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Vorwort 1977 von Alexander Mitscherlich

 

 

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Der jetzt als Taschenausgabe vorliegende Band <Die Unfähigkeit zu trauern> erschien erstmals vor zehn Jahren. Nach den zahlreichen Auflagen und Über­setzungen zu schließen, die das Buch erlebt hat, muß es ein Thema getroffen haben, das im Spannungsfeld widersprechender Interessen verblieben ist. Denn zehn Jahre sind für ein Buch zeitgeschichtlichen Inhalts schon ein beträchtliches Alter. Sei es, daß sich die politische Szenerie verschoben hat, sei es, daß andere Probleme Aufmerksamkeit verlangen.

Wir müssen freilich betonen, daß es uns bei der Beschreibung aktueller Ereignisse nicht in erster Linie um die Darstellung von Tagesaktualität im engeren Sinne ging, sondern um Entstehung und Entwicklung von allgemeineren Tendenzen. Was wir beschrieben haben, hat offenbar nicht viel an Aktualität eingebüßt; vielmehr sind neue Strömungen aufgetreten, die sich mittelbar an die Beobachtungen anschließen, von denen in der »Unfähigkeit zu trauern« die Rede war. Jetzt geht es nicht mehr vorrangig um die Schuldproblematik, sondern darum, daß die Geschichte Hitlers und seines sogenannten »Dritten Reichs« offenbar nur entstellt tradiert werden kann. 

Das Thema, für welches die Autoren sich geneigte Leser erwünschen, ist der Sachlage entsprechend nicht durch die langsam in die Vergangenheit zurück­sinkende Geschichte des »Dritten Reichs« bestimmt, sondern es ist auch als Musterbeispiel eines überaus zeittypischen Geschichtsverlaufs in unserem Jahrhundert gedacht. In ihm hat sich eine ungeheure Anhäufung von Inhumanität zugetragen, die über jeden Bewältigungsversuch hinaus reicht.

In vielen Köpfen vollzieht sich gegenwärtig ein Verfall von Geschichtswissen. Er nimmt aber sonst kaum ein solches Ausmaß an wie in den Vorstellungen und Phantasien, die sich um das »Dritte Reich« und seinen Führer ranken. 

Was muß man unseren Kindern und Jugendlichen über den schrecklich »heroischen« Alltag des »Dritten Reichs« und der Gaskammern, was über den Mann Hitler erzählt haben, bis sich so verdrehte Phantasien bilden konnten wie sie sich z.B. im Bericht des Pädagogen Dieter Boßmann niederschlagen? 

Boßmann hat für seine Information 3042 Aufsätze von Schülern aus allen Schultypen untersucht. Umfragen in der letzten Zeit ließen erkennen, daß haupt­sächlich die mündliche Überlieferung durch Eltern und Großeltern diese chaotische Geschichtsrezeption bewirkt haben. Die Teilhaber und Mitwirkenden, die mittel- und unmittelbaren Beobachter des »Dritten Reichs« sind es, die eine solche Wirrnis zustande gebracht und an die Nachkommen übermittelt haben. Nicht späteren Historikern blieb es überlassen, unfaßbar grauenvollen Fakten nicht gewachsen zu sein. Die Vorstellungen, die über Hitler kursieren, wären gar nicht anders zu erklären, als aus der Tatsache, daß offenbar die Auseinandersetzung mit verdrängten Inhalten der Nazizeit keineswegs abgeschlossen ist, weder auf bewußter noch auf unbewußter Ebene.

Soweit Erinnerungen preisgegeben werden, sind sie nicht nach Gesetzen der Logik wie bei einem rationalen Geschehen zusammengefügt, sondern eher in der Art und Weise, wie wir träumen und mit den Traumstücken der äußeren und bedrohlichen inneren Realität umgehen. Der Traum sprengt die Schranken, die unserer nüchternen Vorstellungswelt gesetzt sind. Das Unsinnige ist aber zugleich das Notwendige, wenn es gilt, nicht von Schrecken und Todesangst — Angst auch vor späterer Rache ihrer Opfer — überwältigt zu werden. So bedrohlich lebendig ist in unserem Unbewußten geblieben, was sich in den Jahren des »Dritten Reichs« zutrug. 

Verhängnisvoll könnte es werden, wenn wir aus den Augen verlören, was damals Wirklichkeit war. Die heute Zwanzigjährigen und Jüngeren leben immer noch im Schatten der Verleugnung und Verdrängung von Ereignissen, die wir nicht ungeschehen machen können. Wir sollten aber wenigstens bis dahin gelangen, wo um die geschichtliche Wahrheit gerungen wird — und nicht um die effektivste Abwehr dieser Wahrheit. Die Schuld des »Dritten Reichs« endet also nicht, wie man es gerne gesehen hätte, bei würdevollen Nachrufen auf die Opfer.

Noch etwas ist zu kontrollieren: der Einfluß, den die Verrücktheiten der Eltern auf das Weltbild ihrer Kinder nehmen. Es sollte unser Ziel bleiben zu erreichen, daß Schüler und Studenten nicht nur einseitig von den Eltern her über das Nazitum beeinflußt werden, über das, was Wirklichkeit war. Sie müssen auch von der Schule, und zwar dort vom historischen Fachmann her, informiert werden, so daß sie die Eltern aus unverzerrten Darstellungen ihrerseits unterrichten können. Solches Material stellt zum Beispiel das Münchner »Institut für Zeitgeschichte« mit seinen Veröffentlichungen bereit.

Alle Versuche der Aufklärung von Erwachsenen zu Erwachsenen waren bisher zum Scheitern verurteilt, weil wir uns nicht den inneren Wahngehalten, die wechselseitig projiziert wurden, nähern konnten. 

Wenn irgend etwas, so kann in dieser Notlage nur das angemessene psychologische Verständnis weiterhelfen. 

Es bleibt immer noch ein aktuelles Thema, das hier abgehandelt wird: »Die Unfähigkeit zu trauern«. Wenn man einen Wahn, der zum Unzugänglichsten am Menschen gehört, überhaupt beeinflussen kann, dann sicher nur durch solche Versuche, Unbewußtes psychologisch zu verstehen. Hier eröffnet sich ein Verständnis, das uns vielleicht weiterbringt. Wir hoffen, die neuen Leser — die das Buch vielleicht jetzt gewinnen wird — verstehen es als Paradigma einer Psychohistorie.

Alexander Mitscherlich im August 1977

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