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Vorbemerkung 1967

 

 

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Von allen Staatsformen gewährt die parlamentarische Demokratie ihren Mitgliedern das größte verbriefte Recht auf individuelle Freiheit. In Tat und Wahrheit ist der Spielraum nicht groß. Es kann deshalb nicht als Ausdruck eines ängstlichen Pessimismus gedeutet werden, wenn man sich um den Fortbestand dieses Wenigen Sorge macht. Denn offenbar fällt es unvergleichlich schwerer, eine kollektive Lebensform zu erreichen, welche Gedankenfreiheit gewährt — als Basis jeder Freiheitserfahrung —, als diese Freiheit wieder zu verlieren.

Die Abhandlungen dieses Buches untersuchen psychische Prozesse in großen Gruppen, als deren Folge sich Freiheit oder Unfreiheit der Reflexion und der Einsicht ausbreiten. Es wird also der Versuch unternommen, einigen Grundlagen der Politik mit Hilfe psychologischer Interpretation näherzukommen, der Interpretation dessen, was Politik macht, nämlich menschlichen Verhaltens in großer Zahl.

Den Ausgangspunkt solcher Überlegungen bildet die Bundesrepublik. In ihr erfahren deutsche Bürger zum ersten Mal demokratische Gedankenfreiheit in Verbindung mit der Ausbreitung relativen Wohlstands. Der Beobachter dieses politischen Gebildes sieht sich jedoch zu der Frage gedrängt, wieviel Leidenschaft für die Demokratie sich zeigen würde, wenn die bundesrepublikanischen Geschäfte einmal entschieden schlechter gehen sollten. Gibt es neben unserem Streben nach Reichtum auch ein neuerdings erwachtes nach Freiheit? Mehrt oder mindert sich die Toleranz, abweichende Meinungen — auch solche, die uns ärgern - zu ertragen und zu achten? Ist Gedankenfreiheit für die Bürger unseres Landes zur unabdingbaren Forderung an ihre Gesellschaft geworden? 

Mit anderen Worten: Wird diese Freiheit lebendig empfunden, oder ist sie ein günstiger Zufall, der wie in der Weimarer Republik rasch wieder verlorengehen könnte? Das sind Fragen nach der Stabilität des Bewußtseins der Vielen, welche unsere Öffentlichkeit ausmachen. Manches spricht für eine Demokratisierung des Landes, manches zeigt, wie leichthin das Wort gebraucht wird und wie hartnäckig vordemokratische Anschauungen sich am Leben halten.

Es ist nicht die Absicht der Autoren, berechtigtes Mißtrauen vor deutschen Überraschungen zu schüren, es geht ihnen vielmehr um die Vergrößerung der Einsicht in jene Motive, welche die Direktiven für unsere Politik von langer Hand her bestimmen. Dieser Einsicht bedürfen wir aber besonders, um zu verstehen, was sich in diesem Jahrhundert in unserem Land zugetragen hat, und womöglich daraus zu lernen.

Das kann nicht ohne Berührung neuralgischer Punkte abgehen. Wo aber Gedankenfreiheit nicht fortwährend kritisch herausgefordert wird, ist sie in Gefahr, wieder zu verlöschen. Denn sie ist an den schwächsten Teil unserer seelischen Organisation, an unser kritisches Denkvermögen, geknüpft.

Vornehmlich in dem Kapitel <Über die Unfähigkeit zu trauern> werden Tabus angefaßt. Es wird der psychologische Nachweis versucht, warum bis heute die Epoche des Dritten Reiches — und schon zuvor der Zusammen­bruch der Weimarer Republik durch demokratiefeindliches Verhalten ihrer Bürger — nur unzulänglich kritisch durchdrungen wurde. Das trifft natürlich nicht auf das Wissen einiger Fachleute zu, sondern auf die mangelhafte Verbreitung dieses Wissens im politischen Bewußtsein unserer Öffentlichkeit. Wir — als ein Kollektiv — verstehen uns in diesem Abschnitt unserer Geschichte nicht. So wir überhaupt darauf zurückkommen, verlieren wir uns vornehmlich in Ausflüchten und zeigen eine trügerische Naivität; de facto ist unser Verhalten von unbewußt wirksam gewordenen Verleugnungen bestimmt. Infolgedessen ist unser Selbstvertrauen unsicherer, als es sein könnte.

Die Autoren bemühen sich, schwer verfolgbare Bedingungszusammenhänge sichtbar werden zu lassen. Es kommt ihnen auf die Darstellung einiger, wie sie meinen, unsere Gedankenfreiheit einengender Verhaltensweisen an. Das ist gewiß nicht alles, was sich über die gegenwärtige Bewußtseinslage Deutschlands sagen ließ. Aber es spiegelt sich in ihnen der innere Zustand, der unser öffentliches Bewußtsein, den Grad seiner Wachheit oder Schläfrigkeit mitbestimmt.

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Der Analytiker seelischer Prozesse in Gruppen sieht sich einer oft nur schwer greifbaren und niemals nur einsinnig zu ordnenden Vielfalt von Erscheinungen gegenüber. Das wird bei der Untersuchung des Ausbleibens von Trauerreaktionen nach einer nationalen Katastrophe größten Ausmaßes sehr deutlich.

 

Trauer ist ein seelischer Prozeß, in welchem das Individuum einen Verlust verarbeitet. Henry Loewenfeld(1) hat mit Recht darauf hingewiesen, daß eine Störung dieser Trauerarbeit beim einzelnen dessen seelische Entwicklung, seine zwischenmenschlichen Beziehungen und seine spontanen und schöpferischen Fähigkeiten behindert; eine Übertragung solcher Einzelerfahrungen auf eine große Gruppe bereite jedoch erhebliche Schwierigkeiten, weil hier bei der Vielfalt der Lebensumstände und Charaktere neue unbekannte Faktoren hinzukommen. Die Autoren sind sich deshalb darüber im klaren, daß ihre Versuche der Verallgemeinerung oder, besser, ihre Beschreibung von Reaktionen, die bei Personen sonst sehr unterschiedlichen Charakters dennoch übereinstimmend verlaufen, zunächst auf Hypothesen beruhen.

Es liegt ihnen daran, die Aufmerksamkeit auf diese Vorgänge zu lenken und vielleicht empirische Einzeluntersuchungen anzuregen; über den behaupteten Sachverhalt nämlich, daß zwischen dem in der Bundesrepublik herrschenden politischen und sozialen Immobilismus und Provinzialismus einerseits und der hartnäckig aufrechterhaltenen Abwehr von Erinnerungen, insbesondere der Sperrung gegen eine Gefühlsbeteiligung an den jetzt verleugneten Vorgängen der Vergangenheit andrerseits ein determinierender Zusammenhang besteht. Es erwies sich für die Autoren als überaus schwierig, die Folgerichtigkeit dieser Entwicklung sichtbar zu machen.

Das liegt auch an der Eigenart der psychischen Ökonomie: Was im vorliegenden Buch zu beleuchten und zu erklären versucht wird, entzieht sich gemeinhin unserem Bewußtsein, weil mit ihm für unser Selbstgefühl so schmerzliche und erschütternde Erfahrungen verbunden sind. Die Autoren hatten es mit dem wohlorganisierten inneren Widerstand gegen die Durcharbeitung eines Stücks unserer Geschichte zu tun, deren Schuldmoment unerträglich war und ist.

 1)  Persönliche Mitteilung.

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So entsteht die Alternative: Verjährung ohne Trauerarbeit; die Täter, Mittäter und Mitläufer sterben aus. Oder: durcharbeiten, wenigstens im Detail, beginnend mit jenen Einzelheiten, die an sich noch keine Unmenschlichkeiten sind, in der zahllosen Verbreitung freilich das Klima schufen zum Beispiel für Projekt und verbissene Verwirklichung der »Endlösung«. Darauf folgte jene panische Schuldangst, die zur Ausdauer in blinder Selbstzerstörung zwang und dann zur totalen äußeren Abkehr von dieser Identifikationslinie mit dem Nazismus. 

Es ist schon einiges erreicht, wenn es uns gelingt, etwas von der Essenz des damaligen Geschehens so zu vermitteln, daß der Leser eventuell auch mit eigenen Erfahrungen vergleichen und an ihnen nachprüfen, unter Umständen Mitschuld fühlend wiederentdecken kann.

Die emotionelle Verfassung, die den definitiven Ausschlag für ein vorherrschendes Verhalten in Großgruppen gibt, ist nicht nur eine rein quantitative Frage. Es geht um die Leichtigkeit der Ausbreitung eines Verhaltens. Um die Frage nämlich, ob ihm die seelische Struktur bei der großen Zahl entgegenkommt. 

So wird kaum jemand leugnen, daß es in Deutschland keine kleine Zahl von Menschen gibt, die höflich, anteilnehmend, rücksichtsvoll sind, dies alles nicht aus sittlichem Dressatgehorsam, weil man ihnen »Manieren« beigebracht hat, sondern weil sie gelernt haben, die Eigenart des Partners zu achten und sich für ihn zu interessieren. Die Einschränkung ist aber nicht zu vermeiden, daß diese freundlichen Deutschen etwa im Straßenverkehr oder in anderen Rücksicht fordernden Situationen nicht der den Ton bestimmende, sondern ein mehr oder minder »stummer« Bevölkerungsanteil sind. Der freundliche Deutsche, um es in einer zugespitzen Form zu sagen, hat im eigenen Land keinen zwingenden Vorbild-Charakter. Obgleich es ihn als angenehme Überraschung gibt.

Mit solchen Widersprüchen hat es der Sozialpsychologe zu tun; genauer betrachtet sind es nicht eigentliche Widersprüche, sondern gleichzeitig vorkommende gegensätzliche Charakterstrukturen und Verhaltensweisen. Allerdings bringen sie die Gesellschaften in verschiedener Häufigkeit hervor und geben ihnen verschiedene Erfolgschancen. Höflichkeit zum Beispiel widerspricht einigen tradierten Grundwerten unserer Gesellschaft.

Die aufklärerische Absicht der Autoren ist es, die Chancen für den freundlichen Deutschen zu vermehren. Das kann man nicht, indem man seinerseits freundlich Zuspruch erteilt, sondern nur, indem man die Motivationen zu unfreundlichem Verhalten — im weitesten Sinn des Wortes — erkennt und zu verstehen lernt, warum es in unserer deutschen Gesellschaft über einen so langen Zeitraum dominierte.

Die Gedanken dieser Kapitel sind als Orientierungshilfe einem sehr schwierigen, sehr komplexen Gegenstand gegenüber zu verstehen. Es ist von unserer Geschichte die Rede, wie sie durch unser Verhalten zustande kam und jetzt fortgesetzt wird. Die Feststellungen, die notwendig sind, werden ohne Beschönigung getroffen, so eindeutig als möglich formuliert, sollten aber vom Leser nicht als apodiktisch verstanden werden.

Die Autoren fühlten sich bei der Arbeit an diesen Untersuchungen sehr engagiert. Sie haben ihre Absicht erreicht, wenn es ihnen gelingt, dem Leser zu zeigen, daß er und die Autoren diejenigen sind, die eine Sache zunächst selbst besser machen müssen, ehe ein Anspruch an andere gestellt werden kann.

Beim kritischen Sichten und Ordnen anderer vorangegangener und dieser letzten Fassung des Manuskriptes halfen uns Dr. Walter Hinderer und Dr. Hermann Schulz. Ihr sachgerechter Rat hat zur Verbesserung des Textes an vielen Stellen geführt, wofür wir herzlich danken. Die Ausdauer unserer Mitarbeiterin Frau Rosemarie Blaas beim Herstellen der Manuskripte war bewundernswert. Auch ihr gilt unser Dank für ihre unschätzbare Hilfe. Das Buch als Ganzes gehört zu einem sozialpsychologisch-sozialmedizinischen Forschungsprojekt, für das der eine von uns (A. M.) eine Unterstützung des Foundation Fund for Research in Psychiatry erhält. Dadurch wurden internationale Beobachtungen ermöglicht, die unser Auge, wie wir hoffen, für die nationalen Eigentümlichkeiten unseres Landes geschärft haben.

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