I. Die Unfähigkeit zu trauern
Womit zusammenhängt: eine deutsche Art zu lieben
»Den germanischen oder <nordischen> Erbstrang, dem die Deutschen selber ihre <heroische>, <faustische>, unendlich schweifende Natur zugeschrieben haben — das heißt, eben die Eigenschaft, die von außen als Aggressivität erscheint —, diesen germanischen Erbstrang haben sie mit den meisten europäischen Völkern gemein, ja er ist besonders vorwaltend und rein bewahrt gerade in den friedfertigen, nüchternen und demokratischen Nationen der Niederlande und Skandinaviens.
Diese Nationen haben das unbändige, chaotische Barbarentum der alten Germanenstämme restlos in sich zu überwinden oder zu sublimieren vermocht, und nicht für einen Augenblick haben sie sich von dem Nazitraum eines nordischen Weltreichs verführen lassen. Der einzigartige Charakter der Deutschen stammt nicht aus ihrer Herkunft, sondern aus ihrer Entwicklung.«
Erich Kahler, Verantwortung des Geistes, S. Fischer, 1952, wikipedia Erich_von_Kahler *1885 in Prag bis 1970 Bing.Buch
1.1. Deutsche Illusionen
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In der Nacht des 22. Juni 1941, 15 Minuten vor Beginn des deutschen Angriffs auf Rußland, weckte man Mussolini aus dem Schlaf, um ihm einen Brief Hitlers vorzulegen, worin er ihm den »entscheidenden Entschluß seines Lebens« mitteilte. Auf die Frage seiner Frau, was das zu bedeuten habe, soll Mussolini geantwortet haben: »Das bedeutet, daß der Krieg verloren ist.«1 (1 Zit. nach Sebastian Haffner <Ein Jahrestag mahnt>, Stern, Nr. 26/1966.)
Der Krieg ging verloren. So gewaltig der Berg der Trümmer war, den er hinterließ, es läßt sich nicht verleugnen, daß wir trotzdem diese Tatsache nicht voll ins Bewußtsein dringen ließen. Mit dem Wiedererstarken unseres politischen Einflusses und unserer Wirtschaftskraft meldet sich jetzt mehr und mehr unbehindert eine Phantasie über das Geschehene.
In etwas vergröberter Formulierung ließe sich sagen, daß durch die Verleugnung der Geschehnisse im Dritten Reich deren Folgen nicht anerkannt werden sollen. Vielmehr will man die Sieger auf Grund ihrer eigenen moralischen und politischen Maßstäbe zwingen, die Konsequenzen der Naziverbrechen so zu handhaben, als ob es sich um einen belanglosen kriegerischen Konflikt gehandelt hätte. Nach dieser Interpretation des Weltgeschehens haben wir dann natürlich auch »Ansprüche«, zum Beispiel auf die verlorenen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie.
Zwar hat uns das Beharren auf diesen Phantasien in der politischen Realität keinen Schritt weitergebracht; die Kluft zwischen den beiden deutschen Staaten hat sich unnötig vertieft; wir bestehen jedoch auf der Idee eines Rechtsanspruches, den wir in einem Friedensvertrag zur Geltung zu bringen hätten. Zwar ist ein solcher Vertrag nicht in Aussicht, und oft genug hat in der Geschichte der Menschheit die Regel gegolten, daß, wer einen Krieg zur völligen Vernichtung des Gegners begann, bei einer Niederlage mit entsprechenden Konsequenzen zu rechnen hatte. Denn es ist leicht abzusehen, in welcher Weise ein nationalsozialistischer Staat, wenn ihm der Sieg zugefallen wäre, die östlichen Staaten behandelt hätte — wir aber bringen nach all dem »Rechtsansprüche« vor, Rechtsansprüche, die wir selbst, wären wir die Mächtigen geblieben, nie als verbindlich anerkannt hätten.
In den zwanzig Jahren seit Kriegsende und insbesondere seit Stalins Tod hat sich die definitive Festigung der Sowjetunion als Weltmacht vollzogen. Desungeachtet beharren wir auf der Erwartung, ein Friedensvertrag werde uns die Rückkehr nur »provisorisch unter fremder Verwaltung stehender Gebiete« bringen — also eine restitutio ad integrum. Das Dritte Reich, Hitlers Krieg nur ein Traum.
Mit dieser Einsicht in eine illusionär begründete Politik wird dem Vorwurf, wir betrieben »Revanchismus«, nicht das Wort geredet. Denn unsere Politik hat nicht die Mittel, das Weltgeschehen derartig zu beeinflussen, daß irgendwer mit uns auszöge, um mit Waffengewalt uns unsere verlorenen Ostgebiete »heimzuholen«. Diese Spekulation mag auf der Höhe des Kalten Krieges hier und da ernstlich gepflegt worden sein. Seit dem Sputnik sind solche Hoffnungen erkaltet. Unsere Politik ist nicht revanchistisch, sie ist illusionär — aber auch deshalb nicht ungefährlich.
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Weder unseren Regierungen noch unseren Parteien noch sonstigen Gruppen unserer Öffentlichkeit ist es gelungen, uns alle von einer einfachen, logisch verknüpften Kette von Tatsachen zu überzeugen: Wir haben die Sowjetunion mit Krieg überzogen, haben dem Land unendliches Leid gebracht und dann den Krieg verloren. Das hat zu einer Verschiebung der machtpolitischen Einflußzonen geführt. Nach der bedingungslosen Kapitulation müssen wir uns realpolitisch in die Tatsache schicken, daß der Sieger — der seinerseits den Sieg nur unter größten Opfern erreichte — seine Bedingungen so stellt, wie er sie für seine Interessen glaubt stellen zu müssen.
Daß Rußland, ob bolschewistisch oder zaristisch, nach einem gewonnenen Krieg Gebietsforderungen stellen und eine Ausweitung seiner Einflußzone mit Nachdruck verfolgen würde, konnte man im vorhinein wissen. Indem wir in Rußland einmarschierten, waren wir dieses kalkulierbare Risiko eingegangen; aber wir sind jetzt nicht fähig, die Forderungen Rußlands als Kriegsfolge anzuerkennen, als ob die ganze Auseinandersetzung ein Kabinettskrieg und nicht ein ideologischer Kreuzzug gewesen wäre.
Man kann natürlich, wenn man so schroff formuliert — wir seien nicht bereit, hinzunehmen, den Krieg gegen Rußland ohne Einschränkung verloren zu haben —, leicht überführt werden, die Dinge zu übertreiben. Die Formulierung zielt auch nicht auf den rationalen Vordergrund, in dem man gezwungenermaßen mit einem schwer beweglichen machtpolitischen Koloß zu tun hat, sondern auf die dahinterliegenden Phantasien. Es geht um die Hintergedanken und ihren nicht geringen, wenn auch nicht leicht in einer einfachen Beweisführung darstellbaren Einfluß auf unser faktisches Verhalten.
Ein Tabu ist entstanden, ein echtes Berührungstabu. Es ist verboten, die Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen beider deutscher Staaten als ein Faktum zu diskutieren, von dem man zunächst einmal auszugehen hat. Im Berührungstabu ist der Traum enthalten, es könnte sich doch noch durch unabsehbare Glücksfälle fügen, daß zurückzuholen ist, was sträflich Hybris aufs Spiel gesetzt und vertan hat.
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Es ist tatsächlich ein gefährlicher Traum, statt der Anstrengung, nationale Grenzen ihres Charakters der Barrieren vor einem freien Verkehr zu entkleiden — so daß es uns erlaubt wäre, an die Kurische Nehrung zu fahren wie in die Vogesen —, den »Alleinvertretungsanspruch« höher einzuschätzen und während zwanzig Jahren sich nicht um eine vernünftige Koexistenz zu bemühen. Dabei enthüllt sich die Macht der Hintergedanken, denn sie sind es, die den erträglichen Kompromiß zugunsten der unerträglichen Rechthaberei auf beiden deutschen Seiten verwerfen ließen.
Dementsprechend müssen auch für fremde Ohren unsere Versicherungen, bei der Verfolgung unserer Rechtsansprüche auf Einsatz von Machtmitteln zu verzichten, etwas Unverbindliches enthalten. Diese deutsche Art, das schier Unerreichbare kompromißlos so zu lieben, daß das Erreichbare darüber verlorengeht, wiederholt sich in der deutschen Geschichte seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
Die Orientierung am Unwirklichen war einer der Anlässe der folgenden Untersuchung. Da wir es mit Phantasien zu tun haben, die im scheinbar logisch geordneten Verhalten aufzufinden sind, kompliziert sich die Darstellung» und wir können es nicht verhindern, daß unsere Beobachtungen oft schwerfällig formuliert und vielleicht peinigend um die Sache bemüht sind. Trotzdem erhoffen wir vom Leser, daß er seine Unlust angesichts dessen, was wir ausbreiten, zunächst aushält, ehe er zum Urteil schreitet.
Die Grundlagen dieser sozialpsychologischen Analyse sind keine systematischen Untersuchungen, sondern Spontanbeobachtungen, wo immer Verhalten zutage trat, von dem sich sagen ließ, es vertrete nicht nur eine individuelle, sondern eine verbreitete und häufig beobachtbare Reaktion. Wir stellen im folgenden zwei Verhaltensweisen dar, die uns so weit verbreitet erscheinen, daß man sie als repräsentativ ansehen darf. Ein Trend des Verhaltens läßt sich mit dem Begriff »Abwehrmechanismen gegen die Nazivergangenheit« zusammenfassen. Das soeben genannte Beispiel der Verleugnung der Niederlage durch einen Gegner, dem man sich nach »Rasse« und Kultur weit überlegen dünkte, zeigt etwas von diesem seelischen Aufwand. Es ist wichtig, festzustellen, daß die Niederlage an dieser negativen Bewertung nicht viel geändert zu haben scheint. Jedenfalls hat die deutsche Regierung und haben offizielle und inoffizielle Sprecher unseres Landes bis in die allerletzte Zeit wenig getan, um die tiefe Kluft der Entfremdung zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn mit Hilfe eines tiefer gehenden Verständnisses zu verringern.
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Der zweite Trend läßt sich wesentlich schwerer beschreiben. Er bezieht sich auf eine Reaktionsträgheit, die sich in unserem gesamten politischen und sozialen Organismus bemerkbar macht. Die Einsichten, die hier mit Hilfe seelischer Sperrungen abgewehrt werden, sind ungelöste oder unzureichend verstandene Probleme unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Wo wir höchste Aufmerksamkeit erwarten dürfen, stoßen wir auf Indifferenz. Diese diffus verteilte Anteilnahmslosigkeit wird besonders dann bemerkbar, wenn man sich die rasche Veränderung unserer materiellen Umwelt vor Augen hält. Lebhaftes Interesse bei allen Beteiligten für technische Probleme steht in Kontrast zur Indolenz, mit der unsere politischen Grundrechte behandelt werden. Die Anteilnahme an alledem, was einer aufgeklärten Öffentlichkeit am Herzen liegen sollte, ist relativ gering.
Die rapide zunehmende Industrialisierung, die Ballung der Bevölkerung in Schwerpunktsregionen der Industrie, die Zunahme der unselbständigen Arbeit, die ständige Umstrukturierung aller Herstellungstechniken, die Handhabung der Wissensvermittlung in einer derart veränderten und komplizierten Gesellschaft, die Rückwirkung alles dessen auf das Bezugspaar Trieb — Moral sollte Anstrengungen provozieren, in einem reflektierten Bewußtsein zu einem angemessenen Verständnis vorzudringen. Eine neue Welt entsteht vor unseren Augen, aber es verlangt die meisten Menschen unseres Landes kaum danach, sich verläßlich zu informieren, die Manipulationen zu durchschauen, denen ihre Wertvorstellungen dauernd unterworfen werden, überhaupt sich ein zusammenhängendes Bild von den Kräften zu machen, die zu unseren Lebzeiten den Gang der Geschichte beeinflussen. Darin müßte unsere Zeit sich prinzipiell von der Vergangenheit unterscheiden, weil vom Menschen produzierte Umwelt für immer mehr Menschen in immer überwiegenderem Maß das Leben bestimmt.
Hier überdeckt sich ein spezifisch deutsches mit einem zeittypischen Verhalten. Die unabsehbare und sich dauernd beschleunigende Vermehrung unseres Wissens, das enge Eingebundensein des einzelnen in große Produktions- oder Verwaltungskombinate, sein immer kleinerer Aktionsraum als Spezialist wirken überall lähmend auf die Initiative.
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Für alle Länder, die vom Prozeß der Industrialisierung ergriffen wurden, wird die fatale Frage immer drängender, wie man politisches Engagement der Massen gerade an den Prozessen erreichen könnte, die über ihr Fortleben und die Art ihres Zusammenlebens entscheiden, auf die sie aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen schwindende Möglichkeiten des Einflusses haben. Denn die Vorgänge der Konzentration der Macht an wenigen Orten, die höchst vermittelte Einflußmöglichkeit vielseitig abhängiger Spezialisten schließen aus anderen Gründen als in der Vergangenheit, aber ebenso wirkungsvoll die Massen von den politisch wirklich bedeutenden Entscheidungen aus.
Die Verhärtung in nationalistischer Selbstbezogenheit hat hierin eine ihrer Wurzeln. Innerhalb des nationalen Raumes verweigern ihrerseits große Teile der Bevölkerung ihre Anteilnahme an den politischen Problemen, geschweige daß sie zu einer aktiven Mitarbeit über ihre Arbeitsverpflichtungen hinaus zu bewegen wären. Ihr Zustand verrät Abstumpfung eines neuen Typs. Er läßt sich als Verarmung in den Objektkontakten, das heißt in den von Gefühl und Denken getragenen Kommunikationsprozessen, charakterisieren. Es mag sein, daß eine ähnliche Interesselosigkeit etwa unter den chronischen Mangelverhältnissen der Vergangenheit, also unter dem Einfluß endemischen Hungers, bestanden hat.
Mit Ausnahme weniger Stadtrepubliken ist in der Geschichte auch kaum eine ernsthafte Anstrengung gemacht worden, die Bevölkerung als ganze systematisch auf Entscheidungen vorzubereiten und sie damit an ihrem sozialen Umfeld mit mehr als primitiv egoistischer Anteilnahme zu interessieren. In unserer Zeit bietet das Problem der politischen Apathie (bei gleichzeitig hochgradiger Gefühlsstimulierung im Konsumbereich) jedoch besondere Aspekte. Aus diesen durch die gesellschaftlichen Prozesse in Apathie gezwungenen Massen brechen fortwährend irrationale destruktive Verhaltensweisen hervor. Außerdem hat es noch nie Massen dieser Größenordnung, aber damit auch noch nie politische Entscheidungen gegeben, die so viele Menschen betreffen.
Diese ubiquitären Schwierigkeiten in den national abgegrenzten, sich industrialisierenden Gesellschaften kamen uns nach Kriegsende sehr gelegen. Aus einer unter dem Nationalsozialismus rückschrittlich aggressiven wandelten wir uns, was den Phänotypus betrifft, in eine apolitisch konservative Nation.
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Das ist relativ leicht darstellbar am Mangel unserer Neugier. Psychologisches Interesse für die Motive, die uns zu Anhängern eines Führers werden ließen, der uns zur größten materiellen und moralischen Katastrophe unserer Geschichte führte — was mit Vernunft betrachtet das brennendste aller Erkenntnisprobleme sein müßte —, haben wir nur wenig entwickelt und uns auch nur wenig für die Neuordnung unserer Gesellschaft interessiert.
Alle unsere Energie haben wir vielmehr mit einem Bewunderung und Neid erweckenden Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung unseres industriellen Potentials bis zur Kücheneinrichtung hin konzentriert.
Die monomane Ausschließlichkeit dieser Anstrengung ist nicht zu übersehen; sie hat allmählich das politische Leben unseres Landes immer mehr in administrativer Routine erstarren lassen. Diese Entwicklung bietet sich uns wie eine Selbstverständlichkeit dar. Sie so einzuschätzen ist gewiß ein Trugschluß, ein Einblick in die Motive dieses einseitigen Verhaltens scheint vielmehr das, was zu fordern ist. Das gleichsam Natürliche dieses werktätigen Eifers verdeckt zunächst schon einmal die Zusammenhänge, aus denen heraus es ihm gelingt, sich in unserem Bewußtsein mit solcher Selbstverständlichkeit zu präsentieren.
Die Restitution der Wirtschaft war unser Lieblingskind; die Errichtung eines demokratischen Staatsgebäudes hingegen begann mit dem Oktroi der Sieger, und wir wissen bis heute nicht, welche Staatsform wir selbst spontan nach dem Kollaps der Naziherrschaft gewählt hätten; wahrscheinlich eine ähnlich gemildert autoritäre von Anfang an, wie sie sich heute aus den demokratischen Grundlagen — die wir schrittweise bis zur Großen Koalition hin aufgeben — entwickelt haben.
Es ist nicht so, daß man den demokratischen Staatsgedanken ablehnte wie weitgehend während der Weimarer Republik. Man kann aber auch wenig mit ihm anfangen, weil man ihn, psychologisch gesprochen, nicht libidinös zu besetzen versteht.
Es ist kein spannendes Spiel der Alternativen, das in unserem Parlament ausgetragen würde, wir benützen diesen Staat als Instrument für Wohlstand — kaum der Erkenntnisproduktion; entsprechend drängen sich nur wenig politisch schöpferische Talente in seine Ämter.
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Die politische Routine, die sich immer mehr in ein spanisches Zeremoniell des Proporzes hinein entwickelt, bringt kaum originelle Versuche, produktive Phantasien in den politischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit wirksam werden zu lassen. Dazu hätte etwa die Anstrengung gehört, unser politisches Selbstverständnis unter Anerkennung der Tatsache zu bilden, daß der Sowjetmacht die endgültige Stabilisierung als Weltmacht gelungen ist und daß wir ihrer Ideologie gegenüber Argumente statt Vorurteile ins Feld zu führen haben.
Oder es hätte dazu die andere Aufgabe gehört, zu begreifen, welch nachhaltige Vorstellungen über uns bei den mit uns in politischen und Handelsbeziehungen stehenden Völkern in Erinnerung der Ziele und der Art unserer Kriegsführung während des Zweiten Weltkriegs entstanden sind.
Es ist kaum ernstlich zu bestreiten, daß nur eine kleine Schicht der deutschen Öffentlichkeit sich in dieser Richtung bemüht hat und daß die offizielle Politik an Fiktionen und an ein Wunschdenken gefesselt blieb und — zunächst auch für die eigene politische Sanierung — den tiefer gehenden Versuch, zu einem Verständnis der erschreckenden Vorgänge zu gelangen, bis heute schuldig geblieben ist, unter anderem des erschreckenden Ausmaßes unserer Beeinflußbarkeit durch die Versprechungen der Nazis.
Der Effekt ist eine weitgehende Isolierung nach außen und eine auffällig linkische Art in der Entscheidung von Takt- und Geschmacksfragen. Es fehlt die Urbanität. Adenauers Entschluß, den Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, Hans Globke, zum Leiter seiner Kanzlei zu machen, symbolisiert das ebenso wie Lübkes Ablehnung der französischen Auszeichnung für Klara Faßbinder.
Die Unfähigkeit, beim Wiederaufbau der Städte neue Konzepte zu verwirklichen oder auch bei der Planung unserer Schulen, zeigt auf drastische Weise die Ich-Entleerung unserer Gesellschaft.
Damit ist die Schwäche gemeint, die das Ich in seinem produktiven und integrierenden Anteil bei der Gestaltung der sozialen Realität in den vielfältigsten Facetten und an den unterschiedlichsten Schauplätzen erkennen läßt. Nach dem Ausmaß der Katastrophe, die hinter uns liegt, konnte es nicht zu einer Traditionsorientierung kommen; die Tradition war gerade das, was durch die nationalsozialistische Herrschaft am nachhaltigsten zerstört wurde, und es war zuvor schon eine höchst problematische Tradition gewesen.
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Übrig geblieben sind äußerliche Gewohnheitselemente, Verhaltensmuster und Konformismen, welche eine darunterliegende ziemlich unartikulierte Lebensform wie eine Kulisse verdecken. Und diese überall aufgestellten Versatzstücke geben unserer innenpolitischen Wirklichkeit und unserem Alltag einen theatralischen und unwahrhaftigen Beigeschmack.
»Keine Experimente«, diese Kurzdefinition des Zustandes steht — gerade weil es kaum Traditionen, das heißt unzerstörte und wirksam gebliebene Identifikationen gibt — im Widerspruch zur deutschen Sozialgeschichte. Denn von unserem Lande ist schon einmal in der industriellen Ära die Initiative zur Bewältigung bedrückender Sozialverhältnisse ausgegangen. Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts hat es die stärkste sozialistische Bewegung hervorgebracht, welche die konservativen Kräfte unter Bismarck zu einem beachtlichen Kompromiß in der Sozialgesetzgebung zwang. Keine derartige revolutionäre, vorwärtsdrängende Idee war nach dem Ende des Dritten Reiches zu spüren. Das Land scheint in seiner Kraft, politisch wirksame Ideen hervorzubringen, erschöpft, da die meisten seiner Bürger mit den Ideen des Rassismus und der Herrschaftsideologie des Nationalsozialismus einverstanden waren. Sie haben in der Tat mit dem Untergang der Naziherrschaft die Grundlage ihrer Orientierung verloren.
Seit 1914 wurden zwei Generationen mit traditionsverwirrenden Ereignissen konfrontiert, die aber auch ihrerseits den Zustand innerer Erregtheit bei den Individuen erkennen lassen. Die Inflation des Selbstgefühls in der kaiserlichen Ära des bürgerlichen Nationalismus diente der Abwehr von Parvenügefühlen, zu spät Großmacht geworden zu sein, dazu addierte sich wenig bedächtiges Machtbewußtsein aus der Kraft der neuen »Waffenschmieden«. Die Verkennung der politischen Realität führte zur Niederlage im Ersten Weltkrieg. Die Verwechslung von Allmachtsphantasie und faktischer Potenz hatte die Übermacht mißachtet.
Zwanzig Jahre später beginnt sich das gleiche zu wiederholen, als hätte es keine Vorerfahrung gegeben. Dazwischen erweckt die Arbeitslosigkeit von Millionen regressive Ängste; die Krise der dreißiger Jahre wird nicht als Zeichen einer noch nicht erreichten Ordnung, sondern als Folge der Abkehr von alten Autoritäten gedeutet. Bei Hitler wurden daraus Blutmächte, gegen welche gesündigt worden war.
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Solche welterlöserische Träume von alter Größe stellen sich ein, wenn das Gefühl, von der Geschichte überholt zu sein, Ohnmacht und Wut erweckt. Ressentiments rufen dann nach dem starken Mann, nach Diktatur und Terror als mit Gott und dem Schicksal verbündeten Ordnungsmächten. Hat man sich mit einer Freund-Feind-Lehre solcherart eingelassen, dann kann man nicht mehr in nüchternem Kalkül die seelische Verfassung und die Widerstandskraft der Gegner, die man angreifen will, angemessen einschätzen.
Es ist leicht, hier von Irrationalität der Urteilsbildung zu sprechen, aber sehr schwierig, dieses irrationale Verhalten in seinen Motivationen zu verfolgen. Daß es sich um irrationale, das heißt aus dem Unbewußten stammende Impulse bei der politischen und militärischen Zielsetzung gehandelt haben muß, geht daraus hervor, daß die deutsche Öffentlichkeit einschließlich des Militärs diese Umwelt so irrtümlich in ihrer Widerstandskraft gegen das deutsche Angriffspotential eingeschätzt hat.
Abermals folgte die Quittung: der verlorene Krieg, der bis heute mit dem früheren idealisierten Selbstbildnis der privilegierten Rasse nicht zu vereinen ist. Den Begriff Rasse sollte man hier nicht zu eng fassen. Er meint Leute, die sich auf Grund der Fähigkeiten, die sie sich selbst zuschreiben, prädestiniert dafür halten, über andere zu herrschen. Da auch die meisten Offiziere des Generalstabs dem Wunschdenken der politischen Führung unterlagen, sind sie ein treffendes Beispiel, mit welchem Nachdruck emotionell besetzte Zielvorstellungen logisches Denken auch in Menschen, die in solchem Denken geübt sind, sich ein- und unterzuordnen vermögen.
Nach dem Wahn, mit sozialen Problemen im Stil der »Endlösung« fertig zu werden, ist nicht zu erwarten, daß die Rückkehr Jn den »Alltag« mühelos gelingt. Im Jahre 1945 gab es keine Autorität in der deutschen Öffentlichkeit, die nicht kompromittiert gewesen wäre. Das galt für die Relikte der Feudalstruktur und des liberalen Bürgertums. Außer einer vagen Hoffnung auf europäische Integration war auch kein Rückgriff auf ein politisches Konzept möglich, das aus einer Widerstandsbewegung gegen den Nazismus hervorgegangen wäre. Die Rückerinnerung mußte weiter ausgreifen, auf einen Mann, der seine Prägung in der längst vergangenen Staatsform des kaiserlichen Deutschland erhalten hatte.
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Die Herrschaft einer uralten Vaterautorität begann; und ihr blieb es überlassen, »Staat« zu repräsentieren, während sich die libidinöse Energie, wie gesagt, im Wirtschaftsbereich sammelte. Der »Staat« übernahm die Rolle, die Wirtschaft vor Auseinandersetzungen zu bewahren, die aus einer Kritik an unseren bis 1945 gültigen nationalen Zielsetzungen herrühren könnten. Und solche Kritik kam auch weithin nicht auf. Statt einer politischen Durcharbeitung der Vergangenheit als dem geringsten Versuch der Wiedergutmachung vollzog sich die explosive Entwicklung der deutschen Industrie. Werktätigkeit und ihr Erfolg verdeckten bald die offenen Wunden, die aus der Vergangenheit geblieben waren. Wo ausgebaut und aufgebaut wurde, geschah es fast buchstäblich auf den Fundamenten, aber kaum noch in einem durchdachten Zusammenhang mit der Tradition.
Das trifft nicht nur für Häuser, sondern auch für den Lehrstoff unserer Schulen, für die Rechtsprechung, die Gemeindeverwaltung und vieles andere zu.
Im Zusammenhang mit dieser wirtschaftlichen Restauration wächst ein charakteristisches neues Selbstgefühl. Auch die Millionenverluste des vergangenen Krieges, auch die Millionen getöteter Juden können nicht daran hindern, daß man es satt hat, sich an diese Vergangenheit erinnern zu lassen. Vorerst fehlt das Sensorium dafür, daß man sich darum zu bemühen hätte — vom Kindergarten bis zur Hochschule —, die Katastrophen der Vergangenheit in unseren Erfahrungsschatz einzubeziehen, und zwar nicht nur als Warnung, sondern als die spezifisch an unsere nationale Gesellschaft ergehende Herausforderung, mit ihren darin offenbar gewordenen brutal-aggressiven Tendenzen fertig zu werden.
Die Beispiele mögen zufällig und nach dem Horizont der Autoren gewählt sein. Andere Beobachter werden mit anderen Beispielen aufwarten können. In allen sehen wir jene Hemmung, jene Blockierung der sozialen Phantasie, jenen fühlbaren Mangel an sozialer Gestaltungskraft.
Diese Fakten werden hier nicht erwähnt, weil moralische Anklage erhoben, sondern weil ein Notstand besonderer Art charakterisiert werden soll. Unsere Überlegungen möchten zur Aufhellung des vielfältigen Motivationszusammenhangs zwischen Ereignissen unserer Nazivergangenheit und einem Mangel an sozialer Gestaltungskraft in unserer Gegenwart beitragen.
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Dementsprechend sieht unsere Hypothese die gegenwärtige politisch-gesellschaftliche Sterilität durch Verleugnung der Vergangenheit hervorgerufen. Die Abwehr kollektiv zu verantwortender Schuld — sei es die Schuld der Handlung oder die Schuld der Duldung — hat ihre Spuren im Charakter hinterlassen. Wo psychische Abwehrmechanismen wie etwa Verleugnung und Verdrängung bei der Lösung von Konflikten, sei es im Individuum, sei es in einem Kollektiv, eine übergroße Rolle spielen, ist regelmäßig zu beobachten, wie sich die Realitätswahrnehmung einschränkt und stereotype Vorurteile sich ausbreiten; in zirkulärer Verstärkung schützen dann die Vorurteile wiederum den ungestörten Ablauf des Verdrängungs- oder Verleugnungsvorganges. Auf eine Behandlung sozialer Probleme im Stil der »Endlösung« kann kein müheloser Übergang in den zivilisierten »Alltag« folgen, ohne daß eine Bewußtseinsspaltung eintritt.
Das, was kam, muß deswegen in seinem Wirkungszusammenhang mit dem Vorhergehenden verstanden werden, sosehr im Bewußtsein der Bruch, die Abkehr, der Neuanfang bei der Stunde Null im Vordergrund steht. Es ist klar, daß man millionenfachen Mord nicht »bewältigen« kann. Die Ohnmacht der Gerichtsverfahren gegen Täter wegen der Größenordnung ihrer Verbrechen in dieser Vergangenheit beweist diesen Tatbestand in symbolischer Verdichtung. Aber eine so eng juristische Auslegung entspricht nicht dem ursprünglichen Sinn der Formulierung von der unbewältigten Vergangenheit. Mit »bewältigen« ist vielmehr eine Folge von Erkenntnisschritten gemeint. Freud benannte sie als »erinnern, wiederholen, durcharbeiten«.1)
Der Inhalt einmaligen Erinnerns, auch wenn es von heftigen Gefühlen begleitet ist, verblaßt rasch wieder. Deshalb sind Wiederholung innerer Auseinandersetzungen und kritisches Durchdenken notwendig, um die instinktiv und unbewußt arbeitenden Kräfte des Selbstschutzes im Vergessen, Verleugnen, Projizieren und ähnlichen Abwehrmechanismen zu überwinden. Die heilsame Wirkung solchen Erinnerns und Durcharbeitens ist uns aus der klinischen Praxis wohlbekannt. In der politischen Praxis führt uns dieses Wissen noch keinen Schritt weiter.
1) S. Freud Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Ges. Werke X, 126 ff.
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Denn nur der Kranke, dessen Leiden am Symptom größer ist als der Gewinn aus der Verdrängung, findet sich bereit, seine Bewußtseinszensur für die Wiederkehr des Verleugneten und Vergessenen schrittweise zu lockern. Diese Therapie müßte aber in einem Kollektiv verwirklicht werden, dem es, wenigstens materiell, insgesamt besser geht als je zuvor. Es verspürt keinen fühlbaren Anreiz, seine Auslegung der jüngsten Vergangenheit den unbequemen Fragen anderer auszusetzen; einmal, weil die manische Abwehr durch Ungeschehenmachen im Wirtschaftswunder sehr erfolgreich war, die Welt akzeptiert die »deutsche Wertarbeit«, was immer sie sonst von den Deutschen denken mag; zum anderen — und das fällt nicht weniger ins Gewicht —, weil die militärischen und moralischen Sieger über das Dritte Reich inzwischen in »begrenzten« Unternehmen wie dem Krieg in Algier oder Vietnam gezeigt haben, daß auch sie zu schwerer wiegenden Inhumanitäten fähig sind.
Wir verlangen also nach näherer Aufklärung über den Sprung, den so viele vom Gestern ins Heute taten. Es war eine blitzartige Wandlung, die man nicht jedermann so mühelos zugetraut hätte. Durch Jahre war die Kriegführung und waren die Kriegsziele der Naziführer mit minimaler innerer Distanz bejaht worden, Vorbehalte blieben jedenfalls ohne Auswirkung. Nach der vollkommenen Niederlage kam die Gehorsamsthese auf, plötzlich waren nur noch die unauffindbaren oder abgeurteilten Führer für den in die Tat umgesetzten Völkermord zuständig. Zwar hatten alle Schichten, und vornehmlich die führenden, die Industriellen, die Richter, die Universitätslehrer, entschiedene und begeisterte Unterstützung gewährt, mit dem Scheitern sahen sie sich jedoch wie selbstverständlich von der persönlichen Verantwortung entbunden.
Die große Majorität der Deutschen erlebt heute die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft retrospektiv wie die Dazwischenkunft einer Infektionskrankheit in Kinderjahren, wenn auch die Regression, die man unter der Obhut des »Führers« kollektiv vollzogen hatte, zunächst lustvoll war — es war herrlich, ein Volk der Auserwählten zu sein. Dieser Glaube ist für sehr viele zwar nicht unerschüttert geblieben, aber auch nicht widerlegt. Der Nationalismus, den Deutschland heute bietet, ist relativ unauffällig, sowohl im Vergleich mit den übrigen westlichen, sicher aber mit den Ost- und Entwicklungsstaaten.
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Dennoch fühlen sich viele Beobachter davon bedroht und alarmiert, da sich mit deutschem Nationalgefühl nun einmal für zunächst unabsehbare Zeiten die Erinnerung an Auschwitz und Lidice verbindet und der blitzartige Szenenwechsel zu friedlichem und emsigem Fleiß und rasch gesammeltem Wohlstand nur zeigt, wie übergangslos sich hierzulande alles ändern kann. Die Reaktion auf die Reorganisation einer neonazistischen Rechten hat deswegen die Welt ungleich mehr erschreckt als die Etablierung des Neofaschismus in Italien.
Daß man im Ausland hypersensibel für Anzeichen einer Wiederkehr des Überwundenen geblieben ist, verstehen manche Politiker unseres Landes schon wieder als Zeichen ihrer Stärke auszulegen. Die Abwehr der mit der Nazivergangenheit verbundenen Schuld- und Schamgefühle ist weiterhin Trumpf. Bücher und Zeitungen bleiben nicht ungelesen, in denen die Auffassung vertreten wird, daß wir nur unter dem Druck bösartiger Verfolger all das tun mußten, was wir taten — gleichsam in unserer Ehre unbetroffen.
Eine solche Einstellung bedeutet, daß nur die passenden Bruchstücke der Vergangenheit zur Erinnerung zugelassen werden. Alle Vorgänge, in die wir schuldhaft verflochten sind, werden verleugnet, in ihrer Bedeutung umgewertet, der Verantwortung anderer zugeschoben, jedenfalls nicht im Nacherleben mit unserer Identität verknüpft. Die siegreichen Vormärsche werden glorifiziert, der Verantwortungslosigkeit, mit der auch Millionen Deutscher in einem Größenrausch geopfert wurden, wird selten gedacht.
Zu dieser Trennung in genehme und nicht genehme Erinnerung ist ein ganz erheblicher Aufwand an psychischer Energie vonnöten. Was von ihr zur Abwehr im Dienste eines Selbst verbraucht wird, das sich vor schwersten Gewissensanklagen und Zweifeln an seinem Wert schützen will, fehlt in der Initiative zur Bewältigung der Gegenwart. Und je weniger wirklich produktive Lösungen gefunden werden oder gelingen, desto empfindlicher reagiert die große Öffentlichkeit auf jene »Böswilligen«, die nicht vergessen wollen und die unsere so sorgsam abgewehrte Vergangenheit als eine Wirklichkeit, die in der Tat noch wirkt, erleben.
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Die »intellektuelle Aufgabe« kann es deshalb zunächst nur sein, in aller Vorsicht die Selbsttäuschungen, die zu der Entstehung eines neuen Selbstbildnisses nicht unerheblich beitragen, als das, was sie sind, sichtbar werden zu lassen. Vielleicht trifft Freuds Bemerkung, die Neurose verleugne die Realität nicht, sie wolle bloß nichts von ihr wissen, auch für die kollektiven Anstrengungen zu, die wir in unserer Umgebung beobachten. Natürlich beherrschen solche Abwehrvorgänge nicht nur die deutsche Szene, sie sind allgemeinmenschliche Reaktionsformen. Trotzdem bleibt es entscheidend, wie jeder einzelne und jedes einzelne Kollektiv der spezifisch gehegten Selbsttäuschungen innezuwerden und sie zu überwinden verstehen.
1.2. Der »Führer« war an allem schuld
Bei der Behandlung der individuellen Neurose haben wir es überwiegend mit der Aufhellung der infantilen Erinnerungslücken, mit den Trieb- und Ambivalenzkonflikten im Umgang mit den unmittelbar erlebten und später internalisierten Autoritäten zu tun — mit Konflikten also, die, da sie unbewußt bleiben, aus der Kindheit herüberreichen — und mit der aus diesen Zwiespältigkeiten und Kränkungen der Gefühle entstehenden Angst-, Schuld- und Schamproblematik. Um diese Angst, diese Schuld und Scham zu vermeiden oder wenigstens zu verringern, werden seelische Abwehrvorgänge von der Art der Verdrängung, der Verleugnung, der Projektion und andere mobilisiert.
Bei der Abwehr gegen Schuld, Scham und Trauer um ihre Verluste , die das Kollektiv der Bevölkerung Nachkriegs-Deutschlands vollzieht, haben wir es zwar mit dem gleichen infantilen Selbstschutz zu tun, aber nicht mit infantilen Schulderlebnissen, sondern mit realer Schuld größten Stiles. Die Anwendung kindlicher Entlastungstechnik auf die Konsequenzen aus gescheiterten gewaltigen Eroberungszügen und Ausrottungsprogrammen, die ohne den begeisterten Einsatz dieses Kollektivs gar nicht hätten begonnen, geschweige denn bis »fünf Minuten nach zwölf« hätten durchgehalten werden können, muß erschrecken.
Die Versuche, auf diese Weise der Vergangenheit Herr zu werden, wirken auf den distanzierten Beobachter grotesk. Trotz der Überempfindlichkeit solcher Beobachter für deutschnationale Töne muß ein wenig durchdachtes, kindliches Verhalten verständlicherweise die Angst aufrechterhalten, daß eine Überraschung nicht unmöglich ist und daß noch einmal Gehorsamsakte, welche die individuelle Verantwortung auslöschen, zu deutscher Politik werden könnten.
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Zu den Mitteln der Schuldleugnung gehört die seither häufig vertretene Auffassung, das Hereinbrechen einer Diktatur sei ein Naturereignis, das sich getrennt von Einzelschicksalen vorbereite und gleichsam über sie hinweggehe. Bei näherer Betrachtung ist das eine ungenaue und nur halb richtige Aussage. Freilich ist es sehr schwierig, den Zusammenhang darzustellen zwischen individuellen Verhaltensmustern, bereitliegenden Reaktionen und dem politischen Erfolg eines Diktators. Hier spielen Interdependenzen eine bedeutende Rolle und nicht nur ein passives Ergriffenwerden des wehrlosen Mannes auf der Straße. Man darf die Problematik nicht erst in der Katastrophe, sondern muß sie in den Tagen des ungetrübten Einverständnisses zwischen Volk und Diktator beginnen lassen.
Wir waren sehr einverstanden mit einer Führung, die typisch deutsche Ideale mit unserem Selbstgefühl aufs neue zu verbinden wußte: Da wurde die Chance zur uniformierten Darstellung unseres Selbstwertes gegeben. Sichtbar gegliederte Autoritätshierarchien traten plötzlich in Fülle vor das Auge des durch »Parteiengezänk« enttäuschten Volksgenossen. Die Präzision unseres Gehorsams wurde gebührend erprobt, und der fast grenzenlose Wille, uns den Hoffnungen des Führers würdig zu erweisen, durfte ausschweifen.
Angenommen, dieser Führer hätte sich mit kleineren Annexionen begnügt und auch in seiner Judenverfolgung gemäßigt bis zu jener Grenze der Infamie, zu der beträchtliche Gruppen in den übrigen christlichen Staaten ihm mit stillschweigender Billigung zu folgen bereit gewesen wären, das Ende des Tausendjährigen Reiches wäre wohl noch heute nicht abzusehen.
Die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie bei gleichzeitiger Ankurbelung des Arbeitsmarktes hätte keine deutsche Revolution ausgelöst. Auch noch das Funktionieren eines pedantisch gelenkten Apparates der Menschenvernichtung ist ein Stück Wirklichkeit, das keine tiefe Spaltung zwischen allgemeiner Wertschätzung der Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, dem Hang zur totalen Lösung einer Aufgabe und dem Spezialfall der Anwendung dieser Tugenden auf die Vernichtung eines »karteilich erfaßten Personenkreises« erkennen läßt.
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Auch die Ungeheuerlichkeit, unter den Augen der Welt sechs Millionen Zeitgenossen zu töten, kann sich scheinbar unberührt auf Vorläufer berufen. Seit den Tod verbreitenden Eroberungszügen der Konquistadoren gegen Inkas und mexikanische Indianer, seit dem Handel mit Negersklaven und den Greueln der imperialen Kolonisation sind wir damit vertraut, daß, wo die Machtmittel sehr ungleichmäßig verteilt sind, der Besiegte in den Augen des Siegers die Qualität als Mensch verliert oder eine Minorität, nachdem alles Schlechte und Gefährliche auf sie projiziert wurde, verfolgt werden darf.
Es gibt offensichtlich keine natürliche angeborene Rücksichtnahme aus Menschlichkeit. Der Unterlegene wird zur Beute der ungehemmten Mordgier. Von Gewissensregungen dringt wenig durch, denn in diesen Durchbrüchen destruktiver Aggression kann diese sich auch religiöser Argumente bedienen, wonach die Opfer teuflisch und nur scheinbar menschlicher Art seien.
Der Ekel, den die Nazipropaganda gegen die Juden zu erwecken bestrebt war, setzte diese Manipulation fort: Die Juden wurden als »Ungeziefer« wahrgenommen. Ungeziefervernichtung ist erlaubt und darf konfliktfrei geschehen. Dem Diktator fällt also nur die Aufgabe zu, mit Hilfe dieser Dehumanisierung das Gewissen »umzudrehen«. Himmler tat dies in einer Rede vor SS-Führern. Er versicherte sie des Dankes der Nation und der Menschheit, daß sie das Opfer der furchtbaren, aber unumgänglichen Aufgabe einer Ausrottung von Millionen Juden auf sich genommen hätten: »Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei — abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen — anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«1
1) Walter Hofer (Hg.) Der Nationalsozialismus, Dokumente 1933-1945. Frankfurt (Fischer Bücherei 172) 1957, 114.
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Wenn auch die Funktion des Führers Adolf Hitler durchaus individuell faßbar ist, so verlangt er doch nichts, worin nicht Millionen ihm zu folgen bereit sind; er führt, nicht unfaustisch, Sadismus und Sentimentalität, Fremdenhaß und Vergottung des Selbstideals als Herrenwesen in barbarische Maßlosigkeit hinein. Achtet man auf die psychischen Vorgänge, so vollzieht sich hier in zahllosen Schattierungen ein aggressiver Triebdurchbruch gegen freigegebene Objekte. Dies ist der Erfolg der Umdrehung des Gewissens. Der Führer personifiziert ein neues. Erst sein Scheitern, nicht das alte Gewissen, verhilft Schuldgefühlen zum Durchbruch.
Die bedingungslose Kapitulation, der Einmarsch von Gegnern, die bis zum äußersten lächerlich gemacht oder verteufelt worden waren, ruft massive Vergeltungsängste hervor. Es ist diese Realangst, die das Gewissen neu zentriert. Bis zum Ende des Krieges bestanden Gewissenspflichten nur gegenüber dem Führer. Sein Sturz bedeutet darüber hinaus eine traumatische Entwertung des eigenen Ich-Ideals, mit dem man so weitgehend identisch geworden war. Wenn jetzt das vor-nazistische Gewissen wieder in Kraft trat — in seiner Macht repräsentiert durch die siegreichen Gegner —, so wurden neue Abwehrmechanismen benötigt, um nicht mit der Vergeltungsangst das Gefühl völligen Unwertes aufkommen zu lassen.
Was soll eigentlich ein Kollektiv tun, das schutzlos der Einsicht preisgegeben ist, daß in seinem Namen sechs Millionen Menschen aus keinem anderen Grund als aus dem der eigenen aggressiven Bedürfnisse getötet wurden? Es bliebe ihm kaum ein anderer Weg als der einer weiteren Verleugnung seiner Motive oder der Rückzug in eine Depression. Es erwies sich jedoch, daß nationalsozialistische Funktionäre, die erst 20 Jahre später verhaftet wurden — wie Eichmann —, in nicht ernsthafter psychischer Beeinträchtigung gelebt hatten. Zudem war nicht jeder in unmittelbar verfolgbarer Weise mit dem Völkermord verknüpft und mußte sich nicht direkt mitschuldig erleben; entsprechend wurden mit Verleugnung und Verharmlosung mannigfache Auswege aus der Kalamität gesucht. Depressive Reaktionen, Selbstvorwürfe, Verzweiflung über das Ausmaß der Schuld, die man auf sich geladen hatte, waren weit seltener.
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Die wichtigste kollektiv geübte Abwehrhaltung ist der Rückzug der Besetzungsenergien aus all den Vorgängen, die mit der Begeisterung am Dritten Reich, mit der Idealisierung des Führers und seiner Lehre und natürlich mit direkt kriminellen Akten zu tun haben. Unter Anwendung dieser seelischen Abwehrtaktik wird die Erinnerung an die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft fahl und schemenhaft. Wo die jüngste Geschichte uns in ihrer ungeschminkten Brutalität wieder in Erinnerung gebracht wird — etwa weil ein Prozeß gegen einen Naziverbrecher stattfindet —, da wird die Vermeidung fortgesetzt und werden die Berichte in den Zeitungen überschlagen.
Wenn trotzdem diese Vergangenheit wieder aufleuchtet, wird sie keinesfalls als Teil der eigenen Geschichte, der eigenen Identität erkannt. Es ist anzunehmen, daß die derart »Nicht-Betroffenen« auch dann so denken, wenn sie allein mit sich selbst sind. Infolgedessen entsteht nicht jener fühlbare Leidensdruck, der den neurotischen Patienten in die analytische Behandlung und damit zur Durcharbeitung des Verdrängten bringt. Die Vergangenheit soll, was uns betrifft, ohne daß Anlaß zur Reue wäre, auf sich beruhen.
Der ökonomische Gewinn dieses Vergessenkönnens, dieser Verfremdung der eigenen Vergangenheit, dieser Errichtung eines kollektiven Berührungstabus, ist nicht gering. Würden wir unsere nazistische Vergangenheit noch mit ungestörten Erinnerungen bewohnen, so würde es unserem Ich — auch wenn wir nur »dabeigewesen wären, gehorsam, fatalistisch oder begeistert — schwerfallen, dieses Mitwirken mit der Art unseres Überlebens zu integrieren. Die auf historische Genauigkeit drängende Auseinandersetzung mit diesem Abschnitt unserer Geschichte würde dann sehr rasch den Erweis dafür bringen, daß sich der Mord an Millionen schutzlos Verfolgter aus sehr vielen schuldhaften Entscheidungen und Handlungen einzelner zusammensetzt und daß er keineswegs mit jener Selbstverständlichkeit, die wir uns zu eigen gemacht haben, auf Vorgesetzte, schließlich auf den Führer selbst verschoben werden kann. Daß alles das, was geschah, geschehen konnte, ist nicht allein das Ergebnis mirakulöser Führerqualitäten, sondern ebenso eines »unglaublichen Gehorsams«. So ist es auch gar nicht erstaunlich, daß nur wenig von Sanktionen bekannt wurde, die verhängt worden wären, wenn einmal sich jemand eklatanten Mordaufträgen widersetzte. Er konnte das offenbar ohne eigene Gefährdung, wenn er nur den Mut zum Widerspruch hatte.
Wohl einzelne, jedoch keine irgendwie einflußreiche Gruppe war dazu fähig, zwischen Vaterland und Diktatur zu unterscheiden.
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Vielmehr war es gerade die Überzeugungskraft, die von der nazistischen Ideologie ausging, die sie so siegreich machte, denn sie konnte in vieler Hinsicht, zum Beispiel bezüglich der Gehorsamspflicht, an vorher geformte Ich-Ideale anknüpfen. Erst diese gruppenspezifische Vorbereitung zu maßloser Selbstüberschätzung und Intoleranz half dazu, alle Bedenken zu überwinden.
Mit dem militärischen Zusammenbruch wurden die Maßnahmen zum »Schutz der deutschen Rasse« wieder das, was sie außerhalb des nazistischen Wahnbereiches immer waren: Verbrechen. Eine typische Koppelung der unter absolutistischen Maßstäben entwickelten Charakterstruktur trat zutage: Mit der Macht gingen auch die Ideale unter, die es erlaubt hatten, diese Macht so bedenkenlos auszunützen. Das war man aus Fürstenzeiten und Religionskriegen nicht anders gewohnt. Cuius regio, eius religio. Durch Luthers Konzeption der Selbstverantwortlichkeit ausgelöst, hatte aber neben der Untertanen-Hörigkeit doch das individuelle Gewissen eine Verstärkung erfahren. Damit hatte sich ein Bewußtseinszustand hergestellt, hinter den es kein für das persönliche Selbstgefühl folgenloses Zurückweichen mehr geben konnte.
Im großen und ganzen hatten sich aber Autoritätsstaat und Rechtsstaat in Deutschland bis zur Machtergreifung Hitlers vertragen. Verbrechen war, was auch anderswo als solches aufgefaßt wurde. Dann wurden Raub, Mord, Erpressung, Wortbruch Mittel, die dem heiligerklärten Zweck dienten. Sie wurden zu heroischen Taten. Am Ende fiel das alles im Rechtsdenken der Sieger wieder auf das Niveau von Missetaten zurück. Indem man sich mit diesen Siegern arrangieren konnte, sie als neue Oberherren, insbesondere als die Stifter der eigenen neuen Staatsform anerkannte, wurde das vorfaschistische Gewissen wieder in seine alte Funktion eingesetzt. Für gewaltig überhöhte Selbsteinschätzung gab es keine Anlässe und keine bewundernden Zuschauer mehr.
Wenn auch der ökonomische Fortschritt, der Exportüberschuß angenehmen Trost gewährten, ein Traum war zu Ende geträumt, der Traum, einer Herrenrasse anzugehören, die nicht an die Beschränkung des Gewissens gebunden war, wenn dies ihren »Idealen« im Wege stand. Das hat zwar eine Korrektur von außen erfahren; über die Phantasien, die hinter dieser vielleicht nur pragmatisch oberflächlichen Realitätsanpassung mitlaufen, wissen wir viel weniger.
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Natürlich ist der Versuch, sich von der quälenden Erinnerung an Schuld und Scham abzusetzen, ein allgemeinmenschliches Bedürfnis. Der Rückzug vollzieht sich in der jeweils kulturspezifischen Weise. Der Satz »Andere Völker, andere Sitten« kann auch dahin verstanden werden: »Andere Völker, andere Abwehrtaktiken.« Die Faszination, die von Hitler, von seinen Forderungen, die er an die Nation stellte, ausging, hatte nicht nur mit Sadismus, sondern auch viel mit Masochismus, mit Unterwerfungslust zu tun, hinter der die viel bewußtseinsfernere Neigung zur Autoritätsschändung stand (man denke an Luthers Tonart, wenn er des Papstes gedachte).
Da das Gehorsamsideal sehr bindend war, beschwor das Locken wider den Stachel in Gedanken unerträgliche Schuldängste, die mit überschießender Unterwürfigkeit abgegolten wurden. Welches Volk wäre sonst bereit, die sich langsam als wahnhaft offenbarenden Ziele seiner Führung mit solcher Geduld, mit solcher Ausdauer auch in der Selbstzerstörung zu verfolgen?
Im allgemeinen gilt die Regel: Je stärker die Aggressionen eines Menschen sind, um so rigider und intoleranter pflegt seine Gewissensbildung zu sein. In jedem zwanghaft geübten Gehorsamsakt wird das Problem der Ambivalenz all unserer Gefühle nicht ausgetragen und gelöst. Es wird höchstens verleugnet, daß es eine solche Ambivalenz der Gefühle einem überhöhten, vergotteten Objekt gegenüber gibt. Das muß im psychischen Geschehen zu einer Vertiefung der Doppelwertigkeit und Zunahme der untergründigen Haßgefühle gegen dieses Idol führen. Der Teufelskreis besteht darin, daß die Abwehr dieser unerlaubten — und ja auch im alltäglichen Leben hochgefährlichen — Haßgefühle im Bewußtsein zu einer Verstärkung der Idealisierung und einer um so heftigeren Identifizierung mit dem Idol führt. Identifiziere ich mich mit ihm und erhöhe es nach Kräften, so spüre ich die von ihm ausgehende Unterdrückung nicht mehr als Last, sondern als Lust.
Auf diesem Weg fällt dem Idol, in unserem Fall dem »Führer«, die Qualität der Einzigartigkeit zu. Ihm zu gehorchen wird ein Vergnügen, eine in die Geschichte eingehende Auszeichnung. Die Angst des schwachen Ichs, das sich dieser kollektiven Wahnverkennung nicht zu widersetzen vermag, geht dabei im subjektiven Bewußtsein verloren.
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Nach dem Sturz des Idols meldet sich dann dieses schwache Ich wieder und bekennt, es sei einem Übermächtigen erlegen; und wie das schwache Kind sei es schuldlos an den Erziehungsfehlern der Erwachsenen. Sosehr sie es nachträglich zu beschönigen versuchte, Hitler hatte der deutschen Öffentlichkeit in Stadt und Land mit verschwindenden Ausnahmen möglich gemacht, an die Realisierbarkeit ihrer infantilen Omnipotenzphantasien glauben zu dürfen. Es waren archaische Triebrepräsentanzen', denen Befriedigung versprochen worden war. Der Verzicht auf diese primärprozeßhaft erlebte Geborgenheit in einem gemeinsam geteilten Ich-Ideal brachte für große Teile der Bevölkerung eine erhebliche Beängstigung mit sich. Es herrschten Ratlosigkeit und Desorientierung. In der schon erwähnten Weise wurden sie durch den Versuch eines Rückgreifens auf unkompromittierte Autoritäten und durch den Abzug der Affekte aus der durch die Niederlage entwerteten Vergangenheit beantwortet.
Wir können jetzt also zusammenfassend formulieren: Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst; sie gelingt durch den Rückzug bisher starker libidinöser Besetzungen. Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht. Als Anlaß zur Trauer wirkt übrigens nicht nur der Tod Adolf Hitlers als realer Person, sondern vor allem das Erlöschen seiner Repräsentanz als kollektives Ich-Ideal. Er war ein Objekt, an das man sich anlehnte, dem man die Verantwortung übertrug, und ein inneres Objekt. Als solches repräsentierte und belebte er aufs neue die Allmachtsvorstellungen, die wir aus der frühen Kindheit über uns hegen; sein Tod und seine Entwertung durch Sieger bedeutete auch den Verlust eines narzißtischen Objekts und damit eine Ichoder Selbstverarmung und -entwertung.
1) Unter Triebrepräsentanz sind Affekte, ist die Abbildung von triebbestimmten Iibidinösen oder aggressiven Handlungen in der Phantasie zu verstehen. Wenn der Triebwunsch in seiner archaischen, der Selbstbefriedigung dienenden, vom Ich nicht modifizierten Form sich kundgibt, sprechen wir von Primärprozeß, im Gegensatz zum Sekundärprozeß, in welchem Triebbedürfnisse sich eine Sozialisierung, Kultivierung, Kritisierung durch das Ich und durch die sozialen Partner gefallen lassen mußten. Die Vereinigung der Vielen durch die Einsetzung des gleichen Ich-Ideals (wie das Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse, Ges. Werke XIII, gezeigt hat) verstärkt archaische Hoffnungen. Der Führer wurde als Ich-Ideal introjiziert, in das Selbst aufgenommen. Auf diese Weise gewinnt das Selbst (oder wie Freud hier noch formuliert hat: das Ich) an Wert: »Wenn das Ich Züge des Objektes annimmt (durch Identifizierung, Ref.), drängt es sich sozusagen selbst dem Es als Liebesobjekt auf, sucht ihm seinen Verlust zu ersetzen, indem es sagt: <Sieh, du kannst auch mich lieben, ich bin dem Objekt so ähnlich.>« (Das Ich und das Es. Ges. Werke XIII, 258.) Auf diese Weise erfolgt eine »Umsetzung von Objektlibido in narzißtische Libido«, (ib.)
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Die Vermeidung dieser Traumen muß als unmittelbarster Anlaß der Derealisation gesehen werden. Erst in zweiter Linie folgt die Abwehr der Trauer um die zahllosen Opfer der Hitlerschen Aggression — einer Aggression, die wir so willig, so widerstandsschwach in der Identifikation mit ihm teilten. Hat man sich die Rangordnung dieser psychischen Prozesse einmal klargemacht, dann werden die Gründe für die Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Deutschen und der übrigen Welt nach Kriegsende deutlicher. Die siegreichen Gegner hatten eine Aufwertung ihres Ich-Ideals erfahren, die Deutschen eine vernichtende Erniedrigung. Die Gegner konnten ohne Entwertungsgefühle die Realität anerkennen und um die Opfer dieses Krieges trauern; die Deutschen waren zunächst zentral in ihrem Selbstwert getroffen, und die Abwehr des Erlebnisses einer melancholischen Verarmung des Selbst war die drängendste Aufgabe für den psychischen Apparat.
Die moralische Pflicht, Opfer unserer ideologischen Zielsetzung mit zu betrauern — was der übrigen Welt eine Selbstverständlichkeit war —, konnte deswegen für uns vorerst nur ein oberflächliches seelisches Geschehen bleiben. Die Mechanismen, um die es hier geht, sind Notfallreaktionen, Vorgänge, die dem biologischen Schutz des Überlebens sehr nahe, wenn nicht dessen psychische Korrelate sind. Es ist also sinnlos, aus diesen Reaktionen sofort nach dem Zusammenbruch einen Vorwurf zu konstruieren. Problematisch ist erst die Tatsache, daß — infolge der Derealisation der Naziperiode — auch später keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch unsere Taten in Massen getötet wurden. Mit anderen Worten: Man hätte sich auf Präzedenzfälle in der Geschichte berufen können, wenn die Sieger Gleiches mit Gleichem vergolten und Millionen Deutscher ermordet hätten; es wäre andererseits aber irrtümlich, zu erwarten, eine derart in ihren Wahnzielen bloßgestellte, der grausamsten Verbrechen überführte Population könnte sich in diesem Schock um anderes kümmern als um sich selbst.
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Das Motiv für die Entwirklichung einer Zeit höchster Selbstaufwertung, die sich nun als mit größten Verbrechen unauflöslich verbunden erweist, ist demnach nicht nur Strafangst und Schuldabwehr, sondern auch die Abwehr des Eingeständnisses, daß man macht- und wertlos wurde und auf primitive Mechanismen der Befriedigung, nämlich auf die Lust aus dem Agieren infantiler Omnipotenzphantasien, verzichten muß. Wir gehen wahrscheinlich nicht in die Irre, wenn wir den immer wieder entstehenden Kult um eine unbefleckbare nationale Würde und Größe mit unserem Narzißmus, also mit einer sehr frühen, kindlichen Selbstverliebtheit, in Verbindung bringen.
1.3. Erfolgreiche Abwehr einer Melancholie der Massen
Wo Schuld entstanden ist, erwarten wir Reue und das Bedürfnis der Wiedergutmachung. Wo Verlust erlitten wurde, ist Trauer, wo das Ideal verletzt, das Gesicht verloren wurde, ist Scham die natürliche Konsequenz. Die Verleugnungsarbeit erstreckte sich gleichermaßen auf die Anlässe für Schuld, Trauer und Scham.
Einer der ökonomischen Vorteile dieses globalen Rückzuges aus der eigenen Vergangenheit war, daß man sich entsprechend in mehreren Richtungen ungebrochen der Gegenwart und ihren Aufgaben hinzugeben vermochte. Man hielt das für besser als »fruchtloses Wühlen in der Vergangenheit«. Wenn überhaupt Erinnerung, dann als Aufrechnung der eigenen gegen die Schuld der anderen. Manche Greuel seien unvermeidbar gewesen, weil die Greuel der Gegner das Gesetz des Handelns vorgeschrieben haben.
Schließlich löst sich eine besondere Schuld auf dem eigenen Konto vollends auf.
In der Pyramide der Verantwortung stellt sich das dann so dar, daß der »Führer« durch den politischen Druck von außen zu seinen Entscheidungen gezwungen war. Das löste eine Befehlskette aus, der sich niemand zu entziehen vermochte; allenthalben herrschte — so vernimmt man es in retrospektiver Selbstrechtfertigung — ein alles entschuldender Befehlsnotstand.
Bei diesen Versuchen, Schuld abzuschütteln, wird bemerkenswert wenig der Opfer gedacht — gleichgültig, ob es sich um die eigenen oder um die der Gegenseite handelt.
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Das läßt das Ausmaß des Energieeinsatzes erkennbar werden, der zur Verleugnung der in Wahrheit keineswegs so eindeutigen Zwangslage der Vergangenheit notwendig ist. Die Gefühle reichen nur noch zur Besetzung der eigenen Person, kaum zu Mitgefühlen irgendwelcher Art aus. Wenn irgendwo überhaupt ein bedauernswertes Objekt auftaucht, dann ist es meist niemand anderer als man selbst.
Bei der Analyse des seelischen Geschehens, das die Trauer ausmacht, finden wir den Schmerz um den Verlust eines Wesens, mit dem der Trauernde in einer tiefer gehenden mitmenschlichen Gefühlsbeziehung verbunden war. Mit dem betrauerten Objekt ging etwas verloren, was ein wertvoller Inhalt unserer erlebten Umwelt war. Es gibt jedoch eine krankhafte Steigerung der Trauer, die Melancholie. Freud war es, der den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie sehr klar gemacht hat. In der Trauer fühle ich mich verarmt, aber nicht in meinem Selbstwert erniedrigt. Diese letztere Erfahrung macht jedoch der Melancholiker. Ihm widerfährt »eine außerordentliche Herabsetzung seines Ich-Gefühls, eine großartige Ich-Verarmung«.1)
Der Verlust des »Führers« war für Millionen Deutsche nicht der Verlust irgendeiner Person (so spurlos der Untergang und so rapide die Abkehr von ihm erfolgte), sondern mit seiner Person verbanden sich Identifikationen, die im Leben der Anhänger zentrale Funktionen erfüllt hatten. Denn er war, wie wir ausführten, zur Verkörperung des eigenen Ich-Ideals geworden. Der Verlust eines derart hoch mit libidinöser Energie besetzten Objektes, an dem man noch nicht zweifelte, nicht zu zweifeln wagte, als die Heimat in Trümmer fiel, wäre in der Tat ein Anlaß zur Melancholie. Nicht nur verlor unser Ich-Ideal in der Katastrophe seinen realen Rückhalt, der »Führer« wird auch noch von den Siegern als herostratischer Verbrecher entlarvt. Mit diesem plötzlichen Umschlag seiner Qualitäten erfährt das Ich jedes einzelnen eine zentrale Entwertung und Verarmung. Zumindest die Voraussetzung zur melancholischen Reaktion ist geschaffen.
1) S. Freud Trauer und Melancholie. Ges. Werke X, 431.
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An dieser Stelle bietet sich die Gelegenheit zur Einführung unserer Arbeitshypothese.
Die Bundesrepublik ist nicht in Melancholie verfallen, das Kollektiv all derer, die einen »idealen Führer« verloren hatten, den Repräsentanten eines gemeinsam geteilten Ich-Ideals, konnte der eigenen Entwertung dadurch entgehen, daß es alle affektiven Brücken zur unmittelbar hinter ihnen liegenden Vergangenheit abbrach. Dieser Rückzug der affektiven Besetzungsenergie, des Interesses, soll nicht als ein Entschluß, ein beabsichtigter Akt verstanden werden, sondern als ein unbewußt verlaufendes Geschehen, das nur wenig vom bewußten Ich mitgesteuert wird. Wir haben uns das Verschwinden ehemals höchst erregender Vorgänge aus der Erinnerung als das Ergebnis eines gleichsam reflektorisch ausgelösten Selbstschutzmechanismus vorzustellen.1
Mit dieser Abwendung der inneren Anteilnahme für das eigene Verhalten im Dritten Reich wurde ein in ungezählten Fällen kaum zu bewältigender Verlust des Selbstwertes und damit der Ausbruch einer Melancholie vermieden. Die Auswirkung dieser außergewöhnlichen psychischen Anstrengung des Selbstschutzes, die keineswegs aufgehört hat, ist der heute herrschende psychische Immobilismus angesichts brennender Probleme unserer Gesellschaft. Wegen der Fortdauer dieser autistischen Haltung ist es einer großen Zahl, wenn nicht der Mehrheit der Bewohner unseres Staates nicht gelungen, sich in unserer demokratisches Gesellschaft mit mehr als ihrem Wirtschaftssystem zu identifizieren.
Um noch einmal den Unterschied zwischen Trauerreaktion und Melancholie anschaulich zu machen: Wenn heute kein lebendiges, spannungsreiches Leben unter unserer demokratischen Verfassung in der Bundesrepublik aufkommen will, weil uns immer wieder autoritäre Verwaltungsroutine und sterile Reaktionsweisen dazwischentreten und das höchstens mit passiven Ressentiments beantwortet wird, so ist Trauer die angemessene Reaktion; Trauer, weil eine erhoffte Entwicklung nicht eingetreten ist, obgleich viele Versuche gemacht wurden. Der Untergang des Dritten Reiches war demgegenüber ein katastrophales Ereignis, auf das selbst bei zunehmend empfundener Ambivalenz die große Mehrheit innerlich nicht vorbereitet war.
1) Schuldgefühle und Realangst waren 1945 zu groß, um diesen realitätsver-leugnenden Abwehrvorgang zu kontrollieren und durch schließliche Einsicht und Einfühlung zu korrigieren; aber die psychische Belastung dauerte an, weil diese Einsicht auch später nicht erstrebt wurde.
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Sie war auf Grund ihrer Allmachtsphantasien und Projektionen keiner realitätsgerechten Vorschau in die Zukunft fähig. Die Konfrontation mit der Einsicht, daß die gewaltigen Kriegsanstrengungen wie die ungeheuerlichen Verbrechen einer wahnhaften Inflation des Selbstgefühls, einem ins Groteske gesteigerten Narzißmus gedient hatten, hätte zur völligen Deflation des Selbstwertes führen, Melancholie auslösen müssen, wenn diese Gefahr nicht durch Verleugnungsarbeit schon in statu nascendi abgefangen worden wäre.1) Es kommt jedoch noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Trauer und Melancholie hinzu.2)
Trauer entsteht, wo das verlorene Objekt um seiner selbst willen geliebt wurde, oder anders ausgedrückt: Trauer kann nur dort entstehen, wo ein Individuum der Einfühlung in ein anderes Individuum fähig gewesen ist. Dieses andere Wesen bereicherte mich durch sein Anderssein, wie etwa Mann und Frau sich durch ihre Verschiedenheit erlebend bereichern können. Der Verlust, welcher Melancholie auslöst, verrät, wie Otto Rank gesehen hat, eine narzißtische Objektwahl. Das entschwundene Objekt hatte ich dann nach meinem Ebenbild und nach seiner Bereitschaft, sich in meine Phantasie einzufügen, gewählt. Das traf auch auf den »Führer« durchaus zu; er erfüllte das Größenideal des lange absolutistisch verkrüppelten Untertanen und projizierte umgekehrt seine Größenideen auf die »Rasse«, welche das deutsche Volk auszeichnen sollte. Deshalb konnte Adolf Hitler auch den Gedanken denken, nicht er selbst sei für seine Katastrophe verantwortlich, sondern dieses deutsche Volk habe sich seiner nicht würdig erwiesen; es hatte seine narzißtischen Hoffnungen nicht erfüllt — sowenig es ihm gelungen war, die Sterne der Allmachtsphantasien des in passiver Erwartung an ihm hängenden Durchschnittsbürgers schlußendlich vom Himmel zu holen.
1) Wir sprechen korrekterweise von Verleugnung und nicht Verdrängung. Verleugnung ist ein Abwehrmechanismus, der sich auf störende Wahrnehmung der äußeren Realität bezieht. Störend heißt, daß die Wahrnehmung Unlust erweckt. Verdrängung gilt der Unlust bereitenden Wahrnehmung eigener Triebregungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird ungenau Verdrängung für alle Entlastungsversuche von störenden Erfahrungen benutzt.
2) Zur Beschreibung dessen schien es uns unumgänglich, auch individuelles Verhalten als Anschauungsmaterial zu benutzen, obgleich wir uns darüber im klaren sind, daß kollektive Reaktionsweisen sich nur mittelbar mit individuellen vergleichen lassen.
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Der kollektiven Verleugnung der Vergangenheit1) ist es zuzuschreiben, daß wenig Anzeichen von Melancholie oder auch von Trauer in der großen Masse der Bevölkerung zu bemerken waren. Einzig die Verbissenheit, mit der sofort mit der Beseitigung der Ruinen begonnen wurde und die zu einfach als Zeichen deutscher Tüchtigkeit ausgelegt wird, zeigt einen manischen Einschlag. Vielleicht ist es auch von dieser manischen Abwehr her zu verstehen, mit wie wenig Anzeichen äußerer Gemütsbewegung die Nachrichten von den größten Verbrechen in unserer Geschichte hingenommen wurden.
Genau betrachtet sind es also drei Reaktionsformen, mit denen die Einsicht in die überwältigende Schuldlast ferngehalten wird. Zunächst ist es eine auffallende Gefühlsstarre, mit der auf die Leichenberge in den Konzentrationslagern, das Verschwinden der deutschen Heere in Gefangenschaft, die Nachrichten über den millionenfachen Mord an Juden, Polen, Russen, über den Mord an den politischen Gegnern aus den eigenen Reihen geantwortet wurde. Die Starre zeigt die emotionelle Abwendung an; die Vergangenheit wird im Sinne eines Rückzugs alles lust- oder unlustvollen Beteiligtseins an ihr entwirklicht, sie versinkt traumartig. Diese quasi-stoische Haltung, dieser schlagartig einsetzende Mechanismus der Derealisierung des soeben noch wirklich gewesenen Dritten Reiches, ermöglicht es dann auch im zweiten Schritt, sich ohne Anzeichen gekränkten Stolzes leicht mit den Siegern zu identifizieren. Solcher Identitätswechsel hilft mit, die Gefühle des Betroffenseins abzuwenden, und bereitet auch die dritte Phase, das manische Ungeschehenmachen, die gewaltigen kollektiven Anstrengungen des Wiederaufbaus, vor.
1) Die Realitätsverleugnung setzte schon im Dritten Reich ein, etwa angesichts des Abtransportes der Juden, der Arbeit der Sonderkommandos, der Motive der Partisanentätigkeit. Trotz aller ideologischer Beeinflussung hat eine Wahrnehmung der Schuld stattgefunden. Die Abwehr hatte hier sowohl der Strafangst des Gewissens wie auch der Angst vor der Strafgewalt des Führers Herr zu werden.
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Der Rückzug alles libidinösen Interesses, der vielfältigen Identifikationen von dem, was die Wirklichkeit des Dritten Reiches ausgemacht hat, sei es in Taten, sei es in Worten und Phantasien, gelingt scheinbar mühelos. Die Schnelligkeit des Vorgangs verdeckt leicht, daß es sich trotzdem um ein gewaltsames Losreißen von der eigenen Identität, von den gepflegten und gehegten Größenideen handelt, das hier stattfindet. Zwar ist der ökonomische Gewinn für den seelischen Haushalt durch dieses Aufgeben libidinöser Besetzungen groß, aber auch der ökonomische Aufwand, der in diesem Rückzug von den narzißtisch gepflegten Wertvorstellungen steckt, ist nicht unbedeutend. Man sieht sich nachdrücklich gezwungen, sich in Meinungen, Einstellungen, Idealbildung, Geschmacksurteilen zurückzuhalten, in denen man bisher »völkisch«-kollektiv gesichert war.
Wer nicht in der Beobachtung weiter wirkender seelischer Motivationsketten geübt ist, könnte der Meinung sein, die damals so erfolgreich abgewehrte Trauerreaktion (oder Melancholie), die sich auch auf den ganzen Umkreis der »völkischen« Ideale erstreckte, habe keine Spuren hinterlassen, sondern sie habe das Geschehen beendet. Die Opfer seien nun gebracht und vergessen, und neue Aufgaben würden jetzt die Menschen beanspruchen. Wäre dem so, dann hätte man es mit einem »abgeschlossenen Kapitel« der Geschichte zu tun.
Dieser Schein trügt, sonst hätte inzwischen nicht der Begriff der »Sühnedeutschen« erfunden werden können für jene nicht große Gruppe, die sich nicht der Illusion überläßt, Schuld sei historisch durch Verleugnung zu beseitigen.
Die Hoffnung, die Nachkriegszeit sei abgeschlossen, was wiederholt von führenden deutschen Politikern geäußert wurde, muß sich deshalb als Irrtum erweisen, weil nicht wir allein bestimmen, wann es genug ist, Folgerungen aus einer Vergangenheit zu ziehen, die Leben und Glück einer so großen Zahl von Menschen vernichtet hat.
Die Anhänger der Krankheitstheorie der Diktatur sind da rasch mit einem Abschied von dem, was hinter uns liegt, bei der Hand. Es besteht jedoch eine Weltöffentlichkeit, die keineswegs das, was im Dritten Reich sich zugetragen hat, vergessen hat noch zu vergessen bereit ist. Wir hatten Gelegenheit, zu beobachten, wie es nur der Druck der Meinung außerhalb Deutschlands war, der uns zwang, Rechtsverfahren gegen Nazitäter durchzuführen, die Verjährungsfrist zu verlängern oder den Hergang von Massenverbrechen zu rekonstruieren.
Wegen dieser Differenz zwischen unserer eigenen eingeschränkten Erinnerungsfähigkeit und der keineswegs behinderten unserer ehemaligen Kriegsgegner und Opfer sind wir gezwungen, unsere psychischen Abwehrpositionen unter fortwährendem Energieaufwand aufrechtzuerhalten.
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In diesen Zusammenhang gehören auch Akzentverschiebungen in der Aufmerksamkeit. So wird etwa am Jahrestag schwerer Bombardements auf deutsche Städte »zur Erinnerung an die Toten« unsere Flagge auf öffentlichen Gebäuden halbmast gehißt. Dieses Gedenken kann dazu beitragen, ein neues Geschichtsbewußtsein zu festigen, und damit könnte sich jährlich die Frage wiederholen, unter welcher Devise diese Opfer gebracht werden mußten. Aber es bleibt doch eine sehr einseitige Erinnerung, denn bisher ist es nicht dazu gekommen, einen dem Bombardement auf Dresden oder Frankfurt vergleichbaren Gedenktag für die Opfer der Konzentrationslager, für die holländischen, polnischen oder russischen Opfer der Gestapo und Sonderkommandos festzulegen und zu begehen.
Dieser Ausfall an Mitgefühl ist psychologisch doppelt begründet: Die Ideologie der Nazis ist zwar nach 1945 pauschal außer Kurs geraten, was aber nicht bedeutet, daß man eine sichere innere Distanz zu ihr gefunden hätte. Dazu wäre eine kritische Auseinandersetzung, zum Beispiel eine Untersuchung auf die Wahnhaftigkeit mancher Teile dieser »Weltanschauung«, notwendig gewesen; aber sie kam nicht zustande. So haben sich, sozusagen naiv, weil unreflektiert, Teilstücke dieses Weltbildes völlig unbehelligt erhalten. Das folgenreichste dürfte der emotionelle Antikommunismus sein. Er ist die offizielle staatsbürgerliche Haltung, und in ihm haben sich ideologische Elemente des Nazismus mit denen des kapitalistischen Westens amalgamiert.
So ist eine differenzierte Realitätsprüfung für alles, was mit dem Begriff »kommunistisch« bezeichnet werden kann, ausgeblieben. Das unter Adolf Hitler eingeübte Dressat, den eigenen aggressiven Triebüberschuß auf das propagandistisch ausgenutzte Stereotyp »Kommunismus« zu projizieren, bleibt weiter gültig; es stellt eine Konditionierung dar, die bis heute nicht ausgelöscht wurde, da sie in der weltpolitischen Entwicklung eine Unterstützung fand. Für unsere psychische Ökonomie waren der jüdische und der bolschewistische Untermensch nahe Verwandte.
Mindestens, was den Bolschewisten betrifft, ist das Bild, das von ihm im Dritten Reich entworfen wurde, in den folgenden beiden Jahrzehnten kaum korrigiert worden. Die Einstellung zu den Juden hat eine gewisse Veränderung erfahren. Zunächst hat man ihnen gegenüber den Krieg nicht verloren, sondern in der »Endlösung« nahezu das Ziel der Auslöschung einer Minorität erreicht. Die Gewissensseite wurde später immerhin so weit mobilisiert, daß eine Distanzierung von diesem Orgiasmus der Destruktion erfolgte.
Korrigierend wirkte ferner die Tatsache, daß es im Nachkriegsdeutschland kaum noch jüdische Mitbürger gab. Das erschwerte den Fortbestand der Wahnprojektion auf sie (zum Beispiel ihre verschwörerischen Absichten); und schließlich hat die Gründung Israels eine neue Anschauungsform jüdischen Daseins geschaffen, das sich weitgehend von der jüdischen Assimilation in den Industrie- und Nationalstaaten des Westens unterscheidet.
Ein weiterer Grund für die mangelnde Einfühlung in das Schicksal der Opfer der Naziverbrechen ist die erwähnte Derealisierung dieses ganzen Zeitabschnittes. Das geht so weit, daß nicht einmal ernstliche Anstrengungen unternommen wurden, die Motive deutscher Emigranten zu verstehen. Und obgleich sie ein ehrendes Gedenken finden, bleiben auch die Toten der Schlachtfelder und unserer gegen Ende des Krieges in Schutt und Asche versinkenden Städte hinter diesem Schleier des Unwirklichen.
Es gehört zur Natur der Trauer, daß sie im Laufe der Zeit erlischt und daß wir in ihr lernen, den erlittenen Verlust zu ertragen, ohne ihn zu vergessen. Für Kriegstote, so hat man den Eindruck, wird die Erinnerung bei uns oft weit weniger aus Pietät denn aus der Absicht, Schuld aufzurechnen, wachgehalten. So beobachten wir auch lebhaftere Gefühle für die vermeidbare Zerstörung deutscher Städte durch Achtlosigkeit und Destruktionslust der Alliierten als für die gleichen Taten unserer Seite, etwa für die zügellose Drohung, die Städte unserer Feinde »auszuradieren«.
Ungleiches Maß in der Beurteilung von Schuld anzulegen ist gewiß kein spezifisch deutsches Vergehen; es ist vielmehr eine der konstanten menschlichen Verhaltensweisen, die wir hier im Zusammenhang der Analyse von Spätfolgen kollektiver Verleugnung erwähnen.
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