir haben Sie es doch immer so klar dargestellt!« (S. 24)

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Und nun wechselt Kafka von der Perspektive des wohlwollenden Vermittlers zur hoffnungslosen Situation des kleinen Kindes.

Der Heizer unterbrach sich zwar sofort, als er die bekannte Stimme hörte, aber mit seinen Augen, die ganz von Tränen der beleidigten Mannesehre, der schrecklichen Erinnerungen, der äußersten gegenwärtigen Not verdeckt waren, konnte er Karl schon nicht einmal gut mehr erkennen. Wie sollte er auch jetzt — Karl sah das schweigend vor dem jetzt Schweigenden wohl ein — wie sollte er auch jetzt plötzlich seine Redeweise ändern, da es ihm doch schien, als hätte er alles, was zu sagen war, ohne die geringste Anerkennung schon vorgebracht und als habe er andererseits noch gar nichts gesagt und könne doch den Herren jetzt nicht zumuten, noch alles anzuhören. Und in einem solchen Zeitpunkt kommt noch Karl, sein einziger Anhänger daher, will ihm gute Lehren geben, zeigt ihm aber statt dessen, daß alles, alles verloren ist. (S. 25)

Jetzt versucht Karl, wie ein älterer Bruder oder eine wohlwollende ältere Schwester, dem kleinen Kind zu helfen:

Er hätte ihm gern aus Furcht vor Schlägen die herumfahrenden Hände gehalten, noch lieber allerdings ihn in einen Winkel gedrängt, um ihm ein paar leise, beruhigende Worte zuzuflüstern, die niemand sonst hätte hören müssen. Aber der Heizer war außer Rand und Band. Karl begann jetzt schon sogar aus dem Gedanken eine Art Trost zu schöpfen, daß der Heizer im Notfall mit der Kraft seiner Verzweiflung alle anwesenden sieben Männer bezwingen könne. (S. 26)

Aber das Gegenteil tritt ein. Und nun kommen die einzelnen Persönlichkeitsanteile zu einem Ganzen zusammen, es zeigt sich die biographische Perspektive des Träumers:

Karl allerdings fühlte sich so kräftig und bei Verstand, wie er es vielleicht zu Hause niemals gewesen war. Wenn ihn doch seine Eltern sehen könnten, wie er im fremden Land vor angesehenen Persönlichkeiten das Gute verfocht und wenn er es auch noch nicht zum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Eroberung sich vollkommen bereit stellte! Würden sie ihre Meinung über ihn revidieren? Ihn zwischen sich niedersetzen und loben? Ihm einmal, einmal in die ihnen so ergebenen Augen sehen? Unsichere Fragen und ungeeignet der Augenblick, sie zu stellen! (S. 29) 

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Die Abschiedsszene vom Heizer, die Zärtlichkeit und das heftige Weinen zeigen, daß Karl hier im Heizer sein wahres Selbst verläßt und darüber trauert, denn nur der geschickte, angepaßte, gescheite Karl wird vom Onkel mitgenommen. Dem Heizer sagt er noch zum Abschied:

Du mußt Dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben doch die Leute keine Ahnung von der Wahrheit. Du mußt mir versprechen, daß Du mir folgen wirst, denn ich selbst, das fürchte ich mit vielem Grund, werde Dir gar nicht mehr helfen können. Und nun weinte Karl, während er die Hand des Heizers küßte und nahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wange wie einen Schatz, auf den man verzichten muß — da war aber auch schon der Onkel Senator an seiner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem leichtesten Zwange, fort. (S. 45)

Die Verzweiflung über die Unmöglichkeit, sich in seinem Elternhaus zu artikulieren, durchzieht alles, was Kafka geschrieben hat. Zahlreiche Schlüssel zu den Werken finden sich in den Briefen, z.B. in folgenden an Max Brod:

Wenn links der Frühstückslärm aufhört, fängt rechts der Mittagslärm an. Türen werden jetzt überall aufgemacht, wie wenn die Wände aufgebrochen würden. Vor allem aber die Mitte des Unglücks bleibt: ich kann nicht schreiben; ... Mein ganzer Körper warnt mich vor jedem Wort, jedes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben läßt, schaut sich zuerst nach allen Seiten um; die Sätze zerbrechen mir förmlich, ich sehe ihr Inneres und muß dann aber rasch aufhören (Brief an Max Brod vom 15. resp. 17. Dez. 1910, in: F. Kafka 1975, S. 85).

Oder in einem andern Brief:

Ich habe jenen Druck im Magen, wie wenn der Magen ein Mensch wäre und weinen wollte. (Brief an Max Brod vom 19. 7. 1909)

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Mit 20 Jahren schreibt Franz Kafka an Oskar Pollak:

... verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüßtest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehen, wie vor dem Eingang zur Hölle. (Brief an Oskar Pollak 9.11.1905, in: F. Kafka, 1975, S. 19).

Und im gleichen Brief stehen die Worte:

Gott will nicht, daß ich schreibe, ich aber, ich muß ... So viele Kräfte sind in mir an einen Pflock gebunden . . . Aber durch Klagen schüttet man keine Mühlsteine vom Halse, besonders wenn man sie liebhat (Seite 21).

Kafka versuchte, mit den Mühlsteinen am Hals zu leben, die er liebhatte. Jedes Kind liebt seine Elten, was sich auch immer später darüber gelagert haben mag. Diese Liebe müßte aber nicht wie Mühlsteine am Halse hängen bleiben — nämlich da nicht, wo die Eltern auch andere Gefühle neben ihr dulden können. Dann bleiben nicht »so viele Kräfte ... an einen Pflock gebunden.«

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Warum schreibe ich so viel über Kafka?  Warum zitiere ich soviel aus seinen Werken und Briefen in einem Buch, in dem er doch nur als Vertreter eines möglichen Patienten steht. Statt Kafka hätte ich Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin, James Joyce, Marcel Proust, Robert Walser und noch andere als Beispiele nehmen können. Es ist vielleicht ein Zufall, daß ich mich zuerst in das Werk von Kafka vertiefte und nun gegen die Versuchung ankämpfen mußte, ein ganzes Buch über ihn zu schreiben. So geht es uns auch mit Patienten: es ist zunächst ein Zufall, wer zu uns kommt, wen wir gerade in Behandlung übernehmen können, dann aber bekommt er für uns eine unverwechselbare Bedeutung und hört auf, ein Fall zu sein.

373


Warum also kein Buch über Kafka, sondern ein Kapitel in diesem Buch? 
Das hat mehrere Gründe:

1. Die Diskussionen über den Narzißmus bzw. über den »narzißtischen Charakter« scheinen jetzt sowohl unter den Analytikern als auch bei den Soziologen, ja sogar den Theologen, im Zentrum ihres Interesses zu stehen. Wie ich im Drama bereits schrieb, kann unter dem Wort »Narzißmus« vieles verstanden werden, wobei die entwertende Haltung dem sogenannten »narzißtischen Charakter« gegenüber in allen Bedeutungen mitschwingt. In dieser mehr oder weniger moralisierenden Haltung sehe ich die unbewußte Identifizierung mit dem Erzieher, der im Kind das bekämpft, was ihm selber in seinem Innern zu schaffen macht. Denn wie oft sind die Kritiker des »narzißtischen Charakters« narzißtisch gestörte Menschen, die sich in der Grandiosität und im Erziehen der anderen selber schützen. 

So habe ich Kafka aus seinen Briefen und Werken sprechen lassen, um dem Leser die Identifikation mit dem Kind im Dichter und dem angehenden Analytiker die Identifikation mit dem Kind im Patienten Kafka zu ermöglichen. Kafkas Beziehung zu Felice kann zweifellos als narzißtisch bezeichnet werden, aber wenn man bei der Lektüre seiner Briefe an die Braut mit einem Ohr auch das von der Mutter verlassene Kind hört, wird der Text erst voll verständlich, und die Untauglichkeit der bloß beschreibenden oder gar verurteilenden Begriffe (wie z.B. »pathologischer Narzißmus«) tritt offen zu Tage.

2. Wie ich mich früher in das Leben Adolf Hitlers vertieft habe, um eine destruktive Laufbahn aus ihrer Vorgeschichte zu begreifen (vgl. A. Miller, 1980), so habe ich im Leben Franz Kafkas die biographischen Wurzeln einer narzißtischen Persönlich­keitsstörung bei einem Menschen gesucht, der vielen ähnlich gearteten bereits bekannt ist oder dank seinen Werken bekannt werden könnte. In beiden Fällen meine ich sowohl das Besondere als auch das Allgemeine; das ergibt sich aus meiner Methode, die die Subjektivität in den Vordergrund stellt.

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Der Einzelne ist für mich nicht ein Fall zur Illustration einer Theorie (z.B. des Ödipuskomplexes, der Kastrationsangst, des Narzißmus), sondern die Quelle der Erkenntnis, der Zugang zum Verständnis, aus dem heraus sich auch andere Menschen verstehen können. Ich versuche, wie der englische Maler Francis Bacon mit einigen seiner Porträts, ein Bild zu entwerfen, in dem der Zuschauer sich wie im Spiegel sehen kann, aber nicht muß, wenn er nicht will.

 

3. Es gibt viele Menschen, die ihr Leben lang am Verhungern sind, obwohl sich ihre Mütter pflichtbewußt und besorgt um ihr Essen, ihren Schlaf und ihre Gesundheit gekümmert haben. Daß diesen Menschen in sehr vielen Fällen trotzdem das Entscheidende gefehlt hat, scheint auch unter Fachleuten noch wenig bekannt zu sein. Daß die seelische Nahrung des Kindes aus dem Verständnis und dem Respekt seiner ersten Bezugspersonen geschöpft wird und nicht durch Erziehung und Manipulation ersetzt werden kann, ist noch keineswegs Allgemeingut unsrer Gesellschaft. Im Gegenteil, die neueste Entwicklung der Psychologie, der Psychotherapie und der Psychiatrie zeigt eine Tendenz zur Bevorzugung der »strategischen Techniken« und zur kollektiven Verleugnung der Bedeutung von Kindheitstraumen, wobei die Zuchtrute durch Psychopharmaka ersetzt werden kann. Versucht ein Patient, in der Klinik über seine Vergangenheit zu sprechen, bekommt er Tabletten, damit er sich nicht »zu sehr aufrege«. Es wird vordergründig alles zur Schonung des Patienten getan, doch im Grunde werden die gefürchteten internalisierten Eltern des Therapierenden auf Kosten der Wahrheit geschont.

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4. Kafkas Briefe an Felice schildern die Entwicklung einer Beziehung, die zweifellos als narzißtisch bezeichnet werden kann. In solchen Beziehungen wird der andere nicht als Zentrum seiner Aktivität, sondern als Funktion unserer eigenen Bedürfnisse gesehen (vgl. A. Miller, 1979). Diese Haltung den Mitmenschen gegenüber kann man überall beobachten, und ihr Charakter verändert sich oft ein Leben lang nicht. 

Was mir in Kafkas Briefen so besonders auffiel, war die Entwicklungs- und Wandlungsfähigkeit von der kindlichen, ängstlichen Anklammerung bis zur schmerzhaften Trennung und Trauerarbeit. Diese Briefe, so scheint es mir, zeigen einen langen inneren Kampf zwischen der Furcht, den geliebtesten Menschen zu verlieren, wenn man sich treu bliebe, und der panischen Angst, sein Selbst zu verlieren, wenn man sich verleugnen würde. Ein Kind kann einen solchen Konflikt nicht bewältigen und muß sich notwendigerweise anpassen, weil es allein nicht überleben würde. 

Am Anfang seiner Korrespondenz mit Felice sieht es so aus, als ob sich Kafkas Kinderschicksal hier wiederholen müßte. Aber die weitere Entwicklung zeigt, daß er hier, anders als einst bei der Mutter, seine Bedürfnisse mit der Zeit immer deutlicher wahrnehmen und artikulieren kann; daß er zwar immer wieder in Gefahr ist, die Notwendigkeit des Schreibens und des Alleinseins den bürgerlichen Vorstellungen von Familienglück zu unterwerfen, aber daß er dieser Gefahr niemals erliegt. Am Schluß weiß er, daß er das Schreiben nicht aufgeben kann, ohne sich selbst aufzugeben und nimmt die Konsequenzen auf sich. Da dies aber in der Welt, aus der er kommt, nicht ohne Schuldgefühle möglich ist, bezahlt er für seinen Entschluß mit der Krankheit.

 

5. Kafkas Verständnis seiner Tuberkulose kann auch bei unseren Bemühungen, die psychosomatischen Krankheiten und deren gesellschaftlichen Hintergrund zu verstehen, hilfreich sein. Machen wir es als Therapeuten den Patienten nicht schwer, ihr eigenes Leben zu leben, wenn wir vorgefaßte Vorstellungen darüber haben, worin das Glück, die psychische Gesundheit, das soziale Engagement, der Altruismus, die Güte eines Menschen bestünden? Nach diesen noch sehr im Gebrauch stehenden Maßstäben war Franz Kafka ein Neurotiker oder Sonderling, den man in einer Psychotherapie versucht wäre, zu »sozialisieren«, um ihm die Ehe mit Felice zu ermöglichen. 

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Mit meinem Kafka-Kapitel wollte ich u.a. die Absurdität eines solchen Vorhabens deutlich machen. Gerade durch Kafkas Unvermögen, den bürgerlichen Normen zu gehorchen (das wird nicht immer so sein), wurde ein Seher von einer seltenen Konsequenz und Tiefe gerettet. Ob sich die Menschheit darum kümmert oder nicht, die prophetische Kraft der Strafkolonie bleibt erhalten. Und dies nicht, weil irgendein Gott sie Kafka zugeflüstert hätte (nur in der Phantasie Max Brods war Kafka religiös), sondern weil Kafka seine eigenen Erfahrungen ernstnahm und deren Konsequenzen zu Ende dachte.

 

Die Befürworter der manipulativen Strategien in der Psychotherapie könnten meinen Gesichtspunkten entgegen­halten, daß nicht jeder Mensch das Talent eines Franz Kafka habe und daß die meisten Leute Hilfe suchen, weil sie besser mit ihren Mitmenschen auskommen möchten, weil sie an Symptomen leiden, ihre Objektbeziehungen verbessern möchten, nicht heiraten können u.ä. 

Dazu wäre zu sagen, daß genau dies auch die Klagen Franz Kafkas waren. Es wäre aber verhängnisvoll, wenn man die Sehnsucht nach dem wahren Selbst in diesen Klagen überhörte (vgl. A. Miller, 1979). Was können wir über Begabungen wissen, wenn wir durch unsere strategischen Maßnahmen in der Psychotherapie den durch die Erziehung begonnenen Seelenmord zu Ende führen? Wer kann später feststellen, wieviele Talente auf diese Art im Keime erstickt wurden? Nicht jedem Menschen wird in der Pubertät eine Schwester wie Ottia geschenkt. Und es gibt unzählige Menschen, die in ihrem ganzen Leben niemals jemandem begegnet sind, der auf sie eingehen konnte, ohne sie erziehen, d.h. verändern zu wollen. Wie sollten diese Menschen ihre Talente entdecken können?

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Was Franz Kafka betrifft, so war es ihm möglich, auch ohne Analyse, in den letzten Jahren mit einer Frau zusammenzuleben, die nicht mehr dem Muster seiner Mutter entsprach und mit der er, ähnlich wie mit seiner Schwester Ottia, Gedanken und Gefühle teilen konnte. Diese Chance wäre ihm verwehrt geblieben, wenn er sich einige Jahre zuvor zum Heiratenkönnen von Felice hätte therapieren lassen.

Es ist durchaus möglich, daß Menschen, die gewohnt sind, alles auf der Bewußtseinsebene zu sehen, diesen meinen Ausführungen über Kafka nur mit Kopfschütteln begegnen können, doch diese Ausführungen sind nicht dazu bestimmt, jemanden von der Existenz des Unbewußten überzeugen zu wollen. Aber ich könnte mir vorstellen, daß es auch unter den Analytikern einige gibt, die dem hier dargestellten, für eine Gruppe von Menschen exemplarischen Leiden Kafkas mit den üblichen Argumenten begegnen, nämlich daß »keine Mutter vollkommen sei und das Kind immer verstehen könne«, daß außerdem die Mütter überfordert seien und ich die Not der Frau bagatellisiere, ihr noch mehr Schuldgefühle mache, wenn ich so viel über das Leiden der Kinder schreibe usw. Diesen Argumenten bin ich mehrmals in analytischen Kreisen begegnet, und ich meine daher, daß es sich lohnt, ausführlicher darauf einzugehen.

Was nützt es, Kritik an »der Gesellschaft« zu üben, wenn wir als Analytiker das Wissen darüber, wie sich die Grausamkeit in der Gesellschaft formt und wie sie überliefert wird, bei uns zurückhalten oder es überhaupt nicht zulassen, um niemandem Schuldgefühle zu machen?

Ich habe in meiner analytischen Tätigkeit häufig die Beobachtung gemacht, daß die früh anerzogenen paradoxen Schuldgefühle den Blick für lebenswichtige Zusammenhänge vernebeln und den Weg zum Fühlen, also auch zur Trauer, versperren. 

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Was ich damit meine, findet sich bei Lea Fleischmann (1980) besonders klar ausgedrückt:

Juden anzuzeigen war Pflicht — kein schlechtes Gewissen; in Zügen Eingepferchte abtransportieren war vorgesehen — kein schlechtes Gewissen; Kinder massenhaft zu erschießen war gesetzlich — kein schlechtes Gewissen; fünf Minuten zu spät zum Dienst zu kommen war gegen die Dienstauffassung — schlechtes Gewissen; den Dienst an der Rampe lasch zu versehen war gegen das Pflichtbewußtsein — schlechtes Gewissen; Gas in die Kammern zu werfen war Vorschrift — kein schlechtes Gewissen; die Mittagspause zu überziehen ist nicht erlaubt — deswegen wieder schlechtes Gewissen.

Es scheint, daß die Autorin dieser Sätze ohne Tiefenpsychologie, aufgrund ihrer alltäglichen Erfahrungen als Lehrerin den engen Zusammenhang zwischen der extremen Abstumpfung gegenüber dem leidenden Menschen und der früh anerzogenen Vorschriftenhörigkeit rein intuitiv entdeckt hat. Meine Erfahrung mit dem Unbewußten kann diese Entdeckung nur bestätigen. Seit ich verstanden habe, wie Menschen von der Struktur eines Adolf Eichmann möglich geworden sind (vgl. A. Miller, 1980), welche Qualen sie erleben würden, wenn sie einmal eine Anordnung nicht befolgten, enthalte ich mich jeder Verurteilung. 

Andererseits sehe ich mit aller Deutlichkeit das wahrheitsfeindliche und lebenzerstörende, daher gefährliche Potential, das wir der frühen Erziehung zur gefühllosen Fügsamkeit verdanken. Auch wir Analytiker gehören zweifellos oft zu den früherzogenen Menschen und teilen somit dieses tragische Schicksal; doch wir versuchen, es zu verarbeiten. Man kann zwar das vergangene Schicksal nicht verändern, aber das gegenwärtige und zukünftige verändert sich, sobald uns das vergangene auf dem Wege der Bewußtwerdung zugänglich wird, sobald wir merken, wie sehr uns die frühanerzogenen, paradoxen Schuldgefühle am Fühlen und am Merken gehindert haben.

Es ist möglich, daß auch meine Versuche, diese Mechanismen au fzudecken, am Vierten Gebot scheitern werden, weil dieses kein Gegenstand ist, den man mit einemmal zerschlagen könnte, sondern eine Erkenntnis­hemmung, die wir so früh verinnerlicht haben, daß uns alles Angst machen muß, was sich ihr entgegensetzt. 

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Es ist also möglich, daß wir auf die Erforschung einer Wahrheit verzichten müssen, falls ihre Konsequenzen unsere Angsttoleranz überschreiten. Dafür kann man niemanden beschuldigen, und zweifellos handelt es sich hier um ein kollektives Schicksal.

Wir können also als Analytiker sagen: Der narzißtische und sexuelle Mißbrauch des Kindes sowie die körperlichen und seelischen Mißhandlungen, Demütigungen und Kränkungen sind Tatsachen, die hinzunehmen sind, weil man an ihnen nichts ändern kann. Aber wir können nicht sagen, daß die Notwendigkeit, dieses Wissen in der Kindheit zu verdrängen, nur weil es eine Notwendigkeit ist, nicht zu Neurosen führe, und diese statt dessen auf Triebkonflikte zurückführen. 

Nehmen wir an, daß ein Regisseur einen Film dreht und in ihm bisher unbekannte, aber reale Grausamkeiten aufdeckt, die den Zuschauer zunächst ratlos machen. Dürften wir ihm diesen Film mit dem Argument verbieten, daß an diesen Grausamkeiten nichts zu ändern sei? Wie soll sich etwas in der Gesellschaft ändern können, wenn Grausamkeiten noch gar nicht als das, was sie sind, gesehen werden? Wer weiß, ob sich nicht doch einmal etwas daran ändern kann? 

Aber die Voraussetzung dieser Änderung wäre, daß man die Wahrheit, sei sie noch so unbequem, nicht länger zudeckt. Wenn wir uns nicht mehr um die Schuldfrage, sondern um die Tatsachen kümmern würden und bei den Versuchen, die Entstehungsgeschichte der Neurose zu verstehen, niemanden schonen müßten, wäre damit eine notwendige (wenn auch nicht ausreichende) Bedingung für eine Veränderung in den künftigen Generationen möglicherweise schon durch dieses Wissen geschaffen.

Zugegeben, die Geschichte gibt uns wenig Anlaß zu Optimismus und zur Hoffnung auf Veränderung. Vor 400 Jahren schon schrieb Michel de Montaigne Sätze über Kindererziehung mit einer Achtung für die Würde des Kindes, die die Praxis unserer heutigen Erzieher noch lange nicht erreicht hat; und vor mehr als 2000 Jahren verkörperte Sokrates bereits eine Haltung dem Seelischen gegenüber, hinter der unsere wissenschaftliche Psychologie weit zurückbleibt. 

380


Das Ausmaß des Bösen und der Bereitschaft zum Aberglauben in der Welt scheint konstant zu sein und von neuen Erkenntnissen unbeeinflußbar. So läßt sich gegen die Berechtigung zu dieser pessimistischen Argumentation kaum etwas einwenden, außer, daß noch so kluge und komplizierte System­theorien auf dem Gebiete der Psychotherapie und Psychoanalyse diesen Zustand auch nicht verändern werden.

 

Was würden wir sagen, wenn wir einen verwundeten, vom Auto überfahrenen Menschen ins Spital brächten und sich die Ärzte bei der medizinischen Untersuchung des Falles vom Wagenlenker hindern ließen, weil dieser es so eilig hat, seine Unschuld am Unfall zu beweisen? Manchmal fühle ich mich in einer vergleich­baren Situation, wenn ich von Analytikern höre, daß meine Bücher den Eltern Schuldgefühle machen könnten. Ich habe ja selber geschrieben, daß es nirgends diese Mutter gibt, die einem Kind alles das geben könnte, was es braucht, und ich habe zu erklären versucht, warum es das nicht geben kann. 

Das befreit uns aber als Analytiker nicht von der anderen Frage, nämlich welche Bedingungen ein Kind braucht, um später nicht neurotisch oder psychotisch zu werden, und sei es nur, um zu verstehen, warum unsere Patienten krank geworden sind. Diesen Fragen mit Verteidigungen der Mütter zu begegnen, ist ein Ausdruck der Schuldgefühle, die in der eigenen (meist religiösen) Erziehung wurzeln und daher verständlich sind, die aber niemandem helfen, weil sie der Trauer im Wege stehen (vgl. A. Miller, 1980, S. 285-316).

Wir können das Leid der Kinder nicht rückgängig machen, weder mit Beschuldigung noch mit Verteidigung der Eltern, aber wir könnten vielleicht zukünftiges Leid verhindern helfen, wenn wir nicht aus dem Bedürfnis, uns oder unsere Eltern zu verteidigen, die Wahrheit leugnen müßten.

381


Die Wahrheit ist, daß nicht Triebentbehrungen und -konflikte, sondern schwere narzißtische Traumat­isierungen (wie Demütigungen, Kränkungen, sexueller Mißbrauch und u.a. das Bagatellisieren des kindlichen Leidens) gepaart mit der Notwendigkeit ihrer Verdrängung unsere heutigen Neurosen bewirken. Diese Traumatisierungen treten um so häufiger auf, je weniger die Öffentlichkeit von ihrer Bedeutung, ihrer pathogenen Wirkung und ihrer Tragweite für die Gesellschaft weiß. Nur dieses Wissen, und nicht bloß mehr Freizeit für die Mütter, kann helfen, ihr Verständnis für das Kind zu erweitern und es, soweit es ihr möglich ist, teilnehmend zu begleiten. Dieses Wissen könnten die Mütter von den Psychoanalytikern bekommen, wenn diese nicht falsches Mitleid hätten mit den Müttern. Ich nenne es falsch, weil man durch das Vorenthalten und Verschleiern der Wahrheit den anderen in ein neues Verschulden, in ein erneutes Verstricktsein, in neue ungewollte Grausamkeiten, also in die Falle gehen läßt. Ist es dann nicht sinnvoller, ihm die Augen für die Wahrheit zu öffnen?

So nötig diese Funktion des Analytikers in der Gesellschaft wäre, so wenig kann man sie postulieren, geschweige denn, sie von ihm verlangen. Wir sind alle in einem Erziehungssystem aufgewachsen, in dem die narzißtischen Bedürfnisse des Kindes nach Achtung, Spiegelung, Verständnis und Ausdrucks­möglich­keit weder gekannt noch toleriert wurden. Sie wurden im Gegenteil bekämpft. Und doch können wir versuchen, neue Erfahrungen zu machen. Wir wissen, wie lange es bei einem Patienten dauern kann, bis er einsieht, daß es wichtig ist, seine Bedürfnisse zu artikulieren und zu spüren, auch wenn keine Aussicht mehr bestehen sollte, daß sie von der Umgebung befriedigt werden. Trotzdem ist es wichtig, sie zuzulassen, weil nur dann der Patient selber ein empathisches inneres Objekt in sich errichten kann. So ermutigen wir unsere Patienten dazu, auch Wünsche spüren und äußern zu dürfen, die keine Aussicht auf Befriedigung haben, und dies hat regelmäßig eine Erweiterung der Persönlichkeit zur Folge. 

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Die Hebammenfunktion des Analytikers besteht darin, bei der Geburt oder Wiedergeburt dieser Wünsche und Bedürfnisse sowie beim Bewußtwerden der Traumen dem Patienten beizustehen. Diesen Beistand können wir ihm nur geben, wenn wir nicht die Ideologie unserer Eltern vertreten, die dem Kind unerfüllbare Wünsche (z.B. nach Verständnis) auszureden versuchten, d.h. wenn wir nicht auf das Leiden von Menschen, die ähnlich wie Kafka geartet sind, mit der erzieherischen Haltung reagieren, indem wir sagen: »Es gibt keine idealen Mütter, und Kinder wie Kafka machen es den Müttern besonders schwer, sie zu verstehen.« Die Wahrheit der beiden letzten Sätze ist unumstößlich, und trotzdem darf sie nicht dazu führen, das Leiden des Kindes zu bagatellisieren, weil wir uns damit das Verständnis sowohl unserer Patienten als auch vieler Dichter versagen und somit die Tragik unseres eigenen Nichtverstanden­wordenseins in der Kindheit und in der Lehranalyse unbewußt der nächsten Analytiker-Generation als Erbschaft weitergeben.

Obwohl ich häufig in verschiedenen Zusammenhängen daraufhingewiesen habe, daß ich weit davon entfernt bin, Eltern zu beschuldigen, weil ich auch sie als Opfer der Erziehungsideologie und der eigenen Kindheit sehe; obwohl ich gründlich ausgeführt habe, daß ich nicht die äußeren Ereignisse, sondern die psychische Situation des Kindes, nämlich die Unmöglichkeit, seine heftigsten, mit traumatischen Erlebnissen verknüpften Gefühle zu artikulieren, als Ursache der Neurose betrachte, werden diese Punkte häufig übersehen und meine Gedanken dementsprechend mißverstanden. Damit wird auch übersehen, daß ich lediglich versuche, gesellschaftliche Faktoren aufzuzeigen, die bisher, trotz umfangreicher intellektueller Emanzipation, dank sehr frühen emotionalen Verinnerlichungen verschleiert geblieben sind.*

 

Daß Kinder für die Bedürfnisse der Eltern geopfert werden, ist eine unbequeme Wahrheit, die kein Erwachsener gerne hört. Bereits Jugendliche ertragen diese Wahrheit schwer, weil sie an ihre Eltern ambivalent gebunden sind und viel lieber den abgespaltenen Haß auf Institutionen und auf die abstrakte »Gesellschaft« richten. Dort finden sie ein Objekt, das sie eindeutig ablehnen können, und hoffen so von ihrer Ambivalenz endlich freizukommen.

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Ebenfalls ist oft mißverstanden worden, daß ich mit meiner Kritik der antiautoritären Erziehung selbstverständ­lich nicht die echten Bemühungen der Eltern und Erzieher (wie z.B. A.S. Neills, Summerhill) meine, sondern lediglich den mit ideologischen Zielvorstellungen getarnten Mißbrauch des Kindes. Was ich darunter verstehe, habe ich in entsprechenden Zusammenhängen beschrieben (vgl. z.B. A. Miller, 1980, S. 121 u. a.a.O.). 

Auch kann meine Kritik der traditionellen Erziehungsideologie nicht einzelne, hervorragende Persönlichkeiten treffen, die sich zwar als Erzieher verstanden, aber im Grunde, wie z.B. Janusz Korczak, Anwälte, Beschützer und seelische Begleiter der Kinder waren. Diese Haltung gab Korczak sogar die Kraft, 1942 freiwillig mit den dem Tode geweihten Kindern seines Heimes in Warschau in die Gasöfen von Treblinka zu gehen (vgl. J. Korczak, 1970, 1981). In der Welt, in der er lebte, konnte Korczak seine Kinder nicht retten, aber er wollte sie nicht in ihrem Todeskampf alleinlassen. 

Auch wir können die Welt unserer Kinder nicht ändern, aber es ist ein großer Unterschied, ob wir sie wissend begleiten oder beschuldigend erziehen. Erziehung zementiert nämlich eine Welt, in der die selbstverständlichste Begleitung des Kindes bereits Opfer erfordert.

Gegen eine solche Zementierung kämpfe ich in diesem Buch an. Ich nehme es in Kauf, daß mir leicht der Vorwurf der Einseitigkeit gemacht werden kann, weil ich nicht auch noch andere, ebenfalls richtige Gesichts­punkte berücksichtige, über die bereits geschrieben worden ist. Wenn man eine bestimmte Stelle scharf beleuchtet, taucht die Umgebung vorübergehend ins Dunkle, womit sie aber weder aufhört zu existieren noch die Chance verliert, ebenfalls beleuchtet zu werden. 

384


Ich zweifle nicht daran, daß es im Garten Eden wundervolle Bäume gab, doch konnte ich der Aussagekraft und dem Gehalt meiner Erfahrungen nicht entrinnen und mußte mich mit dem verbotenen Baum beschäftigen. Wenn es mir gelingt, auch nur wenige Menschen darauf aufmerksam zu machen, wie die Opferung des Kindes mit dessen Beschuldigung überdeckt wird, dann wären alle zu erwartenden Mißverständnisse und Vorwürfe der Einseitigkeit ein sehr niedriger Preis im Vergleich zu der für mich wichtigen Bedeutung des Erreichten.

 

Wer das erste Kapitel des Buches Am Anfang war Erziehung gelesen hat, wird begreifen, warum Freuds erste Theorie, die Verführungstheorie, und meine Gedanken, die sich damit verbinden, auf einen viel größeren Widerstand stoßen müssen als die Theorie des Ödipuskomplexes. Ich rechne mit diesem Widerstand als einem gesellschaftlichen Phänomen und mit den ihm entspringenden Mißdeutungen und Vorwürfen. Sollte es die nicht geben, so wäre es überflüssig gewesen, dieses Buch zu schreiben. 

Man kann das Erbe von Jahrtausenden nicht plötzlich ablegen; als Analytiker müssen wir dafür Verständnis haben. Aber man kann wiederum nicht von uns verlangen, daß wir unsere Augen noch fester verschließen, nachdem wir achtzig Jahre lang Menschen analysiert haben und einiges erfahren mußten, was die Menschheit nicht hören will. Sie will es nicht, weil sie es noch nicht ertragen kann. Und das ist ihr gutes Recht, denn die Erlangung einer echten Einsicht ist ein langer Prozeß, in dem das intellektuelle Wissen nur eine kleine Rolle spielt. Das Entscheidende ist wohl die Bereitschaft, offen zu bleiben: offen für das, was »die Patienten« und Dichter erzählen, was unsere Kinder uns zeigen, und offen schließlich auch für Entdeckungen, die wir mit uns in unserm Innern machen können, sobald wir unsere Gefühle und Phantasien als Mitteilungen über frühere Realitäten ernstnehmen können.

385


Sobald die Front gegen die Wahrheit über das mit Schweigen zugedeckte, den kleinen Kindern zugefügte Leid nicht mehr so total und geschlossen bleibt, werden sich diese Mitteilungen weniger chiffriert ausdrücken können. Das soeben erschienene, erschütternde Buch von Mariella Mehr (1981) ist ein Beispiel dafür. Der 32jährigen Frau wird es möglich, ein kaum faßbares Martyrium ihrer Kindheit und Jugend und die ganze verborgene Kette von Verfolgungen und Vergewaltigungen mit Hilfe der in voller Intensität erlebten Schmerzen und anderer Gefühle zu entdecken und damit auch ihr Selbst zu finden. 

Der Weg von dem versteinerten, verdinglichten Wesen zu dem lebendigen, fühlenden und leidenden Menschen vollzieht sich innerhalb einer Primärtherapie, offensichtlich in ihrer bestmöglichen Form. Auf jeden Fall ist hier eine verläßliche, nicht erziehende, empathische Begleitung spürbar, die nirgends beschwichtigt, nirgends die Wahrheit mit Theorien, Ideologien oder Mystifikationen verschleiert. Die einzige Konzession an die Abwehr der Leser ist die Bezeichnung »Roman«, die dem Leser die Möglichkeit gibt, nach psychiatrischen Mustern alles als Ausgeburt »krankhafter Phantasien« zu bezeichnen. Aber auch die grauenvollsten Phantasien kommen selten an das Grauen der Realität heran. Mariella Mehrs Dichtung gehört zu den großen Ausnahmen, auch in der Konsequenz und der Tragweite ihrer Entdeckung.

Diese Dichtung illustriert und bestätigt indirekt einige von mir aufgestellte Thesen:

1.  Nicht der hohe Grad der Unbewußtheit, sondern die Tiefe, Intensität und Echtheit des Erlebten verleihen dem dichterischen Werk seine Kraft. Daher kann die Vertrautheit mit dem Unbewußten die dichterische Potenz nicht schmälern.

2. Nicht in der Neurose, sondern in der Leidensfähigkeit liegen die Wurzeln der Kreativität.

3. Nicht das Ausleben im destruktiven und selbstdestruktiven Verhalten, sondern das Erleben und Artikulieren des Hasses und der Verzweiflung führen zur Befreiung und zur Liebesfähigkeit.

4. Nicht die manipulatorischen, die Anpassung an die gesellschaftlichen Tabus stützenden Verfahren, sondern das Aufdecken und Erkennen der vollen Wahrheit können zu gesellschaftlichen Veränderungen führen.

5. Nicht die Lösung der Triebkonflikte bzw. die Beherrschung und bessere Kontrolle der Triebwünsche, sondern das volle Zulassen der Gefühle, ihr emotionaler Zugang zu den Kindheitstraumen, ermöglichen die Vernarbung der alten Wunden.

6. Nicht komplizierte Systemtheorien, sondern eine verläßliche, nicht zudeckende Begleitung kann diesen Zugang ermöglichen.

Wird er erreicht, dann löst sich die zum Überleben notwendige Erstarrung sogar bei einer Frau, die als kleines Mädchen den zweifachen Mordversuch ihrer schizophrenen Mutter, mehrfache sexuelle Vergewaltigungen, mehrfache Elektroschocks und erzieherische Maßnahmen von unerhörter Brutalität über sich hat ergehen lassen müssen. Keine »bloße« Phantasie hätte dies ausdenken, auf keinen Fall in dieser Folgerichtigkeit beschreiben können. 

Es gibt eben Dinge in dieser Welt, von denen das Denken der Philosophen (der Glücklichen) noch unberührt geblieben ist. Aber gleichzeitig gibt es immer mehr Menschen, die diese Dinge sehen können, weil sie an irgendeinem Ort eine wissende Begleitung erfahren haben. 

Die in Schmerzen gefundene Wahrheit des Einzelnen kann zwar immer wieder durch schwere Folianten der pädagogischen, psychiatrischen und theologischen Weisheit erdrückt, sie kann aber nicht aus der Welt geschafft werden, weil jedes Neugeborene die Möglichkeit mit sich bringt, sie neu zu entdecken.

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