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II. Variationen des Themas  

 

 

   1.  Psychoanalytische Anmerkungen über die Kultureignung des Menschen   

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Radioaktive Staubwolken, von Menschen hervorgerufen, überqueren die Kontinente; Kriege und Bürgerkriege flammen über die Erde verstreut auf und schwelen fort; Millionen Menschen leben in Hunger und ohne Recht; in Folterkammern werden aus einer nie versagenden Phantasie neue Techniken des Quälens und Erniedrigens bereitgehalten. Das alles sind Demonstrationen von Herrschaftsformen, die menschliche Kultur repräsentieren, und zugleich ihre Folgen. Um die »richtige« Form menschlichen Zusammenlebens ist ein Machtkampf universalen Ausmaßes entbrannt. Er bedroht die Menschheit selbst mit Vernichtung.

Wenn man diese Aspekte von »Kultur« in die Bilanz einbezieht, sind wir zu der Frage berechtigt: Ist der Mensch zur Kultur geeignet?

Der Hinweis darauf, daß Grausamkeit und Interessenblindheit immer schon die Geschichte begleitet haben und die Monumente und Köstlichkeiten menschlicher Kulturleistungen nicht zu verdunkeln vermochten, wirkt wenig überzeugend. Er trifft nicht die Aktualität, aus der heraus die Frage gestellt wird und auf die hin eine Antwort erhofft wird.

Das nicht weniger zutreffende Argument ist auch zu bedenken: Menschen haben nicht nur »Gegenden« der Erde (im Sinne Alexander von Humboldts) besiedelt und sie zu »Landschaften« gestaltet; sie haben auch Landschaften verwüstet und sie als trostlose Gegenden hinterlassen. Die technische Fähigkeit, zu zerstören, hat sich, vereint mit der Bereitschaft, ihr zu folgen, in den letzten Jahrzehnten gewiß nicht verringert. Sie hat im Gegenteil Werkzeuge zur Verfügung, deren Zerstörungskraft die maßlosesten Phantasien zu befriedigen vermöchte.

Die Verführung liegt nahe, das Wort »Kultur« selbstidealisierend zu verwenden, für das, was einem »lieb und teuer« ist. Dann wird willkürlich Kultur von Unkultur getrennt, und zwar in einer Weise, als ob beide nichts miteinander zu tun hätten. So etwa verfahren die Kulturauffassungen verschiedenster ideologischer Herkunft. Demgegenüber sieht die psychoanalytische Anthropologie die Kulturleistung — also die Fähigkeit konstruktiven Verhaltens — im Funktionsganzen der Person. 

Der Mensch ist imstande, rücksichtslos, einsichtslos, gewissenlos das zu zerstören, was er mit Rücksicht, Einsicht und Verantwortung errichtet hat. Beide Fähigkeiten stehen miteinander in dynamischem Bezug; beide entnehmen die Kraft, über die sie verfügen, der Triebgrundlage. Konstruktives Verhalten setzt höhere psychische Integrationen voraus. Desintegrierendes, rücksichtentbundenes Verhalten hat nicht nur in der Außenwelt zerstörerische Folgen, es beruht auf einer Verschiebung der Herrschaftsverhältnisse im psychischen Geschehen, und zwar zugunsten einfacher strukturierter, primitiverer Motivationen. Um aber das Bild noch weiter zu komplizieren: Auch destruktive Verhaltensweisen können sich in den denkbar kompliziertesten Organisationsvorgängen verwirklichen. 

Das Beispiel der Vorbereitung von kriegerischen Unternehmungen und Kriegführung macht das deutlich. Kriegsziel ist in jedem Fall die Desintegration des Gegners, wo nötig, seine physische Vernichtung. Seine gegenwärtige Machtstruktur soll aufgelöst werden. Kriegsziele präsentieren sich selten in dieser nackten Weise, meist erscheinen sie in »Pläne« eingebaut, die aus den Eigenwerten konstruiert werden: Der Gegner soll »befreit«, »bekehrt« werden, und selbst wo die Absicht der puren Ausrottung vorherrscht, weiß sie sich der edelsten Absicht sicher, die Menschheit von einer unerträglichen Bürde zu befreien. Wie geartet auch immer die Ideologie der kriegerischen Unternehmungen sein mag, sicher ist die Bereitschaft, zu töten und zu zerstören. In ihrem Dienst stehen die ingeniösesten Köpfe, welche die Waffen konstruieren, Aufmärsche vorausberechnen, Vorräte anlegen und all die zahllosen intelligenten Überlegungen anstellen, die ein Massenunternehmen erst erfolgreich und »rentabel« machen können.

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Die Umwege, auf denen destruktive Phantasien das Verhalten des Menschen zu lenken vermögen, können weit sein. Konstruktive Intelligenz, interessierte Hingabe an einen Arbeitsbereich (also libidinöse Befriedigungen) ordnen sich auf langer Strecke der destruktiven Endabsicht unter. In vielfältigen aufbauenden Leistungen wird das Ziel, dem sie dienen, vergessen — nämlich ungesättigten aggr ;siven Triebbedürfnissen, die sich in Zerstörungs- und Omnipotenzphantasien repräsentieren, langsam den Weg zur befriedigenden Entspannung zu bahnen. Diese Umwege, auf denen sich die kulturzerstörenden Neigungen immer wieder durchzusetzen vermögen, müssen uns erschrecken. Die Unbeirrbarkeit, mit der das Triebziel festgehalten wird, während mit Naivität intermediäre libidinöse Befriedigungen genossen werden (etwa Beförderungen, Orden, Freude an der militärischen Ordnung etc.) — die Genüsse der Friedenszeit sozusagen —, zeugt von einer hohen Zielstrebigkeit; das Ziel ist die aggressive Entladung. Während dieser oft langen Vorbereitungszeit wird die Zerstörungsleidenschaft immer wieder totgesagt. Ihre periodische Wiederkehr ist es, die eine anthropologische Fragestellung nach der Kultureignung des Menschen notwendig macht.

Wenn unter Kultureignung letztlich Triebbeherrschung durch Einsicht verstanden wird, so ist gewiß, daß es sich dabei um eine potentielle Fähigkeit, nicht um eine im Konstitutionsplan des Menschen ungestört ausreifende »Anlage« handelt. Jede Sozialisierung des Menschen ist ein Stück der Entwicklung seiner Fähigkeit, sich zu kultivieren. Dabei kann die Anpassung an außerordentlich verschiedene Kulturforderungen erfolgen. Zugleich bleibt der Anpassungsvorgang durch die ganze Geschichte der Menschheit von Triebkräften bedroht, die nie die Vorherrschaft des einsichtigen Ichs anerkannt und damit nie sich den Wertmaßstäben der sozialen Ordnung unterworfen haben.

Das Bestürzende, aber auch Ergreifende dieses Widerstreits sahen wir darin, daß es den kulturindifferenten Tendenzen der menschlichen Natur bei ihrer Zerstörungsarbeit regelhaft gelingt, sich die rationalen Kräfte des Ichs dienstbar zu machen; im Bewußtsein der Zerstörer wird für eine gute Sache vernichtet: für den besseren Glauben, für die rassisch überlegene, von Gott auserwählte Nation etc. 

Die Amphiktyonien, jene kultisch-politischen Verbände, die im frühen Griechenland sich eidlich verpflichteten, das Heiligtum zu schützen und ritterlich zu kämpfen, symbolisieren einen bis heute unvollendet gebliebenen Versuch, die kulturfähigen Seiten des Menschen gegen seine kulturheuchlerischen und zerstörerischen in eine Vormachtstellung sicherer Art zu bringen. 

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Gegenwärtig befinden wir uns wieder im Kraftfeld einer Streitlage, in der alle Seiten für sich das höchste Maß von Kultureignung beanspruchen. Jede Partei sucht unsere Affekte für sich zu gewinnen; wir sollen uns leidenschaftlich beteiligen. Die kühle Überlegung wird uns bitter schwer gemacht. Verläßliche Information, die Voraussetzung jedes begründeten Urteils, ist nur unter großen Mühen erreichbar. Vorurteile unterwandern uns vielleicht in einer gefährlicheren Weise, als es Spione des Feindes könnten.

Diese Skylla und Charybdis von weitgehender objektiver Unwissenheit über die vielfältigen Bedingungen, die unsere geschichtliche Lage hervorbringen, und die ebensogroße Ungewißheit über uns selbst, über die Kräfte, die unser eigenes Verhalten bestimmen, lassen Ratlosigkeit aufkommen. Nur fortgesetztes Nachdenken kann uns weiterhelfen. Das schafft uns zwar keinen archimedischen Punkt, der hoch genug läge, um einen unbehinderten Überblick zu gewähren; im Nachdenken erreichen wir aber doch wenigstens Augenblicke jener kritischen Distanz, die uns wahrzunehmen erlaubt, ohne daß unsere Gefühle vorschnell die Deutungen aufnötigen.

Die beiden Alternativantworten des Kulturoptimismus und des Kulturpessimismus dienen uns als Warnung; beide Auslegungen sind zu gefühlsbefrachtet, um mehr als die Stimmung derer, die ihnen anhängen, wiederzugeben. Zudem kündigen Idealisierung und Verketzerung mit Sicherheit an, daß in der denkenden Vergewisserung der Welt, in der Einsicht in einen erregenden Gegenstand Lücken bestehen.

Der Begriff der »Kultureignung« klingt trocken und erweckt die Assoziation der »verwalteten Welt«.

Bezeichnenderweise findet er sich zum ersten Mal 1915 in einer Arbeit Sigmund Freuds, die Zeitgemäßes über Krieg und Tod betitelt ist. Inmitten höchster Gefühlserregung, die späteren Betrachtern nebeneinander die Züge eines zur Karikatur verzerrten nationalen Pathos und der verschwenderischen Opferbereitschaft zeigt, mitten in dieser Gefühlsverwirrung hat Freud (dessen eigene Söhne damals im Militärdienst standen) versucht, sich loszureißen von solchem überwältigenden Gefühlsstrom und über die Bedeutung des Krieges und die Veränderung des seelischen Verhaltens der Menschen in ihm nachzudenken. 

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Die Eignung des Menschen für die von ihm geschaffene Kultur, an die man mit unreflektiertem Optimismus geglaubt hatte, war damals mit einem Schlag in Frage gestellt. Die ersten Sätze der Arbeit Freuds geben eine Beschreibung der Weltlage, die in den folgenden bald 50 Jahren nichts von ihren unheilträchtigen Spannungen verloren hat; aber das Potential der Machtmittel ist inzwischen sprunghaft gestiegen.

»Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben und zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden. Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären, der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelenstörung verkünden. Aber wahrscheinlich empfinden wir das Böse in dieser Zeit unmäßig stark und haben kein Recht, es mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht erlebt haben.«1

Wenn wir uns also weder einem Erlösungsglauben hingeben noch uns einem fatalistischen Kulturpessimismus überantworten wollen, müssen wir zu verstehen versuchen, wodurch es Menschen gelingen kann, sich selbst in gefährlichen, überwältigenden Lagen »kultiviert« zu erhalten. Ältere Zeiten würden in Erinnerung an einen Prototyp der Gesellschaft von »ritterlich« gesprochen haben, uns liegt es näher, von »aufgeklärt« im Sinne der großen humanistischen Tradition des Abendlandes zu sprechen. Welche Gegenkräfte in uns selbst und in unserer Umwelt haben wir zu überwinden, um »kultiviert« zu bleiben, wo die Situation verführt, auf nachdenkende Rechenschaft zu verzichten, weil alles klar und selbstverständlich scheint?

1)  S. Freud Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Ges. Werke X, 324.

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Offenbar geraten wir in Zeiten hoher kollektiver Affektspannung nicht in Konflikt mit der Sach- oder Werkzeugintelligenz. Es ist gleichsam zu einer banalen Selbstverständlichkeit unseres Lebens geworden, daß fortgesetzt neue, oft umwälzende Erfindungen gemacht und technische Glanzleistungen vollbracht werden. Täglich belehrt uns die eigene Beobachtung und ein Strom von Nachrichten über das unaufhörliche Wachstum der technischen Zivilisation. Sie überzieht in einem immer lückenloseren Geflecht die Erde. Forschung bannt Not und Unwissenheit und erlöst Völker und Kontinente von Plagen, die als unabänderlich galten. Unsere Naturerkenntnis und die Technik ihrer Nutzung für die Zwecke der Kultur machen es absehbar, daß allen Menschen die Fristung ihres Lebens ohne harte Entbehrungen möglich sein wird. Wenn wir die Leistungen der Werkzeugintelligenz im Auge haben, können wir mit berechtigtem Stolz sagen, hier erweise sich die Menschheit in hervorragender Weise als Meister. 

Diese Ausbreitung der technischen Zivilisation und der mit ihr verbundenen Lebenseinstellung hat zugleich an lang tradierte Vorurteile gerührt, die aus dem Hochmut der Kulturen mit hoher Werkzeug­beherrschung den sogenannten primitiven oder barbarischen Völkern gegenüber herrühren. Es erregt Staunen, wie schnell Völker aus urtümlichen Lebensverhältnissen heraus mitten in die komplizierte Technologie unserer Zivilisation hineinzuspringen vermögen. Die großen Beispiele Japans oder der Völkerschaften Rußlands zeigen, daß nur wenige Generationen, unter Umständen nur Jahrzehnte genügen, um in dieser Hinsicht eine volle Anpassung herbeizuführen, und daß diese Völker alsbald anfangen, produktiv eigenständige Beiträge zu dieser logisch-naturforschenden Zivilisation zu leisten.

Wir beobachten demnach ein Geschehen wechselseitiger Verknüpfung. Nicht nur wächst die forschende und technologische Zivilisation, es wächst mit ihr die Nutzung des Gesamtpotentials der menschheitlichen Intelligenz. Der stetige Fortschritt im Ausbau der Forschungseinrichtungen und der Produktionsstätten ist ohne den ebenso stetig wachsenden Zustrom geschulter Kräfte nicht möglich.

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Dabei zeigt sich, daß die gesamte Menschheit schulbar und lernfähig ist. Man hat gesagt, die Gesellschaft unserer Zeit könne sich die Dummheit nicht mehr leisten, wobei mit Dummheit nicht eine Anlage, sondern die gesellschaftlich ungenützten Lernfähigkeiten des Menschen gemeint sind. Die Breitenprogression des zivilisatorischen Apparates macht die Förderung und Schulung aller verfügbaren Intelligenzen notwendig. Hier sind noch viele Spannungen in unserer Gesellschaft fühlbar. Der Übergang von der ständischen Gesellschaft und Klassengesellschaft, in welcher Bildung ein Standes- oder Klassenprivileg war, zu einer Technokratie, in der Fachbildung möglichst vieler die Voraussetzung der Lebensfähigkeit des Systems ist, dieser Übergang vollzieht sich nach dem Trägheitsgesetz gesellschaftlicher Einrichtungen nur langsam, jedenfalls langsamer, als die weltpolitische Situation sich verändert.

Gewiß nicht wegen dieser noch ungelösten Fragen sehen wir die Kultureignung des Menschen als ungewiß an, sondern deshalb, weil die Schulung der Sachintelligenz die triebhafte, insbesondere die aggressive Reizbarkeit der Menschen nicht zu mildern vermochte. Ihre permanente Aggressionsbereitschaft gegen ihresgleichen bleibt unberührt vom Stand der Technik. Von dieser andauernden, oft konvulsiv gesteigerten Aggressionsneigung überzeugen wir uns ebenso unwiderleglich wie vom Wachstum der technischen Zivilisation. Es wäre gewiß ein Vorurteil, zu glauben, daß sich die Neigung zur Grausamkeit und Roheit (denen der demokratische Rechtsstaat seine normativen Schranken entgegenzusetzen sucht) in der Welt seit dem Mittelalter, das uns mit seinen Folterkammern und Hexenprozessen als besonders versessen auf Grausamkeit erscheint, wesentlich verringert hätte. 

Die Kultureignung des Menschen setzt demnach zwar Lernfähigkeit voraus, mit dem Nachweis der Werkzeugintelligenz allein läßt sich der Anspruch jedoch nicht begründen. Jede soziale Kultivierung kann nur gelingen, wenn ein zweiter Lernvorgang ebenfalls Erfolge bringt, nämlich die Einübung des Affektausdrucks in die spezifischen Regeln der Gruppe. Dieser Prozeß scheint die schwierigere Problematik zu enthalten. Zwei Eigentümlichkeiten der menschlichen Triebkonstitution machen dies verständlich: einmal die Tatsache der weitgehenden Entbindung von angeborenen arteigentümlichen Verhaltensweisen, zum anderen und damit verknüpft der permanente Triebüberschuß.

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Verweilen wir einen Augenblick bei diesen beiden Aspekten der menschlichen Triebkonstitution. 

Dem Triebverlangen des Menschen steht zu seiner Äußerung nicht ein angeborenes System arteigentümlicher Verhaltensschemata zu Gebot, die durch besondere Signale, gestalthaft erfahrene Merkmale der Außenwelt — die spezifische Umwelt Jakob von Uexkülls —, in Gang kämen. In Anlehnung an unsere eigene Welterfahrung können wir sagen, daß das tierische Verhalten seinen Art- und Gruppengenossen wie auch Feind oder Beute gegenüber vollkommen »ritualisiert« sei. Das Paarungs- und Aufzuchtverhalten (oft die einzige Sozialberührung sonst einzelgängerisch lebender Tiere), das von der Rangordnung bestimmte Gruppenverhalten, die Abwehroder Fluchtformen gegenüber Feinden, die Bemächtigungsweise dem Beutetier gegenüber, all das wird bis ins einzelne von angeborenen Reaktionsweisen beherrscht. Alle Triebäußerungen können nur nach diesem Schema erfolgen. Der Wolf, dem in einem Rangkampf der unterliegende Artgenosse die Halsschlagader darbietet — jene Stelle, an welcher der Wolf im Beutekampf tödlich zubeißt —, erlebt in diesem Augenblick eine Tötungshemmung; bei ihr entflieht der Angegriffene, aber das Rangverhältnis ist damit hergestellt.

Im menschlichen Verhalten sind durchaus Spuren solchen angeborenen Sozialrituals zu beobachten, etwa die Schutzreaktionen, die das Kleinkind auslöst (das Kindchen-Schema von K. Lorenz), oder ähnliches Verhalten dem Verletzten und Gebrechlichen gegenüber (wie wir es ähnlich auch bei den in Rudeln lebenden Huftieren oder Delphinen kennen). Aber diese aus der Anlage wirkenden Impulse können unser Verhalten nicht mit der gleichen Sicherheit zwingen, mit der dies im Tierleben der Fall ist. An die Stelle der angeborenen, vererbten Triebrituale sind die sozialen Regeln, Gewohnheiten, Gesetze, Tabus getreten. Im Vergleich mit den erbbeständigen Verhaltensweisen sind sie ungewöhnlich ungesichert und unbeständig. Wir sind keine Sozialautomaten wie die Tiere. 

Die gesetzten Ordnungsformen des menschlichen Soziallebens, die von sich aus immer den Anspruch zeitloser Dauerhaftigkeit erheben, haben selbst dort, wo sie lange Ge-

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schichtsperioden hindurch gültig geblieben sind, gemessen an den Zeiträumen, in denen die angeborenen Verhaltensschemata das Leben einer biologischen Art bestimmen, nur eine winzige Lebensdauer besessen. 

Die Kraniche sind längst vor Ibykus, ihrem Wandertriebe folgend, über die griechische Halbinsel geflogen, und sie tun es heute noch; Städte und Staaten sind inzwischen versunken, neues, aber eben anders geordnetes soziales Leben ist aus den Ruinen erblüht.

Die Kultureignung des Menschen erscheint bei einem solchen Vergleich in einem ungünstigen Licht. Es wird auch nicht heller durch den Hinweis auf die dauerhaften Leistungen des Menschen, auf seine Werkzeugerfindungen und die geistigen und künstlerischen Schöpfungen. Zwar sind es Leistungen, die von einzelnen inmitten der Gesellschaft und für sie geschaffen werden, aber wiederum kann man zwei Konsequenzen unterscheiden: Sachbezogene Entdeckungen haben ein durch die Jahrtausende wachsendes Wissen der Menschheit gemehrt und ihr geholfen, ihre Lebensfristung zu erleichtern. 

Andererseits: 

Einsichten, die sich auf die menschliche Triebnatur selbst bezogen, die Selbsterkenntnis, die großen Erleuchtungen über die menschliche Existenz, die erhabensten Gesetzessammlungen sind immer wieder tiefer vom Staub der Geschichte verschüttet worden als die tiefsten Schichten, auf die der archäologische Spaten stößt. Eine dauerhafte Bändigung der Triebnatur des Menschen ist ihnen nicht gelungen. Die Triebnatur war stärker. Wer ihre Macht für seine Ziele einzuspannen verstand, konnte die Gesellschaft beherrschen und Recht brechen, die Gesetze übertreten, die eben diesem präsozialen Triebhunger entgegengesetzt wurden. Das Wort homo homini lupus ist also eigentlich nicht zutreffend. Die Tötungshemmung, die beim Wolf die Schonung seines Artgenossen erzwingt, kann beim Menschen leicht außer Kraft gesetzt werden.

Da alle menschlichen Kulturen also nicht auf einer angeborenen Triebregulation ihrer Mitglieder, sondern auf einem zu erlernenden Triebverzicht des einzelnen zugunsten des Lebens in der Gesellschaft aufbauen müssen, haben sie in jedem einzelnen ihren hartnäckigsten Gegner.

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Dies bringt uns zum zweiten konstitutionellen Aspekt unserer Triebnatur, den man mit dem Begriff »Triebüberschuß« andeuten kann. Er hängt mit dem ersten, der Entbindung von arteigentümlichem Verhalten, unmittelbar zusammen. Es ist nicht einfach, diesen Sachverhalt in Kürze zu charakterisieren. Für das tierische Verhalten gilt die beschriebene feste Bindung von Triebverlangen und Triebobjekt; nur Objekte mit ganz festliegenden Merkmalen können wie ein Schlüssel den Mechanismus einer Triebhandlung im sozialen Bereich in Gang setzen. Biologische Grundbedürfnisse, denen die Triebhandlung dient, werden in einem System wechselseitiger Verhaltenszuordnung, fester Rollenverzahnungen, befriedigt. Außerhalb dieser stereotypen Äußerungsformen gibt es keine Triebunruhe. Die relative Unspezialisiertheit des Menschen in dieser Hinsicht hat eine neue Lage geschaffen (man denke an die vielen Formen der Kinderaufzucht). Unspezialisiertheit meint, daß wir zwar einerseits sehr definitive Triebbedürfnisse haben; als Triebobjekte (also das, worauf der Trieb sich richtet) dienen aber nicht erblich festgelegte, sondern kulturell zugewiesene, tradierte Objekte der Außenwelt. Die jeweilige Kultur setzt und formt diese Objekte und zwingt dabei ihre einzelnen Glieder zu mehr oder minder schweren, langdauernden, oft endgültigen Entsagungen.1)

Man muß arbeiten, leisten, seinem gesellschaftlichen Rang entsprechend sich bescheiden lernen, um schließlich in soziale Positionen zu gelangen, in denen dosiert Trieberfüllung gestattet ist. Das ist ein zäher Kampf; doch am Anfang unseres Lebens werden unsere Triebwünsche relativ schnell erfüllt, ohne daß Gegenleistungen unsererseits erwartet würden. Die Eingewöhnung in das Milieu der Kultur fällt uns um so schwerer, je schroffer ihre Forderungen gestellt werden, je liebloser die Ansprüche sind, denen wir zu gehorchen haben. In dieser permanenten Gegensätzlichkeit zwischen biologischem Triebverlangen und gesellschaftlichem Triebverbot oder wenigstens Anspruch auf Trieblenkung und »Triebveredlung« entsteht eine Eingewöhnung in die mitmenschliche Welt, die anfänglich affektiv leicht störbar ist. 

1)  Wenn wir in diesem Zusammenhang von »Objekt« sprechen, so gebrauchen wir dieses Wort als Terminus technicus; auch menschliche Subjekte, sie sogar vornehmlich, sind Objekte, auf die sich Triebverlangen richtet. Damit ist der Subjektcharakter des Mitmenschen nicht geleugnet oder erniedrigt, wie oft mißverstehend interpretiert wird, sondern es wird der funktionelle Bezug hervorgehoben. Auch grammatikalisch kann ein »Subjekt« zum Objekt der Satzaussage werden.

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Sie sollte sich zu einem stabileren Verhalten entwickeln, aber das muß nicht der Fall sein. Langsam entstehen neben unbewußt verlaufenden Reaktionsformen (den gewohnheitsmäßigen oder zwanghaften Verhaltensweisen) bewußtseinsnähere Formen des Verhaltens. An sie ist geknüpft, was Freud die Kultureignung nannte. Sie ist der fragliche Anteil des Charakters.

Aus diesem verwickelten Prozeß der Anpassung, dessen Außenseite (zum Beispiel ein ganz unauffälliges Rollenverhalten) so leicht irreführend gedeutet werden kann, sei noch folgender Tatbestand hervorgehoben. Ein starkes und in der Kindheit noch ungebändigtes Triebverlangen trifft auf die Gesetze, Regeln, Bräuche, kurz: auf die Moral der Gesellschaft. Da der Mensch ein extrem auf das Leben in der Gruppe angewiesenes Wesen ist, repräsentiert die Gruppenmoral jene Realität, an die er sich anpassen muß, um überleben zu können. Die Anpassung wird anfänglich durch äußeren Zwang herbeigeführt. Im Heranwachsen werden die gesellschaftlichen Forderungen erlernt und mehr oder weniger verinnerlicht, das heißt, es bildet sich ein Gewissen, das nun von innen her die Einhaltung der Moral fordert. 

Wir brauchen uns nur des Sprichwortes <Gelegenheit macht Diebe> zu erinnern, um nicht allzu optimistische Vorstellungen von der Tiefe zu hegen, bis zu der Gewissenhaftigkeit das menschliche Verhalten zu bestimmen vermag. 

Unter den gegenwärtig geübten (und geschichtlich tradierten) Sozialisierungspraktiken bedarf die Mehrzahl der Menschen für die Mehrzahl der Entscheidungen unter Konfliktdruck einer Aufsicht, die sie mit Sanktionen bedroht; nur dann handeln sie moralentsprechend. Jene Institutionen, die den Zentralbereich der Moral hüten, nämlich die religiösen, haben deshalb auch immer mit den härtesten Strafen gedroht — der ewigen Pein —, um ihre Erziehungsziele durchzusetzen. Der gesellschaftliche Konformismus, der so erzeugt wird, setzt demnach die Art der kindlichen Erziehung fort; die Kulturanpassung vieler Menschen bleibt lebenslang eine vorwiegend kindliche: Sie gehorchen notgedrungen dem äußeren Erziehungszwang, solange er mächtiger ist" als ihr Triebverlangen. 

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Wenn wir von »vielen Menschen« in diesem Zusammenhang sprechen, so könnte das den Gedanken nahelegen, wir meinten nur die »anderen«, nicht aber uns selbst. Eine ernsthafte Prüfung unseres Verhaltens in dieser oder jener Situation wird uns jedoch eines Besseren belehren. Wie immer in psychologischen Aussagen geht es um die Grade, um das Mischungsverhältnis von Gewissenhaftigkeit und Einsicht auf der einen, Gewissen und Einsicht überspielendem Triebverlangen auf der anderen Seite. Niemand erreicht eine vollkommene Treue vor den Gesetzen und den Regeln des Anstandes. Auch das ist typisch für den Menschen. In der seelischen Entwicklung ist aber die Bildung des Gewissens nicht die letzte Reifungsstufe. Kritische Einsicht kann noch einmal den Spruch des erworbenen Gewissens bedenken; Einsicht ist eine Funktion des Ichs, das auch seine Bindung an das Triebverlangen periodisch — reflektierend, prüfend — lockern kann. Das Ich ist dann in der Lage, die mitmenschliche Realität und sich selbst ohne die groben Färbungen und Entstellungen wahrzunehmen, die ihnen unsere Affekte verleihen.

Ein solches kritisches Ich gewinnt damit aber nicht nur Freiheitsgrade nach innen, sondern ebenso Freiheit bei der Beurteilung der gesellschaftlichen Bräuche und auch ihrer Mißstände. Es hat ja und nein zu sagen gelernt, fragt warum und trifft sein Urteil umsichtig, vorurteilsunabhängiger. Die Erinnerung an die Ketzer und Verfemten der Geschichte zeigt, daß diese Loslösung vom Vorurteilskodex der Gesellschaft ein äußerst gefährliches Unterfangen ist. Die Moralen treten ebenso konservativ auf wie die biologischen Bedürfnisse. Aber erst eine seelische Instanz, die sich auch des Gewissens in kritischer Weise vergewissern kann, schafft so etwas wie eine seelisch organisierte Kultureignung, das heißt, es entsteht erst hier die Fähigkeit, in erregenden, verwirrenden Lebenslagen, im Zusammenbruch der äußeren Gewalten und der Vorurteilssysteme, die unser Gewissen lenken, den Verstand und das mitmenschliche Gefühl zu bewahren. Wer einige solcher verwirrender Zusammenbrüche gesellschaftlicher Wertorientierung erlebt hat, konnte erfahren, daß es nicht leicht ist, Anweisungen des Kollektivs zu widerstehen, die bald Strafdrohungen sind, bald primitive Triebbefriedigungen enthemmen. Hier in kritischer Distanz zu bleiben setzt Kaltblütigkeit, also einen hohen Grad stabiler Ich-Organisation voraus; noch schwerer ist es, die durch Kritik gewonnenen Einsichten dann auch als Richtlinien des Verhaltens beizubehalten.

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Der Mensch ist als Gesellschaftswesen katexochen in außerordentlichem Maße angstempfindlich gegen alles, was ihn von seinen Gruppenbindungen isolieren kann; und umgekehrt begibt er sich als Andersdenkender, wie gesagt, in die große Gefahr, zum Ziel aggressiver Regungen der »Rechtgläubigen«, der Mehrheiten zu werden. Die Bereitschaft, kollektive Sündenböcke zu suchen, kann ihn leicht zum Opfer wählen.

Jede Kultur fordert und muß vom einzelnen fordern, Triebbeherrschung zu erlernen. Sie verlangt, daß er sein Triebverlangen auf erlaubte Objekte fixiert; sie sagt ihm, welche Objekte wertvoll, welche wertlos oder verboten sind. Unsere Gewissensbildung ist eine innere Zensurinstanz, in der das draußen Erfahrene gespeichert wird und unser Verhalten lenkt. Das kindliche Gewissen ist ein System von Vorurteilen, die wir übernommen haben und gegen unsere Triebneigungen anwenden. Das »Schicksal«, das ihnen dabei widerfährt, ist vielfältig. Es mag gelingen, einen Teil der Neigungen an Inhalte zu binden, die den einzelnen und der Gruppe gemeinsam dienen und beide befriedigen; ein Teil wird abgewehrt, noch ehe eine kritische Prüfung sich an ihrer Lenkung beteiligen konnte. 

Aber auch in dieser unterdrückten Lage nehmen diese Triebanteile Einfluß auf die Verhaltensweisen und -möglichkeiten des Individuums. Sie konstituieren jene unverbundenen und dem Beobachter unvereinbar und erstaunlich dünkenden Charakterzwiespältigkeiten, die so aufdringlich sein können, daß man von multiplen Persönlichkeiten in der einen Person sprechen kann. Diese Triebschicksale gehen aus dem Ringen des Individuums um einen anerkannten und gesicherten Standort in seiner Sozietät hervor. Die Gesellschaft setzt sich jedoch den Triebwünschen ihrer Mitglieder nicht nur entgegen oder verlangt sublimierende Vertauschung der Objekte, sie faßt auch einen Teil dieser Triebwünsche und der mit ihnen verbundenen Affekte zusammen, indem sie ihnen ein Objekt anweist und die Befriedigung auf anspruchsloser Ebene ohne allzuviel Beimischung von Gewissenseinfluß und Kritik geschehen läßt. Die einzige Lenkung, die stattfindet, ist die nach »außen«, von der Gruppe weg.

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Solch primitive Triebobjekte für libidinöse Bedürfnisse sind etwa die Prostituierten, die als Outcasts verfremdet werden; »Sündenböcke« werden in Fremdgruppen gesucht; die Unvertrautheit mit ihnen wird aber aktiv konserviert (man will nichts von ihnen wissen), damit sie von den Gruppen widerspruchsfrei und schuldfrei als Projektionsschemen der eigenen Regungen benutzt werden können. Offenbar bedient sich die Gesellschaft dabei einer archaischen Gruppenorientierung, in der die Gruppe sich dadurch Binnenfestigkeit verschafft, daß Fremdgruppen für unmenschlich im direkten Wortsinn erklärt werden. Auf diesem Wege wird dann mit großer Selbstverständlichkeit ein Konflikt mit dem Gewissen vermieden. Die Hilflosigkeit, mit der das Gewissen diese Befriedigungen toleriert, zeigt den hohen Grad der Abhängigkeit dieser Instanz von der kollektiven Werthierarchie.

Das mit dem Begriff »Kultureignung« Gemeinte können wir jetzt in einem wichtigen Aspekt definieren als die Fähigkeit der Einfühlung in den anderen, auch im Zustand eigener Erregtheit. Ein Gewissen, das vor der Aufgabe der sozialen Anpassung gut funktioniert, dessen Urteile jedoch keiner Prüfung durch das Ich zugänglich werden, genügt also nicht, um diesen Grad sozialer Bewußtheit zu erzeugen. Nietzsche hat diese Erkenntnis schon vor Freud mit großer psychologischer Klarheit formuliert: »Der Inhalt unseres Gewissens ist alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmäßig gefordert wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom Gewissen aus wird also jenes Gefühl des Müssens erregt (>dies muß ich tun, dieses lassen<), welches nicht fragt: Warum muß ich? — in allen Fällen, wo eine Sache mit weil und warum getan wird, handelt der Mensch ohne Gewissen; deshalb aber noch nicht wider dasselbe. — Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens; es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen.«1

Das Gewissen erregt von innen her Angst, wie die Argusaugen der Gesellschaft von außen her; Angst davor, daß unsere Triebwünsche mit den Gesetzen kollidieren und Strafen nach sich ziehen könnten. In diesem Augenblick tritt eine seelische Leistung in Kraft, deren sich das schwache Ich zwischen der äußeren sozialen Autorität und den imperativen Forderungen der inneren Triebrealität bedient:-

1)  F. Nietzsche Menschliches — Allzumenschliches. Stuttgart (Kröner) o. J., 204.

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Es wehrt ab, verdrängt, verleugnet, korrumpiert seine intelligenten Fähigkeiten zur Erfindung rational klingender Begründungen. Das bedeutet, daß die abgewehrten Triebanteile in einem realitätsfremden Zustand verharren und sich in magischem Denken, in erratischen Gefühlsregungen repräsentieren. Sie formen jenen Anteil der Persönlichkeit, der von seelischen »Primärprozessen« bestimmt und nicht an Objekte der Kulturwelt fixiert ist. Diese primitiven Wunscherfüllungsphantasien repräsentieren den beunruhigenden Triebüberschuß, mit dem die Gesellschaft fatalistisch rechnet und den sie, wo sie seiner nicht Herr zu werden weiß, auf die Feinde der Kultur, des Glaubens, der Ideologie, der Nation, der Rasse abzulenken sucht; sie erfindet sich sogar solche Feinde, wenn sie nicht vorhanden sind. Indem sie es tut, heuchelt sie Kultur.

Verwendet man hier das Wort »heucheln«, so setzt man ein gewisses Ausmaß listiger Einsicht voraus; wahrscheinlich ist aber auch das schon eine Überschätzung, bleiben die ärgsten Missetaten ohne die geringste Reaktion des Gewissens, vorausgesetzt, daß auch die Mächtigen, mit denen die Gruppe identifiziert ist, sie nicht scheuen. Die verfremdende Entmenschlichung des Gegners zu »Ratten«, »Ungeziefer« tut ein weiteres, das Gewissen aus dem Spiel zu halten. Zwischen kollektivem (vorwiegend Ich-fremdem) und individuellem Gewissen (in welchem die Einsicht die starre innere Anweisung der Kritik unterwerfen kann) ist also ein großer psychologischer Unterschied; er enthält den Schritt vom sozial unmündigen zum mündigen Mitglied der Gesellschaft.

Damit ist uns ein neuer Zugang zur Beurteilung der Belastbarkeit humaner Verhaltensorientierung gegeben. Vorwiegende Ausrichtung an sozialen Stereotypen darf funktionell als subhumane Orientierungsweise verstanden werden, die sich unbeeinflußbar von den Leistungen bewußter Realitätskritik nach Art angeborener Verhaltensweisen vollzieht. Die Stabilität eines Charakters gegen kollektive Verführungssituationen, die den Partner fremd lassen oder »verfremden«, ist das, was Freud die organisierte Kultureignung nannte. Aber diese Stabilität des Kräfteverhältnisses zwischen Gewissensleistungen, kritischen Ich-Leistungen und Triebansprüchen ist in Wirklichkeit ein Fließgleichgewicht, eine Aufgabe ohne Ende. 

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Kein Charakter kommt ohne die Hilfsmittel infantiler Anpassung, das heißt ohne unbewußt arbeitende Abwehr der Triebansprüche aus. Spätere Korrektur ist nur durch die Hilfe der bewußten Ich-Leistungen denkbar. Wo wir der starren, automatisierten Wertungen und Reaktionen in unserem Verhalten mehr und mehr innewerden, schaffen wir die Vorbedingung einer Änderung. Aber gerade diese eingeschliffenen Reaktionen, die sich mit hoher Selbstverständlichkeit rasch anbieten und durchsetzen, sind schwer reflexiv zu bremsen, ehe sie geschehen; so bleibt es, wenn man sich dem überhaupt unterzieht, ein zähes Ringen. Freud wählte den anschaulichen Vergleich der Umwandlung eines Dorfes in eine Stadt: Die alte Struktur wird ab-, eine neue aufgebaut. So vollzögen sich Strukturänderungen des Seelischen gerade nicht; vielmehr bleibe immer eine Koexistenz primitiver Reaktionsweisen mit späteren Entwicklungsstufen bestehen: ».. . die primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich.«1) Die Leichtigkeit, mit der wir zum Beispiel der Abwehr eigener Triebregungen durch Projektion erliegen, die wahnähnliche Wirklichkeitsverkennung, die sich dabei so überzeugend darstellt, kann uns bei der Einschätzung der erreichten Kultureignung nur bescheiden stimmen.

Die natürlichen Triebanlagen mit ihrem Neigungs- und Handlungsgefälle und die sozio-kulturellen Sitten- und Spielregeln, die sich ihnen entgegensetzen, sind also die antagonistischen Kräfte, die der individuelle Charakter im Gleichgewicht zu halten versucht. Die Frage ist, mit welchen Mitteln oder auf welcher Ebene der Kontrolle dies geschieht: sehr stereotyp, unpersönlich, kollektivkonform, sehr einheitlich oder zwiespältig, mit einer sozialen Fassade und einem kontroversen Hintergrund geheimerer Neigungen oder vorwiegend überlegt und einsichtig. Bei aller Schwankungsbreite der Vitalstärke zwischen den verschiedenen Individuen — die Unterschiede zwischen den kulturellen Forderungen sind in der Zeit und von Ort zu Ort noch viel größer. Diese Feststellung wiederholt sicher allgemein Bekanntes. Trotzdem bleibt ein wesentlicher Punkt, der genauerer analytischer Untersuchung bedarf, offen: 

1)  S. Freud Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Ges. Werke X, 337.

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Welches sind die dominanten Regeln, gleichsam die Faustregeln, mit denen so verschiedene Bräuche, Wertsetzungen, Ideale im Charakter des einzelnen verankert werden? In Erinnerung der unbequemen Einsicht, daß man sich hier zunächst mit relativ ungenauen Einsichten begnügen muß, wagen wir die Annäherungsaussage, daß der Sozialgehorsam immer mit der gleichen Taktik erzwungen wird (und dies in Kulturgruppen, die sonst dem Erscheinungsbild nach wenig Ähnlichkeit bieten). 

Die Erziehungsmethoden befleißigen sich von einem bestimmten Punkt an, Denkhemmungen zu setzen; sie tabuieren also gewisse zentrale Inhalte, welche die Ordnung der jeweiligen Gruppe garantieren. Das mögen einmal Respektbezeugungen vor Ahnen oder göttlichen Wesen, das andere Mal mehr irdische Besitz- und Herrschaftsordnungen sein. Ihnen gegenüber hört die Toleranz auf, und hier beginnt die harte Sanktion für Verstöße. Psychologisch bedeutet das, daß Ich-Leistungen — kritisches Fragen — früh durch Strafandrohung übermächtiger Wesen eingeschüchtert werden.

Die Erziehungskonstante richtet sich auf die Triebäußerungen des Kindes, das mit den sozialen Formen noch nicht vertraut ist. Je eingeschüchterter die Erwachsenen durch Tabus und Normen ihrer Gesellschaft sind, desto intoleranter begegnen sie spontanem aggressivem oder sexuellem (im weitesten Sinne) Benehmen des Kindes. Es erweckt die Strafangst, die sie selbst so mühsam durch Erlernen des Verhaltenskodex zu vermeiden gelernt haben. Der Erwachsene, der auf die harmlosen Unternehmungen des Kindes mit dem Blick ernstlicher Empörung schaut, hat selbst die Unbefangenheit zwischen eigener Triebneigung und sozialer Form nie erlangt, und er setzt mit seinem Verhalten dem Kind gegenüber die Tradition passiver Unterwürfigkeitshaltung fort. Aber leider wird sie durch meist ungezügelte, kritiklose Aggressivität im Strafverhalten erzwungen. Dem schwachen Kind (wie dem Sündenbock) gegenüber ist die sonst erfolgreich verdeckte Tätlichkeitsneigung plötzlich wieder da. Aggressionsverbot und erlebte Aggressivität verbinden sich für das Erlebnis des Kindes zu einer widerspruchsvollen Einheit, die es oft lebenslang nicht zu durchschauen lernen wird.

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Erzeugung von Denkhemmungen und forcierte Triebabwehr sind die psychisch wirksamsten Erziehungsmethoden bei der Herstellung des Anpassungs­gleichgewichtes; denn sie sozialisieren den Menschen früh, machen ihn der Gesellschaft bequem. Für eine in Fluß geratene Zivilisation wie die unsere erweisen sie sich aber als eine Mitgift der Geschichte, welche dem Grad »organisierter Kultureignung«, den unser Gesellschaftssystem vom einzelnen mit Nachdruck fordert, immer hemmender im Wege steht. Unsere seelische Leistungsfähigkeit ist zwar großer Anpassungsleistungen fähig, wir übersehen dabei aber gerne, daß Seelisches ein Teil unseres ganzen Energiehaushaltes ist. Wenn wir große Kraftaufwendungen in der Abwehr, in der Verdrängung machen müssen, fehlt uns diese Energie für die differenzierteren Aufgaben, die sich bei bewußter Orientierung in der Welt stellen. Mit Freud unterscheiden wir zwei polare Triebtendenzen: »die Sexualtriebe im weitesten Sinne verstanden, den Eros, und die Aggressionstriebe, deren Ziel die Destruktion ist«.1) 

Je primitiver die Trieborganisation im Ganzen des Charakters bleibt, mit anderen Worten, je weniger steuernde und integrierende Ich-Funktionen sich entwickeln konnten, desto kategorischer und egoistischer äußern sich die beiden Triebtendenzen. Die Anpassung in alltäglicher Daseinsfristung zehrt den Energievorrat mehr oder weniger auf; die in der Verdrängung unerreichbar gewordenen Triebreserven brechen in Belastungsmomenten oft ganz alltäglicher Art — in einem banalen Streit, unter irgendeiner Verlockung — mit nicht zu beherrschender Heftigkeit und ganz unangemessen im Verhältnis zum Anlaß hervor. Das Ich, das sie nur zu unterdrücken gelehrt wurde, steht dem Ereignis ratlos gegenüber. Alle Besinnung auf die »höheren Werte« der Kultur geht dahin. Denn durch die verzichtende Anpassung an unsere Mitwelt hindurch haben wir die Erinnerung an primäre Lebenserfahrungen behalten. Anfänglich war es uns erlaubt, Unlust ungehindert zu zeigen, und wir durften auf rasche Befriedigung hoffen. Diesen sozialen Glückszustand erfuhren wir lange, ehe uns die Einsicht erwuchs, daß er nur auf Kosten anderer, gleichsam nur parasitär, erreichbar ist. Vielleicht hält sich die Erinnerung daran deshalb so hartnäckig, weil die Umwelt damals vorwiegend gute Miene zu unserer drastischen Forderung nach Lust machte.

1)  S. Freud Angst und Triebleben. Ges. Werke XV, 110.

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Besonnene und der Einfühlung fähige Erziehung weiß um den Schmerz, den das stetige Verzichtenmüssen auf egoistische Lustbefriedigung mit sich bringt. Sie führt den Menschen langsam zur Wahrnehmung des anderen hin und schafft dabei die erste Voraussetzung für seine spätere Kultureignung. Erziehung, die nach dem Muster der Dressur verläuft, Strafen und Prämien setzt, erreicht Anpassung durch ein System bedingter Reflexe, die sich in einem Ich-fremden Gewissen organisieren. Der Mitmensch kommt in ihr nur als Rollenwesen, nicht als einer, der mitfühlt, mitleidet, vor. Äußerer Erziehungs- und innerer Gewissensterror sind die Bedingungen, unter denen Kulturheuchelei entstehen muß.

Der Unterschied der beiden Erziehungswege ist fundamental. Es ist unsere Auffassung, daß in Geschichte und Gegenwart Dressaterziehung mit ihren Denkhemmungen und dem Vorschub, den sie der Fixierung an kindliche Gehorsamsforderung leistet, weitaus verbreiteter war und ist als eine einfühlende Führung. Damit ist aber eine konstante Gegenkraft gegen den Erwerb höherer, widerstandsfähiger Kultureignung umrissen. Die Dressurlenkung führt, je strenger sie gehandhabt wird, um so sicherer zu großen Abwehranstrengungen aus Angst vor dem anderen. Alle Gestaltungen unserer Gefühle vollziehen sich mehr oder weniger konformistisch-automatisch, bleiben dem kritischen Bewußtsein unzugänglich. "Wir unterliegen unseren Gefühlen, wie wir den äußeren Herrschaftsverhältnissen fatalistisch unterliegen. In dieser Charakterformung gedeiht das Vorurteil aller Schattierungen und dessen Ausbeutung im Dienst etablierter Machtverhältnisse.

In einer verstehenden Erziehung werden ebenfalls schmerzliche Verzichte gefordert, aber sie werden von früh an mit »warum« und »weil« verknüpft, nicht zuletzt, weil das Mitgefühl dazu drängt, sich dort zu kontrollieren, wo man verbieten muß, statt diese Überlegenheit unversehens als Ventil der eigenen gestauten Aggression zu genießen. Solche Führung ist bestrebt, die selbsterworbene Freiheit des Ichs auch im anderen zu wecken und zu stärken und durch sie Gefühlskontakt herzustellen. Auf diese Weise wird im Lernen der andere, trotz der Verbote und Forderungen, die er ausspricht, als zugewandt erfahren und kann mehr geliebt als gefürchtet und gehaßt werden. 

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Das erlaubt dem heranwachsenden Menschen die unausweichliche Ambivalenz, die unseren sozialen Gefühlen anhaftet, gemildert zu erfahren; Liebe und Haß legieren sich, und »durch diese Zumischung der erotischen Komponenten werden die eigensüchtigen Triebe in soziale umgewandelt«.1) Sosehr diese Einsicht dem Entwurf unserer Sittlichkeit zu widersprechen scheint: wir lieben unsere Eltern — geschweige die späteren Autoritäten — nicht nur, wir müssen sie auch hassen, weil sie unseren egoistischen Triebwünschen Schranken setzen und damit die Grundlegung unserer Sozialisierung, unserer Kultureignung, besorgen. An der Frage, wie das geschieht, entscheidet sich freilich mehr, als jenem einleuchten kann, dessen Selbstverständnis durch Denkhemmung und Verdrängungszwang eingeengt ist. Es entscheidet sich nämlich gerade, ob diese Form einer funktionierenden und doch defekten, heuchlerischen Sozialisierung die Reichweite möglicher Charakterentwicklung absteckt oder ob ein offener Bezirk für das kritische Bewußtsein bleibt.

Wächst durch die Unvernunft der Eltern und anderer Erzieher die Ambivalenzspannung im Kinde sehr an, fürchtet es mehr, als es liebend Befriedigung erfährt, dann muß es seiner Unreife und tatsächlichen Ohnmacht entsprechend die negativen, aggressiven Gefühle unterdrücken, das heißt, es macht von der seelischen Entlastungsmöglichkeit der Abwehr Gebrauch und verdrängt jene Regungen, die ernstliche Konflikte heraufbeschwören. Andererseits projiziert es »blind«, weil es nie lernt, sich in den anderen einzufühlen. In der Verdrängung entmischen sich aber die Triebkomponenten und kehren in ihren primitiv eigensüchtigen Zustand zurück. Der Fortschritt von der ursprünglichen — man könnte sagen: ungekonnten — Aggressivität zur Aktivität, die im Ergreifen mit Objekten, die geschätzt, geliebt werden, umzugehen lernt, unterbleibt in den sozial entscheidenden Bereichen der Gefühlsbeziehungen. Ein Beispiel dafür ist uns sehr nahe: Wir alle tragen noch an den Folgen einer für unseren Zivilisationsbereich spezifischen altüberlieferten Abwertung der Sexualität im engeren Wortsinn, der Geschlechtlichkeit. Das hatte zur Folge, daß sehr viele Strebungen libidinöser Art früh im Leben der Abwehr verfielen und damit nicht in die Reifungsgeschichte des Individuums aufgenommen wurden.

1)  S. Freud Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Ges. Werke X, 333.

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Die weitere Folge war, daß die Bindung zwischen Eros und destruktiver Aggressivität schwach blieb und jede der Triebkomponenten präsozialen Befriedigungen zugänglich blieb. Daß die Kultureignung der Mitglieder unserer Gesellschaft hier im argen liegt, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten, in denen viele der Sexualtabus zusammenbrachen, nicht weniger bewiesen als zuvor in der Epoche der doppelten bürgerlichen Sexualmoral, die vielleicht niemand so durchleuchtet hat wie der geniale Maupassant. Denn die Tatsache der Erleichterung der sexuellen Triebbefriedigung hat nicht zur Folge gehabt, daß die Gesellschaft nunmehr ein System von Handlungsanweisungen besessen hätte, die dem einzelnen Halt hätten geben können. Alles bleibt dem Zufall überlassen. Das Wort »Liebe« wird in einer Zeit, in der manches Dressat dem gesellschaftlichen Umbau nicht standhält, ziemlich wahllos verwandt. Angemessen wird man es nur dort benützen können, wo Triebgeschehen sich mit Ich-Leistungen, mit Einfühlung verbindet, nicht dort, wo Individuen, die ihrer Triebnatur folgen, gegenseitig blind bleiben, einer zur Beute des anderen wird. Eben das charakterisiert aber die Ich-fremde Sexualität, die der Sexualverleugnung gefolgt ist.

Kehren wir an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück, zu jenen der Liebe so gegenteiligen Äußerungen des Hasses, des Vernichtungstriebes. Auch diese Äußerungen des Hasses gehören zu den Möglichkeiten der menschlichen Triebkonstitution. Ihre schöngeistige Verleugnung ist selbst ein Kennzeichen der unbewältigten Aggressionslust. Wiederum ist nur die Frage zu stellen: Woher rührt nach all dem Leid, das über Millionen von Menschen zu unseren Lebzeiten gekommen ist, ihre ungebrochene Stärke? 

Es bleibt die paradoxe Antwort, daß Aggression in unserer Kultur trotz all ihrer aggressionsgespeisten Konkurrenzleidenschaft ungesättigt bleibt. Der Charakter der Ersatzbefriedigung ist vielen Aktivitäten deutlich anzumerken; das geht schon aus der suchthaften Art hervor, mit der sie betrieben werden. Der Schluß liegt dann nahe, daß Aggression entbehrte und unerreichbare libidinöse Befriedigung ersetzen muß. Das macht wieder auf die frühen Eingewöhnungen in die mitmenschliche Welt aufmerksam, auf jene Zeit, in der buchstäblich gelernt werden muß, was »Liebe« ist und wie man liebt.

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Die gesellschaftlichen Prozesse der technischen Großgesellschaft haben sich ohne Rücksicht auf den Triebkonservativismus des Menschen und die aus ihm stammenden Bedürfnisse entwickelt. Es ist eine von Massen besetzte und in ihren Bedingungen extreme Umwelt entstanden. Das macht verständlich, warum der kulturelle Konservatismus, der weiterhin Denkhemmungen und Wertdressate einübt, die im Hinblick auf die radikal veränderte soziale Wirklichkeit prähistorisch wirken, trotz dieser Beharrlichkeit den unverwandelbaren Bedürfnissen aus unserem Triebkonservatismus keine beruhigende Befriedigung verschaffen kann. 

Alle Berufung auf tradierte Wertordnungen, Normen, Institutionen kann nicht aus der Welt schaffen, daß eine offensichtlich kaum eindämmbare Aggressions­bereitschaft die Menschheit beherrscht und daß jeder, der sie durch kräftige Anstachelung der Projektionsneigung auf Sündenböcke zu fixieren versteht, großer Macht über die Menschen sicher sein kann. Die Quellen oder Motive dieser aggressiven Reizbarkeit werden im Deutungsraster der tradierten Kulturvorstellungen und ihrer Anthropologie nicht faßbar.

Der Hinweis auf das mangelhafte Verständnis unserer aktuellen Lage läßt sich nicht als negative Kulturkritik abtun; weil wir in Not sind, stellen wir nicht die Behauptung auf, die Not anderer Zeiten sei subjektiv weniger heftig erlebt worden als die unsere. Wir suchen aber eine Antwort darauf, welche Bedingungen unserer Zivilisation — gewiß schwer faßbar, schwer abmeßbar — einer Triebumbildung im Sinne der Verstärkung der Kultureignung entgegenwirken. Freud hat die gefährliche Möglichkeit gesehen: »Es kann ... die Triebumbildung« (also die Harmonisierung der antagonistischen Triebrichtungen durch die Einflüsse eines starken Ichs), »auf welcher unsere Kultureignung beruht, durch Einwirkung des Lebens — dauernd oder zeitweilig — rückgängig gemacht werden.«1) Kriege und kriegsähnliche Unduldsamkeiten, egoistische Sexualsitten stellen solche Regressionen ganzer Kollektive dar, sie sind ein Äquivalent zu den Neurosen im individuellen Schicksal.

1)  S. Freud, 1. c, 338.

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Mitten im Fluß der Entwicklung können wir doch schon die eine verläßliche Aussage machen, daß der ganze Leistungsfanatismus der Epoche ihre Triebunruhe nicht zu besänftigen vermag. Er selbst scheint Teil einer gewaltigen Erregungswelle zu sein, die weit vor jeder Unruhe des einzelnen die Gesellschaft als solche erfaßt hat. Intellektuelle und physische Höchstleistungen, denen der frenetische Beifall sicher ist, können aber eines offenbar nicht leisten: die Entlastung der affektiven Beziehungen der Menschen untereinander. Im Gegenteil, die Fremdheit der urplötzlich entstandenen technischen Großzivilisation hat gewohnte Anpassungsformen der Menschen aneinander — Gleichgewichtslagen, mögen sie noch so unvollkommen gewesen sein — zerstört; die komplizierten Produktionsformen, die Arbeitsteiligkeit, die Wohn- und Verkehrsdichte der Besiedlungsgroßräume fordern in vielen Situationen des Alltags eher eine verstärkte Unterdrückung der Aggressivität. 

Dazu kommt noch, daß gleichzeitig die Fremdheit des Nebenmenschen in den Massen zu Projektionen reizt und, da er meist irgendwo ein Konkurrent ist, Angst und Eigensucht geweckt werden. Das Problem, das wir zu Anfang in der radioaktiven Staubwolke symbolisiert sahen, lautet also: Wird es den industriell-technisierten Kulturen der Menschheit gelingen, die Kultureignung ihrer Mitglieder und ihre affektive Selbstkontrolle so zu stärken, daß sie als Kollektive die außerordentlichen Naturkräfte, die ihnen in die Hand gegeben sind, zu beherrschen vermögen? Denn keine Atomexplosion wird sich ereignen, ohne daß sie aus einem affektiven Hintergrund gezündet worden wäre.

Wenn wir uns der Tradition der Aufklärung verpflichtet fühlen, der diese Revolutionen des Naturdenkens entsprungen sind und die uns auch zu einem neuen Verständnis der menschlichen Natur herausfordert, dann können wir wohl nur jenen Weg der Lösung offen sehen, den Freud in seiner mehrfach zitierten Arbeit aus dem Jahre 1915 gesehen hat. Das heißt, wir müssen uns mehr um das Schicksal kümmern, das wir durch die Art unserer gesellschaftlichen Forderungen unserer Triebnatur bereiten — vom Beginn unseres Lebens an. Noch so edel gemeinte sittliche Forderungen können das Problem nur verdecken, solange wir nicht die Dynamik verstehen, die solche Sittlichkeit zu durchkreuzen vermag. 

Wer auf derart unwissende Weise genötigt wird, meint Freud, 

108/109

»dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren, die nicht der Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt, psychologisch verstanden, über seine Mittel und darf objektiv als Heuchler bezeichnet werden, gleichgültig, ob ihm diese Differenz klar bewußt geworden ist oder nicht. Es ist unleugbar, daß unsere gegenwärtige Kultur die Ausbildung dieser Art von Heuchelei in außerordentlichem Umfange begünstigt. Man könnte die Behauptung wagen, sie sei auf solcher Heuchelei aufgebaut und müßte sich tiefgreifende Abänderungen gefallen lassen, wenn es die Menschen unternehmen würden, der psychologischen Wahrheit nachzuleben. 

Es gibt also ungleich mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Menschen, ja man kann den Standpunkt diskutieren, ob ein gewisses Maß von Kulturheuchelei nicht zur Aufrechterhaltung der Kultur unerläßlich sei, weil die bereits organisierte Kultureignung der heute lebenden Menschen vielleicht für diese Leistung nicht zureichen würde. Andererseits bietet die Aufrechterhaltung der Kultur auch auf so bedenklicher Grundlage die Aussicht, bei jeder neuen Generation eine weitergehende Triebumbildung als Trägerin einer besseren Kultur anzubahnen.«(1)

Das könnte aber in der einmal entstandenen Lage nur durch einen — wie Theodor Geiger(2) formulierte — »intellektuellen Humanismus« geschehen. Man sollte diese Kurzformel nicht mißverstehen. Sie will andeuten, daß die Erziehung, welche die Menschen sich angedeihen lassen, in Zukunft ihr Schwergewicht bei der Schulung haben muß, »Warum«-Fragen nach Einsicht und nicht nach Ansicht zu beantworten. Die Befolgung von Befehlen, die mit Tabu-Begründung gegeben werden, muß ihr zum Atavismus werden. In diesem Erziehungsprozeß wird sich herausstellen, wo die Gesellschaft sich »tiefgreifende Abänderungen« gefallen lassen muß — sehr wahrscheinlich dort, wo Tabus, wo Gewohnheit und Vorurteil, Gewissen und Glaube dem Menschen, der als unmündig angesehen wird, aber auch unmündig bleiben soll, die Verantwortung abnehmen wollen. Unter der Hand hat sich die Lage verändert. Es ist keine Institution mehr denkbar, die dem Menschen das Denken ersparen könnte; die Welt ist zu gefährlich dazu. Allegorisch könnte man sagen: Die Kindheit der Menschheit ist zu Ende gegangen, die Götter und Autoritäten, die sie sich einstmals erschuf, sind tot.

Wir verlangen von der Autorität, daß sie uns denken lehrt. Tut sie es nicht, erweckt sie bei uns den Verdacht, sie selbst sei »kulturheuchlerisch«. Der Weg zu einem Ich, das seiner selbst auch ohne Aufsicht des »Vaters« gewiß bleiben kann, zu einem Ich, das für diese technisch ingeniöse und in ihren Gefühlsbeziehungen verworrene Kultur die Eignung zum Bestehen mitbringt — der Weg zu solcher Reife mag weit sein. Vielleicht endet er durch die Ausbrüche der entmischten Aggressivität lange vor seinem Ziel. Trotzdem ist er der einzige Weg, der an den Katastrophen menschlicher Mißverständnisse vorbeiführen kann. Der Bruch mit Traditionen wird niemals ohne tiefe Angst geschehen können. Aber können wir uns noch dem scheinbar Gewissesten, das uns übermittelt wird, ahnungslos, achtlos überlassen — nach allem, was geschehen ist? Dazu wäre die Warnung Pascals zu hören: »Niemals tut man so vollständig und so gut das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut(3)

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1)  S. Freud, 1. c, 336.

2)  Th. Geiger Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit. Acta Jut-landica 32, 1, Humanistik Serie 45. Kopenhagen (Ejnar Munksgaard) 1960.

3)  Pascal Gedanken. § 895 (Leon Brunschvieg).

 

 

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