Start     Weiter  Nachwort

Körper und Moral  

 

Einleitung von Alice Miller 2004

 

 

12-31

Nicht selten reagiert der Körper mit Krankheiten auf die dauernde Mißachtung seiner lebenserhaltenden Funktionen. Zu ihnen gehört die Treue zu unserer wahren Geschichte. Somit handelt es sich in diesem Buch vornehmlich um den Konflikt zwischen dem, was wir fühlen und wissen, weil es unser Körper registriert hat, und dem, was wir fühlen möchten, um den moralischen Normen zu entsprechen, die wir sehr früh verinnerlicht haben. 

Es stellt sich heraus, daß unter anderem auch eine ganz bestimmte, allgemein anerkannte Norm, nämlich das Vierte Gebot, uns häufig daran hindert, unsere wahren Gefühle zuzulassen, und daß wir diesen Kompromiß mit körperlichen Erkrankungen bezahlen. Das Buch bringt viele Beispiele für diese These, wobei es nicht ganze Lebensgeschichten erzählt, sondern sich vor allem auf die Frage der Beziehung zu den einst mißhandelnden Eltern konzentriert. Meine Erfahrung lehrte mich, daß mein eigener Körper die Quelle aller lebenswichtigen Informationen ist, die mir einen Weg zu mehr Autonomie und Selbstbewußtsein eröffneten. 

Erst als ich die in ihm so lange eingesperrten Emotionen zulassen durfte und sie fühlen konnte, wurde ich von meiner Vergangenheit zunehmend frei. Echte Gefühle lassen sich nicht erzwingen. Sie sind da und haben stets einen Grund, auch wenn uns dieser sehr häufig verborgen bleibt. Ich kann mich nicht zwingen, meine Eltern zu lieben oder auch nur zu ehren, wenn mein Körper mir das aus Gründen, die ihm gut bekannt sind, verweigert.

Wenn ich aber trotzdem das Vierte Gebot befolgen will, gerate ich in Streß, wie immer, wenn ich etwas Unmögliches von mir verlange. Unter diesem Streß litt ich beinahe mein ganzes Leben lang. Ich versuchte mir gute Gefühle einzubilden und die schlechten zu ignorieren, um im Einklang mit der Moral, mit dem Wertesystem, das ich akzeptierte, zu bleiben. Eigentlich, um als Tochter geliebt zu werden. Aber die Rechnung ging nicht auf, ich mußte schließlich einsehen, daß ich die Liebe nicht erzwingen kann, wenn sie nicht da ist. 

Auf der anderen Seite durfte ich erkennen, daß sich das Gefühl der Liebe spontan einstellt, zum Beispiel zu meinen Kindern oder Freunden, wenn ich mich nicht dazu zwinge und nicht den moralischen Forderungen zu folgen versuche. Es stellt sich nur dann ein, wenn ich mich frei fühle und für alle meine Gefühle, auch die negativen, offenbleibe. 

Die Erkenntnis, daß ich meine Gefühle nicht manipulieren kann, daß ich weder mir noch anderen etwas vormachen kann und will, brachte mir eine große Erleichterung und Befreiung. Erst dann ist mir aufgefallen, wie viele Menschen sich beinahe zugrunde richten, wenn sie sich, wie ich es früher auch tat, dem Vierten Gebot zu fügen versuchen, ohne zu merken, welchen Preis sie den Körper oder ihre Kinder dafür bezahlen lassen. Solange sich die Kinder dafür gebrauchen lassen, kann man sogar hundert Jahre leben, ohne seine Wahrheit zu erkennen und an seinem Selbstbetrug zu erkranken.

Auch eine Mutter, die sich eingestehen muß, daß sie aufgrund ihrer Mangelerfahrungen in der Kindheit ihr eigenes Kind nicht lieben kann, obwohl sie sich sehr darum bemüht, wird mit dem Vorwurf der Unmoral zu rechnen haben, wenn sie diese ihre Wahrheit artikulieren würde. Aber ich meine, daß gerade die Anerkennung ihrer wahren Gefühle, unabhängig von den Forderungen der Moral, es ihr ermöglichen würde, sich selbst und ihrem Kind ehrlich beizustehen und die Kette des Selbstbetrugs zu durchbrechen.

13


Wenn ein Kind auf die Welt kommt, braucht es von den Eltern Liebe, das heißt Zuwendung, Beachtung, Schutz, Freundlichkeit, Pflege und die Bereitschaft zu kommunizieren. Mit diesen Gaben fürs Leben ausgestattet, behält der Körper die gute Erinnerung, und der Erwachsene wird später die gleiche Liebe seinen Kindern weitergeben können. Wenn aber all das fehlte, bleibt im ehemaligen Kind eine lebenslange Sehnsucht nach der Erfüllung seiner ersten dringendsten Bedürfnisse. Diese Sehnsucht wird im späteren Leben auf andere Menschen übertragen. 

Andererseits: Je weniger Liebe das Kind bekommen hat, je mehr es unter dem Vorwand der Erziehung negiert und mißhandelt wurde, desto mehr hängt der Erwachsene an seinen Eltern oder Ersatzpersonen, von denen er all das erwartet, was ihm die Eltern im entscheidenden Moment schuldig geblieben sind. Das ist die normale Reaktion des Körpers. Er weiß, was ihm fehlt, er kann die Entbehrungen nicht vergessen, das Loch ist da, und es wartet darauf, gefüllt zu werden.

Doch je älter man wird, desto schwieriger wird es, von anderen Menschen die einst ausgebliebene elterliche Liebe zu erhalten. Aber die Erwartungen werden nicht mit dem Älterwerden aufgegeben, ganz im Gegenteil. Sie werden nur auf andere, hauptsächlich auf die eigenen Kinder und Enkelkinder übertragen. 

14


Es sei denn, wir werden uns dieser Mechanismen bewußt und versuchen, durch die Aufhebung der Verdrängung und Verleugnung die Realität unserer Kindheit so genau wie möglich zu erkennen. 

Dann schaffen wir in unserem Selbst den Menschen, der uns die Bedürfnisse befriedigen kann, die seit unserer Geburt oder noch früher auf ihre Erfüllung warten. Nun können wir uns die Beachtung, den Respekt, das Verständnis für unsere Emotionen, den nötigen Schutz, die bedingungslose Liebe, die uns die Eltern verweigert haben, selber geben.

Damit dies geschehen kann, brauchen wir die Erfahrung der Liebe für das Kind, das wir waren, sonst wissen wir nicht, worin sie besteht. Wenn wir das in den Therapien lernen wollen, brauchen wir Menschen, die uns so annehmen können, wie wir sind, uns den Schutz, Respekt, die Sympathie und Begleitung geben können, die uns helfen zu verstehen, wie wir so geworden sind, wie wir sind. Diese Grunderfahrung ist unentbehrlich, damit wir die Elternrolle für das einst mißachtete Kind in uns übernehmen können. Ein Erzieher, der etwas mit uns vorhat, kann uns diese Erfahrung nicht vermitteln, ebensowenig ein Psychoanalytiker, der gelernt hat, daß man angesichts der Kindheitstraumen neutral bleiben und die Berichte der Analysanden als Phantasien deuten solle. 

Nein, wir brauchen genau das Gegenteil, nämlich einen parteiischen Begleiter, der mit uns das Entsetzen und die Empörung teilen kann, wenn unsere Emotionen ihm und uns Schritt für Schritt aufdecken, wie das kleine Kind gelitten hat und was es durchmachen mußte, ganz allein, als seine Seele und sein Körper um das Leben kämpften, das Leben, das sich jahrelang in ständiger Gefahr befand. Einen solchen Begleiter, den ich einen Wissenden Zeugen nenne, brauchen wir, um von nun an selbst dem Kind in uns beizustehen, das heißt seine Körpersprache zu verstehen und auf seine Bedürfnisse einzugehen, anstatt sie, wie bisher, zu ignorieren, in der gleichen Art, wie es die Eltern einst taten.

15


Was ich hier beschreibe, ist durchaus realistisch. Man kann in einer guten, parteiischen und nicht neutralen Begleitung seine Wahrheit finden. Man kann in diesem Prozeß seine Symptome verlieren, sich von der Depression befreien und Freude am Leben gewinnen, man kann aus dem Zustand der Erschöpfung herauskommen und einen Zuwachs an Energie erhalten, sobald diese nicht mehr für die Verdrängung der eigenen Wahrheit benötigt wird. Die für die Depression bezeichnende Müdigkeit meldet sich nämlich jedesmal, wenn wir unsere starken Emotionen unterdrücken, wenn wir die Erinnerungen des Körpers bagatellisieren und sie nicht beachten wollen. 

Weshalb sind solche positiven Entwicklungen eher selten? Warum glauben die meisten Menschen, Fachleute inbegriffen, viel lieber an die Macht der Medikamente, als daß sie sich der Führung des Körpers anvertrauen? Er weiß ja genau, was wir vermissen, was wir brauchen, was wir schlecht vertrugen, worauf wir allergisch reagierten. Aber viele Menschen suchen lieber die Hilfe bei Medikamenten, Drogen oder Alkohol, wodurch ihnen der Weg zur Wahrheit noch mehr versperrt wird. 

Weshalb? Weil die Erkenntnis der Wahrheit schmerzhaft ist? Das ist nicht zu bestreiten. Aber diese Schmerzen sind vorübergehend, und sie sind in einer guten Begleitung zu ertragen. Das Problem sehe ich hier im Mangel dieser Begleitung, weil sehr viele Vertreter der helfenden Berufe durch unsere Moral stark daran gehindert zu sein scheinen, den einst mißhandelten Kindern beizustehen und die Folgen der früh erlittenen Verletzungen zu erkennen. Sie stehen unter der Macht des Vierten Gebotes, das uns vorschreibt, unsere Eltern zu ehren, »damit es uns gut ergehe und wir länger leben können«. 

16


Daß dieses Gebot das Ausheilen von frühen Verletzungen verhindert, ist naheliegend. Daß diese Tatsache bisher nie in der Öffentlichkeit reflektiert wurde, ist nicht erstaunlich. Die Reichweite und Macht dieses Gebotes sind unermeßlich, weil es von der natürlichen Bindung des kleinen Kindes an seine Eltern genährt wird. Auch die größten Philosophen und Schriftsteller wagten es nie, dieses Gebot anzugreifen. Trotz seiner scharfen Kritik an der christlichen Moral blieb Nietzsches Familie von seiner Kritik verschont, denn in jedem einst mißhandelten Erwachsenen schlummert die Angst des kleinen Kindes vor der Strafe der Eltern, wenn es sich gegen ihr Verhalten auflehnen wollte. Doch sie schlummert nur so lange, wie sie ihm unbewußt bleibt. Einmal bewußt erlebt, löst sie sich mit der Zeit auf.

Die Moral des Vierten Gebotes, gepaart mit den Erwartungen des ehemaligen Kindes, führt dazu, daß die große Mehrheit der Berater den Hilfesuchenden wieder die Regeln der Erziehung anbietet, mit denen diese bereits aufgewachsen sind. Viele Berater hängen mit unzähligen Fäden ihrer alten Erwartungen an ihren eigenen Eltern, nennen dies Liebe und versuchen diese Art von Liebe auch den anderen als Lösung anzubieten. Sie predigen die Vergebung als einen Weg zur Heilung und scheinen nicht zu wissen, daß dieser Weg eine Falle ist, in der sie sich selbst befinden. Noch nie hat nämlich die Vergebung eine Heilung bewirkt (vgl. AM 1990/2003).

Es ist bezeichnend, daß wir seit mehreren tausend Jahren mit einem Gebot leben, das bisher kaum jemand in Frage stellte, weil es die physiologische Tatsache der Bindung des mißachteten Kindes an seine Eltern unterstützt. Wir verhalten uns also, als ob wir alle immer noch Kinder wären, die die Gebote ihrer Eltern nicht in Frage stellen dürfen. Doch als bewußte Erwachsene können wir uns das Recht nehmen, unsere Fragen zu formulieren, auch wenn wir wissen, wie sehr sie einst unsere Eltern schockiert hätten. 

17


Moses, der dem Volk seine Zehn Gebote im Namen Gottes auferlegte, war ja selber ein (zwar aus Not, aber doch) verstoßenes Kind. Wie die meisten verstoßenen Kinder hoffte er, eines Tages die Liebe seiner Eltern doch noch mit Leistungen wie Verständnis und Ehrerbietung herbeizuführen. Er wurde von den Eltern ausgesetzt, um ihn vor Verfolgung zu schützen. Doch der Säugling im Weidenkörbchen konnte das kaum begreifen. Der erwachsene Moses würde vielleicht sagen: Meine Eltern setzten mich aus, um mich zu schützen. Das kann ich ihnen doch nicht übelnehmen, ich muß ihnen dankbar sein, sie haben mein Leben gerettet. Das Kind aber konnte gefühlt haben: Warum haben mich meine Eltern verstoßen, warum setzen sie mich der Gefahr des Ertrinkens aus? Lieben mich meine Eltern nicht? 

Die Verzweiflung und die Todesangst, die im Körper gespeicherten authentischen Gefühle des kleinen Kindes, werden in Moses weitergelebt und ihn gesteuert haben, als er seinem Volk den Dekalog schenkte. Das Vierte Gebot kann, oberflächlich betrachtet, als eine Lebensversicherung der alten Menschen gesehen werden, die damals, nicht aber heute, in dieser Form nötig war. Doch bei näherem Zusehen enthält es eine Drohung oder gar eine Erpressung, die bis heute wirksam ist. Sie heißt: Wenn du lange leben willst, mußt du deine Eltern ehren, auch wenn sie dies nicht verdienen, sonst mußt du vorzeitig sterben.

Die meisten Menschen halten sich an dieses Gebot, obwohl es verwirrend und angsterzeugend ist. Ich denke, daß es an der Zeit ist, die Verletzungen der Kindheit und deren Folgen ernst zu nehmen und uns von diesem Gebot zu befreien. 

18


Das heißt nicht, daß wir unseren alten Eltern mit Grausamkeit ihre grausamen Taten heimzahlen müssen, sondern das heißt, daß wir sie sehen müssen, wie sie waren, wie sie mit uns als kleinen Kindern umgingen, um unsere Kinder und uns selbst von diesem Muster zu befreien. Wir müssen uns von den verinnerlichten Eltern trennen, die in uns weiter ihr Zerstörungswerk fortsetzen, nur so können wir unser Leben bejahen und uns zu respektieren lernen. Von Moses können wir das nicht lernen, weil er mit dem Vierten Gebot den Botschaften seines Körpers untreu geworden ist. Er konnte gar nicht anders, weil diese ihm unbewußt waren. Aber gerade deshalb sollte dieses Gebot keine zwingende Macht über uns haben. 

In all meinen Büchern habe ich auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Zusammenhängen aufzuzeigen versucht, wie die Erfahrung der Schwarzen Pädagogik in der Kindheit später unsere Lebendigkeit einschränkt und das Gefühl dafür, wer wir eigentlich sind, was wir fühlen und was wir brauchen, erheblich beeinträchtigt oder gar abtötet. Die Schwarze Pädagogik züchtet angepaßte Menschen, die nur ihrer Maske vertrauen können, weil sie als Kinder in ständiger Angst vor Bestrafung lebten. »Ich erziehe dich zu deinem Besten«, hieß das oberste Prinzip, »und auch wenn ich dich schlage oder mit Worten quäle, geschieht das nur zu deinem Vorteil.« 

 

Der ungarische Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertesz erzählt in seinem berühmt gewordenen <Roman eines Schicksalslosen> von seiner Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz. Er war damals noch ein Junge von fünfzehn Jahren, und er beschreibt sehr genau, wie er alles Abstruse und Grausame, das ihm dort bei der Ankunft begegnet ist, als etwas Positives und für ihn Günstiges zu deuten versuchte, weil er sonst an seiner Todesangst zugrunde gegangen wäre.

19


Vermutlich muß jedes mißhandelte Kind eine solche Haltung annehmen, um zu überleben. Es deutet seine Wahrnehmungen um und versucht auch da Wohltaten zu erblicken, wo ein Außenstehender ein offensichtliches Verbrechen feststellen würde. Ein Kind hat keine Wahl, es muß verdrängen, wenn es keine Helfenden Zeugen hat und den Verfolgern total ausgeliefert ist. Erst später, als Erwachsene, wenn diese Menschen das Glück haben, Wissenden Zeugen zu begegnen, haben sie eine Wahl. Sie können ihre Wahrheit zulassen, aufhören, den Täter zu bemitleiden, zu verstehen und seine ungelebten abgespaltenen Gefühle für ihn fühlen zu wollen; sie können dessen Taten eindeutig verurteilen. 

Dieser Schritt beinhaltet eine große Erleichterung für den Körper. Nun muß er nicht den erwachsenen Teil mit Drohungen an die tragische Geschichte des Kindes erinnern, er fühlt sich von ihm verstanden, respektiert und geschützt, sobald der Erwachsene seine ganze Wahrheit kennen will. Ich bezeichne die gewaltsame Art von »Erziehung« als Mißhandlung, weil dem Kind nicht nur seine Rechte auf Würde und Respekt für sein Menschsein verweigert werden, sondern auch eine Art totalitäres Regime aufgebaut wird, in dem es ihm unmöglich ist, die erfahrenen Demütigungen, Entwürdigungen und Mißachtungen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, sich dagegen zu wehren. Diese Erziehungsmuster werden dann vom Erwachsenen weiter praktiziert, mit den Partnern und eigenen Kindern, am Arbeitsplatz und in der Politik, immer dort, wo die Angst des einst verunsicherten Kindes mit Hilfe der äußeren Machtstellung abgewehrt wird. Auf diese Weise entstehen Diktatoren und Menschenverachter, die als Kinder nie geachtet wurden und später den Respekt mit Hilfe der gigantischen Macht zu erzwingen versuchen.

20


Gerade in der Politik läßt sich beobachten, daß der Hunger nach Macht und Anerkennung nie aufhört, nie befriedigt werden kann. Je mehr Macht solche Menschen besitzen, desto mehr werden sie zu Aktionen getrieben, die schließlich im Wiederholungszwang die alte Ohnmacht wiederherstellen, der sie ja entfliehen wollten: so Hitler im Bunker, so Stalin in seiner paranoiden Angst, so Mao in der späteren Ablehnung durch sein Volk, so Napoleon in der Verbannung, so Milosevic im Gefängnis und so der eitle, gerne prahlende Saddam Hussein in seinem Erdloch. 

Was hat diese Männer dazu getrieben, die von ihnen errungene Macht so zu mißbrauchen, daß sie schließlich in Ohmacht umschlug? Ich meine, daß es ihr Körper war, der die ganze Ohnmacht ihrer Kindheit genau kannte, weil er sie in seinen Zellen gespeichert hatte und sie dazu bewegen wollte, sich diesem Wissen zu stellen. Die Wirklichkeit ihrer Kindheit machte aber all diesen Diktatoren so viel Angst, daß sie lieber ganze Völker zerstörten, Millionen von Menschen umbringen ließen, als ihre Wahrheit zu fühlen.

In diesem Buch werde ich die Motive der Diktatoren nicht weiter verfolgen, obwohl ich das Studium ihrer Biographien überaus erhellend finde. Hier werde ich mich auf Menschen konzentrieren, die zwar ebenfalls durch die Schwarze Pädagogik erzogen wurden, aber nicht das Bedürfnis verspürten, unendliche Macht zu erringen. Im Unterschied zu diesen Gewaltherrschern haben sie die durch die Schwarze Pädagogik unterdrückten Gefühle der Wut und Empörung nicht gegen andere gerichtet, sondern verhielten sich destruktiv gegen sich selbst. Sie wurden krank, litten an verschiedenen Symptomen bzw. starben sehr früh. 

21


Die begabtesten dieser Menschen wurden zu Schriftstellern oder bildenden Künstlern, sie konnten zwar die Wahrheit in der Literatur und Kunst zeigen, aber immer nur in der Abspaltung von ihrem eigenen Leben, und diese Abspaltung bezahlten sie mit Erkrankungen. Im ersten Teil habe ich Beispiele solcher tragischen Biographien aufgeführt.

 

Ein Forschungsteam in San Diego hat 17.000 Menschen im Durchschnittsalter von siebenundfünfzig Jahren befragt, wie ihre Kindheit gewesen war und welche Krankheiten sie in ihrem Leben zu verzeichnen hatten. Es hat sich herausgestellt, daß die Zahl der schweren Erkrankungen bei einst mißhandelten Kindern um ein vielfaches größer war als bei Menschen, die ohne Mißhandlungen aufgewachsen sind, auch ohne erzieherische Schläge. Diese hatten sich im späteren Leben nicht über Krankheiten zu beklagen. Der Titel des kurzen Artikels war: Wie man aus Gold Blei macht, und der Kommentar des Autors, der mir seinen Artikel sandte, lautete: Die Resultate sind eindeutig, vielsagend, aber verborgen, versteckt. 

Weshalb versteckt? Weil sie nicht publiziert werden können, ohne daß sich die Anklage gegen die Eltern erhebt, und das ist in unserer Gesellschaft immer noch, heute eigentlich zunehmend, verboten. Denn inzwischen wird von Fachleuten immer stärker die Auffassung vertreten, daß die seelischen Leiden Erwachsener auf genetische Vererbung zurückzuführen seien und nicht etwa auf konkrete Verletzungen und elterliche Versagungen in der Kindheit. Auch die erhellenden Untersuchungen der siebziger Jahre über die Kindheiten der Schizophrenen sind über die Publikation in Fachzeitschriften hinaus einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt geworden. Der vom Fundamentalismus unterstützte Glaube an die Genetik feiert weiterhin Triumphe.

22


Mit diesem Aspekt beschäftigt sich der in Großbritannien vielbeachtete klinische Psychologe Oliver James in seinem Buch <They F*** You Up> (2003). Obwohl diese Studie insgesamt einen zwiespältigen Eindruck hinterläßt, weil der Autor vor den Konsequenzen seiner Erkenntnisse zurückschreckt und sogar ausdrücklich davor warnt, den Eltern eine Verantwortung am Leiden ihrer Kinder zuzuweisen, beweist sie anhand zahlreicher Forschungsergebnisse und Studien schlüssig, daß genetische Faktoren bei der Entwicklung seelischer Krankheiten eine sehr geringe Rolle spielen.

So wird auch in vielen der heutigen Therapien das Thema der Kindheit sorgfältig gemieden (vgl. AM 2001). Zuerst werden zwar die Klienten dazu ermutigt, ihre starken Emotionen zuzulassen. Doch mit dem Erwachen der Emotionen tauchen gewöhnlich die verdrängten Erinnerungen aus der Kindheit auf, Erinnerungen an den Mißbrauch, die Ausbeutung, die Demütigungen und Verletzungen, die in den ersten Lebensjahren erlitten wurden und die den Therapeuten oft überfordern. Mit alldem kann er nicht umgehen, wenn er diesen Weg nicht selber beschritten hat. Therapeuten, die das getan haben, sind jedoch selten anzutreffen. Also bieten die meisten ihrem Klienten die Schwarze Pädagogik an, das heißt die Moral, die ihn einst krank gemacht hat.

Der Körper versteht diese Moral überhaupt nicht, kann nichts mit dem Vierten Gebot anfangen, er läßt sich auch nicht mit Worten täuschen, wie unser Verstand es tut. Der Körper ist der Hüter unserer Wahrheit, weil er die Erfahrung unseres ganzen Lebens in sich trägt und dafür sorgt, daß wir mit der Wahrheit unseres Organismus leben können. Er zwingt uns mit Hilfe der Symptome, diese Wahrheit auch kognitiv zuzulassen, damit wir in Harmonie mit dem in uns lebendigen, einst mißachteten und gedemütigten Kind kommunizieren können.

23


Die Züchtigung zum Gehorsam erfuhr ich persönlich bereits in den ersten Lebensmonaten. Natürlich hatte ich davon jahrzehntelang keine Ahnung. Als Kleinkind war ich nach den Berichten meiner Mutter so brav, daß sie keine Probleme mit mir hatte. Das verdankte sie nach eigenen Angaben ihrer konsequenten Erziehung während der Zeit, als ich ein hilfloser Säugling war. 

Daher hatte ich so lange keine Erinnerungen an meine Kindheit. Erst in meiner letzten Therapie haben mich meine starken Emotionen darüber informiert. Sie äußerten sich zwar in Verknüpfung mit anderen Personen, aber es gelang mir zunehmend besser, ihren Herkunftsort zu finden, sie als begreifliche Gefühle zu integrieren und so meine Geschichte der frühen Kindheit zu rekonstruieren. Auf diese Weise verlor ich die alten bislang unverständlichen Ängste und konnte dank einer einfühlsamen Begleitung die alten Wunden vernarben lassen.

Diese Ängste betrafen in erster Linie mein Bedürfnis nach Kommunikation, das bei meiner Mutter nicht nur nie beantwortet, sondern sogar, in ihrem strengen Erziehungssystem, als eine Unart bestraft wurde. Das Suchen nach Kontakt und Austausch zeigte sich zuerst im Weinen, dann im Stellen von Fragen, in Mitteilungen der eigenen Gefühle und Gedanken. Doch für das Weinen bekam ich Klapse, auf Fragen mit Lügen gespickte Antworten, und die Äußerung von Gefühlen und Gedanken wurde mir verboten, der Rückzug meiner Mutter in tagelanges Schweigen war eine ständig drohende Gefahr. Da sie meine wahre Existenz nie wollte, mußte ich meine authentischen Gefühle regelrecht vor ihr verstecken.

24


Meine Mutter war zu gewaltsamen Ausbrüchen fähig, aber es fehlte ihr vollkommen die Fähigkeit, zu reflektieren und ihre Emotionen zu hinterfragen. Da sie seit ihrer Kindheit frustriert und unzufrieden lebte, hat sie mich ständig wegen irgend etwas beschuldigt. Wenn ich mich gegen diese Ungerechtigkeit wehrte und in extremen Fällen versuchte, ihr meine Unschuld nachzuweisen, verstand sie das als Angriffe gegen sie, die sie oft drakonisch bestrafte. Sie verwechselte Emotionen mit Fakten. Wenn sie sich durch meine Erklärungen angegriffen fühlte, dann war es für sie abgemachte Sache, daß ich sie angegriffen hatte. Um zu sehen, daß ihre Gefühle andere Ursachen hatten als mein Verhalten, hätte sie die Fähigkeit zur Reflexion gebraucht. Doch nie habe ich erlebt, daß sie etwas bedauerte, sie fühlte sich immer »im Recht«. Das machte aus meiner Kindheit ein totalitäres Regime.

 

Meine These über die destruktive Macht des Vierten Gebotes versuche ich in diesem Buch in drei unterschiedlichen Teilen zu erläutern: Im ersten Teil bringe ich Vignetten aus dem Leben verschiedener Schriftsteller, die in ihren Werken unbewußt die Wahrheit ihrer Kindheit dargestellt haben. Sie durften diese nicht in ihrem Bewußtsein zulassen, aus der Angst des kleinen Kindes heraus, das in ihnen im abgespaltenen Zustand überdauerte und das auch im Erwachsenen nicht glauben konnte, daß es für die Wahrheit nicht umgebracht wird. Da diese Angst nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern weltweit vom Gebot unterstützt wird, die Eltern schonen zu müssen, blieb sie abgespalten und einer Verarbeitung unzugänglich. Der Preis dieser vermeintlichen Lösung, der Preis für das Ausweichen in die Idealisierung von Vater und Mutter, für die Verleugnung der realen Gefahr in der frühen Kindheit, die im Körper begreifliche Ängste hinterließ, war sehr hoch, wie wir an den angeführten Beispielen sehen werden. Leider könnte man ihnen unzählige hinzufügen. 

25


Hier zeigt sich eindeutig, daß diese Menschen die Bindung an ihre Eltern mit schweren Erkrankungen bzw. frühem Tod oder Suizid bezahlt haben. Die Verbrämung der Wahrheit über die Leiden ihrer Kindheit stand in krassem Gegensatz zum Wissen ihres Körpers, das zwar im Schreiben ausgedrückt wurde, aber unbewußt blieb. Daher fühlte sich der Körper, das einst verachtete Kind, immer noch nicht verstanden und nicht respektiert. Denn man kann ihm mit den Geboten der Ethik nicht beikommen. Seine Funktionen, wie das Atmen, der Kreislauf, die Verdauung, reagieren nur aufgelebte Emotionen, nicht auf moralische Vorschriften. Der Körper hält sich an die Fakten. 

Seitdem ich mich mit dem Einfluß der Kindheit auf das spätere Leben befasse, lese ich viel in Tagebüchern und Briefen der Schriftsteller, die mich besonders interessieren. Jedesmal fand ich in ihren Äußerungen Schlüssel zum Verständnis ihrer Werke, ihres Suchens und ihres Leidens, das in der Kindheit begann, doch deren Tragik ihrem Bewußtsein und ihrem Gefühlsleben unzugänglich war. Hingegen konnte ich diese Tragik in ihren Werken spüren, wie zum Beispiel bei Dostojewski, Nietzsche, Rimbaud, und dachte, so würde es auch anderen Lesern ergehen. 

Ich wandte mich den Biographien zu und stellte fest, daß hier von sehr vielen Einzelheiten über das Leben der betreffenden Schriftsteller, über äußere Fakten, berichtet wurde, aber kaum ein Wort zu finden war über die Art, wie der einzelne die Traumen seiner Kindheit bewältigte, was sie ihm ausgemacht und wie sie ihn geprägt hatten. Auch in Gesprächen mit Literatur­wissenschaftlern stieß ich auf wenig oder gar kein Interesse an diesem Thema.

26


Die meisten reagierten auf meine Frage geradezu verunsichert, als ob ich sie mit etwas Unanständigem, beinahe Obszönem hätte konfrontieren wollen, und wichen mir aus.

Doch nicht alle. Manche zeigten Interesse an der von mir vorgeschlagenen Sicht und lieferten mir plötzlich kostbares biographisches Material, das ihnen zwar seit langem bekannt war, aber bislang bedeutungslos erschien. Gerade diese Zusammenhänge, die von den meisten Biographen übersehen oder gar ignoriert wurden, habe ich im ersten Teil dieses Buches in den Vordergrund gestellt. Das führte notgedrungen zu einer Beschränkung auf nur einen Gesichtspunkt und zum Verzicht auf die Darstellung anderer, ebenfalls wichtiger Aspekte eines Lebens. Dadurch kann der Eindruck der Einseitigkeit oder des Reduktionismus entstehen, doch ich nehme diesen Vorwurf in Kauf, weil ich den Leser nicht durch zu viele Einzelheiten vom roten Faden dieses Buches, vom Fokus Körper und Moral, ablenken möchte.

Alle hier angeführten Schriftsteller, mit Ausnahme vielleicht von Kafka, wußten eben nicht, daß sie als Kinder unter ihren Eltern schwer gelitten hatten, und als Erwachsene »trugen sie ihnen nichts nach«, zumindest nicht bewußt. Sie haben ihre Eltern vollkommen idealisiert. So wäre es völlig unrealistisch, anzunehmen, daß sie ihre Eltern mit ihrer Wahrheit hätten konfrontieren können, die ihnen, den erwachsenen Kindern, ja unbekannt war, weil vom Bewußtsein verdrängt.

Dieses Nichtwissen bildet eben die Tragik ihres meist kurzen Lebens. Die Moral verhinderte das Erkennen der Realität, der Wahrheit des Körpers im Leben dieser hochbegabten Menschen. 

27


Sie konnten nicht sehen, daß sie ihr Leben doch den Eltern opferten, obwohl sie wie Schiller für die Freiheit kämpften oder wie Rimbaud und Mishima, oberflächlich betrachtet, alle moralischen Tabus brachen, wie Joyce den literarischen und ästhetischen Kanon ihrer Zeit umstürzten oder wie Proust zwar die Bourgeoisie durchschauten, aber nicht das Leiden an der eigenen, von der Bourgeoisie abhängigen Mutter. Ich habe mich gerade auf diese Aspekte konzentriert, weil über sie, soviel ich weiß, aus der Perspektive Körper und Moral noch nirgends etwas publiziert wurde.

 

In diesem Buch greife ich manche Gedanken aus meinen vorherigen Büchern auf, um sie aus der hier beschriebenen neuen Perspektive zu beleuchten und um auf Fragen einzugehen, die bislang offengeblieben sind. Die therapeutische Erfahrung zeigt zwar schon seit Wilhelm Reich immer wieder, daß starke Emotionen abrufbar sind. Doch erst heute läßt sich dieses Phänomen gründlicher erklären, dank der Arbeiten moderner Hirnforscher wie Joseph Le-Doux, Antonio R. Damasio, Bruce D. Perry und zahlreicher anderer. Wir wissen also heute einerseits, daß unser Körper ein vollständiges Gedächtnis dessen besitzt, was wir jemals erfahren haben; anderseits wissen wir, daß wir dank der therapeutischen Arbeit an unseren Emotionen nicht länger dazu verdammt sind, diese blind an unseren Kindern oder zu unserem eigenen Schaden auszuleben. 

Daher beschäftige ich mich im zweiten Teil mit Menschen von heute, die durchaus bereit sind, sich der Wahrheit ihrer Kindheit zu stellen und ihre Eltern in einem realen Licht zu sehen. Leider zeigt es sich sehr häufig, daß ein möglicher Erfolg in einer Therapie dennoch verhindert werden kann, wenn die Therapie, was oft vorkommt, unter dem Diktat der Moral durchgeführt wird und der Klient sich deshalb nicht von dem Zwang befreien kann, auch als Erwachsener den Eltern Liebe oder Dankbarkeit schuldig zu sein. 

28


Die im Körper gespeicherten authentischen Gefühle bleiben dadurch weiterhin blockiert, was die Klienten damit bezahlen müssen, daß auch die schweren Symptome weiterhin bestehenbleiben. Ich gehe davon aus, daß sich Menschen, die mehrere Therapieversuche unternommen haben, leicht in dieser Problematik wiederfinden werden.

 

Anhand des Zusammenhangs zwischen Körper und Moral stieß ich auf zwei weitere Aspekte, die mit Ausnahme des Problems der Vergebung neu für mich waren. Ich stellte mir einerseits die Frage, was eigentlich das Gefühl sei, das wir auch als Erwachsene immer noch Liebe zu den Eltern nennen. Andererseits beschäftigte mich die Einsicht, daß der Körper ein Leben lang die Nahrung sucht, die er in der Kindheit so dringend gebraucht hätte, aber niemals bekommen hat. Gerade darin liegt meines Erachtens die Quelle des Leidens vieler Menschen. 

Der dritte Teil zeigt anhand einer auf ganz besondere Weise »sprechenden Krankheit«, wie der Körper sich gegen die falsche Nahrung wehrt, weil er unbedingt die Wahrheit braucht. Solange diese nicht erkannt wird, die echten Gefühle eines Menschen gegenüber den Eltern weiterhin ignoriert werden, kann er die Symptome nicht aufgeben. Ich wollte in einer einfachen Sprache die Tragik der Patienten mit Eßstörungen zeigen, die ohne emotionalen Austausch aufwuchsen und diesen auch in ihren späteren Behandlungen vermissen. Es würde mich freuen, wenn diese Beschreibung einigen Patienten mit Eßstörungen helfen würde, sich selbst besser zu verstehen. 

29


Darüber hinaus wird im fiktiven »Tagebuch der Anita Fink« die nicht nur für das Leben von Magersüchtigen so bezeichnende Quelle der Hoffnungslosigkeit deutlich benannt: Es ist das Scheitern der echten Kommunikation mit den frühen Eltern, die immer wieder in der Kindheit vergeblich gesucht wurde. Vom Erwachsenen aber kann diese Suche nach und nach überwunden werden, sobald in der Gegenwart authentische Gespräche mit anderen Menschen möglich werden.

 

Die Tradition der Kindesopferung ist tief in den meisten Kulturen und Religionen verankert und wird deswegen auch in unserer abendländischen Kultur mit großer Selbstverständlichkeit bejaht und toleriert. Wir opfern zwar unsere Söhne und Töchter nicht mehr wie Abraham Isaak auf dem Altar Gottes, aber wir geben ihnen schon bei der Geburt und später in der ganzen Erziehung den Auftrag, uns zu lieben, zu ehren, zu achten, für uns Leistungen zu vollbringen, unseren Ehrgeiz zu befriedigen, kurzum, uns all das zu geben, was uns unsere Eltern verweigert haben. 

Wir nennen das Anstand und Moral. Das Kind hat selten eine Wahl. Es wird sich unter Umständen sein Leben lang zwingen, den Eltern etwas anzubieten, über das es nicht verfügt und das es nicht kennt, weil es dies nie bei ihnen erlebt hat: echte, bedingungslose Liebe, die nicht nur Bedürftigkeit zudeckt. Trotzdem wird es sich darum bemühen, weil es auch noch als Erwachsener seine Eltern zu brauchen meint und immer wieder, trotz aller Enttäuschungen, auf etwas Gutes von ihnen hofft. 

Diese Bemühung kann dem Erwachsenen zum Verhängnis werden, wenn er sich nicht von ihr befreit. Sie hinterläßt den Schein, den Zwang, die Fassade und den Selbstbetrug.

Der starke Wunsch vieler Eltern, von ihren Kindern geliebt und geehrt zu werden, findet seine angebliche Legitimation im Vierten Gebot. In einer Fernsehsendung zu diesem Thema, die ich zufällig sah, sagten alle geladenen Geistlichen unterschiedlicher Religionen, man müsse seine Eltern ehren, ganz unabhängig davon, was sie getan haben. 

So wird die Position des abhängigen Kindes kultiviert, und die Gläubigen wissen nicht, daß sie diese Position als Erwachsene sehr wohl verlassen können. Im Lichte des heutigen Wissens enthält nämlich das Vierte Gebot einen Widerspruch in sich. Die Moral kann uns zwar vorschreiben, was wir tun sollten und was wir nicht tun dürfen, aber doch nicht, was wir fühlen müßten. Denn wir können echte Gefühle nicht erzeugen, sie auch nicht töten, wir können sie nur abspalten, uns belügen und unseren Körper täuschen. Doch wie gesagt, hat unser Gehirn unsere Emotionen gespeichert, sie sind abrufbar, erlebbar und lassen sich glücklicherweise gefahrlos zu bewußten Gefühlen verwandeln, deren Sinn und Ursachen wir erkennen können, wenn wir einen Wissenden Zeugen finden.

 

Die seltsame Idee, Gott lieben zu müssen, damit er mich nicht für meine Auflehnung und Enttäuschung bestraft und mich mit seiner alles vergebenden Liebe belohnt, ist ebenfalls Ausdruck unserer kindlichen Abhängigkeit und Bedürftigkeit sowie der Annahme, Gott sei wie unsere Eltern ausgehungert nach unserer Liebe. Aber ist das nicht im Grunde eine ganz und gar groteske Vorstellung? Ein höheres Wesen, das auf künstliche, weil durch die Moral diktierte Gefühle angewiesen ist, erinnert ja stark an die Bedürftigkeit unserer einst frustrierten und nicht autonomen Eltern. Dieses Wesen als Gott zu bezeichnen können nur Menschen, die ihre eigenen Eltern und ihre eigene Abhängigkeit noch nie in Frage gestellt haben.

30-31

#

 

  ^^^^  

www.detopia.de