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  II.2

Tabu / Ressentiment / Rückständigkeit — demonstriert an geschichtlichen Entscheidungen  

 

 

110-135

Geschichte ist Lebensgeschichte von einzelnen, die in Gruppen leben. Gruppengeschichte wiederum wird nicht wenig von einzelnen bestimmt, die durch recht verschiedene Talente hervorragen. Diese Talente unterliegen von Geburt an dem Einfluß der Gruppen. Je mehr wir Aussagen über den Menschen selbst wagen, desto deutlicher wird uns, wie sehr wir an unseren geschichtlichen Ort gefesselt sind. Das Dutzend politischer Genies im Laufe der Menschheitsgeschichte ist kein Gegenbeweis, und auch die Philosophen sind es nicht. 

Die Extrembegabung, die unter superiorer Einsicht denkt und handelt und dabei tief verändernd in das Weltgeschehen eingreift, ist so selten, daß ein Untersucher auf sie keine Rücksicht nehmen muß, mag die Leistung auch Jahrhunderte lang nachwirken. Der durchschnittliche Bürger wird vom Werthorizont seiner Gesellschaft, von der herrschenden Religion, vom Stil der »Subkulturen«, denen er angehört, viel weiter gehend geformt, als es das subjektive Bewußtsein sich eingestehen mag. Alle »großen« Entscheidungen des Lebens trifft er nach dem Kodex seiner Zeit, seiner engeren Sozialgenossen, und gerade als Führer sinnt und streitet er für »ewige Werte« seiner Gesellschaft.

Tabu und Ressentiment gehen demnach nicht nur kleine Leute an. Sie sind nicht eine Frage der Bildung und Begabung, sondern entspringen vom intellektuellen Niveau oft weitgehend unabhängigen Hemmungen der kritischen Reflexion. Auf sie müssen wir uns konzentrieren, wenn wir den stillschweigenden Einfluß von Tabus mildern oder das Anwachsen eines Ressentiments verhindern wollen. Gegen Rückständigkeit schließlich, als Ergebnis des Vorwaltens beider, ist niemand gefeit.

Infolgedessen zeigt die Sequenz »Tabu - Ressentiment - Rückständigkeit« eine Richtung an. Vom Tabu geht eine Reaktionskette aus, die oft in der Geschichte eine Kettenreaktion des Unheils ausgelöst hat. Tabu befördert Ressentiment, dieses blockiert ein freieres Urteil und vermehrt die Rückständigkeit. Diese wird dann wiederum zum großen Bundesgenossen des Tabus.

In diese Zirkelschlüsse will die folgende Untersuchung eindringen. Sie handelt demnach von jenem Beitrag zum Weltgeschehen, den wir ständig willig oder unwillig leisten. Wir sollten ihn aber nicht blindlings entrichten.

Die genannte Reaktionskette ließe sich etwa folgendermaßen schematisieren: 

Von einem Tabu geht ein faktisches Verbot aus: »Du sollst nicht...« Aber das Verbot ist darüber hinaus mit einer Denkhemmung verknüpft. Die zentrale Definition eines Tabus lautet: Wo immer man nicht mehr weiter zu fragen wagt oder nicht einmal auf den Gedanken kommt, es zu tun, hat man es mit einem Tabu zu tun. 

Die Gefühle, mit denen man ihm begegnet, können also gar nicht anders als zwiespältig sein. Seit Adam und Eva lockt es insgeheim die Lust, es zu übertreten, hervor. Gerade diese der frommen Denkungsart widerstreitenden Gefühle sind aber, solange es nicht zu einer Reflexion über das Tabu kommen darf, im Bewußtsein meist gar nicht vorhanden. 

Ein Tabu reguliert vielmehr die Einstellung zu einem Sachverhalt, wie es eine sehr hohe Autorität, die keinen Widerspruch duldet, zu halten pflegt. Es schafft damit Konformität unter den Gehorchenden, und mit dieser trägt es zur Basis bei, auf der sich Gesellung vollzieht. Alles eindringende Fragen bleibt ausgeschaltet und damit unbefriedigt. Ohne diese Enttäuschung hätte sich die in unserem Mythos älteste Widerstandshaltung, die erste Tabuverletzung, das Essen von den verbotenen Früchten, nie zugetragen.

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Tabus halten also den Erkenntnisstand tief. Dadurch verlaufen die sogenannten »großen«, die lebenswendenden Entscheidungen ohne ausreichende Ich-Betätigung, mit anderen Worten: ohne genügende Arbeit durch reflektierendes Denken. Die seelische Organisationsstufe ist eine niedere, die vom Tabu regulierten Einstellungen sind primitiver Art. Primitiv und nieder heißt hier, daß es nicht im Sinne des Kantischen Verbotes zugeht, den anderen nicht als Mittel zum Zweck zu benützen; gerade dies geschieht, und zwar weitgehend unter dem Einfluß unbewußt bleibender seelischer Vorgänge. 

Ein Tabu ist nämlich nicht wie ein veränderbares Gesetz ein Mittel zum Zweck der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, sondern hier kehren sich die Verhältnisse leicht um: Das Individuum wird Mittel zum Zweck der Hochhaltung eines Tabus. Denn es bedarf keines großen Scharfsinns, um zu folgern, daß ein kleiner Vorsprung an Überblick sich hier leicht in politische Macht umsetzen wird. Das Wesen vieler Eliten besteht darin, sowohl Tabus mitzubilden, wie die Befangenheit in ihnen auszubeuten.

Das Tabu repräsentiert also immer (ursprünglich im Gewand des göttlichen Gebotes) die Gesellschaft dem Individuum gegenüber. Der Befehl, der ergeht, ist unbedingt. Da es Verbote ausspricht, aber die Einsicht nicht fördert, entsteht diesen Verboten gegenüber Haß und Widerwillen, die aber nicht offen gezeigt, sehr oft nicht einmal zum vollen Bewußtsein erweckt werden dürfen. Der Gehorchende bleibt in der infantilen Position des Kindes, das nicht fragen darf.

Allein der Groll gegen die Verbote der eigenen Gesellschaft bilden den Anstoß unserer Ressentiments gegen unsere privaten oder kollektiven Feinde — und nicht etwa deren lästige Eigenschaften. Ob diese tatsächlich so lästig sind, wie wir es erleben, das ist eben die Frage. Es wird also ein Kernsatz unserer Ausführungen bleiben: Das eigene Unvermögen, konstruktiv, spannungs-lösend auf das Verhalten anderer hin antworten zu können, ist der innerste Kern des Ressentiments. 

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Werde ich von jemandem gekränkt, beleidigt, so habe ich vorerst noch kein Ressentiment gegen ihn. Ich fühle Wut, Verachtung, Verwunderung, je nach der Lage: Spannung entsteht. Erst wenn die gegebenen Machtverhältnisse sich derart in ihren Tabus niederschlagen, daß Affekte dieser Art keinen entlastenden Ausdruck finden dürfen, und wenn dadurch mein Selbstwert ernstlich in Frage gestellt ist, erst dann entstehen Ressentiments. Die Aufzuchtprozeduren der Gesellschaften verbieten, je autoritärer, je unreflektierter sie sind, das Recht eines herrschenden Tabus in Frage zu stellen. Diese Denkhemmung zu setzen gehört zu den entscheidenden erzieherischen Maßnahmen, die das Tabu in Funktion erhalten. Es muß, wenn man so sagen darf, mit Haut und Haaren verinnerlicht werden; es spricht dann als das Gewisseste — als Gewissen aus uns.

Dieser Verinnerlichungsvorgang, der mit dem Erlernen aller sozialen Gebote verknüpft ist, verschärft zunächst die Unfreiheit des Ichs; er bewirkt eine Stauung der libidinösen und aggressiven Affekte — bald mehr der einen, bald mehr der anderen. Diese steigende innere Spannung fördert die Neigung, die erlittenen Enttäuschungen nicht nur an den wirklich einschränkenden Partnern zu erleben — je tabuierter sie sind, desto weniger dürfen wir das wagen —, sondern sie projektiv zu verschieben auf mehr oder weniger zufällig sich anbietende andere Objekte: andere, weniger gefährliche Menschen, das Wetter, die Umstände usw. 

Die Tatsache, daß unser Leiden am Wetter, unsere physische Abneigung gegen irgendeine rassisch von uns verschiedene Gruppe und ähnliches eine Vorgeschichte in uns hat, daß es unsere inneren Spannungen sind, die nach einer Ursache Ausschau halten lassen, die wir bekämpfen können, bleibt unbewußt. Ansonsten würde die Abreaktion der Erregung am mehr oder weniger unschuldigen Ersatzobjekt nicht gelingen können. Dadurch, daß unsere persönlichen negativen (ressentimentgeladenen) Gefühle unter den Einfluß von schon bestehenden Vorurteilen der Gesellschaft geraten (und Tabus sind ihrem Wesen nach Vorurteilsgewißheiten), werden sie »selbstverständlich« und der Reflexion entzogen. Die Einsicht, daß alles so sei, wie es erlebt wird, ohne daß das Prinzip dieses Erlebens klar würde, schaltet den Ansatzpunkt einer Frage aus.

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Dieser Mangel an Freiheit läßt sich funktional beschreiben:

Affekte, die meinen Selbstwert zu schützen suchen, sind stärker als die intellektuellen Ich-Leistungen, die sich um die besseren Argumente bemühen müßten. Die Affekte färben zweckvoll das Bild des Gegners, so daß er schlechter als ich selbst abschneidet. Dieser Ausschaltung der kritischen Ich-Leistungen entsprechend (dessen, was wir in der raschen sprachlichen Verständigung »Intelligenz« nennen) sind Ressentiments, wo sie zur Herrschaft gelangt sind, schwer durch Erfahrung zu korrigieren. Es geht hier nicht um »Dummheit« als Anlage, sondern als Produkt gesellschaftlichen Zwanges.

Die Ressentiments, zum Beispiel das der »Erbfeindschaft« zwischen Deutschen und Franzosen, gingen weit über die jeweiligen Kriegsgründe und Kriegsereignisse hinaus. Sie galten, wie der Begriff so deutlich sagt, als »ererbt, schicksalsgebunden. Ein Ressentiment dieser Art bekundet sich zunächst einmal unter Zuhilfenahme von Sinneseindrücken (man kann sich nicht riechen), im Gestus des Ekels (man kann sich nicht ausstehen), im kämpferischen Bestreben, den anderen durch Lächerlichkeit zu töten; logische Beweisführungen erweisen sich, wenn man den Pathos, mit dem sie vorgebracht werden, abzieht, als ärmlich. Erreicht aber andererseits eine empfindliche, leicht störbare Beziehung zwischen Menschen einmal das Niveau des Gedankenaustausches (anstelle der wechselseitigen Projektion affektauslösender Schemata), dann pflegen Ressentiments sich regelmäßig zu mildern.

Das letzte Glied dieser Reaktionskette wird damit erreicht, daß wir uns klarmachen müssen, wie nachdrücklich Tabu und Ressentiment als Ich- und kritikfeindliche Mächte die Evolution zu höheren Niveaus bewußter Kombinatorik hemmen, wie sehr sie damit auch einer Gefühlsdifferenzierung entgegenlaufen (die an verfeinertes Realitätsverständnis geknüpft ist) und damit antiprogressiv wirken.

Der Aspekt des Entwicklungsfeindlichen ist noch zu ergänzen: 

Tabu und Ressentiment halten Lösungsangebote für das Verhalten und für die Gefühlslenkung bereit, auf welche das Individuum in schwierigen, widersprüchlichen, unter Umständen bedrohlichen Lebenslagen zurück­greifen kann. Der regressionsfördernde Einfluß von Tabu und Ressentiment bringt also nicht nur ein Nachhinken hinter zeitgemäßen Reifungsaufgaben, sondern auch ein Zurückziehen, eine Regression auf Reaktionsmuster zustande, welche der schon erreichten Entwicklung nicht mehr angemessen sind. 

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Diese Blockierung, Lähmung der Initiativkraft großer Gruppen ist das Zentralthema im Hintergrund unserer Überlegung. Bevor wir uns ihm nähern, müssen wir noch einiges Anschauliche voranstellen, um Tabus und Ressentiments in ihren Funktionen noch deutlicher zu machen.

Historisch betrachtet ist ein Tabu dem Wesen nach ein Verbot magisch orientierter Gesellschaften — ursprünglich wohl ein Berührungsverbot —, das sich auf etwas Heiliges, aber ebenso auf etwas Unreines erstrecken kann. Diese Doppelsinnigkeit hat sich bis heute erhalten, wenn es sich auch mehr auf unheilig interessengeladene als auf heilige Bezirke bezieht, die nicht mit kritischem Verstand berührt, das heißt, untersucht werden dürfen. Von Tabus zu reden hat nur dann einen Sinn, wenn man sich die Bedeutung an einem Beispiel klarmacht, an einem Tabu, welches zu verletzen gegenwärtig noch gefährlich ist. Nehmen wir die an anderer Stelle dieses Buches schon erwähnte Oder-Neiße-Linie.1) Sie ist eine historische De-facto-Lösung. Da sie eine neue Grenze darstellt, bleibt es vorerst noch völlig unklar, ob der Verlauf sinnvoll oder unsinnig ist, ob Klugheit oder Ressentiments sie diktieren. Das wäre erst durch ein sorgfältiges Begehen des Tabuierten, also unbegehbar Gewordenen — und zwar von beiden Seiten — auszumachen. Alle Gefühle wären einzubeziehen, die durch die Vorgeschichte der Grenzziehung erweckt und verfestigt wurden.

Was in unserem Osten nur zögernd in Gang kommt, in unserem Westen scheint es langsam möglich zu werden: Lange wirkende Tabus zwischen Frankreich und Deutschland sind im Abbau begriffen. Die im Jahre 1965 im Fernsehen ausgestrahlte Dokumentation 1914 bis 1918, die das Verhalten beider Seiten nunmehr auch beiden Seiten in gleicher Fassung vorhielt, wäre vor fünfundzwanzig Jahren eine unerträgliche Belastung gewesen. Mächtige Barrieren kollektiver Pauschalurteile hätten sich einem solchen Versuch entgegengestellt (den man auch jetzt nur am späten Abend zu unternehmen wagte). 

1)  Vgl. S. 14

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Man wäre damals bestimmt nicht zu der Einsicht bereit gewesen, die sich jetzt langsam anbahnt, daß der Erste Weltkrieg als eine Krankheit, als Ausbruch einer tiefen Störung des seelischen Gleichgewichts, zu verstehen ist, die plötzlich die Völker Europas überwältigte. Um es zu präzisieren: Die Störung des inneren Affekthaushaltes, die wachsende Unzufriedenheit mit Triebverzichten, welche in der Gesellschaft gefordert werden, geht dem »Finden« der Ursachen (das heißt von Schuldigen) voraus. Es gilt demnach zu unterscheiden zwischen den rational plausibel erscheinenden Ursachen, die angeschuldigt werden — etwa, dem »Wetter« vergleichbar, die Rüstung der Gegenseite, die Einkreisungspolitik usw. —, und den dahinterliegenden intensiven Triebbedürfnissen, die auf Befriedigung drängen. Sie sind aggressiv, egoistisch, störend und verboten; sie dürfen nicht eingestanden werden. Sie erzwingen den Vorgang der »Verschiebung«, das heißt, wir geben uns mit bescheidenen logischen Gründen zufrieden und finden es ganz natürlich, daß die Rüstungen des anderen unsere eigenen, die »Provokationen« der anderen unsere eigenen notwendig gemacht haben. 

Wer hier zuerst in Agieren gerät, zeigt, daß auf seiner Seite die Ich-Schwäche ausgeprägter ist oder das Frustrationserlebnis von Triebbefriedigungen und damit der Anspruch des Es unvollkommener beherrschbar geworden sind. Von diesen Entbehrungen müssen ziemlich viele, wenn nicht die überwiegende Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft betroffen sein, damit sich eine Massenstimmung mit ihrer autosuggestiven Selbstverstärkung herstellen kann. In Kooperation ist dem Historiker und dem Psychologen die Frage gestellt, welche Natur- und Sozialbedingungen solche weitgehend übereinstimmenden Neigungen, paranoid zu reagieren, Tabus zu akzeptieren, Ressentiments zu übernehmen, hervorgerufen haben.

Einer solchen Bemühung wirken jedoch abermals Tabus entgegen, die wir vorzüglich vor uns tarnen und zum Beispiel als Meinung von Autoritäten, als Schulmeinung über Generationen hinzunehmen bereit sind. Der Ausschluß von Einsicht durch ein unwiderstehliches Erwecken intensiver Gefühle, zum Beispiel der Evidenz oder der Empörung, des Hasses oder umgekehrt der Verliebtheit, des Idealisierens, wäre demnach eines der auffälligen Kennzeichen dafür, daß man einem Tabu begegnet, dem man sich mehr oder weniger bedenkenlos unterwirft.

Doch nochmals zurück zum Problem der Oder-Neiße-Linie.

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Von unserer Seite hat man nach dem Krieg mit der einleuchtenden politischen Konzeption operiert, es sei unklug und nicht zumutbar, einen Anspruch ohne Gegenleistungen aufzugeben. Hinter diesem Argument, so vernimmt man von der Gegenseite, seien aber Gefühle verborgen; sie werden als Revanchegelüste eingeschätzt. Nach der Vorgeschichte ist das nicht verwunderlich; denn zu einem lange währenden Haß auf den ehemalig gnadenlos-feindlichen Nachbarn ist Grund genug. Der Hassende hält aber das alte Bild fest, auch wenn der Nachbar laut bekennt, sich von Grund auf gewandelt zu haben. Wir müssen uns damit vertraut machen, daß es so etwas wie seelische Nachbilder gibt, die Zustände großer Angst, großer Erniedrigung, die Drohung des willkürlich verhängten Todes festhalten. Sie beziehen sich auf Erfahrungen. 

Unvermeidlicherweise geschieht aber in den Nachwirkungen des Hasses, wenn er sich einmal zu solchen Höhen steigerte, eine Teilentlastung der seelischen Spannung im Vorgang der Projektion — wiederum von beiden Seiten. Das gewalttätige Verhalten eines seit Jahrhunderten sie mißachtenden Nachbarn erleichtert es den Polen, ihre eigenen ungeprüften aggressiven Phantasien auf diesen Feind projiziert zu erleben und sie an ihm zu verfolgen. Umgekehrt: Deutsche Erziehungsmuster mit ihren Werten von Ordentlichkeit, Sauberkeit, Pünktlichkeit sind (sozial oft sehr brauchbare, aber auch) zwanghafte Reaktionsbildungen gegen die unterdrückten Gelüste zum Gegenteil, zur Freiheit von Sauberkeitszwängen, zum Genuß der Unordnung. All diese entgangenen Freiheiten werden nun in der »polnischen Wirtschaft« entdeckt und, weil man sie nicht selbst genießen darf, verachtet, verspottet, schließlich ausgetilgt. In beiden Fällen ist es also Mißbehagen an den Einschränkungen der eigenen Gesellschaft, welches die Ressentiments im Gange hält — wider bessere Möglichkeiten zur Einsicht. 

Der Vergleich mit der Annexion von Elsaß-Lothringen durch die Deutschen im Jahre 1871 und der Reaktion Frankreichs bietet sich ebenfalls als Beispiel an. Der Vergleich mag hinken, weil Frankreich und Deutschland wesentlich ausgewogenere Gegner als Deutschland und Polen waren. Trotzdem, aus der Einverleibung Elsaß-Lothringens wurde einer der mächtigsten Beiträge zum Ersten Weltkrieg, und wäre der Zweite nach unserem Willen verlaufen, so wären alle Uhren prompt auf 1871 zurückgestellt worden.

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Tabu steht gegen Tabu. Wenn ein Tabu nicht wäre, was es ist, dann könnte man, was für den Verlierer ein überaus schmerzlicher, für den Sieger ein erfreulicher Vorgang ist, den Besitzwechsel von Gebieten ganz leicht zur Sprache bringen; zur Sprache bringen heißt aber durchdebattieren, in allen Facetten des Möglichen ausbreiten, bestreiten oder bekräftigen. Mit anderen Worten: Die Macht der Stärkeren hätte in Verhandlungen zu treten mit besseren Argumenten. Aber das geht gegen das Tabu der Stärke, jene archaische Verhaltensregel, in welcher der Sieger keiner Argumente bedarf und dem Besiegten die Demutsgebärde, aber kein Argument zusteht.

Der Verzicht auf Gewalt, die Vertauschung der Muskelaktivität gegen die Sprachaktivität gelingt uns vor allem in Konflikten zwischen Gruppen höchst unvollkommen. Im Leben der Individuen kann der Dauerstreit mit Worten nicht weniger belastend sein als eine physische Auseinandersetzung, weil Einsichtshemmungen im Dienste der tyrannischen Triebansprüche auch mit vielen Worten nicht gelöst zu werden brauchen. Die destruktiven Auswirkungen versprechen trotzdem geringer zu bleiben.

Es war erst die zentrale Erkenntnis, daß unbewußte seelische Spannungen durch das Tabu kontrolliert werden, die ein tiefer dringendes Verständnis möglich machte. Die »Grundlage des Tabu ist ein verbotenes Tun, zu dem eine starke Neigung im Unbewußten besteht« — diese auf die Ambivalenz zielende Feststellung hat Freud in seinem Essay Totem und Tabu1) gemacht.

Was geschieht seelisch, wenn der einzelne auf ein Tabu trifft? Offenbar erregt ihn das Verbot mächtig, weil es ihn unbewußt an seinen Wunsch erinnert, es zu übertreten und sich die verwehrte Befriedigung zu holen. Erst dieser Zusammenhang macht einem klar, warum im Kontakt mit dem Tabuierten die Affekte stärker und rascher erregt werden als die Denkvorgänge. Tabus begegnen uns also, wo immer die Kultur den primären, allezeit weckbaren Triebbedürfnissen im Wege steht. Die Stärke der affektiven Erregung und eine Hemmung der kritischen Fähigkeiten geraten dort, wo man sich dem Tabu unterwirft, in ein Verhältnis umgekehrter Proportionalität zueinander.

1)  S. Freud, Ges. Werke IX, 42.

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Die Funktion des Tabus in der Gesellschaft ist jedoch alles andere als eindeutig. Es kann rücksichtslose Triebbefriedigungen zum Segen der Gesellschaft verhindern, aber auch das Umgekehrte bewirken, nämlich eine solche Triebbefriedigung vor dem kollektiven Gewissen gutheißen. Weil diese Wirkung so zufällig ist, müssen Tabus durch Anstrengungen der bewußten Reflexion, der Einfühlung in den anderen, der abwägenden Kritik und der Toleranz für die Kritik, die man von anderen erfährt, ersetzt werden. Das sind die schweren, aber säkularen Aufgaben für die künftigen Kulturen mit ihrem im Wortsinn unvorstellbar gesteigerten Zerstörungspotential bei Konzentration der Menschheit in Ballungszentren. Aufklärung darüber, wo ein Tabu wirksam ist, stellt den Gegenzug gegen seine Mythisierung und das Versinken in Rückständigkeit dar.

Im Verkehr zwischen den Völkern verfälscht ein Tabu die Realität ebenso, wie wir es aus kleineren Gruppen, die negative Gefühle füreinander hegen — zum Beispiel Familien —, so gut kennen. Einsichtslosigkeit im Dienste des Begehrens und der Verleugnung von Verlusten dekoriert sich dann auf nationaler Ebene in einer Pseudorationalität als heilige Pflicht zur Wiederherstellung eines Status quo. Vor solch aggressiver Vergeltung hatten die Deutschen nach 1871 Angst und haben sie, ganz wie wir dies aus manchen seelischen Erkrankungen kennen, mit Zwängen abzuwehren versucht, etwa mit der hochneurotischen Perfektion, mit welcher der Schlieffen-Plan ausgearbeitet wurde. Solche Ängste, die sie nicht schlafen lassen, haben heute die Polen an allen Grenzen, während zugleich auf unserer Seite noch eine (meist erfolgreich abgewehrte) Vergeltungsangst für die Greuel unserer Kriegführung andauert.

Folgende Gedankenkette charakterisiert unsere offizielle Auffassung, die man psychologisch als »Rationalisierung« bezeichnen darf — das heißt, sie dient der Abwehr der Einsicht in die volle Wirklichkeit. Die Argumente lauten also: Im Augenblick der Schwäche hat man uns Gebiete entrissen, die unzweifelhaft deutsch waren; wir fordern, was uns rechtens zusteht, nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Niemand könnte diesen Schlußfolgerungen sich entziehen, wenn die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, die ganze Wirklichkeit umfaßten, wenn sie keine Gefühle erregt und hinterlassen hätten — und diese Gefühle nicht ebenso wirklich wären wie die neue Grenzlinie.

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Das gleiche gilt selbstverständlich für die »Logik« der polnischen Seite. Es ist unhaltbar, die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten Annexionen aus historisch begründeten Gebietsforderungen abzuleiten. Sie als Kompensation des Erlittenen zu fordern ist ein starkes Argument. Man müßte geradezu untersuchen, warum dieses Argument nicht unverblümt gebraucht werden kann. Es wird sich dabei wohl um eine psychische Nachwirkung der Entwertung handeln, der das polnische Volk durch die Hegemonialmächte Rußland, Österreich, Preußen ausgesetzt war und für die es einen gemeinsamen Ort für negative Projektionen bildete. Man will jetzt keine aus Erniedrigung abgeleiteten, sondern »rechtlich« aussehenden Forderungen aufrechterhalten.

Diese Einengung der Rechtfertigung auf ein Ineinandergreifen quasi juristischer Argumente ist immer dann höchst bedenklich, wenn damit menschliches Verhalten be- oder verurteilt werden soll. Die Argumentation auf beiden Seiten hängt dann plötzlich buchstäblich nur noch am roten Faden der jeweiligen »Logik«, der Blick ist mit unverkennbarer Scheinheiligkeit ausschließlich auf die höhere Gerechtigkeit gerichtet, die es wiederherzustellen gelte. Was das Tabu leistet, zeigt sich darin, daß kein Gedanke mehr auf das eigene Verhalten in den Tagen des noch ungetrübten Kriegsglückes bzw. des unkontrollierten Siegerglückes gerichtet wird. Daß wir damals eine Sklavenordnung für die Bewohner Polens entworfen und praktiziert haben, ist vergessen oder wird gegen die Greuel aufgerechnet, die später Deutschen von Polen bereitet wurden — woran sich umgekehrt die letzteren nicht mehr erinnern wollen.

Diejenigen, die auf unserer Seite jetzt durch die Errichtung eines Tabus verhindern, daß die Problematik einer De-facto-Lösung an der Oder und Neiße durchgearbeitet wird, und es außerdem unmöglich machen, daß das Thema von den beiden streitenden Parteien und aus allen nur denkbaren Richtungen her betrachtet wird, pflegen sich darauf zu berufen, daß mit Kriegsende quasi eine deutsche Identität zu Ende gegangen und daß der nunmehr lebende Bundesbürger ein neuer Mensch sei, nicht an das alte Ich, nicht an alte Schuld geknüpft, es sei denn durch das »Ressentiment« der anderen. 

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So konnte man vor nicht langer Zeit in einer weitverbreiteten medizinischen Zeitschrift, die über einen wissenschaftlichen Kongreß in Prag berichtete, folgende Sätze lesen: »Einige Ressentiments machten sich allerdings bei der Rundfahrt durch Prag mit dem staatlichen Omnibusunternehmen bemerkbar. An jeder Ecke wurde darauf hingewiesen, daß die deutschen Militaristen hier und dort Böses verbrochen hätten. Manche westdeutschen Kollegen zogen die Konsequenzen und stiegen bei der ersten Gelegenheit aus.«1)  Ein Tabu in Funktion. Die Wiederbegegnung mit einem für unberührbar erklärten Erinnerungsbereich, nämlich den faktischen Verbrechen, die in jener Stadt sich zutrugen, erzwingen eine Fluchtreaktion, die rationalisiert wird: Man steigt empört aus und vermeidet damit die Berührung des Tabuierten. Noch dem Text des Berichtes merkt man an, wie den Schreiber das Tabu ängstigt. Es wurde darauf hingewiesen, »daß die deutschen Militaristen ... Böses verbrochen hätten« — der Konjunktiv muß ihn schützen.

Wo ein Tabu dieser Kategorie funktioniert, verbreitet sich ein subjektives Gefühl der Sicherheit vor den Folgen der Vergangenheit. Nicht in juristischen Zusammenhängen, sondern in jedem historischen Zusammenhang wird geleugnet, daß die Bundesrepublik ein Nachfolgestaat des Nazireiches ist. Dabei ist aufschlußreich, wie man die Wiedergutmachungspflichten betreibt: etwa so, wie eine honorige Familie für die Vergehen eines entfernten Verwandten einsteht. Man erlebt sich selbst in seiner Vergangenheit vor 1945 wie einen »entfernten Verwandten«. Persönlich ist der einzelne vom Tabu gedeckt, er braucht sich nicht für einen Teil seines Vorlebens verantwortlich zu fühlen. Das Tabu verschleiert im allgemeinen die Vorgeschichte und ebenso im ganz Persönlichen. Es behauptet zwar, nur auf die Herstellung der Gerechtigkeit komme es an; aber es definiert diese Gerechtigkeit vollkommen gefühllos, mechanisch.

1)  Selecta, 1964, Heft 2.

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Eines der besonders gefährlichen Merkmale der Tabus besteht darin, daß sie nicht nur — wovon bisher gesprochen wurde — sozial assoziieren, sondern untrennbar davon ebenso sozial dissoziieren, ausschließen. Ein von vielen geteiltes Tabu eint, weil es in bezug auf einen Konfliktbereich die Sicherheit eines feststehenden gleichförmigen Urteiles vorschreibt. Ein für alle gültiges Verbot ist ein besonders vergesellschaftendes Moment, wie wir es sehr deutlich an jeder Erziehungspraktik beobachten können. Wenn die Befriedigung eines Triebbedürfnisses verboten ist, erträgt man das leichter im Verband: wobei sich hier die Ersatzlust genießen läßt, die anderen daraufhin zu beobachten, ob sie sich auch an die Gebote halten. 

Wer das nicht tut, zum Beispiel unbefangen mit einem scharf durch ein Tabu regulierten Thema wie der Einstellung zur Oder-Neiße-Linie umgeht, muß gewärtig sein (egal, auf welcher der beiden Seiten er lebt), daß er rasch von seinen angestammten Bezugsgruppen dissoziiert wird. Über ihn selbst könnte dann ein Tabu verhängt werden, das Tabu der Unberührbarkeit, das ihn zu einem Fremden stempelt, mit dem ursprünglichen Beigeschmack des »Unreinen«, der diesem Begriff anhaftet. Er könnte die Interpretation eines agent provocateur, eines getarnten Kommunisten (Militaristen), eines Verräters, bestenfalls eines entfant terrible einhandeln. Er ist zu einem Fremden geworden, auf den kein Verlaß ist, daß er gemeinsame Spielregeln, also gemeinsame Urteilsstereotype, einhält.

Eigentlich haben wir mit dieser gedrängten Bestimmung einiger Wesenszüge des Tabus auch angedeutet, wie es mit dem Ressentiment verbunden bleibt. »Ressentiment« ist ein schillerndes Wort. Es ist kein Begriff einer Fachsprache, vielmehr nur ein Hilfsmittel der Umgangssprache, um einen bestimmten Gefühlszustand zu bezeichnen. Die Naivität, die hierbei am Werke ist, besteht darin, daß Ressentiments prinzipiell nur andere haben. Wem ein Ressentiment zugeschrieben wird, dem wird unterstellt, er könne nicht verzeihen und vergessen, er pflege aus Bosheit seinen Groll. Diese Unterschiedlichkeit in der Bewertung der Erinnerungsfähigkeit ist durchgehend. Wir können gar nicht genug daran tun, uns an unsere Heldentaten zu erinnern, aber an unsere weniger ehrenvollen Taten werden wir nur höchst ungern gemahnt. Wenn wir jene genauer betrachten, die von bestimmten anderen Leuten behaupten, sie hätten Ressentiments, dann stellen wir in ihrem Tonfall, in ihrer Argumentation fest, daß sie sich moralisch überlegen fühlen. Die geheimer verlaufende seelische Reaktion, die wir hinter diesem Verhalten vermuten dürfen, ist als Abwehr zu kennzeichnen.

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Zuerst einmal als Abwehr der Enttäuschung, daß es nicht gelungen ist, zu der anderen Gruppe eine bessere Beziehung herzustellen. Daß sie jetzt, am Ressentiment ablesbar, verachtet wird, ist, wie wir an der wechselseitigen Verachtung der Deutschen und Polen füreinander zeigten, erst eine sekundäre Einstellung. Erst nachdem die Projektion der eigenen Aggression erfolgt ist, entsteht das Bedürfnis, sie dort mit Hilfe eines Tabus der Unreinheit fixiert zu lassen. Das darf nicht als Ressentiment erkennbar werden.

Die taktische Absicht, die man verfolgt, wenn man das Wort Ressentiment verwendet, ist klar: Wer aus ihm herausspricht, setzt sich ins Unrecht. Während der Niederschrift dieser Sätze wurde in Rotterdam eine Deutsche Woche eröffnet. Der Berichterstatter im Radio zeigte sich befriedigt, daß die Befürchtung, einige ressentimentgeladene Kreise könnten das Ereignis stören, glücklicherweise nicht eingetroffen sei. Gemeint ist, daß einige Bewohner dieser Stadt sich noch an das Bombardement vor fast drei Jahrzehnten durch unsere Luftwaffe erinnern und diesen Überfall nicht verziehen haben. Es schickt sich aber nicht, daran zu erinnern — da doch die Geschäfte blühen und Rotterdam inzwischen zum größten Hafen der Welt aufgestiegen ist. In diesem Fall trifft sich also das Interesse der Bombardierten mit dem der einstigen Angreifer, beide tabuieren die Erinnerung.

Bei einer im August 1964 (vom DIVO-Institut Frankfurt) durchgeführten Umfrage unter der westdeutschen Bevölkerung bejahten 39 Prozent, Prozesse wie der Auschwitzprozeß sollten nicht mehr durchgeführt werden, »weil man nach so vielen Jahren diese Dinge nicht mehr aufrühren soll«. Diese Empfehlung wirkt verführerisch, denn sie stellt immer die Vergangenheit harmloser hin, als sie war; sie hilft jedermann mit gutem Humor, Tritt in der Gegenwart zu fassen: So etwas wie das Bombardement von Rotterdam, so etwas wie Auschwitz wird sich nie wiederholen. Es liegt ganz weit abseits. Wer hier Zweifel hegt, muß selbst eine Neurose haben, muß im Leben zu kurz gekommen sein, muß Ressentiments hegen.

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Wagen wir es wegen einer Tabuverletzung, das Risiko einer Aussonderung unter negativen Vorzeichen in Kauf zu nehmen. Wir sind skeptisch genug, in der Geschichte die ungeheure Kraft des Wiederholungszwanges nicht zu verkennen. Dem angeblichen Ressentiment auf der Seite ehemals mit einem Berührungstabu Versehener entspricht also auf unserer Seite ein wirklich fahrlässiges Verkennen der Gefühle, die unser Zurschaustellen als Herrenrasse hinterlassen hat. Wer sagt denn, daß es nichts als Ressentiment ist, was von polnischer Seite eine Annäherung unmöglich gemacht hat? Oder gibt es nicht doch noch Leute, die es nicht verzeihen, daß keine Herrenrasse sie mehr schützt, in Lidice und Auschwitz tun zu dürfen, was einmal dort zu tun vom Clangewissen legalisiert worden war?

Im Gegensatz zur Bombardierung von Rotterdam und London, die den Selbstwert der Bewohner nicht treffen konnte, haben die Polen die systematischen Erniedrigungsversuche als Individuum und als Nation nicht vergessen können; ihre Ohnmacht war ein zu traumatisches Erlebnis, sie fürchten sich in ihrer unbefriedeten Lage weiter, auch wenn dies dem »verwandelten« ehemaligen Unterdrücker unverständlich vorkommt.

Freud ließ offen, ob die Menschheit sich durch ihre Kultur, die so schwere Lasten des Verzichtes auf den einzelnen legt, unanzweifelbar auf dem Wege der »Besserung« befindet. Die Skepsis bleibt berechtigt, ob eine Niederlage, ein Zusammenbruch der von Einfühlung, Rücksicht ziemlich unbehelligten aggressiven Ansprüche, eine Veränderung der unbewußten Einstellung herbeigeführt oder nur einen kürzer dauernden Schock ausgelöst hat. Die konkrete Szene bei der Prager Stadtrundfahrt demonstriert auf ihre Weise auch den Zusammenhang von Tabu und Ressentiment. Die deutsche Armee eroberte Prag, sie schlug den Freiheitswillen der Feinde wo sie konnte, nieder. Sie war erfolgreich und voller Haß und zeigte es zum Teil, man erinnere sich an Heydrich, sadistisch genießend. Der verlorene Krieg hat diesem Lustgewinn auf unserer Seite ein Ende bereitet. Hingegen können die Tschechen, erst Opfer, dann Sieger, mit kaum eingeschränkter Zustimmung des Gewissens weiterhassen1. Das Recht ist auf ihrer Seite, es rechtfertigt den Haß, er scheint die adäquate Gefühlsantwort. Darüber hinaus fällt ihnen die Erinnerung leicht, denn sie gilt ihren Helden. 

1)  Vgl. S. 35

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Und wer vermag sich dem Genuß zu entziehen, an die Helden der eigenen Geschichte zu erinnern, wenn er das angesichts eines geschlagenen, einstmals ihn tief demütigenden Feindes tun kann? Wer da tatsächlich vor ihm steht und ob dieser spätere Besucher irgendwie beteiligt war an den Schrecken der Gewaltherrschaft, das tritt zurück, solange hassend ein Kollektiv getroffen wird. Der Haß gilt dem alten Bild, wie wir sagten; es hat sich tiefer eingeprägt als das freundliche Selbstporträt, in dem wir uns gegenwärtig erkennen wollen. Einer unserer Patienten, der vier Jahre lang in einem Konzentrationslager leben mußte, erschrickt bei jedem deutschen Polizisten, den er sieht. Er weiß, es ist unsinnig. Aber das Signal, das einmal von dieser Uniform ausging, ist zu mächtig, als daß es durch vergleichsweise belanglose spätere Erfahrungen gelöscht werden könnte. 

Der Kranke hegt nicht einmal ein »Ressentiment« gegen den Typus Polizist als seinen ehemaligen »Quäler«; er kann durchaus unterscheiden zwischen dem »Nachbild« und dem aktuellen Eindruck. Es ist aber immerhin zu bedenken, daß die Unfähigkeit, vergessen zu können, auf der Seite der ehemals von uns Unterdrückten, grausam Verfolgten und Vertriebenen in unauslöschlichen Erinnerungsspuren verankert ist, die bei der leisesten Berührung alarmieren. Wer damals exekutierte, rechtfertigte dies vor seinem Bewußtsein leicht als militärische Notwendigkeit. Heute wird er nicht mehr gerne daran erinnert, wie ein noch amtierender Staatsanwalt zu erkennen gab, der vor kurzem einen Hinweis auf ein von ihm ausgesprochenes Todesurteil mit der Bemerkung beantwortete: »Olle Kamellen.« Wer damals zu den deutschen Okkupationsarmeen gehörte, schwebte nicht vier Jahre in einer vergleichbaren Todesgefahr wie die von militärischer Macht und politischem Terror niedergeworfenen Nationen. Infolgedessen sind für ihn diese Jahre nicht durch prägende Angstsignale bestimmt; er kann vergessen.

Wie wir oben darstellten, kann er sogar ohne Trauer vergessen, ohne Trauer für Hitler, den er so sehr geliebt hat, ohne Trauer für die eigenen Toten (die offiziellen Begehungen an Trauertagen sind Selbstbetrug), ohne Trauer für die unschuldigen Opfer — einfach weil eine tiefe Spaltung der Persönlichkeit ihn von der eigenen Vergangenheit, von Gefühlen, die mit einer Erinnerung an sie natürlicherweise verknüpft werden, trennt. 

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Das ist ein Musterbeispiel des seelischen Abwehrvorganges, den wir Verleugnung nennen und der durch einen zweiten, das Ungeschehenmachen, verstärkt wird — jenes Ungeschehenmachen, das an der hurtigen Beseitigung der Ruinen und Kriegsschäden und beim ideenlosen Aufbau unserer Städte zu beobachten ist. Wir müssen dabei noch einmal daran erinnern, daß die Steuerung dieser Mechanismen nur zum kleinsten Teil bewußt wahrgenommen wird; zum allergrößten Teil wehrt unser unbewußter Ich-Anteil unsere aggressiven Impulse, aber auch, was an Schuld durch ihr Ausleben entstanden ist, ab.

Den ausschlaggebenden Anlaß bei der Entdeckung von Ressentiments im ehemaligen Gegner sehen wir im unbewußten Neid. Die deutschen Besucher Prags, von denen wir hörten, waren unbewußt, mindestens uneingestanden neidisch, daß den Tschechen etwas erlaubt bleibt, nämlich zu verachten, was die mit soviel Herrenbewußtsein auftretende Nation, welcher sie angehörten, seinerzeit tat, solange die Macht mit ihren Bataillonen war, von einem anästhetisch gewordenen Gewissen kaum behindert.

Ressentiment läßt sich in einer ersten Lesart als eine vorbewußt gewordene neidische Enttäuschung bezeichnen. Man bekommt von ihr erst durch den Projektionsvorgang auf andere — in unserem Beispiel auf den tschechischen Fremdenführer — Kunde. Die Projektion bewirkt, daß wir von da an einer Veränderung unserer Wahrnehmung unterliegen: Statt des eigenen Neides und des abgewehrten »bösen« Wunsches tritt jetzt ein bösartiger Zug am anderen hervor, etwa sein bösartiger Unwille, zu vergessen, zu übertreiben oder sich lügnerische Entstellungen tatsächlicher Sachverhalte zuschulden kommen zu lassen. Unser eigener Neid verschwindet hinter der Beschäftigung mit den Untugenden anderer.

Barbara Tuchmann1) hat in ihrem Buch August 1914 treffend beobachtet, daß das Wort »militärische Notwendigkeit« eine besondere rechtfertigende Funktion im deutschen Denken hat. Natürlich werden sich jene Besucher Prags, die bei der ersten sich ergebenden Gelegenheit aus dem Omnibus geklettert sind, gesagt haben, was sich da alles an Geißelerschießungen und ähnlichem zutrug, sei von militärischer Notwendigkeit diktiert gewesen. 

1)  Barbara S. Tuchmann August 1914. Bern und München 1964.

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Die gleiche Notwendigkeit bot sich wie ein unausweichliches Geschick dem deutschen Generalstab 1914 an, als er »sich gezwungen sah«, die Neutralität Belgiens zu verletzen, womit in der Geschichte unserer Zeit das solideste Fundament für den Deutschenhaß gelegt war. Der völlige Mangel an Sensibilität für die Rechtsgefühle, für die Empfindungen der Gegenseite (die doch insofern einem verwandt blieb, als man sich mit ihr in der Anwendung fairer Kampfregeln jedenfalls zu Beginn des Ersten Weltkrieges verbunden sah), diese völlige Anästhesie war aber schon damals im psychologischen Bereich erschreckend genug.

Daß man heute noch die gleiche mangelnde Einfühlung in die verletzten Gefühle jener, die man einmal unterworfen hatte, zu erkennen gibt, stützt die These, daß sich Schreckliches in der Geschichte durchaus wiederholen kann — gerade weil im Dienste der psychologischen Ökonomie die Bearbeitung von Schuldgefühlen durch Realitätsverleugnung erspart werden soll, durch einfache Verleugnung vergangener Greueltaten. Dabei kommt als weiterer Schutz des Selbstgefühls die Abspaltung der Gefühle von den Erinnerungen hinzu: Man liest die Nachrichten über die nicht kaschierbaren Verbrechen ohne sichtliche Emotion; es ist ein Akt der intellektuellen, nicht auch der emotionellen Wahrnehmung.

Die zweite Lesart des Ressentiments ist also durch den Projektionsprozeß bestimmt. Es gilt als Ressentiment, von etwas Aufhebens zu machen, etwas aufzurühren, woran zu erinnern unschicklich geworden ist; und diese schlechte Eigenschaft stellt man immer an anderen fest. Bei sich selbst ist die Pflege der Erinnerung eine Tugend, zum Beispiel die nationale Tugend, treu zu einmal vertretenen Gebieten zu stehen.

Ressentiment, so sagten wir, sei kein Wort der Fachsprache; es ist ein sogenanntes Omnibuswort. Wo immer man auf die Deklaration trifft, daß Ressentiment im Spiele sei, muß der Tatbestand unbedingt sorgfältig durchgearbeitet werden. Seit Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse scheint jedenfalls so viel unwidersprochen klargestellt zu sein: Große, viele Menschen ergreifende, ansteckende seelische Uniformierungen setzen sich aus der großen Zahl untereinander vergleichbarer, ähnlicher, aber je in einem einzelnen vollzogener Verhaltensweisen, aus je in einem einzelnen entstandenen Gestimmtheiten zusammen. 

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Die Frage der Ansteckung ist ein Sonderproblem der Massen- (oder besser Gruppen-)psychologie. Was im Zustande kollektiven Gehorsams gegenüber einem Tabu im seelischen Leben der Person geschieht, unterscheidet sich nicht von den Gesetzlichkeiten, die wir sonst in den engeren Verhältnissen unseres alltäglichen Lebens beobachten können. Gruppenlösungen, ideologische Forderungen, die ganze Zivilisationen einigen, werden nach den gleichen Gesetzen des »psychischen Apparatesu behandelt, die auch lokalere, engere soziale Beziehungen regulieren. Mit anderen Worten, um nochmals bei unserem Beispiel zu bleiben: Ein gewisser Konsensus darüber, daß man es sich — wirtschaftlich wieder genesen, mit mächtigen Verbündeten — nicht gefallen lassen muß, in Prag von einem Fremdenführer an Geiselerschießungen erinnert zu werden, erleichtert es dem Touristen der Gegenwart, sein Gewissen in bezug auf die Vergangenheit zu beschwichtigen. Indem er der Erinnerung ein blindes Auge zuwendet, tut er nichts anderes als wir alle, wenn wir privat nicht an nicht eingelöste Versprechen oder egoistische Unterlassungen, an Lügen und Vergehen, an Bosheit und Sadismen in der Kleindimension unserer persönlichen Vergangenheit erinnert werden wollen.

All das mißfällt unserem Gewissen an uns, und diese Einschätzung möchte unser Ich unserem Selbstgefühl und Selbstideal vorenthalten; die bürgerlich anständige Persönlichkeit, die wir in unseren und der anderen Augen sind, soll nicht mit solchen Zweifeln belastet werden. Durch derartiges Ausweichen werden aber die höher organisierten seelischen Leistungen gelähmt, nämlich die Fähigkeit, Realität auch dann noch kritisch durchzuarbeiten, wenn ein primitiver, organisierter Selbstschutz einsetzen will. Unser infantiles Ich hilft sich, wenn es in Bedrängnis gerät, mit solchen Verleugnungen (»Ich bin es nicht gewesen«) und mit dem Ungeschehenmachen (indem es vergleichsweise die zerbrochene Tasse zusammengefügt in den Schrank stellt), mit Verdrängung und Verkehrung ins Gegenteil (»Du bist schuld, nicht ich«). Mag sein, daß wir es unter Zuhilfenahme solcher unreifer Methoden des Selbstschutzes dahin bringen, daß die Zeugnisse der Vergangenheit für unsere Erinnerung verblassen, für die Erinnerung der anderen besteht kein so dringlicher Grund dazu.

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Jedoch ist in diesem Zusammenhang einer bedrohlichen Verleugnungstaktik zu gedenken: Die große Mehrheit unseres Volkes hat sich als »nicht betroffen« erklärt. Geben wir uns nämlich den skizzierten Verteidigungen unseres Selbstwertes hin, dann ändert sich auf diese Weise die psychische Kondition nicht, die jene für uns vergilbten Greuel bewirkt hat. Schmerzliche Erfahrungen und Schuld bringen in dem Ich nicht Reifungsfortschritte in Gang, mobilisieren nicht die Fähigkeit, unter Schulddruck kritisch weiterzudenken, Enttäuschungen über das eigene Verhalten ertragen zu können und ähnliches. Die Energie des Ichs verzehrt sich statt dessen in der Abwehr der Wiederkehr des Verdrängten. Das Ich schützt sich mit Erinnerungslücken und bleibt grosso modo, wie es war. Damit wird es rückständig. Es verliert die Fähigkeit, sich unbehelligt der Vergangenheit zuzuwenden.

Einer kleinen Gruppe von »Vergangenheitsforschern« quasi als Spezialisten wird der Auftrag erteilt, Spuren zu verfolgen, aber — und das ist ein neuer Abwehrmechanismus — man überläßt es diesen Historikern, Staatsanwälten oder Richtern, sich stellvertretend mit der Schuld der Vergangenheit zu beschäftigen. Sie bleiben sich dabei selbst überlassen, die Ergebnisse ihrer Forschung werden in einer psychisch wirksamen Isolierung gehalten.

Der Wirkungszusammenhang von Tabu, Ressentiment und Rückständigkeit läßt sich verallgemeinern: Eine Gesellschaft, die in den zentralen politischen und gesellschaftlichen Aufgaben von Tabus bestimmt wird, muß rückständig werden, und dies um so rascher, je eingreifender politische, ökonomische, psychologische Prozesse die tabugeschützte Struktur dieser Gesellschaft beeinflussen. Es entwickelt sich dann eine Kluft zwischen dem vom Tabu gesteuerten Denken, das die Vergangenheit repräsentiert, und Entwicklungschancen, die aus zum Beispiel technischen Entdeckungen oder dem Versuch einer neuen Besitzverteilung sich ergeben. Die kapitalistischen Länder lehnten etwa die Ideologie des Bolschewismus ab; sie verletzte ein zentrales Tabu, den Privatbesitz an den Produktionsmitteln. 

Darüber ist bis heute noch nicht zu reden; aber es unterscheiden sich die pragmatisch orientierten von den Tabu-orientierten Nationen darin, daß die einen die Existenz eines neuen Rußland zur Kenntnis nahmen und sich in mannigfacher Weise mit ihm auseinanderzusetzen begannen (vom Handel ganz zu schweigen), während die anderen

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sich an das Tabu hielten und in der Erwartung lebten, daß auf dessen Verletzung die Strafe automatisch folgen müsse. Das verhindert die Anpassung an eine neue, dem Tabu widersprechende Realität. Im Gegenteil, die Spannung steigt, und die Ressentiments mehren sich, bis zu jenem Augenblick, in dem dann die gewaltsame Korrektur durch einen Krieg versucht wird.

Jede Tradition ist von Tabus durchdrungen; ihre Brisanz wechselt, denn es sind natürlich nicht nur die aggressiven Strebungen, die hier eine Ritualisierung erfahren, sondern auch den libidinösen Erwartungen wird durch die Beachtung von Tabus eine zwar eingeschränkte, aber doch erlaubte Befriedigung zugänglich. Wie immer ist es das aggressiv-libidinöse Mischungsverhältnis, das die Grundstimmung, die generelle Affektlage einer Gruppe bestimmt; denn nicht eine jede ist zum gleichen fähig.

Da sich der Einfluß von Tabus (und aus ihnen stammenden Ressentiments) dem Bewußtsein der meisten Menschen weitgehend entzieht, wirken sie oft in ungebrochener Kraft durch lange historische Epochen. So ist auch unsere faschistische Periode nicht ohne Vorgeschichte denkbar, und es wäre unrealistisch, anzunehmen, mit dem Ende des Dritten Reiches seien alle in ihm wirksamen Denkstereotype (welche die Anweisungen von Tabus ausformulieren) und Wertorientierungen erloschen. Die Formel »Im Jahre 1945 war der Punkt Null« wurde zuweilen aus dem Gefühl innerer Befreitheit, häufiger mit einer Beimischung von Ressentiments gebraucht. Sie war jedenfalls einer kindlichen (ob naiv, ob unter Schulddruck geübten) Verteidigung des Selbstbewußtseins dienlich, und zwar der Auffassung, man dürfe den staatlichen mit dem psychologischen Neubeginn in eins setzen. 

Das ist jedoch ein unbewußt determinierter Irrtum. Der Wunsch, man möge als »neuer Mensch« ein neues Leben beginnen können, befreit von allem, was sich im Dritten Reich zutrug und woran man mitgewirkt, was man — zumindest sich selbst schützend — geduldet hatte, ist gut verständlich. Ihm ist zuzuschreiben, daß viele Menschen unseres Landes nicht in einer kontinuierlichen Realität leben und auch ihre Identität nicht bewahrt haben. Was geht da eigentlich im Rahmen der sogenannten psychischen »Normalität« vor sich? 

Die heute Sechzigjährigen haben miterlebt, wie sich im Laufe ihres Lebens viermal die politischen Machtverhältnisse geändert

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haben, vom feudal-aristokratischen Kaiserreich zur Demokratie der Weimarer Republik, zur faschistischen Herrschaft, die man nach innerpolitischen Gesichtspunkten nur sehr bedingt als Terrorsystem bezeichnen darf, weil man — etwa 1938 oder 1940 — nur Brot und Butter in Deutschland zu kaufen brauchte, um zu sehen, daß hier nicht ein Volk unter einer es politisch-ideologisch überfremdenden Diktatur litt. Vom autoritären Führerstaat weiter mit fremder Hilfe zurück zur Demokratie — aber nur für diesen Teil des Landes, während der andere sich nach seiner Vorprägung sowohl mit einer ideologischen wie einer echten politischen Fremdherrschaft zurechtfinden muß.

Diese aufeinanderfolgenden Herrschaftssysteme sind gewiß von den Krisen und Wachstumsvorgängen der technisch-industriellen Entwicklung mit angestoßen worden; niemand wird dem industriellen Wettlauf vor 1914 oder der Weltwirtschaftskrise um den Beginn der dreißiger Jahre ihre Bedeutung für den Untergang des Kaiserreiches bzw. der Weimarer Republik und für die Heraufkunft eines technisierten Despotismus, wie ihn Europa nicht gekannt hat, bestreiten wollen. Aber hierin die alleinige Erklärung zu suchen wäre eine Einseitigkeit, die an jene in der naturwissenschaftlichen Medizin praktizierte erinnert, Krankheit nur aus materiellen Vorgängen am Organ zu erklären und Erlebnisprozesse, die in hohem Maße organisches, materielles Geschehen steuern, nicht zu berücksichtigen. Eine große Lücke unseres Wissens klafft dort, wo wir die Frage beantworten sollen, warum seit der Renaissance die europäische Szene nicht mehr zur Ruhe gekommen ist, warum eine geniale Welteinsicht der anderen folgte, aber das Wissen des Menschen über sich selbst mit sehr viel weniger Elan vorangetrieben worden ist, so daß heute zwischenmenschliche Barbarei mit allem technischen Raffinement betrieben werden kann.

Es muß eine starke Belastung des einzelnen in Deutschland bedeutet haben, derartige Stilbrüche des politischen Lebens mitvollziehen zu müssen. Und doch muß die kulturspezifische deutsche Charakterformung an diesen Umbrüchen entscheidend beteiligt sein; etwa daran, daß die Weimarer Republik nicht zum Funktionieren gebracht werden konnte und Millionen depressiven Phantasien vom starken Befreier nachhingen, die sie prompt zur Beute politischer Abenteurer werden ließen. 

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Wie jedermann tragen wir an jenen Zügen unseres Charakters weiter, die vor dreißig Jahren den Nazistaat zur Macht gebracht haben und die uns ohnmächtig machten, diese einmal gerufenen Machthaber wieder loszuwerden — etwa durch einen Bürgerkrieg, den wir so sehr verabscheuen, daß wir uns lieber dem Irrsinn unterwerfen. So bedurfte es einer der ganz großen Katastrophen der Geschichte, um uns zu »befreien«. Wir bringen unweigerlich aber unseren historisch erworbenen Charakter auch in unseren neuen Staat mit; nicht anders ist es in der DDR, wo sich rigider Untertanengeist in neuer politischer Einkleidung zur Macht gebracht hat.

Was nun die Rückständigkeit, diese Sterilität des Lebensmutes, als kollektive Verfassung betrifft, so bietet sich erneut die Parallele zu den psycho-neurotischen Erkrankungen an. Auch in ihnen sieht sich der Leidende in die Rückständigkeit manövriert. Im Symptom der seelischen Krankheit, sei es einer Phobie, eines Zwanges, einer Perversion, steht die Entwicklung still. Der Endeffekt ist, daß der Leidende, je kränker er ist, desto mehr von seiner Aufmerksamkeit, von seiner geistigen Beweglichkeit, seiner Phantasie, insgesamt von den Energien seines Seelenlebens der Abwehr des Unbewältigten opfern muß. Es wird zur absorbierenden Aufgabe, die »Wiederkehr des Verdrängten« zu verhindern. Von jeder dieser seelischen Krankheiten kann man sagen, sie halte den Patienten, jedenfalls in Teilen seines Wesens, infantil. 

Seelische Krankheit erzwingt also Reaktionsstarre und Rückständigkeit. Mit kollektiven seelischen Verfassungen, die auf unzulänglicher Durcharbeitung eines Konflikts, eines Traumas beruhen, die dieses Trauma, weil es zu sehr schmerzt, unbewältigt lassen und es zugleich tabuieren, ist das ebenso. Soweit das Symptom — hier zum Beispiel die Denkhemmung — herrscht, kann keine Realitätsveränderung wahrgenommen und kein Anpassungsschritt vorgenommen werden, der ein neues Selbstverständnis ausdrückt. Bildlich gesprochen: Man ist in einer (infantilen) Position, in der einem der Stempel aufgedrückt wird, in der man nicht sich selbst in jenem Spielraum bestimmt, der sich mit kreativer Freiheit umschreiben läßt. Individuum und gleichermaßen ein Kollektiv, das sich derart einstimmt, verharren in der Fixierung an bestimmte Abwehrformen unbewußt motivierender Tendenzen.

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Die chronische Wiederholung des krankhaften Verhaltens dient dazu, diesen Konflikt in Schach zu halten; geschlichtet werden kann er auf diese Weise freilich nicht. Die Methode der Konfliktverdrängung überwiegt die Neigung zur Konfliktbearbeitung; letzteres ist aber die Aufgabe, die normalerweise vom Erwachsenen gefordert wird.

Realität läßt sich nur dann gerecht und nicht allzu befangen einschätzen, wenn der einzelne gelernt hat, dem Lustprinzip — zu dem das Streben nach Geborgenheit in den Gruppengefühlen gehört — insoweit abzuschwören, daß er zwischen Wunschdenken und realisierbarer Hoffnung zu unterscheiden vermag. Pocht einer auf die Erfüllung seiner Wünsche, wie wir etwa auf die Wiederherstellung der Grenzen von 1937, und hat er das in der Erwartung getan, daß die Gegenseite in allem nachgeben müsse, dann wird er wenig erreichen; das wieder nährt die Ressentiments. Die bewußt gesuchte Verständigung muß ausbleiben. Die Unfähigkeit zum produktiven Kompromiß zeigt, vom Leben des Individuums bis hin zu dem nationaler Gruppen, die unbewußte Fixierung an Tabus und von ihnen gesteuerte Vorurteile an.

Der Zusammenhang des Früheren mit dem Späteren, der in unserer schematisierten Darstellung so klar ist, im Leben ist er es gerade nicht. Das Symptom (kollektiv: die wirre Forderung) steht an der Stelle der Erinnerung, steht anstelle der Einsicht in den tatsächlich wirkenden Zusammenhang. Ungeschlichteter Widerstreit verlangt nach Lösung, erzwingt — da diese nicht erreichbar ist — eine Ersatzbefriedigung. In diesem Wirkungskreis hat das Krankheitssymptom oder das Charaktersymptom seinen Platz. Der Endeffekt ist folgender: Je mehr sich unter dem Zwang von Tabus und ressentimentgeladenen Affekten das kritische Ich zur Nachgiebigkeit gezwungen sieht, desto mehr muß unbefangene Aufmerksamkeit, geistige Beweglichkeit der Abwehr jener Triebwünsche geopfert werden, die in einer »unbewältigten Vergangenheit« nicht zur Ruhe kommen.

Aber nur wenn wir vorsichtig verfahren, können wir die soeben umrissene Zwangslage, die in den psycho-sozialen Immobilismus führt, vom einzelnen auf Gruppen, ja sogar auf so unabsehbar ausdifferenzierte Kollektive wie Nationen übertragen. Ein Verhalten, das sehr häufig wiederkehrt, ist als typisch anzusehen. Die große Zahl der Individuen hat in der Tat auch gleiche Erfahrungen gemacht, auch vergleichbare Gewissenskonflikte erlebt:

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Zuerst hat man sich an etwas beteiligt, was damals als »nationale Erhebung« proklamiert wurde, dann hat dieses »man« nichts gegen die Verfolgung von Minoritäten unternommen, sich erfolgreich blind und taub gestellt, die Zerstörung der Städte, den Untergang von Armeen, den Tod von Millionen von Landsleuten gemeinsam in passiver Haltung gegenüber den Gewalthabern erlitten.

Für nicht einmal wenige waren die von der Naziideologie gestützten Allmachtsphantasien so unerschütterbar, daß man bis fünf Minuten nach zwölf die Realität verleugnen konnte.

In der Identität des einzelnen müssen diese Vorgänge — sicher je nach seiner Charakterstruktur — eingezeichnet sein. Das oft gehörte Argument, die Menschen seien doch so verschieden, daß immer noch eine Skala verschiedenster Reaktionen bestehenbleibe, auch wenn hoher sozialer Zwang herrsche, scheint nicht stichhaltig. Denn die Reaktionen auf die Naziherrschaft waren gar nicht so verschieden. 

Im Nazistaat gab es eigentlich nur drei Antworten auf die neuen Verhältnisse: 1. politische Apathie — die Gruppe, die nicht zum aktiven Widerstand, aber auch nicht zur aktiven Unterstützung bereit war, blieb recht schmal; 2. den Glauben, dem lange eine überwältigende Mehrheit anhing; 3. den Unglauben, zu dem sich während des ganzen Dritten Reiches nur eine prozentual ganz unerhebliche und politisch stets ineffektive Minorität hinfand. Die Anteilnahme war so unterschiedlich also nicht. Rechnet man noch hinzu, daß auch die Aufzuchtverfahren (die Erziehungsmethoden also) in Deutschland relativ homogener Art sind, daß in allen Schichten in der Erziehung eine ungeduldige Forderung nach Gehorsam, der nicht von Fragen aufgehalten wird, sich durchsetzen darf, so wird man vergleichbare vorgeformte, kräftig wirksame Muster der sozialen Anpassung erwarten dürfen. Mit anderen Worten: Es scheint ein nicht weltfernes Unternehmen, ein typisches Individuum zu konstruieren, das in die Nazizeit hineinwächst, sie durchlebt, in den neuen Staat Bundesrepublik hineinwächst und sich in ihm anpaßt.

Dieser »Typus« hat bis heute die Geschicke der Bundesrepublik in seinen Händen gehalten; er hat auch die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen erzogen. Weil er tief in sich selber gespalten ist, muß das unverkennbare Spuren in den Jüngeren hinterlassen.

Denn wir alle durchlaufen Identifikationen mit Älteren, die nach ihrer Eltern-, Lehrerrolle als »Vorbilder« wirken müssen, ehe wir die eigene Identität finden.

Es ist deshalb illusionär, anzunehmen, eine junge Generation könne leicht das Joch der Vergangenheit, das Joch von geheiligten Traditionen und Vorurteilen abwerfen. Sie wird das Erbe an Verhaltensmustern modifizieren. Das ist die Chance, mehr nicht. Eine der Möglichkeiten zur Modifikation liegt darin, daß die Abwehr von Schuld in der neuen Generation nicht mehr so unmittelbar und bedrängend gefordert ist. Das läßt eine etwas affektfreiere Beurteilung von Sachverhalten zu, die bisher unter Tabuschutz standen. Ein scharfes kritisches Durchdenken der tabuierten Vergangenheit gibt mehr Mobilität für die Entschlüsse in der Gegenwart. 

Wenn es ein Rezept gegen die Fortdauer von unbewußt wirksamen Motivationen gibt, so ist es die Förderung einer neuen Aufklärung an allen Stellen, an denen sich die Gesellschaft den nachwachsenden Generationen vermittelt. Wir haben es freilich mit einem Kolossus von Schuld zu tun, der solcher Aufklärung widerstrebt. Selbst das darf uns nicht abschrecken, denn die Suche nach der Wahrheit über die Vergangenheit stellt den ersten Schritt zur Quittierung des Wiederholungszwanges dar. Er hat auf schreckliche Weise Geschichte gemacht, wir können es uns, wenn uns das Leben unserer Nachfahren lieb ist, nicht mehr leisten, im antikischen Sinn das Fortzeugen der Schuld als »Schicksal« hinzunehmen.

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