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III.  Die Relativierung der Moral

Von den Widersprüchen, die unsere Gesellschaft dulden muß

 

»Es bleibt auf alle Fälle lehrreich, den viel durchwühlten Boden kennenzulernen, auf dem unsere Tugenden sich stolz erheben.
Die nach allen Richtungen hin dynamisch bewegte Komplikation eines menschlichen Charakters
fügt sich höchst selten der Erledigung durch eine einfache Alternative, wie unsere überjährte Morallehre es möchte.«  

Sigmund Freud: Die Traumdeutung   (Ges. Werke I/II. 626)    bing  Komplikation 

 

   Materialien zur These von der Relativierung der Moral   

158-178

1. 

Wenn man unsere Lage kennzeichnen will, muß man immer wieder zu Globalfaktoren Zuflucht nehmen: Technisierung, Urbanisierung, Bürokratisierung und wie die den gesamten gesellschaftlichen Raum durch­dringenden Geschehnisse auch heißen mögen. 

Natürlich kann man Einzelmerkmale an ihnen herausheben, aber so, wie sie wirken, wirken sie nur in der Gesamtheit der Zusammenhänge. Mit der Technisierung haben wir ein hohes Maß an Beweglichkeit erworben. Auf diese Weise werden Menschen aus Kulturen zusammengeführt, die sich in der Geschichte der Menschheit bisher nie so nahe begegnet sind. Wir haben täglich Gelegenheit, Geschehnisse in Ländern zu beobachten, in denen man sich nicht nach unseren Wertsystemen, nach den Zielvorstellungen unserer Kultur orientiert.

Sosehr sich an diese «Kulturdifferenzen« die Aggressivität anheftet und es als eine Herausforderung unserer Ideale empfindet, daß andere sich über sie hinwegsetzen — der Pluralismus der Sitten ist nun einmal eine Realität, mit der wir uns abfinden müssen und die unseren moralischen Scharfsinn herausfordert. 

Wie die Konflikte der Weltpolitik beweisen, ist Toleranz zu einer Existenzfrage geworden, und es wächst ein Bewußtsein davon, daß nicht wir allein den einzig richtigen Weg zu einer sinnvollen Lebensform besitzen, wie tief dieser Glaube insgeheim auch in uns verwurzelt sein mag.

Die Prozesse dieser fortschreitenden Industrialisierung, Verwissenschaftlichung, des Aufbaus totaler Verwaltungsmaschinerien erzwingen — und dies ist die zweite Entwicklung — die Distanzierung von vielen der moralischen Maximen auch unserer eigenen Kulturtradition. Wir beginnen, diese unsere Moral zu ihrer Vergangenheit relativ zu sehen, wie wir sie gegenwärtig relativ zu den Moralen anderer Länder, anderer Kontinente sehen müssen. In dem Maß, in dem sich unsere Umwelt unter diesen Geschehnissen, die keinen Teil der Erde mehr ausnehmen, global verwandelt, altert unsere Moral. Viele ihrer Anweisungen werden zunehmend unbrauchbarer.

Da aber eine Gesellschaft ohne Regeln für ihr Triebverhalten undenkbar ist, uns die alten Regeln nicht nur lästig wie immer, sondern darüber hinaus oft sinnlos erscheinen — und es nicht selten sind —, geht die Suche nach verpflichtenden neuen Werten, aus denen sich Moral ableiten läßt, weiter.

2. 

Wir finden Moral immer als etwas Fertiges vor. Auch wenn sie sich wandelt, der Prozeß, in dem wir sie erlernen während unserer Kindheit und Jugend, gibt uns den Eindruck von etwas Abgeschlossenem und Unveränderlichem. Die Menschen aller heute lebenden Kulturen erwerben subjektiv für die in der jeweiligen Kultur gültige Moral den gleichen Eindruck. Wenn wir im Auge behalten, daß unser Sozialverhalten nicht nach angeborenen Mustern reguliert, sondern in einem langsamen Prozeß lernend übernommen wird, verstehen wir, warum Toleranz, Verständnis für fremde Sitten, so schwer zu erwerben ist. Es ist uns am Anfang unseres Lebens sehr schwergefallen, unsere Triebbedürfnisse aus Rücksicht auf andere einzuschränken, und es überfällt uns später leicht eine Art Schwindel, wenn wir uns davon überzeugen müssen, daß man sein Leben auch unter einer anderen moralischen Formel führen kann als der, die uns in unserer Kindheit als die selbstverständliche übermittelt worden ist.

Was die Technisierung gebracht hat, ist ein einheitliches Kontakt-, kein einheitliches Toleranzsystem, in dem wir genötigt wären, fremde Sittlichkeit als etwas Lebenswürdiges zu achten.

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Moral erscheint für manchen ein weithergeholtes Wort, die Bezeichnung für etwas, was zumindest fragwürdig ist. Der gleiche Kritiker wird aber nicht umhinkönnen, anzuerkennen, daß es brennende moralische Probleme gibt, wenn das Wort Moral gegen das Wort Ideologie ausgetauscht wird. Fremde Ideologie als etwas Lebenswürdiges anzuerkennen, besonders dann, wenn sie zentralen Werten unserer eigenen Ideologie den Kampf ansagt, ist ebenso schwierig wie für viele die Anerkennung von Glaubenssätzen, um die sich ein heiliger oder unheiliger Streit entwickelt hat. 

Die Versuche erst Rußlands, jetzt Chinas, sich ganz von der Außenwelt abzuschließen (wie dies auch rückständige Feudalstaaten des Nahen Ostens tun), machen uns deutlich, daß man keineswegs von einem Verschmelzungsprozeß zu einer Weltzivilisation sprechen kann, der sich widerstandslos vollzöge.

Unaufhaltsam ist allein die Ausbreitung technischer »facilities«. Gegen die Infiltration weltumspannender Begeisterungen, sei es für Sport, für Automobile, für Schallplatten, gibt es auf die Dauer keine Abwehrmaßnahmen. Zwar erkennt sich die Menschheit am Konsum einer wachsenden Zahl von Markenartikeln, das hat aber ihre Fähigkeit zur affektiven Kontrolle, zur Toleranz, nur wenig beeinflußt.

 

3. 

Diese von den Umständen erzwungene Relativierung der eigenen Moraltradition, zum Beispiel mit unbestrittenem Stolz empfundener nationaler Tugenden, stellt eine Herausforderung an unseren Scharfsinn dar. Die Bedrängnisse, in denen wir selbst stecken, müssen im Hinblick auf weltgeschichtliche Vorgänge eingeschätzt werden. Aber es gibt auch Probleme, die wir offensichtlich mit allen Staaten teilen: Wie finden wir uns in dem Netz von institutionellen Vorsorgen, Reglements zurecht, und wie finden wir uns aus ihm wieder heraus? Wie bleiben wir empfindungsfähige Wesen — die unter Umständen sehr geteilter Meinung sein können — und lassen uns nicht zum Verwaltungsobjekt herabwürdigen? 

Aber dieses Attentat auf unsere Freiheit, als deren Sicherung doch unsere Moral wirken soll, geschieht ununterbrochen, weil die immer noch gewaltige Notlage, in der der überwiegende Teil der Menschheit steckt, nach technischer Vereinheitlichung der Weltgeschäfte verlangt. Das Attentat kann aber um so leichter geschehen, als der Wert des Individuums überall dort rapide sinkt, wo sich die Zahl der Menschen so rasch vermehrt, daß keine der traditionellen Lebensformen sie mehr zu bewältigen und ihre Minimalbedürfnisse zu befriedigen vermag.

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Die technische Industriezivilisation garantiert zunächst keine Moral, aber sie garantiert einen höheren Lebensstandard für alle, bei weniger und weniger anstrengender Arbeit und geringer Verantwortung. Völkern, deren Lebenszuschnitt bisher von magischem Denken, Hunger, Seuchen bestimmt war, bringt das Auftauchen verblüffender Konsumgüter, die wie faszinierende Wunder einsickern, einen solchen unmittelbaren und eben märchenhaft empfundenen Zuwachs an Genußmöglichkeit — zu schweigen von der Vertreibung endemischer Krankheiten —, daß ihre hergebrachte Moral — wie ihr ganzes Sozialgehäuse — mehr oder weniger rasch zerfallen. Es kann nicht ausbleiben, daß in der Begegnung mit solchen Dingen wie dem Automobil, die ein primitives Potenzgefühl inflationär steigern, Allmachtsphantasien beträchtlich zunehmen, da zunächst der innere Zusammenhang dieser rationalen technischen Kultur dem gleichsam von ihren Produkten Berauschten verborgen bleibt. 

Das von den neuen Lustquellen geweckte Hochgefühl geht mit allen unterdrückten Triebregungen aus dem alten Moralsystem wechselseitige Verbindungen ein, die zu einer unberechenbaren Folge von aggressiven und sexuellen Ausbrüchen führen. Die ihres alten Gefüges beraubten Gruppen erweisen sich zunächst als unfähig, die neue Lebensform zu beherrschen, an deren Entstehen sie auch gar keinen Anteil hatten, die sie überfällt, wie früher wandernde Völkerschaften in Kulturräume einbrachen. Der Fremdheitsgrad, vermischt mit der Verlockung, die von den neuen Produkten ausgeht, ist aber so stark, daß man die Traditionen fahrenläßt, ohne eine verbindliche neue Sitte gefunden zu haben. Es entsteht ein gesellschaftliches Chaos, das am ehesten mit dem Stichwort »Kongo« zu kennzeichnen ist. Schließlich wird ein Zustand extremer Abhängigkeit im weltpolitischen Kraftfeld erreicht. Dieses Ausgeliefertsein stellt die angefachten Omnipotenzphantasien in ihrer Ohnmacht bloß und weckt untergründige Wut. Hier liegt das Elend menschlicher Moralordnung nackt zutage.

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Die Sprengkraft des technischen Fortschritts bringt nicht nur die Verringerung alter Morallasten zustande, sie zerstört auch Identitäten bis zur Unkenntlichkeit. So gibt es Gruppen gänzlich verschiedener historischer Entwicklung, die doch in analogen moralischen Notständen leben, deren Individuen neue verpflichtende Anweisungen verlangen und sich voneinander abwenden, wenn sie diese nicht erhalten. Die Sehnsucht nach einem in sich beruhigten Dasein wird unerreichbar; dieser Verlust löst einen großen Schmerz aus, der häufig durch Zynismus verleugnet wird. Moral versteht sich also nicht mehr von selber wie in statischen Sozialgebilden, es richten sich vielmehr neben den quasi offiziellen Bräuchen ununterbrochen neue die Lage abtastende Verhaltenskonventionen ein. Sie haben nicht den Charakter dauerhafter Ordnung, aber sie geben doch wenigstens auf Zeit dem Individuum das Gefühl, in einer Gruppe Gleicher geborgen, durch sie in seiner Lebensart bestätigt zu sein.

Man stimmt nicht in die stetigen Klagen über die Schlechtigkeit der Welt ein, wenn man angesichts der Vorgänge in den Gesellschaften dieser Welt die ausgedehnte Desintegration des moralischen Verhaltens wahrnimmt. Trotzdem läßt sich die Frage stellen: Ist denn diese Desintegration etwas so Gefährliches? Hat sie nicht auch sehr begrüßenswerte Seiten? Ist sie gefährlicher als zu anderen Zeiten? Spielt sich nicht menschliches Zusammenleben immer nur unter mehr oder weniger intensiver Verleugnung des ungenügenden Charakters seiner Einrichtungen ab? 

Dann hätte dieses öffentlichwerden der moralischen Ohnmacht und der Greuel, die rundum im Namen irgendwelcher Moral geschehen, wenigstens diesen einen Fortschritt gebracht, daß das alles mit gar keiner Ideologie mehr, mit keiner einzigen denkbaren Moral entschuldigt werden kann. Auch die Versuche der bürgerlichen Gesellschaft, ihre beängstigende Roheit im Umgang mit Schwächeren, zunächst den Arbeitssklaven im eigenen Hause, dann den Sklaven der imperialen Besitzungen, zu beschönigen und ihr einen moralischen Anstrich zu geben, fallen in sich zusammen. Erfolgreiche politische Macht erzwingt für ihre Interessen den Anschein der Moralität. Nicht selten glauben die herrschenden Gruppen unreflektiert an diese Auslegung der Machtverhältnisse; sie zwingen sogar die Unterlegenen zur »Identifikation mit dem Aggressor« — die Schwachen beginnen sich ob ihrer Schwäche zu hassen. Sehr deutlich ist dies bei Minoritäten zu beobachten, die wie die jüdische oder eine farbige in langer auf eine Moral begründeter Unterdrückung leben.

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4.  

Denkt man an Moral, so kann einem auch etwas anderes vorschweben als ein Katalog von Verboten: etwa die Aufforderung, wechselseitig zur Befriedigung des Daseins beizutragen. Dies aber setzt voraus, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse es den Individuen erlauben, sich füreinander zu interessieren, mit ihren Gefühlen aneinanderzugeraten. Dazu benötigt der einzelne aber Handlungsanweisungen, muß er Wege des Kontaktes vorfinden, soll er nicht in Gefühlseinsamkeit, in Gefühlsautismus verkommen, was sich sehr gut mit gesteuertem Konformismus verträgt. Diese Wegleitungen sind Funktionen der Aloral, wie sie zu ihr erziehen. Fehlen sie, so gilt das Umgekehrte.

Wahrscheinlich ist unsere systematische Kenntnis über die Verschiedenartigkeit der Kontakte, über die Intimitäten des Lebens gewachsen, wissen mehr Menschen über Neigungen, »Laster«, Perversionen anderer Bescheid und können sich zutreffender über fremdes Innenleben unterrichten, als dies jemals der Fall war. Das hatte aber bisher nicht die Konsequenz, dieses Wissen im sozialen Alltag zur Anwendung zu bringen. Vielmehr werden in wechselseitigen affektiven Kontakten erdrückend häufig Fehlentscheidungen getroffen und Mißverständnisse aufgehäuft. Man ist deren Konsequenzen ziemlich hilflos ausgeliefert, da man die tieferen Motivationen nicht versteht. Denn die erprobten moralgelenkten Rollenschemata genügen nicht als Flandlungsmuster für die Reizangebote und Konfliktmöglichkeiten in unserer Zeit. Die Expansion unserer technischen Fähigkeiten läßt uns in vieler Hinsicht — was unser Verlangen betrifft, befriedigt zu leben — weniger fatalistisch sein. Das Individuum, das in der großen Masse fast immer untergeht — in seinen Gefühlen möchte es sich einzigartig verstanden wissen.

Hier liegt aber ein entscheidender innerer Widerspruch unserer Kultur, denn in all ihrer arbeitsteiligen Perfektion und in Entwicklungen befangen, die sie ins Unabsehbare führen, hat sie keine tiefere Lust an der Kultivierung des Individuums. Das »Individuum« als Kulturideal hat eine faszinierende Kraft ausgeübt.

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Der »Geniekult« einerseits und der »Millionärkult« andererseits zeigen, daß das »Individuum« jedoch eine Idealvorstellung von großer Ungenauigkeit geblieben ist. Wie man tatsächlich für sich ein unverkennbares Selbst und dann auch für andere unverwechselbar wird, was man hierbei für Risiken läuft, welchen Preis man zu zahlen hat, das vermitteln die Sozialisierungspraktiken unserer Gesellschaft kaum. Hier geht es immer um die Fiktion, man sei um so identischer mit sich selbst (und damit um so erfolgreicher), je gehorsamer man seine Rollenschemata in Fleisch und Blut aufgesogen hat. Zwar wächst der Anspruch, ein Ich zu haben und von einem Ich bestimmt zu leben. Aber zugleich ist dieser Individualismus des Westens eine der großen Ideologien der Gegenwart (und wird von den Gegenideologien auch entsprechend »entlarvt«).

Die Manipulation der Sehnsucht nach dem Selbst zeigt, daß technische Erleichterungen noch keine Distanz, keinen Zuwachs an Souveränität im Umgang mit den Trieben und mit den uns zugetragenen Rollenerwartungen brachten. Es scheint ziemlich sicher, daß eine den neuen technischen Machtmitteln angemessene moralische Grundorientierung noch nicht gefunden ist. Am unmittelbarsten nachzuprüfen ist diese These darin, daß kein Consensus über sinnvolle Verzichte und Zielsetzungen des Individuums besteht. Einig ist man sich viel eher in den Anpassungstaktiken an die uns gegebene soziale Umwelt, wobei gerade von einer Entwicklung differenzierter moralischer Vorstellungen abgeraten wird. Diese Empfehlung, mit den Wölfen zu heulen, zeigt die Sehnsucht nach der Geborgenheit in der Gruppenstimmung. Die Idealität des Individuums läßt sich leichter an anderen bewundern — oder bemäkeln, so sie nicht sehr erfolgreich bleiben.

 

5. 

Die Entstehung von Moralen1) ist etwas überaus Geheimnisvolles. Eine Moral beginnt als zweckmäßige oder intuitive Erfindung eines Verhaltensmusters, das allmählich von immer mehr Menschen befolgt wird. Im Laufe der Generationen automatisiert sich das Verhalten, es wird zu einem Zwang. Die Moral institutionalisiert sich und strebt eine Lenkung des einzelnen an, die ihm in sozial wichtigen Entscheidungen keine denkbare Alternative übrigläßt.

1) Das Wort »Moral« (und ganz entsprechend »Sittlichkeit«) wird nur in der Einzahl gebraucht. Moral beanspruchte einen ausschließlichen Raum. Im Zeitalter der Konfrontation der Moralordnungen, eines Bewußtseins von der Koexistenz solcher Moralbereiche, scheint es angebracht, den Plural einzuführen und von Moralen und Sittlichkeiten zu sprechen.

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Ebenso unberechenbar ist die Zerstörung einer Moral. Die Techniker der ersten Dampfmaschinen wußten nicht, daß sie die bestehenden Lebensgleich­gewichte unter Menschen einzureißen begannen. Mit der industriellen Revolution kam auch die Revolution in der Sphäre moralischer Regulative auf. Denn eine Moral spiegelt immer viel von dem, was einer Gesellschaft mangelt.

Wir haben also davon auszugehen, daß auch Moralen ein Teil der geschichtlichen Wirklichkeit sind. Sie kommen und gehen. Der Umbau am Komplex der Sittengesetze ist einer der dynamischen Faktoren dieser Wirklichkeit. Die jeweilige Moral wird vom gesamtgesellschaftlichen Prozeß ergriffen und wirkt ihrerseits auf ihn zurück. Ihrem Anspruch nach scheint jede der Moralen die Ewigkeit auf ihrer Seite zu haben. Dieser Herrschaftsanspruch wird vom Individuum um so absoluter erfahren, je abgeschlossener der jeweilige Geltungsbereich einer Moral ist.

 

6.   

Der zentrale Inhalt einer Moral ist ihre dogmatische Aussage über ein in der Gruppe, im Kulturbereich jeweils »richtiges« Verhalten: »Du sollst nicht töten«, heißt es im zivilen Leben; »rüste dich, zu töten — töte«, fordert unsere Moral im Krieg von uns. In beiden Fällen versichert sie uns, wir seien »gute Menschen«, wenn wir ihr gehorchen. Eine gespenstische Welt der Widersprüche, die unvereinbar, aber in sich folgerichtig nebeneinanderstehen und nebeneinander befolgt werden. Es wird auch gar kein Versuch gemacht, solche und viele andere pragmatische Anweisungen miteinander zu versöhnen. Erst wenn man versteht, daß die Widersprüche dieser Diskontinuität des Verhaltens durch eine unbewußte (und auch kollektiv steuerbare) Motivation erklärbar werden, kann man sich ihre Absurdität »zusammenreimen«.

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Die Moral erklärt das widersprüchliche Verhalten nicht, sie »rationalisiert« es vielmehr, das heißt, sie schiebt wie einen Vorhang eine rational klingende vor die wirklich bestimmende Motivation. Denn Moralen sind Ordnungs- und, damit unauflösbar verbunden, Herrschaftsinstrumente. Wer Moral durchsetzt, übt erst einmal Macht aus. Dem Sittengesetz ist Gehorsam zu leisten. Am Lebensanfang verlangt das eine äußere Autorität, schließlich das Gewissen in uns. Kritische Einwände gegen moralische Gebote oder deren Auslegung können uns mit den uns nächsten Menschen entzweien. Angst hält uns häufig genug stärker dazu an, die Gebote zu befolgen, als Überzeugung. Denn zum Erwerb einer Überzeugung — was sich in einem unbefangenen Abwägen der Alternativen abspielen müßte — ist meist kein Spielraum gelassen. Dafür sind die moralischen Handlungsanweisungen in der Blüte ihres Geltens zu imperativ, zu diktatorisch. Im Laufe der Tradition wird Moral dann zu einem Stück naiv hingenommener, wenn auch schwer erlernter Welterfahrung. Wir, die wir aus einer stark sexuell repressiven und kompensatorisch aggressiv harten Moraltradition hervorgegangen sind, vergessen leicht, daß es auch weniger ambitiöse Moralen gibt als die unsrige; in ihnen pflegen die paradoxen Umschwünge, welche die Identität des Individuums tief spalten können, wesentlich weniger scharf zu verlaufen.

 

7.  

Mit großer Selbstverständlichkeit wird auch die Beobachtung hingenommen, daß fortgesetzt und allüberall der Moral entgegengehandelt oder daß sie scheinheilig mißbraucht wird. Die Reichweite einer Moral zeigt sich aber ganz besonders auch darin, daß sie nicht nur die Frevler richtet, sondern daß diese Frevler selbst sich ihr unterwerfen, sich als Sünder empfinden. Das gilt insbesondere für die stärksten Moralgebote, die Tabus. Der sich selbst blendende ödipus zeigt, daß auch für den ahnungslos vollzogenen Frevel Sühne zu leisten ist. Zuweilen darf eine Moral unter Duldung einer anderen verletzt werden, ohne inneren Konflikt, wenn damit ein Macht- und Vergeltungsanspruch verbunden ist, etwa in den Vergewaltigungen, mit denen sich siegreiche Heere ihre Überlegenheit bestätigen. Hier erlebt das Individuum mit rauschhaftem Entzücken die Agonie moralischer Verbote. Im Alltag befinden sich nur der Asoziale und vielleicht der kritische Denker jenseits der Einflußzone von Selbstverständlichkeiten, die menschliches Verhalten lenken. Der erstere, weil er die Verpflichtung zu moralischem Handeln nicht fassen, nicht erleben, der letztere, weil er gegebenenfalls den Unsinn einer Moralforderung aufzeigen kann; freilich opponiert er aus der Sicht auf eine anderslautende moralische Verpflichtung.

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8.  

Die ökonomische Bedeutung der Moral für die Gesellschaft ist deutlich. Sie schafft überall dort Normen des Sozialverhaltens, wo Triebbedürfnisse im Spiele sind. Durch den Vorgang der Identifikation wird sie während der Jugendjahre als Orientierungsschema übernommen; sie wandert gleichsam ins Innere der Individuen ein und wirkt nun als deren »eigene« Meinung fort. Diese Selbsttäuschung verschafft erst einer Moral die relativ krisensichere Geltung.

Worauf Moral sich zunächst bezieht, sind die unverfeinerten, das heißt von des Gedankens Blässe keineswegs angekränkelten Wünsche nach Entspannung der Triebbedürfnisse. In ihren selbstsüchtigen Strebungen werden die Gruppenglieder dadurch zusammengehalten, daß Moralgebote ihre Triebwünsche konformistisch zulassen, auf andere als die ursprünglichen Objekte verschieben oder unterdrücken. Wer herrschaftsmächtig ist, kann sich freilich Privilegien innerhalb des Moralkodex erzwingen; sie werden wiederum moralisch sanktioniert. Er kann etwa verlangen, daß der Schwächere seinen Glauben annimmt. Cuius regio, eius religio gilt auch für die heutigen Reiche totalitärer Herrschaft. Die Legitimität, sich eine persönliche Moral bilden zu dürfen, ist historisch wohl sehr viel jünger. Sie ist ein hart errungenes Zugeständnis an die Toleranz. Die Moral der persönlichen Verantwortung ist nicht älter und nicht weiter verbreitet als das am Ringen mit der Kollektivmoral gewachsene und dadurch selbstbewußt gewordene Individuum.

 

9. Das regulatorische Prinzip solchen Verhaltens ist dialektisch: Gehorsam dauernd mit dem kritischen Einwand konfrontiert. Dabei werden die selbstverständlichsten der Selbstverständlichkeiten nicht von der Analyse ausgeschlossen. Das fällt naturgemäß hauptsächlich denen schwer, in deren seelischer Entwicklung es nie zu einer sicheren Trennung von Phantasie und realem Verhalten gekommen ist. Der magische Glaube ist keineswegs völlig gebrochen, der davon ausgeht, ein »schlimmer« Gedanke — gar wenn gewagt wird, ihn in Worte zu fassen — sei schon der Anfang der schlimmen Tat. 

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Von Gedankenfreiheit läßt sich nur dort Gebrauch machen, wo ein kritisches Ich stark genug ist, Gedanken zu wagen und sie zunächst von den Affekten getrennt zu halten. Auf diese Weise erliegt das Ich nicht jeder Phantasie, die einen Genuß verspricht, und schlägt die Herausforderung der »Idee« nicht allzu eilig selbstgerecht, moralgepanzert aus.

 

10.  Es ließe sich von dieser Kontrollfunktion des kritischen Ichs her eine Definition der Moral vertreten, die sich an der Voraussicht orientiert. Moralisch wäre dann nur jenes Handeln, das im vorhinein die Folgen des eigenen, auf eigene Befriedigung drängenden Handelns auf den Partner abzuschätzen vermag. Wer dieser Moral mächtig ist, könnte sich zum Beispiel in einem Liebeskonflikt seinem egoistischen Triebverlangen gegenüber besser behaupten. Er wäre geübt, vor einer Versuchung zu denken, statt erst nach der Kapitulation vor seinen Triebforderungen sich über sich selbst zu wundern. Da niemand fehlerfrei lebt, gäbe eine Moral der einfühlenden Voraussicht auch umgekehrt den Weg zum Eingeständnis unhaltbarer Situationen frei, welche die starre Dogmenmoral (etwa von der Unauflöslichkeit der Ehe) zu verdecken und vor dem eigenen kritischen Ich zu verleugnen trachtet. Denn Abweichung von der moralisch vorgezeichneten Verhaltensnorm bringt die Gefahr, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden.

Auch in Kollektivproblemen käme man weiter, wenn große Gruppen es zustande brächten, sich mit den Empfindungen und Erinnerungen anderer Gruppen einfühlend auseinanderzusetzen. Die Forderung, man solle dem Verlangen zustimmen, die deutschen Ostgrenzen wiederherzustellen, läßt sich abstrakt, ohne Ansehen der betroffenen Menschen, leicht vorbringen. Es sieht dann so aus, als gehe es nur um eine Rechtskonstruktion, die sich scheinbar zwanglos in schlüssige Form bringen läßt. Es ist nur von »Heimat«, von Land die Rede. Erinnert man sich jedoch der Erniedrigungen, welche die polnische Bevölkerung durch die deutschen Machthaber erfuhr, an ihre menschliche Deklassierung, an die Art, wie sie (1939) an Rußland ausgeliefert wurde, dann bietet sich ein ganz anderes Bild; man wird sich kaum unbeschwert über Erinnerungen hinwegsetzen können, die bei den Polen nicht vergessen sind und deren Gebietsforderungen sachlich begründen. 

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Die Nazipropaganda hatte leichten Erfolg, als sie die deutsche Niederlage 1918 und ihre Folgen in die »Jahre der Schmach« umfälschte. Ähnlicher Stolz wird anderen nicht gern zugebilligt, auch wenn die Schmähungen und Erniedrigungen, die sie durch uns erfuhren, unvergleichbar größer waren.

Mit solcher Einfühlung in den Kontrahenten wäre noch keineswegs einer generellen Verzichtmoral das Wort geredet, die dann gleich als Aufruf zur Selbstverstümmelung von den Praktikern der Politik abgetan wird. Durch Einsicht in seine Mitmenschen, die man nun mühsam, gegen falschen Stolz zum Beispiel, erwirbt, ist vorerst noch niemand zu Schaden gekommen. Aber auch ein an sich sinnvoller Verzicht kann jederzeit zur Heuchelei werden, wenn ich nicht verzichte, weil mir der andere etwas bedeutet, sondern einzig, weil die Verzichtleistung mir Prestige in der eigenen Gruppe einträgt. In einer Religion wie der christlichen, deren Auslegungen oft zu drakonischen Triebverboten führten, wurden die Gebote weniger aus Nächstenliebe als aus Prestigebedürfnissen und Angst befolgt. Mit solchen oft hypokritischen Haltungen verbindet sich leicht ein Egoismus, der über viele Masken verfügt. Er zeigt, wie leicht Moral dazu benutzt werden kann, auf »Rechte« pochend dem anderen leichthin Leid zuzufügen. Will man hier nicht von einem Unrecht, das man tut, zum nächsten, das man erleidet, durch die Geschichte weitertaumeln, so ist nicht abzusehen, wie auf die Bändigung des Egoismus durch Moral verzichtet werden könnte.

Die Idee des »Fortschritts« ist nicht in einer Schwächung moralischer Verpflichtungen als solcher, sondern in der Versöhnung von moralischem Anspruch mit der kritischen Einsicht zu suchen. Moral, die nicht den Verstand für ihre Forderungen zu gewinnen vermag, bleibt ein Schrecknis blinder Drohung — ein Schrecknis, das unsere ältesten Ängste um die Unversehrtheit unseres Körpers, die ältesten Strafängste für verbotene Lusterfahrungen immer wieder weckt.

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11. 

Der Zusammenschluß von Moralisten, die sich individuell für eine Moral entschieden haben und darin ihre Identität finden, ist etwas anderes als der Konformismus jener Individuen, denen erst das Befolgen der allgemein anerkannten Moral zu ihrem Identitätsgefühl verhilft. Geraten solche dezidierte Moralisten — man denke auch an die vielen Sozialrevolutionäre — unter feindlichen Druck, so haben sie die Tendenz, sich noch stärker an ihrer Ideologie (gleich welcher Art) zu orientieren und sich in Richtung der Märtyrer zu verhalten. Brechen dagegen die Gebote der Gelegenheitsmoralisten, der Konformisten unter sozialem Druck, in äußeren Katastrophen zusammen, so werden sie richtungslos trieborientiert, wozu die Zeit nach der totalen Niederlage Deutschlands im Jahre 1945 einen reichen Anschauungsunterricht bot.

Alle ernstlichen Revolutionäre — auch die religiösen wie Christus — versuchen, reflexhaft gewordene, automatisierte Bindungen an die bestehende Moral aufzulösen. Da hierdurch die bisher bestehende Identität gefährdet wird, erweckt das zuerst ängstliche Unsicherheit und Abwehr. Die Mehrheit der Menschen in den bisherigen Kulturen ist nicht darauf vorbereitet gewesen, in diesem Zustand innerer Bedrängnis kritisches Denken walten zu lassen. Das war auch gar nicht so notwendig oder vordringlich, da sich die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse mit Vorzügen und Übeln, zum Beispiel ihre Produktionstechniken, von Generation zu Generation nur wenig zu ändern pflegten und deshalb für das sozial eingebettete Individuum kein Anlaß bestand, an der überzeitlichen Gültigkeit der vorgefundenen Sitten zu zweifeln. Und auch die an neuen Werten orientierten Sozialreformer — etwa die Religionsstifter — verkündeten ihre Moral mit Ewigkeitsanspruch, blind für den geschichtlichen Beweis, daß es sozial keine »letzten« Lösungen gibt. Bei Führern und Gefolgsleuten — in der Tat im allgemeinen Bewußtsein — herrschte in dieser Hinsicht Wunschdenken. Krisenhafte Zusammenbrüche solcher »ewigen« Moralen hoben nicht deren Relativität ins Bewußtsein, sondern ließen nur nach neuen Heilsversprechungen greifen, welche die Sicherheit wiederherzustellen versprachen.

Unter den Angeboten, die in derartigen Perioden des Zusammenbruchs der Autorität gemacht wurden, steht in der Geschichte neben großmütigen Ideen nackter Wahn; beides hat Gefolgschaft gefunden, in bedrückender Kritiklosigkeit. Nur wenige aufgeklärte Geister vermochten sich von ihrem Denken leiten zu lassen; sie zogen die große Gefahr der Anklage wegen Ketzerei auf sich.

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Inzwischen ist ein Faktor hinzugekommen, der das Leben des Menschen in der Welt von Grund auf änderte: Wir verfügen über unvergleichlich größere Energiemengen als je eine Kultur der Vergangenheit. Das ist eine Folgeerscheinung der evolutiven Bewußtseinsentwicklung. Die Kombination von unveränderter Triebkonstitution und außerordentlicher Verfügungsgewalt über physikalische Energie und biologische Prozesse ist die bedeutendste Gefahr für die menschliche Spezies. Deshalb liegt ihre Überlebenschance in der Schulung des kritischen Verstandes bei allen, nicht in der Konservierung der Einschüchterungsmethoden des Denkens, mit denen man jahrtausendelang das Individuum domestizierte.

Es ist abzusehen, daß die Entwicklung von glaubensgelenkten zu verstandesgelenkten (besser: die Reflexion trainierenden) Moralen noch lange zu Unruhen, wie sie die Welt gegenwärtig erschüttern, beitragen wird. Der Kenner der psychoanalytischen Theorie wird das Ziel einer Stärkung der Ich-Funktionen im Ganzen des psychischen Apparates als gut begründbar erkennen. Die psychische Energie, welche das Ich aus dem Reservoir der Triebenergien zu binden, zu »neutralisieren«, das heißt, für seine Zwecke verwendbar zu machen vermag, mindert zugleich den Triebdruck; es wird Es-Energie in Ich-Energie verwandelt. Dieser Vorgang vollzieht sich unendlich langsam, verglichen mit der Erweiterung unserer Naturkenntnisse. Da die Naturenergien unseren destruktiven Tendenzen ebenso gehorchen wie konstruktiven Absichten, bleibt die Gefahr einer selbstdestruktiven Katastrophe der Menschheit als Dauergefahr erhalten.

 

12. 

 Angesichts der endlosen Folge von Kriegen wagt man nicht zu behaupten, daß die »Erziehung«, das heißt die in der Menschheitsgeschichte üblichen Praktiken zur sozialen Zähmung des Individuums, bisher zur Überwindung egoistischer Interessenkonflikte ausgereicht hätten. Hingegen läßt sich kaum etwas gegen die Behauptung einwenden, daß angesichts einer sich anbahnenden Weltzivilisation und ihres unendlich größeren Machtpotentials keinesfalls mehr mit der herkömmlichen, den kritischen Verstand ausschließenden Erziehung zum Sozialgehorsam auszukommen ist.

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In der politischen Wirklichkeit erweist sich jedoch in unserer Epoche das Anschwellen aggressiver Triebbedürfnisse dem Wachstum der Ich-Funktionen weit überlegen. Das letzte und das gegenwärtige Jahrhundert haben jeder Selbstkritik unzugängliche geltungsbesessene Kollektive hervorgebracht, deren Verhalten durch rücksichtslose Selbstüberschätzung und Intoleranz bestimmt werden. Es sind die Kollektive des modernen Nationalismus, und es ist offenbar geworden, daß ihre jeweiligen politischen Ideologien vorwiegend den Bedürfnissen der Selbstidealisierung des Egoismus dienen, und nicht umgekehrt, daß die jeweiligen nationalen Ideologien »ideal« wären.

Seit es möglich ist, nationales Prestige mit Atomwaffen zu verstärken, ist die Risikorate eines allgemeinen Unterganges in der Weltseuche des aggressiven Nationalismus um ein Vielfaches größer geworden als durch die schwersten Bedrohungen des »schwarzen Todes« in der Vergangenheit. Der Pest war die Menschheit damals ausgeliefert; es ist immerhin tröstlich, daß wir den Aggressionsproblemen unserer Zeit ein Wissen entgegenzustellen haben, das uns befähigt, zu durchschauen, daß wir es hier mit einem Motivationszusammenhang in uns und nicht mit (lange undurchschaubar gebliebenen) Naturvorgängen außerhalb von uns selbst zu tun haben. Viele Politiker gehören freilich noch zu den Anhängern der Theorie von der »Unverbesserlichkeit« des Menschen. Diese These erweist sich aber bei genauerer Betrachtung als Rationalisierungsversuch einer Taktik, die dem anderen jede Amoralität zutraut, weil — die gute Chance vorausgesetzt — man selbst der Versuchung nicht widerstehen könnte. Zweifellos wäscht hier eine Hand die andere weniger, als daß sie sich wechselseitig beschmutzen; wobei man sich schwer eine andere Möglichkeit vorstellen kann, wie dieser Teufelskreis zu durchbrechen wäre, als durch Vermehrung der Einsicht in die unbewußt wirksamen Motivationen unseres Verhaltens. Dennoch kennen wir die Wurzeln kollektiver Aggressivität nicht genügend, geschweige, daß wir sie aus Erkenntnis moralisch zu lenken verständen.

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13.  Gemessen an den Epochen, in denen gleichbleibendes Instinktverhalten eine Tierart lenkt, sind die Epochen menschlicher Moral nur kurze Augenblicke. Die Nutzbarmachung atomarer Naturvorgänge brachte einen tiefen Einschnitt im geschichtlichen Prozeß in prä- und postnukleare Zeiten. Moral in einer derart hoch technisierten Gesellschaft, außerdem von bisher unbekannter Größe, muß sich anpassen; insbesondere muß sie Handlungsorientierungen und -anweisungen bereithalten, die den neu entstandenen Machtpotentialen angemessen sind. Willensappelle und die Beschwörung im Jenseits zu erwartender Strafen sind kein hinlängliches Rüstzeug mehr.

Es kann keine Rede davon sein, daß der technische einen allgemeinen Fortschritt bedeutet. Vielmehr haben sich zu unseren Lebzeiten Rückfälle in sehr bewußtseinsfern gesteuerte Moralformen zugetragen. Dabei werden von Moral unberührte destruktive Phantasien in Taten umgesetzt. Ein Leitmotiv bildet dabei die in den Sozietäten fast ubiquitär gelebte Lust an grausamen Vergeltungsstrafen. Die Intensität dieses Verlangens läßt sich von der Heftigkeit der Wut gegen die Einschränkungen ableiten, die unser (infantil unreflektiertes) Allmachtsgefühl in der Realität erleiden muß. Und die Heftigkeit dieser Quälfreude leitet sich wiederum neben der Triebstärke von der Härte und Heftigkeit her, mit welcher zuvor die Einhaltung von moralischen Verboten erzwungen wurde.

 

14.  Reaktionäre Gesinnung entzündet sich regelmäßig auf wütende Weise, wenn es zu einer Niederlage der phantasierten Allmacht kommt. Hier können wir uns nochmals der bohrenden, nicht abzuschüttelnden Enttäuschung des deutschen Bürgertums über den verlorenen Krieg im Jahre 1918 erinnern — nach soviel damit wertlos gewordenen Siegen. Wird die Entwertung des Selbstgefühls durch den Einbruch neuer Denk- und Produktionsmethoden bewirkt, so wäre die adäquate Reaktion ein Umlernen aus der Einsicht in die Gefahr, rückständig zu werden. Diese doppelte Unlust wird abgewehrt durch Regression auf eine Mythologie, die eine angeborene Überlegenheit garantiert — etwa die des weißen Mannes oder die von Blut und Boden — und von der die magische Bewältigung der Notstände erwartet wird.

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Wut gegen geheime und hinterhältige Feinde pflegt sich nicht nur als Abwehr und Projektion eigener Schwächen und Aggressionen, sondern auch dann einzustellen, wenn eine neue revolutionäre Idee übernommen wurde und der verheißene ideologische Endsieg ausbleibt, im Gegenteil, Notzeiten anbrechen. Dann beginnen Zweifel aufzusteigen, ob denn die neuen Ideale, Pläne, Praktiken die bessere Zukunft bringen werden. Ziemlich sicher hat etwa dieser Widerstreit von nagenden, vorbewußt gehaltenen Zweifeln im einzelnen mit den magischen Hoffnungen, die er auf das bolschewistische System setzte, in Rußland dazu beigetragen, daß eine Figur wie Stalin an die Macht kommen konnte. 

An ihm läßt sich (wie am geringer begabten Hitler) mit Schaudern beobachten, was aus der Welt wird, wenn dem vom Verfolgungswahn zerrütteten Individuum die absolute Macht zufällt, diesen Wahn zu verwirklichen. Halb mit Angst, halb mit Hoffnung verfolgt der kleine Mann dieses von Rücksicht auf menschliches Wohl befreite Regiment. Solange er erwartet, er werde an das überzeitliche, endzeitliche Ziel herangeführt, hält er ihm die Treue — auch wenn er Zehntausende seinesgleichen ermordet. Die Faszination des Über-Vaters ist zu groß. Wenn Einsicht zu dämmern beginnt, ist es zu spät; dann hält ihn die inzwischen ausgebaute Organisation des Terrors auf der vorgezeichneten Linie des Glaubens.

 

15.  

Die gegenwärtige Dynamik der geschichtsbestimmenden Prozesse — als da sind: die Progression in der Lösung wissenschaftlicher Probleme und ihrer praktischen Auswertung, die Vermehrung der Menschheit, die nicht umkehrbare Entwicklung zu einer weltumspannenden Zivilisation von zunehmender Urbanisierung und vieles ähnliche — hat die Lebensbedingungen des Menschen in einem unabgeschlossenen und in seinen weiteren Wendungen nicht abzusehenden Vorgang verändert, so umfassend und tiefgreifend, daß das menschliche Bewußtsein sich darüber noch keine ausreichende Rechenschaft abzulegen vermag. Vor allem übersteigt das Tempo des Umbaus unsere Fähigkeiten zur kritischen Analyse der Rückwirkungen auf unser Selbstverständnis. Wir werden zum Beispiel bald in der Lage sein, an unserer genetischen Substanz zu manipulieren. Werden wir das Machbare tun? Und wenn wir es tun, wer setzt die Maßstäbe? 

174


Diesmal sind es Konservative und Revolutionäre, die vom Ausmaß der Veränderungen überrascht sind, welches die Anwendung technischen Wissens an den Objektivitäten der sozialen Welt hervorgebracht hat. Die Reaktionsformen auf die Technisierung schwanken zwischen Mißtrauen und neuer Zuversicht auf Realisierung der Allmachtsträume. Die Entwicklung geht aber offenbar in Richtung eines Eingeständnisses, daß wir Gefangene unaufhaltbarer Vorgänge, die wir selbst angestoßen haben, geworden sind, wie wir früher in großem Umfang Gefangene von Naturprozessen waren, die wir nicht beeinflussen konnten. In Ländern, in welchen die Grundlagen dieser zur «sekundären Natur« gewordenen technischen Welt gelegt wurden, reflektiert sich das Geschehen bei weitem drastischer als dort, wo mit »Fortschritt« erst einmal intellektuelle Basisleistungen wie Lesen und Schreiben zum Zug kommen.

In unserer Kultur hatten sich unter dem Druck alt organisierter repressiver Zwänge (der Moralgebote) die vielfältigsten kollektiv geachteten Sublimierungsformen (als Moralprämien) entwickelt. Diese so entstandenen Techniken und Fertigkeiten sind mit der Lust, die sie vermitteln, der begrenzte Sieg des Subjektes über die objektiv oder gesellschaftlich verhängte Unlust. Nun heißt das generelle Ziel der technischen Perfektion ebenfalls Unlustvermeidung. Der Kampf gegen den Hunger, den Schmerz, die Mühsal körperlicher Arbeit verläuft erfolgreich. Das kann nicht ohne Folgen auch für den moralischen Habitus bleiben; denn Not und Krankheit werden nicht nur, fortschreitend von Kontinent zu Kontinent, besiegt, sie werden auch ideologisch als Rückständigkeit entwertet. Es ist aber vorerst gänzlich ununtersucht, welche positiven biologischen und psychologischen Funktionen sie ausübten hinter den offenkundig negativen.

In welchem Milieu gedeiht eigentlich waches, hartnäckig bei der Frage bleibendes kritisches Bewußtsein am besten? Verläuft die hierzu nötige Aufwendung von seelischer Energie ganz unabhängig von den Vorgängen in der Ökologie, in der Umwelt, zu welcher dieses Bewußtsein gehört? Das ist kaum zu erwarten; aber eine verbindliche Antwort über die Zusammenhänge besitzen wir nicht, insbesondere, welche Frustration stimulierend und welche entmutigend wirkt.

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Unserer Zivilisation ist es gelungen, die Angst vor Krankheit, die Angst der Armut und des Nichtwissens zu lindern. Lasten sind damit erleichtert, an denen alle Generationen vor uns schwer zu tragen hatten. Es wäre nicht abwegig, zu erwarten, Dankbarkeit und ein mildes moralisches Klima könnten die Folge sein. Die Siege an der Front der Naturforschung, der wir den Fortschritt danken, haben aber unerwartetes Unbehagen an anderer Stelle geweckt. Zunächst hat die sprunghafte Vermehrung der Menschheit dank hygienischer Maßnahmen unerwartet viele neue Esser gebracht. Das bringt ein neues Generalproblem mit sich: Ist es moralisch, dem für diese Entscheidung ganz unvorbereiteten Individuum in Indien oder Südamerika die Vermehrung nach seinem Willen oder dem Zufall zu überlassen? Wie kann Aufklärung so weit verbreitet werden, daß ein Problembewußtsein entsteht, ohne welches von einer echt moralischen Entscheidung gar nicht gesprochen werden kann? 

Die so überaus hygienische, wohlorganisierte technische Zivilisation ist nach wie vor durchsetzt von unaufgeklärten, gepanzerten Egoismen, unter deren Einfluß die Chancen einer aggressionsfreieren Gesellschaft kaum besser sind als früher. Dazu kommt die neue Enge des verwalteten Daseins in den immerfort wachsenden Menschenmengen. Zwar hat die materielle Sicherheit zugenommen; Fluchtwege aus dem Netz der Institutionen gibt es aber keine. Sublimierungen sind schwer erreichbar, sie müssen vom Individuum entdeckt und durchgehalten werden. Die glaubhafte gesellschaftliche Anweisung zu kultiviertem Leben, zur Humanität, die alle anginge, fehlt uns. Das Abwandern des »Machens« auf immer potentere Maschinen depotenziert die »Schaffenslust«. Arbeit ist — in der Form, in der sie heute von den Massen geleistet werden muß — nur wenig geeignet, dem Individuum als Hilfsmittel seiner Integration zu dienen. Integration meint hier Stabilisierung kritischer Selbstwahrnehmung. Für viele Millionen Menschen kann die Art der Arbeit, die man von ihnen fordert, nicht mehr libidinöse Zustimmung heischen als dumpfe Sklavenarbeit der Vergangenheit.

 

16.  

Die Arbeit an und mit der Maschine, so notwendig sie ist und sosehr der einzelne daran gewöhnt erscheinen mag, bringt mit allen anderen Folgen der technischen Zivilisation auch Abstumpfung und aggressive Gereiztheit mit sich. Sie schafft jenes uninteressierte, unverantwortliche Plebejertum, das man dann wiederum als unverbesserlichen Zug der menschlichen »Natur« anspricht. Freilich wird diese Art von Arbeit heute besser bezahlt; was aber, wie immer deutlicher wird, kein Generalheilmittel ist.

176/177

Die Arbeitsteilung hatte vor der Herrschaft der Automaten eine Fülle von handwerklichen Techniken (5£/7/sJ hervorgebracht, deren Erwerbsich im Charakter des einzelnen niederschlug. Diese Chance ist für den »Werktätigen« vergeben, von den wenigen Stellen abgesehen, an denen experimentelle Entwicklung betrieben wird. Es ist in keiner Weise mehr »sein Werk«, an dem er tätig ist. Die Tätigkeit, die von ihm als Arbeit gefordert wird, ist wenig geeignet, seinem Triebhunger zu sublimierten Befriedigungen zu verhelfen und dadurch seinen Selbstwert mitzubegründen. Erworbene Fertigkeiten befriedigen aus sich selbst heraus, auch wenn sie sich nicht unmittelbar im gesellschaftlichen Status niederschlagen.

Versucht das Individuum unter Vermeidung der zur Konsumgesellschaft gehörenden Kunst der Verschleierung von Tatbeständen, sich über seine Lage klarzuwerden, dann muß es erkennen, daß der »Apparat«, die Organisation, der Betrieb, mit denen es im Leistungstausch steht, nur zu wenig persönlicher Beziehung fähig sind.

Die Arbeitswelt hat einen Grad von Anonymität angenommen, in der nur noch die Illusion überlebt, es käme auf den einzelnen an. Es kommt nicht auf ihn an; der militant menschenverachtende Satz »Keiner ist unersetzlich« wird zur pragmatischen Grundmaxime. Die Apparatur verlangt nach sachgerechter Bedienung. 

Die persönliche Qualität wird daran gemessen, wie vollkommen der, der den Apparat bedient, dessen Möglichkeiten und Schwächen gerecht wird. Wenn über das Arbeitsklima reflektiert wird, ist es ein Pseudohumanismus, vielleicht auch Ratlosigkeit, weil die Maschinen anfangen, den psychosomatischen Zustand der Menschen zu formen. Jedoch ist es die Angst vor der möglicherweise sinkenden Produktion, die treibt, und nicht die Frage: Wie kann eigentlich der Stanzer X oder der Zeitnehmer Y aus seiner Arbeit Befriedigung gewinnen? Das stellt aber ein Sozialproblem erster Ordnung dar, weil es dem einzelnen in der Masse nicht offensteht, durch Initiative sich eine an seine persönliche Arbeitsleistung gebundene Befriedigung zu verschaffen. Er kann zum Beispiel nicht die Leistungsnormen nach seinen Wünschen abstimmen, auch wenn er dabei produktiver wäre. 

Dieses Problem wird mehr geahnt und mit unguten Gefühlen beiseite geschoben, als daß es zu einem zentralen Bewußtseinsinhalt entscheidungsbefugter und machtbegabter Gruppen — also zu einem Politikum der Massengesellschaft — geworden wäre. Die Erfindung technischer Apparate befreite von schlecht angesehener, schwerer körperlicher Arbeit, brachte dafür die Monotomie der Kontrolle der Apparaturen; also eine Versklavung an diese technischen Arbeitsprozesse. Die Automation wird in vieler Hinsicht die Befreiung auch von dieser zermürbenden gleichförmigen Arbeit zur Folge haben. Die »Entkörperlichung« (Desomatisierung) von Arbeit schreitet fort. Der Wegfall von Arbeit schafft zunächst Leerräume, nicht Arbeits-, aber Beschäftigungslosigkeit. Wie werden die Menschen diese Leerräume füllen? Welche Identifikationen werden ihnen angeboten werden? Das ist eine der Aufgaben einer neuen Moral, von der wir oben sprachen. Man kann sie sich denken, weil sie notwendig ist; aber sie existiert nicht.

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