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 II.3
 Zur Psychologie des Vorurteils   

 

135-157

Vorurteile sind - genauer betrachtet  - ein verblüffendes Phänomen. Wer von ihnen sicher gedeckt ist, lebt oft angenehm, denn er weiß mühelos über Dinge Bescheid, von denen er wenig versteht. Wenn wir aber auf jemanden treffen, der uns zu seinen Vorurteilen überzeugen will, ohne daß wir in der Stimmung sind, mit ihm d'accord zu gehen, so ist es oft zum Verzweifeln. Gegen Meinungsbesessenheit ist auch mit guten Argumenten nicht viel auszurichten.

Diese Starrheit muß uns neugierig machen. Wie kommt es denn zu derart unerschütterlichen Überzeugungen, in denen sich Bruchstücke von Realität und unsere Einbildung vermengen?

Als erstes fällt an Vorurteilen auf, daß man sie nicht in Ruhe haben kann. Sie sind unauflöslich mit Gefühlen, oft mit solchen heftigster Art, verknüpft. Wir kennen jemanden vielleicht nur flüchtig, dann wird über ihn von Leuten, die uns wichtig sind, abschätzig gesprochen. Schon finden auch wir ihn egoistisch, eitel, unaufrichtig oder was immer gegen ihn vorgebracht wird. Im Gegensatz zur Spärlichkeit unserer eigenen Erfahrung gewinnt dabei unser neuerworbenes Vorurteil eine beträchtliche Leuchtkraft. Alsbald kann es uns jenes Opfer eines sich verbreitenden Vorurteils nicht mehr recht machen, was es auch tun mag. 

Ein anderes Beispiel: In einer Ausstellung begegnen wir Gemälden eines neuen, uns ungewohnten Stils und urteilen relativ rasch, als hätten wir die Berechtigung dazu, sie seien das Werk von Nichtskönnern. Mit Musik, in ungewohnter Tonfolge gesetzt, ergeht es uns nicht unähnlich; wir sprechen von Katzenmusik. Immer ist also etwas sprungbereit in uns, zu verurteilen (und umgekehrt auch zu idealisieren) und uns dabei der Rückendeckung durch Gleichgesinnte zu versichern. Es schafft Befriedigung, sich über diese kläglichen Konkurrenten, diese offensichtlichen Stümper etc. erhaben fühlen zu dürfen (sich zu den Anhängern einer hervorragenden Person zu rechnen). 

Welche besondere Erlebnisqualität ein Vorurteil mit sich bringt, läßt sich schwer beschreiben, jedoch wissen wir alle genau, worum es geht. Offenbar entspricht es drängenden inneren Bedürfnissen, Realität so zu erleben, wie sie uns sich in einem Vorurteil oktroyiert, nämlich als einleuchtend, überzeugend, evident. Aber wir haben keine Ahnung, daß wir mit unseren Interessen am Zustandekommen dieses Eindrucks beteiligt sind. Er begegnet uns als ein ganz objektiver. Unsere kritischen Fähigkeiten unterwerfen sich in diesem Augenblick der trügerisch-überzeugenden Wirklichkeit, welche das Vorurteil schafft. Unser Mißtrauen, unsere Vorsicht sind eingeschläfert und wie gelähmt. Eine große Zahl von Vorurteilen begleitet uns während langer Lebensperioden, ohne daß wir jene Distanz zu ihnen gewännen, die es uns erlaubte, sie zu revidieren.

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In der phänomenologischen Betrachtung treten an den Vorurteilen zunächst diese Starrheit und Unzulänglichkeit hervor und als zweites die Tatsache, daß sie überaus vielfältig in unser Affektleben einbezogen sind. Es dürfte sich lohnen, die Phänomenologie durch eine dynamische Betrachtungsweise zu ergänzen: Welcher Ökonomie dient eigentlich diese Mischung aus Wahrheit und Trug? Gewiß wird das Sonderbare dieser seelischen Gebilde deutlicher, wenn man die eigentlichen Vorurteile von den vorläufigen Urteilen, die wir ebenfalls unablässig vollziehen, unterscheidet.

Gordon W. Allport definiert sehr genau: »Vorläufige Urteile werden nur dann zu Vorurteilen, wenn wir sie unter dem Eindruck neuen Wissens nicht zurücknehmen können.«1) In einem Essay Über das Vorurteil zitiert Max Horkheimer2) einen Brief von Theodor Mommsen, der auch hier angeführt sei, weil er ein Vorurteil anspricht, das vielen Individuen mit hoher Überzeugungskraft Realität vorgetäuscht hat und vortäuscht. Es wird meist nicht nur nicht zurückgenommen, sondern auch noch von einer Generation auf die nächste übertragen. Daneben ist in dem Brief aber auch von einem vorläufigen Urteil die Rede. Es heißt dort:

»Sie täuschen sich, wenn Sie annehmen, daß überhaupt etwas durch Vernunft erreicht werden könnte. In den vergangenen Jahren habe ich das selbst geglaubt und fuhr fort, gegen die ungeheuerliche Niedertracht des Antisemitismus zu protestieren. Aber es ist nutzlos, völlig nutzlos. Was ich oder irgend jemand anderes Ihnen sagen könnten, sind in letzter Linie Argumente, logische und ethische Argumente, auf die kein Antisemit hören wird. Sie hören nur ihren eigenen Haß und Neid, ihre eigenen niedrigsten Instinkte. Alles andere zählt für sie nicht. Sie sind taub für Vernunft, Recht und Moral. Man kann sie nicht beeinflussen ... Es ist eine fürchterliche Epidemie, wie die Cholera — man kann sie weder erklären noch heilen. Man muß geduldig warten, bis das Gift sich selbst aufgezehrt und seine Virulenz verloren hat.«

Das Urteil über die Cholera war ein vorläufiges. Wir haben ihren Erreger inzwischen kennen und zu bekämpfen gelernt. Mommsen würde, um den unerklärlich ansteckenden Charakter mancher Vorurteile in bestimmten historischen Augenblicken anzudeuten, heute einen anderen Vergleich wählen müssen.

1)  G.W. Allport The Nature of Prejudice. Cambridge (Mass.) 1954, 9. 
2)  Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Mai 1961.

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Es fällt uns allen nicht schwer, ein vorläufiges Urteil zu revidieren. Wo wir zu erklären gelernt haben, ist das eine Verbesserung der Aussicht auf Heilung. Der Wissensfortschritt hat im allgemeinen keinen Konflikt ausgelöst, in dem wir Realität durch Phantasievorstellungen ersetzen würden. Wir sind froh, der Cholera Herr zu werden. Hinsichtlich der mit »Meinung« und Affekt vollgestopften echten Vorurteile — wie etwa rassischer Vorurteile — befinden wir uns in einer ganz anderen und immer noch recht hilflosen Situation. Hier wird ein Konflikt zwischen uns und verzerrt eingeschätzten anderen sichtbar; und wir brauchen offenbar leider diesen Konflikt und die Realitätstäuschung. Wir scheinen, soweit wir zum Beispiel Antisemiten sind, gar nicht froh darüber zu sein, wenn uns jemand auf Irrtümer unsererseits aufmerksam macht. Was der Vorurteilsbefangene erlebt, wenn man ihn in seiner Meinungssicherheit erschüttert, ist Unlust, Verstimmung; dem weicht er aus.

So versteht man dann auch, daß uns die Betrachtung von Vorurteilen im Laufe der Geschichte lehrt, sie gehörten zum Haltbarsten, was man in ihr vorfindet. Unter Umständen sind sie viel haltbarer als staatliche Gebilde. Diese können einander ablösen, die Vorurteile der in ihnen Lebenden brauchen sich deshalb keineswegs viel zu ändern. Stereotype Vorurteile von Nationen, Rassen oder Religionen übereinander erhalten sich besonders dann hartnäckig, wenn mit ihnen Schuldgefühle verdeckt werden müssen. Daß Neger »andere« Menschen sind (nämlich nicht so intelligent und zuverlässig, dafür um so chaotisch triebhafter als wir selbst), wird um so glaubhafter, je mehr unser Verhalten (Gettoisierung, Ausübung von unbeschränkten Herrenrechten, Vorenthaltung gleicher Bildungschancen etc.) über den tatsächlichen Phänotypus hinaus die soziale »Verschiedenheit« herbeigeführt hat.

Erinnern wir uns ferner an das Vorurteil, es gebe angeborene soziale Privilegien, die als »Gottesgnadentum« Jahrhunderte hindurch eine unbefragbare Autorität ausstrahlten. Dazu gehört als ein Kontrastbild das des Unterprivilegierten, des Leibeigenen etwa, der sich selber durch viele Generationen in seiner Stellung in der Gesellschaft gar nicht in Frage stellte. 

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Solange es ihn gab, stand er so unter dem Diktat des Vorurteils hierarchischer »gottgegebener« Ordnung, daß er kein Bewußtsein dafür zu entwickeln vermochte, dieses Ordnungsprinzip werde von Vorurteilen hergestellt. Die soziale Welt gilt dann beiden Seiten als vorgegeben wie die natürliche. Eine existierende Machtverteilung in der Gesellschaft erscheint als eine Selbstverständlichkeit, als etwas, was mit den höchsten, weltschöpfenden Mächten in Übereinstimmung, in Harmonie steht.

Es bedarf einer Distanz zu den eigenen Affekten, die uns den Inhalt eines Vorurteils so nahelegen, so wichtig machen. Ein Zurücktreten, ein Durchdenken der Lage ist nötig, um zu erkennen, was durch die Empfehlung eines Vorurteils an Wirklichkeit verdeckt wird. Teilen wir es mit anderen, so muß geklärt werden, welche Bedingungen einer Gesellschaft diesen Rückzug aus der Wirklichkeit fördern.

Vorurteile dienen der Abwehr unangenehmer Einsicht. Mehr oder weniger weitgehend unterliegen wir alle dieser Versuchung. Ihr Zustandekommen ist das Interessante, und wir können, wie bei der Cholera, die wirksamen Bedingungen heute etwas weiter erkennen.

Die Unzugänglichkeit gegen Einsicht, welche das Vorurteil kennzeichnet und oft eine absolute Schranke der Verständigung darstellt — Mommsen spielt auf sie an —, ist vielen Denkern in der neueren Zeit aufgefallen. Zu erinnern ist an Le Bons Psychologie der Politik, ein fast vergessenes Buch. In ihm unterscheidet Le Bon zwischen Instinkt-Logik und Verstandes-Logik, und er sagt (in Übereinstimmung mit Mommsen): »Den Versuch zu unternehmen, aus Verstandes-Logik zu erklären, was aus Instinkt-Logik entstanden ist, heißt, nichts aus der Geschichte lernen.« Und doch kann es Le Bon (wie alle anderen Autoren, die auf die Vernunft setzen) nicht aufgeben, der Instinkt-Logik mit Hilfe der Verstandes-Logik auf die Spur zu kommen. Denn dies ist der einzige Weg, auf dem wir überhaupt Vorurteile als solche entdecken.

Der nächste Schritt wäre dann, zu verstehen, wieso sie sich bilden konnten. Hier muß das Thema eingeschränkt werden. Das ganze Gewicht sozialer Einflüsse, welche die belastende Realität bilden und aus der Vorurteile einen erleichternden Ausweg zu bieten scheinen, kann hier nicht behandelt werden. Vielmehr beschränkt sich dieser Versuch auf die Untersuchung der psychologischen, der intrapsychischen Prozesse bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Vorurteilen.

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Von den sozialen Faktoren sei lediglich ein einziger herausgegriffen; nämlich, daß die Ausbeutung von Menschen vornehmlich mit Hilfe von Vorurteilen bewerkstelligt wird. Das beginnt in der klassischen Situation sozialer Ungleichheit, der Erziehung. In ihr werden zur Formung des jungen Menschen nach dem Vorbild sozialer Rollenmuster einzelne auf verschiedenste Weise miteinander verknüpfte Vorurteile übermittelt. Mit ihrer Übernahme vollzieht sich ein wichtiger Anpassungsschritt des Neulings, aber zugleich wird damit ein bestehendes Herrschaftsverhältnis stabilisiert. »Ausbeutung« — das Wort ist absichtlich zur Kennzeichnung des Geschehens gewählt — meint eine Machtherrschaft des Stärkeren über den Schwächeren, in welcher der Stärkere dem Schwächeren nicht erlauben will, den Herrschaftsanspruch in Frage zu stellen. Eine Vorstellung wie die vom Gottesgnadentum oder von der Auserwähltheit bei Juden und Calvinisten muß gleichsam durch sich selber wirken wie eine unserer Erkenntnis apriorisch gegebene Erfahrung. So und gar nicht anders denkbar muß die Welt durch Vorurteile werden.

Damit haben wir eine wichtige Qualität des Vorurteils hervorgehoben. Es drängt sich uns mit Selbstverständlichkeit auf und schläfert oder schüchtert unser kritisches Ich ein. Wir errichten mit der Annahme und Übernahme von Einstellungen, die von Vorurteilen bestimmt sind, ein rigides System in uns selbst, meist ohne es zu wissen. Dabei ist weniger an die kleinen, privaten Vorurteile gedacht, die fließend in Wahninhalte übergehen können, als an gesellschafts- oder gruppentypische, die unseren Charakter auf Strecken, manchmal auf große Strecken ausmachen können. Wir erliegen hier einem »Reflexionsblock«, einer Reflexionslähmung, können vorurteilsbesetzten Komplexen der Realität gegenüber plötzlich nicht mehr nachdenken, reflektieren, uns abwägend verhalten, sondern es erscheint uns ein Stück Welt mit Evidenzcharakter, als so und nicht anders, als so selbstverständlich, daß es sich gar nicht lohnt, eine Frage darauf zu verschwenden. Zweifel kommen uns nicht in den Sinn.

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Wie an die Gesellschaft, in der das Individuum lebt, so können wir auch an unsere seelischen Instanzen die Frage richten, ob sie ein offenes oder ein geschlossenes System bilden. Wie sind die Machtverhältnisse draußen? Wie weit kann man nach eigenen Kräften innerhalb der Gesellschaft seinen Platz finden, oder wieweit wird dieser Ort von Standes- oder Klassen- oder Kastengesetzen hergestellt, die ein System von Vorurteilen darstellen? Die dauerhaftesten dieser Statussysteme konnten sich gar nicht anders als unter Berufung auf die Gottwohlgefälligkeit ihrer Privilegien verteidigen oder mit dem Hinweis, daß alle »anständigen« Menschen eben so und nicht anders handeln. Das ist zwar eine logisch genügsame Beweisführung, aber der Konformismus bekommt in ihr gleichsam metaphysischen Adel. 

Genauso verhält es sich intrapsychisch: Wieweit handelt es sich bei einer Vorurteilsorientierung um die Befangenheit in einem »geschlossenen« System fest vorgegebener Reaktionen auf stabil gewordene Wahrnehmungstäuschungen? Denn als solche kann man Vorurteile beschreiben. Die Täuschung kann nicht revidiert werden, weil durch den verinnerlichten »Terror« des Kollektivs (so und nicht anders sollst du denken, handeln) die kritischen Urteilsfähigkeiten unseres Ichs ausgeschaltet werden. Verliert unser Ich aber die entscheidende Voraussetzung jeder konstruktiven Unbotmäßigkeit, die Fähigkeit zum selbständigen Denken über die Objekte, die es vorfindet, dann fällt es in Hörigkeit — in Vorurteilshörigkeit.

Aber es bleibt nicht dabei, daß unser Ich dieser intrapsychischen Diktatur unterliegt — einer Diktatur, die eigene innerseelische Bedürfnisse errichtet haben —, es macht den Diktator auch noch zu seinem Ideal und identifiziert sich mit ihm, wie dies Sigmund Freud zuerst in Massenpsychologie und Ich-Analyse1) beschrieben hat. Immer dann erhalten Vorurteile eine besondere Durchschlagskraft und lähmen gleichsam das Ich wie das Pfeilgift Kurare die Muskulatur, wenn sie als Folge der Identifikation mit einem zur Macht gelangten Volksführer übernommen werden. Indem ich nach seinem Willen (und damit vorurteilshaft) handle, werde ich besonders wertvoll, weil ich wie der Führer werde. Diese mit Glücksgefühl vollzogene Selbstbeschränkung auf die Rolle des gehorsamen Kindes war während der Herrschaft Hitlers überaus deutlich zu beobachten. Hinter solchen Glücksgefühlen steht freilich die Angst vor dem gefürchteten Übermächtigen des Gott-Vater-Führer-Objekts. Auch diese Angst zwingt uns in den rettenden Konformismus im Vorurteil.

 

1) S. Freud, Ges. Werke XIII. 
(Vgl. auch Anna Freud Das Ich und die Abwehrmechanismen. München 1964; sie behandelt in der »Identifizierung mit dem Angreifer« einen einschlägigen Vorgang).

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In seinem schon mehrfach zitierten Aufsatz aus dem Ersten Weltkrieg Zeitgemäßes über Krieg und Tod schreibt Sigmund Freud: 

»Menschenkenner und Philosophen haben uns längst belehrt, daß wir Unrecht daran tun, unsere Intelligenz als selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom Gefühlsleben zu übersehen. Unser Intellekt könne nur verläßlich arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühlsregungen entrückt sei; im gegenteiligen Fall benehme er sich einfach wie ein Instrument zu Händen eines Willens und liefere das Resultat, das ihm von diesem aufgetragen sei. Logische Argumente seien also ohnmächtig gegen affektive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen, die nach Falstaffs Wort so gemein sind wie die Brombeeren, in der Welt der Interessen so unfruchtbar1) 

Hier ist zusammengefaßt, was wir zu explizieren versuchten. Unser logisches Denken — deshalb reden wir von Urteil — ist keineswegs ein sicher und zuverlässig arbeitendes, leistungsfähiges Organ, sobald intellektuelles Urteilen mit Affekten in Konflikt gerät. Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick, daß Affekte in unserem Erleben die Repräsentanten von Triebwünschen sind. Wenn wir uns zum Beispiel in einem aggressiven Affekt befinden, ein bestimmter Triebwunsch vorliegt — etwa auf Angriff, Vernichtung oder Selbsterhaltung oder was immer sonst —, dann übersehen wir oft die hohe Gefahr, in die wir geraten. Um zur entspannenden Befriedigung zu kommen, schreibt unser Triebbedürfnis unserem Intellekt vor, welche Urteile er zu fällen hat. Man nennt diese Willigkeit des Intellektes vor dem (unbewußten) Triebwunsch in der Sprache der Psychoanalyse »Rationalisierung«. Der Intellekt wird, wie Freud sagt, Instrument »zu Händen eines Willens«, das heißt der Triebwünsche, und liefert jenes Resultat, welches den Triebwünschen Befriedigung verspricht.

 

1)  S. Freud Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Ges. Werke X, 339.

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Es werden also gleichsam bewußtseinsoffizielle Formulierungen gefunden, die eine Scheinbegründung schaffen. Hinter der Scheinbegründung, die gar nicht das wirksamste Motiv trifft, sondern es verbirgt, beeinflußt dieses eigentliche Motiv unsere Handlungen. Diese Rationalisierungen sind Vorurteilen sehr ähnlich. Beide, Rationalisierung und ihre quasi geronnene Form, das Vorurteil, ergänzen sich in der Bewirkung von Verleugnung unliebsamer äußerer Realität und der Herbeiführung einer Triebbefriedigung.

Vorurteile haben also mit unbewußten seelischen Vorgängen einen sehr viel innigeren Zusammenhang als mit bewußten. Angenommen, wir begegnen einem Bekannten, der uns mitteilt, Herr X. sei ein abgefeimter Charakter. Zwar tue er einem schön, in Wirklichkeit — darüber habe er, unser Bekannter, sichere Nachrichten — sei Herr X. intrigant und rücksichtslos. Bei alledem kann es sich um Tatsachen — und es kann sich um einen Wahn handeln. Das kann man dem Bericht vorläufig noch nicht ansehen. Nehmen wir weiter an, wir hätten die Möglichkeit, uns zu informieren, und müßten feststellen, daß unser Bekannter Kleinigkeiten außerhalb jeder Proportion aufbauscht. Bei unserer nächsten Begegnung machen wir ihn sanft darauf aufmerksam, daß er wohl doch übertrieben habe. Vielleicht zähneknirschend, weil er unter innerem Druck steht und ein Opfer haben muß, wird er sich die Einsicht abringen lassen, daß er übertrieben habe. 

Anders, wenn unser Gesprächspartner zunächst zwar unauffällig wirkt, aber doch einem Verfolgungswahn erlegen ist, der bei Gelegenheit unseres ersten Gesprächs in seiner Interpretation zutage kam. Dann werden wir bemerken, daß er, während er unsere Mahnung zur Mäßigung anhört, still wird; auf eine affektlose Weise scheint er uns mit einigen Worten recht zu geben. Kaum haben wir uns verabschiedet, wird er sich jedoch dem Gefühl überlassen, nicht nur Herr X., sondern wir selber verfolgten ihn. Er wird also, einem inneren Zwange folgend, statt sein Urteil zu revidieren, uns in sein wahnhaft gesteigertes Vorurteil einbeziehen. Dieser innere, unbewußt gesteuerte Zwang ist charakteristisch für Vorurteil und Wahn und verbindet sie qualitativ. Vom vorläufigen, leicht korrigierbaren Urteil zum wahnhaft fixierten Vorurteil besteht ein Kontinuum zunehmender Schwächung kritischer Ich-Leistungen. Die Überzeugung wächst und wird »felsenfest«. Entsprechend muß die unbewußte Motivation zunehmen. 

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Einer schmerzhaften, erniedrigenden Realität soll um jeden Preis ausgewichen werden. Vor ihr schützen die Vorurteile. Indem sie einen inneren Triebkonflikt oder den Konflikt zwischen einem triebbestimmten Wunsch und dem Über-Ich externalisieren, zu einem äußeren Leiden werden lassen, erleichtern Vorurteile auf trügerische Weise die Erledigung des Konfliktes. Sie sind an jene seelischen Abwehrmechanismen gebunden, die wir aus den Psychoneurosen und schließlich auch den Wahnbildungen kennen. Die Einflußmöglichkeit des Ichs schrumpft, je fixierter ein Vorurteil ist. Damit ist aber ein psycho-pathologischer Tatbestand, ein Symptom seelischer Krankheit beschrieben.

Was nun die Ausbreitung solcher schwer erschütterbarer Vorurteile betrifft, so beruht ihr Übertragungsmodus vor allem im politischen Bereich darauf, daß Kerne wahnhafter Reaktionsmöglichkeit, wie sie sich in uns allen bilden können, lange Zeit ein mehr oder weniger abgeschlossenes Dasein in unserer Seele zu führen vermögen. Im Zuge einer erregenden politischen Entwicklung können sie mächtig angefacht, genährt und kultiviert werden. Solch umschriebene Wahnbildungen erfahren dann eine echt epidemische Ausbreitung, um nach einer bestimmten Zeit — wenn viel Grausames, das den Wahn zu befriedigen hatte, geschehen ist — in eine Art Schlafzustand zurückzufallen. Die Triebenergie, welche das Vorurteil besetzt hielt, wird von ihm abgezogen. 

Es charakterisiert aber das Genie des Demagogen, daß es ihm gelingt, die Besetzung neuerlich zu intensivieren — im Dienste seiner eigenen Triebwünsche. Wie Epidemien können Vorurteile, welche das Bewußtsein ganzer Völker beherrschen, erlöschen und sich bis auf einen endemischen Rest zurückbilden, auf jenes Mißtrauen zum Beispiel, das viele enttäuschte und in neurotischer Fehleinschätzung der Realität befangene Menschen ständig begleitet. Wir alle hegen und pflegen irgendwelche Vorurteile, etwa gegen unsere Nachbarn, die wir wegen irgend etwas unbewußt beneiden. Es wimmelt von zahllosen kleinen, keineswegs ungiftigen Vorurteilen, die uns ein Stück weit paranoisches, wahnhaftes Projizieren erlauben und zum Seelenhaushalt des Menschen zu gehören scheinen — man denke nur an den Klatsch. Wo Menschen leben, wird geklatscht, das ist ein unumgängliches Bedürfnis. Mit diesen kleingemünzten Vorurteilen, für die man um Anhängerschaft wirbt (das ist Klatsch), kann man zwar quälen, aber sie wirken noch nicht als Treibstoff einer gewaltigen, für eine Zeitspanne unhemmbaren politisch-destruktiven Macht, nicht als Energiequelle historischer Katastrophen.

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Es wäre nicht der Mühe wert, auf die Vorurteilsbereitschaft, der keiner entgeht, die das soziale Leben sehr erschwert und die zu ertragen wir uns arrangieren müssen, viel Gedanken zu verschwenden, wenn nicht eben doch relativ Harmloses plötzlich den Charakter von hochexplosiven, hochgefährlichen und unbezähmbar aggressiven Verhaltensweisen bekommen könnte.

Wie vollzieht sich das? Wie entstehen eigentlich solche hochbesetzten wahnhaften Provinzen in uns allen? Dieses »in uns allen« ist keine Redensart. Wer nicht bereit ist, sich in die Reflexion über Vorurteilsbereitschaft mit einzubeziehen, wer nicht bei sich selbst auf Vorurteile wie auf eine lästige Fessel gestoßen ist, wird wenig Gewinn aus Überlegungen wie diesen ziehen können.

Wenn wir aus der Verbreitung von Vorurteilen den Schluß ziehen, sie seien das Produkt einer konstitutionellen Eigenart der menschlichen Psyche, so bringt das nicht weiter. Zweifellos besteht diese psychische Reaktionsmöglichkeit, auf belastende Erfahrungen mit der Bildung von Vorurteilen zu reagieren. Aber es muß irgendwann dieser Konflikt zwischen Triebverlangen und Versagungen oder Verurteilungen durch die soziale Umwelt für jeden einzelnen beschworen worden sein, damit die bestehende Fähigkeit, sich mit Hilfe von Vorurteilen entlasten zu können, aktualisiert wird. Die Anwendung von Vorurteilen — wir wiederholen diese dynamische Definition — bringt Erleichterung vor schmerzhafter Realität; ein entscheidender Teil dieser Realität sind Triebwünsche, gegen die soziale Gebote errichtet sind. Der Preis dieser Entlastung ist hoch. Die Realität wird (etwa durch Projektion der eigenen, mit dem Ich-Ideal unvereinbaren Eigenschaften auf andere) entstellt, und es kostet von jetzt an keinen geringen Aufwand, diese Entstellung aufrechtzuerhalten. Nach all unseren Lebenserfahrungen können wir gut den Grad des inneren Zerwürfnisses ermessen, der den Historiker Heinrich von Treitschke zu der schon behandelten1) Anklage führte:

 

1)  Vgl. S. 69.

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 »... ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!«1) Schließlich wurde diese unsinnige Behauptung zu einem die Nation erfassenden Bekenntnis. Hier mußte ein seelisches Entgegenkommen in der Breite der Population geschaffen worden sein. Im Bewußtsein wurde das Deutschlands »Erwachen« genannt; in Wahrheit war dieses »Erwachen« eine Einschläferung, nämlich die kollektive Sicherung des Projektionsvorganges abgelehnter eigener Eigenschaften auf eine Gruppe, die Juden, die durch Vorurteil entstellt wahrgenommen wurden. Die Realitätsverfälschung, die im Vorurteil vollzogen wird, ist beispielhaft an dieser Parole »Deutschland erwache!« abzulesen. Die Entstellung der Wirklichkeit wurde dadurch gesichert, daß die Einstimmung ins Vorurteil das Individuum zur Einsicht zu bringen schien; es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Was es bisher nicht gesehen hatte, gab es freilich auch gar nicht, sondern war das Produkt kollektiver Selbsttäuschung.

»Unsere Kultur übt einen fast unerträglichen Druck auf uns aus, sie verlangt nach einem Korrektiv.«2) Freud schwebte eine Erweiterung unserer Einsicht in die angsterweckenden Vorgänge unserer Gesellschaft vor. Das wäre die progressive Lösung. Vorurteilsbildung ist das Gegenteil: die Entlastung durch Realitätsverleugnung, durch Zurechtbiegen der Wirklichkeit nach den eigenen Wünschen. Aber es bleibt zuzugeben, mit Vorurteilen wird ein Korrektiv des »unerträglichen Druckes« der Kultur zur konformen Repression angeboten und aufgegriffen. Je schärfer der Zwang zur Anpassung an soziale Normen und Werturteile, desto mehr wird das Ich des Individuums mit Kontrollfunktionen über die Triebwünsche belastet, die ihm in sich selbst begegnen; desto eher wird es geneigt sein, von Realitätsverleugnung, von Verdrängung und Projektion (als den für die kollektive Anpassung effektvollsten Abwehrmechanismen) Gebrauch zu machen.

 

1)  Walter Boehlidi Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt (Sammlung Insel) 1965. 
2)  S. Freud, Ges. Werke XIV, 285.

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Es gibt nicht nur kein einziges, es gibt auch kein bestes System menschlicher Erziehung. Vielmehr laufen zahlreiche Methoden menschlicher Aufzucht nebeneinanderher. Auf alle wird Hoffnung gesetzt, viele und vieles wird aufgegeben, Änderungen werden erzwungen. Aber immer soll ein »normaler«, das heißt an die spezifische Gruppe angepaßter Mensch das »Erziehungsprodukt« sein. Das wechselvolle Schicksal menschlicher Gesellschaften verweist darauf, daß der Mensch — was wir uns viel zuwenig bewußt halten — nicht nur die »Krone der Schöpfung«, sondern ein in bezug auf seine soziale Lebensform ungeheuer anfälliges Wesen ist. Es ist keineswegs entschieden, ob er nicht eine der folgenschwersten Fehlwege der Evolution darstellt, durch den das Prinzip des Lebendigen seiner Aufhebung entgegenstrebt. Dies zu vollbringen ist dem Menschen jedenfalls möglich geworden. Er ist relativ bar von erbgenetisch festgelegten Verhaltensmustern, die sein soziales Leben organisieren. 

Tiere sind zu vielerlei Leistungen befähigt. Sie können auch vielerlei lernen, aber sie können nur in eng vorgezeichneten Grenzen für ihr soziales Verhalten lernen. Ihre sozialen Verhaltensweisen sind erbgenetisch festgelegt, und jedes Mitglied einer Spezies muß diesen Gesetzen so folgen, wie sein Blutkreislauf bestimmten physikalischen und physiologischen Gesetzen folgen muß. Es ist ihm zum Beispiel beim Werbungsverhalten und bei der Paarung keinerlei Freiheit gelassen. Sie sind völlig ritualisiert; wie dies überhaupt für das tierische Sozialleben gilt, und damit sind die Konflikterfahrungen in der Eigengruppe wie im Verhalten dem Feind oder der Beute gegenüber bei der einzelnen Spezies genau reguliert. Nur in sehr wenigen Tierarten steht es dem Individuum offen, gegen Artgenossen hemmungslos aggressiv zu werden; es gibt vielmehr Demutsgebärden, Unterwürfigkeitshaltungen, Fluchtreaktionen, die es verhindern, daß eine Art sich gegenseitig ausrottet i.

Das ist beim Menschen nicht der Fall. Er hat keine eingeborene Tötungshemmung absolut sicherer, sondern nur eine solche moralisch erworbener Art. Mehr oder weniger dem bewußten kritischen Ich unzugängliche Vorurteilskonstruktionen, Systeme von Projektionen, die in Vorurteilen münden, lassen dann in Augenblicken hoher kollektiver Erregung die Wirklichkeit zwingend so erscheinen, daß die Tötungshemmung friedlicher Zeit außer Kraft gesetzt wird. 

 

1)  Vgl. etwa Konrad Lorenz Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien (Borotha Schoeler) 1963.

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Plötzlich wird es eine »Notwendigkeit«, zu töten (um nicht getötet zu werden, wie Angst und Logik sagen). Hier streifen wir eine wichtige Voraussetzung für diese Enthemmung. Es ist ein Faktum, daß keine menschliche Gesellschaft (wegen des Mangels an erbgenetisch gesichertem Verhalten) ohne Unterdrückung bestimmter Triebregungen ihrer Einzelindividuen auskommen kann. Sie muß versuchen, etwas den erbgenetisch gesicherten Verhaltensweisen der Tiere Ähnliches zu schaffen. Alle Gesellschaften versuchen deshalb durch Erziehung, bestimmte Verhaltensformen zu »ritualisieren«. Die Erziehung besteht zu einem großen Teil darin, solche Rituale einzuprägen, zu konditionieren, wie sich das Individuum in der Gesellschaft unter Triebansprüchen und in Konfliktsituationen unter seinesgleichen bewegen soll. Diese Ritualien sind also gruppenspezifisch (klassenspezifisch), müssen gelernt, und zwar mit Schmerzen gelernt werden, da sie immer ein bestimmtes Maß an Triebunterdrückung verlangen. Daraus folgt: Es ist immer ein Teil nicht sozialisierter, nicht im täglichen Verhalten bereits festgelegter, automatisierter Triebhaftigkeit des Menschen vorhanden, sie stellt einen Triebüberschuß dar, der nicht im System der Wertnormen einer Gesellschaft verbraucht wird; er bleibt im Präsozialen (im Zustand des unbewußten »Primärvorganges«, der auf die direkte, unvermittelte Triebbefriedigung drängt. 1) 

Mit anderen Worten: Dieser Triebüberschuß entsteht dadurch, daß wir sehr viele Antriebe, die wir in uns erleben — Triebbedürfnisse, die wir haben —, nicht im Rahmen unserer Gesellschaft befriedigen, ja oft nicht einmal erleben, an uns wahrnehmen dürfen, weil wir auf andere Rücksicht nehmen müssen. In dieser Rücksicht ist aber auch der Zwang enthalten, sich den skurrilsten und absurdesten, extrem triebverneinenden, perversen Formen menschlichen Zusammenlebens anpassen zu müssen. Kollektiv geübte Ritualien verhindern zuweilen fast jeden Rest biologisch vorgezeichneter natürlicher Triebbefriedigung; der Rest präsozial bleibenden Triebüberschusses wächst dann gefährlich. So beobachten wir in Zeiten, in denen eine Gruppe hohen asketischen Idealen anhängt, ein gleichzeitiges Ansteigen heftiger aggressiver Neigungen, welche dann auf äußere oder innere Feinde (»Konterrevolutionäre«) projiziert erlebt werden.

 

1)  S. Freud, Ges. Werke II/III, 607.

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Die eigene Aggressivität wird dann, nachdem einmal der Feind durch Vorurteile zu einer Gefahr aufgeladen ist, als legale Notwehr erlebt und ausgelebt. Besonders tragisch wird die »Verwirrung der Gefühle«, wenn auf beiden Seiten der aggressive Triebüberschuß hoch ist und die Projektionen wechselseitig die Vorurteile stützen.

Langsam wird die Welt eintöniger. Als es noch geschlossene Groß-Gruppen und kleinere Gesellschaften gab, konnte man beobachten, daß vielleicht schon von Dorf zu Dorf, sicher aber jenseits der Provinz- und Landesgrenze, von einer großen Weltgegend zu der anderen die Menschen tief unterschiedliche Verhaltensnormen als ihre »Natur« entwickelt hatten. Das Spezifische, das für die Gruppe Gültige, galt als das einzig Gültige. Zum Beispiel: Das Wort »Zulu« bedeutet Mensch — alle »Nicht-Zulus« sind keine Menschen.1) Das Sichabheben der einzelnen Gruppen voneinander gehört offenbar zu den Ritualisierungen, die diese Gruppen in einer Gesellschaft zusammenhalten. Als sei es natürlich, im erbgenetisch gesicherten Verhalten festgelegt, wird dann dem Nicht-Zulu gegenüber das Feindverhalten mobilisiert und nicht das Freundverhalten. Das ist ein Teufelskreis, der durch die Jahrhunderte der menschlichen Geschichte bis heute fortbesteht.

Für die Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse haben diese Vorgänge die größte Bedeutung. Je repressiver, je triebunterdrückender, je stärker ritualisierend eine Gesellschaft ist, je kastenhafter ihre Organisation, desto mehr wird ihre Struktur durch unbefragbare strikte Autorität bestimmt, einen desto größeren Triebüberschuß hat sie. Ein gut Teil der Triebenergie wird daran gehindert, mit lustvollen Erfahrungen verknüpft in sozialen Kommunikationen aufzugehen und dort produktiv zu werden. Die Individuen werden in den kollektiv gültigen Verhaltensnormen angewiesen, in sich selber Abwehrvorgänge gegen diese Triebhaftigkeit zu erwecken und diese Reaktionsweise zu ritualisieren. Sie leben also unter einem hohen Binnendruck. 

 

1)  Vgl. A. Mitscherlich Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. München (Piper) 1963, zi9Ö7, S. 21.

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Dann bedarf es quasi eines genialen Einfalles, damit eine Manipulation gelingt, durch welche der hohe Binnendruck nach außen abgelenkt wird — der Einfall besteht darin, daß die Gesellschaft sich Haßobjekte erfindet, die außerhalb der jeweiligen Klein- oder Großgruppe existieren und denen gegenüber man asoziale oder, vielleicht genauer, präsoziale Triebverhaltensformen, also schieren Egoismus aggressiver, sexueller oder sonstiger Art ausleben darf, ohne mit den Gewissensinstanzen in Konflikt zu kommen. Diesen Vorgang nennt man Projektion. Er kommt dadurch zustande, daß das »Böse« auf den Sündenbock geladen und erst in ihm erfahrbar wird.

Die schwersten Folgen dieser Konditionierung zur Projektion sind die Neigung, den präsozialen aggressiven Triebüberschuß nicht zum Zuge kommen zu lassen und auf ein Objekt außerhalb der Gruppe zu lenken, zum anderen die Bereitschaft, dieses Objekt in seinem Wert so tief zu erniedrigen, daß kein Gewissenskonflikt mehr bei seiner Mißhandlung, Ausbeutung oder Tötung entsteht. Man denke hier etwa an den mittelalterlichen Stil der Verfolgung von Häretikern, an die große Zahl der Hexenverbrennungen, an die Vorstellungen der Kolonialherren von den »Eingeborenen«, die sie sich unterwarfen, oder an die Vorstellungen eines Fabrikherrn von »den« Arbeitern zur Zeit der Bismarckschen Sozialistengesetze oder an das stereotype Bild, das man sich in der bürgerlichen Familie vom »Dienstmädchen« machte, und vieles Zeitgenössische mehr.

Alle »Zulus« haben ihren eigenen Gruppenmitgliedern gegenüber natürlich einen relativ hohen Grad von Tötungshemmung. In der eigenen Gruppe ist es ein im höchsten Maße mit dem Gewissen in Konflikt bringender Vorgang, wenn wir einen unserer eigenen Mitbürger, einen Angehörigen unserer eigenen Gesellschaft, bestehlen, vergewaltigen oder gar töten. Wird aber das Haßobjekt im Klischee zur moralischen Wertlosigkeit herabgesetzt, erhält es die Attribute des Gemeinen, Unmenschlichen, des Menschenunähnlichen, dann wird es für jene, die unter solchem Einfluß ihrer Gesellschaft aufwachsen, sehr erleichtert, den vorgezeichneten Projektionsvorgang mitzuvollziehen.

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Das Verhältnis zur Prostitution in der christlichen Kultur ist eines der Beispiele für dauerhafte Erniedrigung durch Projektion, wobei zwangsläufig im betroffenen Teil (wie bei allen Minoritäten, die mit ihnen feindselig gesonnenen Mehrheiten zusammenleben müssen) die Anpassung an die Phantasien des Angreifers nicht ausbleiben kann. Dieser Angleichungsvorgang ist sehr kompliziert. Die objektiven Bedingungen, welche die herrschende Klasse dem Unterdrückten vorschreibt, zwingen ihm die Verwahrlosung auf, für die er dann angeklagt wird. Die solcherart Deklassierten entgehen aber auch nicht der Sehnsucht nach Befreiung: Eine täuschende Illusion, der sie dabei verfallen, besteht darin, daß auch sie das Ideal des Unterdrückers für sich selbst anerkennen. Das zwingt sie dazu, sich in Selbstkritik genauso zu verurteilen, wie es ihre Beherrscher tun.

Die heroische Spielart der Ablenkung der aggressiven Triebbedürfnisse auf Angehörige von Fremdgruppen sieht keine hemmungslose Herabsetzung des Gegners vor; vielmehr wird der Kampf als solcher zu einem libidinös besetzten Ritual, das einzuhalten Ehre für beide Partner bedeutet. Wir haben in der Geschichte der nordamerikanischen Indianer vor dem Eindringen der Europäer ein Beispiel, wie diese Ritualisierung eines Kampfes aller gegen alle fast die ganze kulturelle Produktivität absorbierte.

Ein zentraler psychodynamischer Vorgang bei der Entstehung und Fixierung von Vorurteilen besteht darin, daß mit Hilfe der Fremderniedrigung eine Selbstidealisierung vorgenommen wird. Je größer die Distanz von Unterdrückern und Unterdrückten auf diese Weise wird, desto weniger fällt der Einspruch des Gewissens ins Gewicht, wenn das Haßobjekt ohne Rücksicht auf den Respekt behandelt wird, der nach den Spielregeln dem Mitglied der eigenen Gruppe zu zollen ist.

Wie es in der Tierwelt für bestimmte arteigentümliche, angeborene Verhaltensweisen neben der inneren Triebspannung eines » Auslösers« in der Außenwelt, der Merkmale der «Beute«, des »Rivalen« etc. bedarf, um das jeweilige Verhalten anzustoßen, so wird etwa für das menschliche Individuum ein von einem Vorurteilssystem ergriffenes Objekt in der Außenwelt zum Auslöser gewissenloser, im Dienst bestehender Herrschaftsverhältnisse konditionierter Verhaltensweisen. Durch solche kollektiven Vorurteile wird oft ein hoher Grad von Gruppenkonformität erreicht.

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Das zweite Politikum solcher Vorurteile besteht darin, daß mit den Wölfen zu heulen Sicherheit in der eigenen Gesellschaft gewährt. Teilen wir den Wahn der anderen nicht, dann werden wir selbst zu Fremden, und es besteht die Gefahr, zu Haßobjekten zu werden. Die Projektionen der anderen können auch uns verfremden. Die Witterung dieser Gefahr trägt dann wieder zur gruppeninternen Versteifung der Vorurteilshaltung bei. Der Entdecker dieser unbewußt bleibenden psychischen Vorgänge, Sigmund Freud, hatte solche Entstellung durch die Zeitgenossen kennengelernt.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Dynamik des Anpassungsvorgangs, den jedes Individuum an die Normen seiner Gesellschaft zu leisten hat. Stets behält es einen mehr oder weniger drängenden präsozialen Triebüberschuß, der in den Kanälen der Gesellschaft und innerhalb des strukturellen Aufbaus der Person selber nicht zum Zuge kommen kann, dessen Repräsentanzen im Gegenteil verdrängt werden müssen. Die ungesättigten Triebvalenzen können sich nur als psychopathologische Phänomene den Weg zur Befriedigung erzwingen (zum Beispiel im krankhaften Zwang, die Haßgefühle zu projizieren oder gegen sich selbst zu richten). In diesem Sinn ist ein unkorrigierbares Vorurteil als pathologisches Symptom zu werten. Die Meinung, welche das Vorurteil vertritt, ist das Produkt unbewußt bleibender Realitätsentstellung, nicht der Bewältigung faktischer Konflikte. Das Verhalten unter Triebdruck gegen die von der Gruppe vorbestimmten »Opfer« wird nachträglich »rationalisiert«. In voller Stärke wird das den klassischen Sündenböcken gegenüber sichtbar. Es gibt aber auch verborgene Abfuhrwege des aggressiven Triebüberschusses. In vielen Familien sind es die Kinder geblieben, an denen sich die Eltern abreagieren.

Ein Beispiel: Ein Angestellter hat von seinem Chef einen erheblichen Tadel erhalten. Er kommt nach Hause und sieht, daß eine Kleinigkeit im Kinderzimmer nicht in Ordnung ist. Er ist reizbar und tadelt deswegen auf barsche Weise seine Kinder, vielleicht verprügelt er sie. Damit vollzieht er ein uraltes, ein in der menschlichen Psyche noch wenig abgeschwächtes Reflexgeschehen. Er gehorcht der Hackordnung, wie man diese Verhaltensfolge, abgeleitet von der Art, in der sich die Sozialordnung im Hühnerhof herstellt, genannt hat. Wenn ein Huhn von einem höherstehenden gehackt wird, rennt es ohne Aufschub zum nächstunterlegenen und hackt dieses. 

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Nur das Omega, das auf der sozialen Leiter am niedrigsten Ort stehende Huhn, wird nur gehackt und hat keine Möglichkeiten, sein Selbstgefühl durch Hacken eines noch schwächeren Huhns wiederherzustellen. Das gleiche Verhalten in der menschlichen Gesellschaft ist mit dem analogen Begriff der »Radfahrer-Reaktion« gemeint. Viele Kinder befinden sich ihre ganze Jugendzeit über in dieser Situation, während der strafende Vater sein Verhalten vor sich selbst damit rechtfertigt (rationalisiert), daß er sich sagt, es sei für eine gute Erziehung unerläßlich, frühzeitig den Sinn für Ordnung drastisch einzupflanzen. Die seelische Mißhandlung der Kinder (Liebesentzug, moralische Verachtung etc.) stellt also eine die emotionelle Spannung herabsetzende und damit lustvolle Handlung dar. Im Affekt rasch ausgeteilte Prügel scheinen dagegen oft noch das kleinere Übel. 

Die dem Schwächeren zugefügten Herabsetzungen gelten eigentlich dem Stärkeren, dem sie nicht gegeben werden dürfen. Das ist der faktische Motivzusammenhang. Die rationalisierte Kausalität wechselt den Schauplatz entsprechend dem Machtgefälle. Aus dem unterlegenen Angestellten wird der machtüberlegene Vater seiner Kinder. Das Motiv der Handlung scheint aus dieser Beziehung zu stammen. Die Radfahrer-Reaktion ist um so leichter auslösbar, je größer der permanente ungesättigte Triebüberschuß aus den repressiven Prozessen der Kultur ist. Die kollektiven Sündenböcke sind dann das ungeschützteste Opfer der Radfahrer-Reaktion; die ihnen gezeigte Aggression ist durch demagogisch verstärkte Rationalisierungen am besten gesichert. In bedrückendem Wiederholungszwang vollzieht sich diese Dehumanisierung des Opfers und Selbstidealisierung der Verfolger immer und immer wieder — von der Diskriminierung in der Schulklasse bis zur Rassendiskriminierung.

Warum erzielen wir gegenüber dieser Elend verbreitenden Selbsttäuschung keinen Fortschritt? Die wichtigste Motivation ist vielleicht, daß sie nicht nur durch die faktischen Versagungen der Gesellschaft, sondern darüber hinaus durch unsere biologische Ausstattung gefördert wird. Wir sind in Kindheit und Jugend, also für lange Zeit hilfsbedürftig und auf Gedeih und Verderb auf andere angewiesen. Als physisch schwache Kinder und später als sozial Schwache geraten wir oft genug in die »Omegaposition« des absolut Ohnmächtigen. In unseren Allmachtsphantasien, die oft unser Ich-Ideal färben, sind wir zur Rache stark genug. 

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Die früh erlittenen Demütigungen können die Erwartungshaltung eines Menschen lebenslang auf ein feindseliges Erlebnis des sozialen Feldes stimmen. Sobald wir uns zur Wehr setzen können, geht es uns deshalb nicht nur um die Sättigung unserer frustrierten Triebbedürfnisse, sondern auch um die Wiederherstellung unseres Selbstgefühles, unseres Selbstwertes. Adolf Portmann1) hat den Menschen als »physiologische Frühgeburt« bezeichnet; er sollte eigentlich erst nach ungefähr 21monatiger Schwangerschaft das Licht der Welt erblicken. Daß der zweite Teil unseres fötalen Wachstums extrauterin — im »sozialen Uterus« — erfolgt, macht das Ausmaß der sozialen Abhängigkeit klar. Hinzu kommt, daß es in der Eltern-Kind-Beziehung keine Ritualien festliegender Art gibt, die relativ konfliktfreies Verhalten möglich machen. Das bedeutet, daß wir im Verlauf unserer Entwicklung unvergeßbare Demütigungen erleiden. Auch diese Traumen werden mit strenggenommen psychopathologischen Hilfsmitteln bestanden, wir »vergessen« das meiste dieser Art aus unserer Kindheit und behalten dafür eine »Erinnerungslücke«.

Als Psychoanalytiker erwirbt man im Laufe der Zeit eine erhöhte Sensibilität für das Ausmaß der Schädigung durch Erziehung unter Einwirkung der Radfahrer-Reaktion. Der legendäre Kommißstiefel kann dann wie ein Tanzschuh sein, gemessen an dem, was Kindern von ihren Eltern ahnungslos — es ist keine Übertreibung —, völlig ahnungslos im Schutz kollektiver Erziehungsnormen angetan wird. Und eines Tages sind die solcherart Gedemütigten selbst Lehrer und Eltern. Dann spielt die »Hackordnung« vorwiegend als unbewußter Motivzusammenhang ihre Rolle weiter. Wir laufen nicht nur Gefahr, jene Ritualien der Gesellschaft, jene Wertordnungen, die uns selbst einst ein großes Ausmaß an Unlust bereitet, die uns viel Verzicht abgefordert haben, mit größter Wonne der nächsten Generation wieder aufzuerlegen — wir tun es auch und nehmen unbewußt Rache an unseren Eltern. Wir fügen unseren Kindern das zu, was eigentlich unseren Eltern zugedacht war und was zunächst durch die kindliche Ohnmacht und dann wegen der Normen der Gesellschaft nicht geschehen kann und darf. 

1) Adolf Portmann Zoologie und das neue Bild des Menschen. Hamburg (Rowohlt, rde 20) 1956, 49 ff.

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Denn wir lernen: »Du sollst Vater und Mutter ehren« und nicht hassen. Aber viele Situationen wecken den Haß in uns, wohl beiderseitig. Das alles geschieht, obwohl wir im Bewußtsein die edle Absicht tragen: Meinen Kindern soll es einmal besser gehen als mir.

Wir können also sagen: Erst wenn es uns gelingt, einzusehen, daß das seelische Leben des Menschen ein Kontinuum fortwirkender Motivzusammenhänge bildet und daß dieses Kontinuum mit der Geburt beginnt, erst wenn es uns gelingt, gemäß dieser Einsicht zu handeln, haben wir die Möglichkeit, an jenen Voraussetzungen etwas zu mildern, die bis jetzt immer wieder zur Herstellung der Vorurteilsbereitschaft geführt haben, zur Entmachtung unserer kritischen Ich-Funktionen durch kollektiv gestützte Scheinlösungen von Konflikten, durch Vorurteile. 

Dieser kostspielige Triumph der Triebwünsche über die gerechte Einschätzung der Wirklichkeit, in der wir leben, wäre überdies oft vermeidbar, wenn eben unsere Erziehung auf Mündigkeit und nicht auf Autoritätsgehorsam angelegt wäre oder neuerdings auf illusionäre Autoritätsleugnung, was auf eine unbrauchbare, gekünstelte Kameradschaft zwischen den Generationen hinausläuft. Das verpflichtende Bindeglied zwischen ihnen könnte ungleich mehr, als es jetzt verwirklicht wird, Achtung vor der kritischen, der einfühlenden Überlegung sein. Mit dieser Forderung wird nichts Unerreichbares, kein utopisches Ziel verfolgt. Es bleibt vielmehr dabei, daß keine Gesellschaft denkbar ist, die nicht mit Verzichten (das heißt mit Triebrepressionen) arbeiten muß. Verzichte sind die notwendigen Reizmittel, bestimmte psychische Leistungen zu entwickeln, zu denen sich nur der Mensch bisher als fähig erwiesen hat. Er kann also nicht auf eine utopische paradiesische Sozialwelt spekulieren; seine Kindheit schon muß auch die Frustrationsreize für die Entwicklung seiner spezifischen psychischen Leistungen enthalten. Das ist die unersetzliche sozialisierende Funktion von Verzicht um der Liebe willen.1)

1)  Vgl. S. 104 f., 327.

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In der Kindheit muß also durch Einfühlung in den jungen Menschen der Anreiz gelegt werden, das infantile triebhafte Neugierverhalten nicht erlöschen zu lassen; es ist die Vorbedingung der vollen Entfaltung seiner Lernfähigkeit. Wir dürfen nicht erwarten, daß wir dank besseren Verstehens unseren Kindern die altersentsprechenden Schmerzen und Anpassungskrisen ersparen können. Aber wir können ihnen vielleicht unsinnige Schwierigkeiten ersparen, indem wir unser eigenes Verhalten etwa auf archaische Reaktionsmuster wie die Radfahrer-Reaktion prüfen — mit selbstkritischem Ich.

Die menschliche Geschichte fängt also »ganz unten«, ganz früh an. Die Gesellschaft kann nicht mit Hilfe psychologischer Erkenntnisse in einen Paradieszustand versetzt werden, sondern umgekehrt, psychologische Erkenntnisse führen uns zu der Frage: Welche Unterdrückungen, welche Demütigungen sind vermeidbar, und welche Restriktionen muß ein Mensch andererseits um seiner sozialen Aufgaben willen ertragen lernen? Lernen im Umgang mit Bedürfnissen ist immer gleichbedeutend mit dem Verzicht auf unmittelbare Wunscherfüllungen zugunsten eines zielbedingten Aufschubes der Triebbefriedigung.

Vorurteile dämmen wir am besten dadurch ein, daß wir uns in der Beobachtung unseres eigenen Verhaltens schulen. Je besser es uns gelingt, uns, selbst im Aufruhr unserer Gefühle, nachdenkend zu beobachten, desto besser sind die Chancen, nicht unbemerkt unbewußten Steuerungen unterworfen zu sein. Das schreibt sich wesentlich leichter nieder, als es zu verwirklichen gelingt. Und doch ist die Schulung der Aufmerksamkeit für das eigene Verhalten die einzige Gegenkraft gegen die Blindheit für unsere eigenen Motive. Das Ziel ist der Erwerb der Fähigkeit, zwischen affektivem Drang und Handlung eine Pause der Besinnung einschalten zu können. An diesen Augenblick knüpft sich damit auch die Möglichkeit, ein sich schlagartig einstellendes Vorurteil zu korrigieren. Eine neue dynamische Definition kann demnach lauten: Vorurteile können dann zurückgedrängt werden, wenn es uns gelingt, Reflexion vor jene Handlungen einzulegen, zu der die Vorurteile uns auffordern. Mißlingt das den meisten Menschen, so zeigt sich darin die Macht, die ein Vorurteil ausüben kann, und damit die aktuelle Gefährdung der Denkfreiheit des einzelnen durch seine Gesellschaft.

Es sieht nicht so aus, als wäre die Vorurteilsbereitschaft so leicht aus der Welt zu schaffen. Wer hätte — um noch einmal an die Cholera zu erinnern — vor hundert Jahren zu denken gewagt, daß es uns gelingen wird, die Infektionskrankheiten zu besiegen? Wir konnten es, weil wir Erreger und Übertragungsweise studierten. Das Studium der Übertragung krankmachender seelischer Agenzien — mit dieser Analogie zur ansteckenden Krankheit lassen sich die flagranten Vorurteile klassifizieren — ist eine Aufgabe vielleicht noch größeren Ausmaßes. 

Um sie in Angriff nehmen zu können, müßten wir uns allerdings zu der Einsicht bequemen, wir könnten überall dort einem Wahn verfallen sein, wo wir meinen, etwas sei »felsenfest« sicher. Von der Bescheidenheit, solch kardinale Irrtümer als Möglichkeit in uns anzuerkennen, hängt es ab, ob die Menschheit vom Leiden der Vorurteile befreit werden oder weiter an ihm dahinsiechen wird.

Die Heilungschancen scheinen von der Geduld und von der Freundlichkeit abzuhängen, mit der wir in Kindertagen auf das Leben unter unseresgleichen vorbereitet werden.

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